Deutsche Poetik. ──────
Theoretisch-praktisches
Handbuch der deutschen Dichtkunst.
Nach den Anforderungen der Gegenwart
von
Dr. C. Beyer. ──────
[EAI:f][EAI:e][EAI:d][EAI:c][EAI:b][EAI:a][RI]Zweiter Band. ──────
Stuttgart.
G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.
1883.
K. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (C. Grüninger) in Stuttgart.
Vorwort. ──────
Der vorliegende zweite Teil meiner deutschen Poetik, auf den
bereits die Vorrede zum ersten Band Bezug nehmen mußte, enthält im
engen Anschluß an die im ersten Band abgehandelte Vers- und Formenlehre
die vollständige Lehre von den Gattungen der Poesie
und vollendet somit den Auf- und Ausbau einer Wissenschaft der
deutschen Poetik vom Standpunkte der Gegenwart.
Schon eine flüchtige Durchsicht desselben wird ergeben, daß es
dem Verfasser nicht nur darum zu thun war, Wesen, Begriff und Gesetz
&c. der einzelnen Dichtungsgattungen vollständig klar zu legen,
sondern auch den Feinheiten in der Technik &c. nachzugehen, alle auf
die innere Struktur bezüglichen Gesichtspunkte zu markieren und der
auszubauenden Poetik neue, fruchtbare Gebiete zu erschließen. Jnsbesondere
wurde auch eine wissenschaftlich zuverlässige Darlegung der
Entstehung und Entwickelung (d. i. der Geschichte) sämtlicher Dichtungsarten
erstrebt, um eine enge Verbindung der Poetik mit der Litteraturgeschichte
auch durch diesen Band herzustellen.
So wurde es möglich, die das weite System der Poetik bildenden
Lehrsätze abzuleiten und anzuordnen, und neue, nicht geahnte Gesichtskreise
zu erschließen, so daß kaum eine Seite in diesem Werke sich
finden dürfte, welche nicht Neues, Jnteressantes, litterarhistorisch Wertvolles
böte. Man vgl. beispielshalber nur die, eine vollständige Dramaturgie
ergebenden §§ 20─43, 149─177 &c., ferner jenen, den Begriff
der didaktischen Poesie darstellenden Abschnitt, die Paragraphen über [RIV]
Romanze und Ballade, Travestie und Parodie, Volksepos und Kunstepos,
Roman und Novelle, Drama und dramatisches Gedicht, sowie
insbesondere auch die zum erstenmal abgehandelten musikalisch dramatischen,
wie musikalisch kirchlichen Formen, welche in einer hoffentlich
auch den speziellen Forscher und Musiker befriedigenden Vollständigkeit
diesem Teil einverleibt sind und deren Charakteristisches (z. B. von
Singspiel und Vaudeville, Kantate und Oratorium, Oper und Musikdrama,
Operette und Schauspiel mit Musik &c.) eingehend dargelegt
werden konnte.
Erleichtert wurde das Streben des Verfassers durch das Entgegenkommen
hervorragender Fachgelehrten und namhafter Dichter,
welche Privat= wie öffentliche Bibliotheken erschließen halfen und mich
mehr oder weniger bei den Korrekturen unterstützten. Dankbar erwähne
ich besonders den aus meinen Rückertbüchern wohlbekannten
Rückertfreund Karl Putz, den musikalischen Schriftsteller und Hofkapellmeister
Max Seifriz, den 1. Custos der k. k. Hofbibliothek
Dr. Faust Pachler, Hofrath Dr. v. Zoller, Geh. Hofrath Dr. v. Wehl,
Rektor Dr. Blancke, Gymnasialdirektor Dr. Authenrieth, Professor
Dr. Siebenlist-Preßburg, Viktor v. Scheffel, Professor Dr. Joh.
Minckwitz, Bibliothekvorstand Professor Dr. Wintterlin u. a. Erfreulich
war auch am Ende meiner langjährigen Arbeit im Dienste
eines für unsere ganze Kultur bedeutungsvollen Unternehmens die
ausnahmslos anerkennende Beurteilung derselben seitens der geachtetsten
Kritik, die wärmsten schriftlichen und mündlichen Beifallsäußerungen
von den ersten Dichtern unserer Nation und unvermutete Auszeichnungen
poesiekundiger Fürsten, welche die Dichtkunst mehrfach förderten
und in ihren Trägern ehrten.
Jndem ich dem deutschen Publikum den vorliegenden zweiten
Band darbiete, hege ich den Wunsch, daß demselben eine gleich wohlwollende
Aufnahme zu teil werden möge, und somit das ganze
Werk erkannt werde: als Vereinigung alles, seit Aristoteles,
Horaz und Opitz auf den Gebieten der Poetik Gebotenen;
als ein zuverlässiges Quellenwerk und Nachschlagebuch für
den Litterarhistoriker; als ein Hülfsbuch für den Dichter;
als ein Lernbuch für den studierenden Jüngling und die bildungsuchende
Jungfrau; als ein allseitiges, umfassendes
Handbuch deutscher Poesie für den Lehrenden wie für den [RV]
gebildeten Laien; als ein Beitrag zur Einführung in die
deutsche Litteratur; als ein Führer, welcher imstande sei,
der Formlosigkeit zu steuern und manchen begabten, in den
Fesseln materialistischer oder pessimistischer Weltanschauung
schmachtenden Musenjünger aufzurütteln zu einem durch die
Kunst motivierten Jdealismus und zu ewig währenden
idealen Dichterthaten.
Stuttgart, am Geburtstage Goethes 1882.
Dr. C. Beyer.
[RVI][RVII]Jnhalts-Verzeichnis. ──────
Deutsche Poetik. Zweiter Teil.
Die Dichtungsgattungen.
- Einleitung.
Charakter der Poesie und Einteilung derselben.- Seite
- § 1. Objektive und subjektive Poesie 1
- § 2. Volkspoesie und Kunstpoesie 2
- § 3. Einteilung der Poesie in klassische, romantische und moderne Poesie 6
- § 4. Einteilung der Poesie nach Stoff und Form 7
(Lyrische, didaktische, epische und dramatische Poesie) 7 - § 5. Einteilungsschema der Poesie 9
- Erstes Hauptstück: Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik,
Epik und Dramatik.- I. Lyrik.
- § 6. Begriff der Lyrik 10
- § 7. Stoffe der Lyrik; das lyrische Gedicht == Gelegenheitsgedicht 11
- § 8. Eigenart des Lyrikers 12
- § 9. Anforderungen an den Lyriker 13
- § 10. Das paläontologische (primitive) Element der Lyrik 15
- § 11. Umfang des lyrischen Gedichts 16
- § 12. Stil im allgemeinen, und Stil der Lyrik 16
- II. Didaktik.
- § 13. Begriff des didaktischen Gedichts und der didaktischen Poesie 18
- § 14. Schiller und Rückert als Begründer einer echten didaktischen Poesie:
der Gedankenlyrik; ferner das Gesetz der Didaxis 20 - § 15. Der Didaktiker ein wahrer Dichter 23
- III. Epik.
- § 16. Begriff der Epik 24
- § 17. Anforderungen an den Epiker 24
- § 18. Geschichtliche Stellung und Entwickelung der Epik 25
- § 19. Epischer Stil 26
- Proben des epischen Stils 27
- IV. Dramatik.
- Seite
- § 20. Begriff der Dramatik 29
- § 21. Handlung, Fabel und Charaktere im Drama 31
- § 22. Das Lyrische und Epische im Drama. Die Episoden 32
- § 23. Anforderungen an die Handlung 33
- § 24. Die Aristotelische Forderung an das Drama 35
- § 25. Die handelnden Personen (Charaktere). Der Held 36
- § 26. Stoff des Drama 37
- § 27. Jdee des Drama, Jdealisieren, Jdeale 38
- § 28. Tendenz des Drama 40
- § 29. Das Motivieren im Drama 41
- § 30. Aktion und Reaktion im Drama. Seine Dreiteilung 41
- § 31. Teile des Drama und Umfang desselben 42
- § 32. Jnhalt der Akte. Prolog. Epilog 43
- § 33. Schema für den Bau des Drama und Beispiele der Bauart 46
- Beispiele für den Bau ganzer Dramen 47
- § 34. Gesetze, Regeln, innere Beziehungen und Feinheiten im Bau des Drama 47
- § 35. Hamlet als Beispiel des Baues eines Drama 49
- § 36. Auftritt, Scene und Scenenwechsel in der dramatischen Dichtung 51
- Monologscenen, Dialogscenen, Botenscenen 52
- Liebesscenen, Ensemblescenen 53
- Massenscenen 54
- § 37. Monolog und Dialog in den dramatischen Dichtungen 54
- § 38. Sprache und Form des Drama 54
- § 39. Anforderungen an den dramatischen Dichter im allgemeinen 56
- § 40. Aufführbarkeit der dramatischen Dichtung 58
- § 41. Die Dekoration bei Aufführung der dramatischen Dichtung 59
- § 42. Die Aufgabe der Schauspieler bei Vorführung der dramatischen Dichtung 59
- § 43. Erfolg der dramatischen Dichtung 61
- V. Übergänge der Gattungen der Poesie.
- § 44. Einteilung der Übergangsformen 62
- § 45. Darstellung der häufigsten Übergangsformen 63
- § 46. Genesis und historische Verbindung der Dichtungsarten 64
(Eine historisch=philosophische Betrachtung im Umriß.) - § 47. Übersichtstafel sämtlicher poetischer Formen 68
- I. Lyrik.
- Zweites Hauptstück: Die lyrischen Dichtungen.
- § 48. Einteilung der lyrischen Dichtungen 70
- I. Formen ruhiger Empfindung.
- Das Lied und seine Formen.
- § 49. Begriff und Einteilung 71
- § 50. Anforderungen an das Lied im allgemeinen 72
- Volkslied.
- Seite
- § 51. Begriff, Charakter und Dichter des Volksliedes 73
- § 52. Das Volkslied als Beweis besonderer deutscher dichterischer Naturanlage
und poetisch=schöpferischer Volkskraft 78 - § 53. Das Volkslied als Naturpoesie 81
- § 54. Geheimnisse in der Bildung des Volkslieds 82
- § 55. Einteilungsversuch der Volkslieder 87
- Beispiele des Volksliedes 91
- § 56. Wanderung durch die geographischen Bezirke des Volkslieds 94
- § 57. Das geistliche Volkslied 95
- § 58. Zur Geschichte und Litteratur des Volksliedes 96
- § 59. Das Volkslied der letzten Decennien 98
- Kunstlied.
- § 60. Mission des Kunstliedes 99
- § 61. Einteilungsprinzip des Kunstliedes 100
- Formen des Kunstliedes.
- Weltliches Lied.
- § 62. Das Vaterlandslied und das Bardiet 101
Das Bardiët 103 - § 63. Das Naturlied 107
- § 64. Minne- oder Liebeslieder 109
- § 65. Das komische Lied 113
- § 66. Das gesellige Lied 116
- 1. Gesellschaftliches Lied 116
- 2. Anakreontisches Lied 117
- 3. Skolion 118
- § 67. Elegisches Lied 119
- § 68. Jdyllisches Lied 122
- § 62. Das Vaterlandslied und das Bardiet 101
- Geistliches Lied.
- § 69. Geistliches oder andächtiges Lied 123
- 1. Das religiöse Lied 123
- 2. Das Kirchenlied 125
- § 69. Geistliches oder andächtiges Lied 123
- Weltliches Lied.
- Das Lied und seine Formen.
- II. Lyrik der Begeisterung.
- § 70. Die verschiedenen Formen der Begeisterungslyrik und das Gemeinsame
derselben 132 - § 71. Die Ode 134
- § 72. Die lyrische Rhapsodie 139
- § 73. Hymnus (Hymne) 141
- § 74. Dithyrambus 145
- § 75. Elegie 146
- § 76. Nänie 152
- § 77. Notiz über die Lyrik aller Litteraturen 153
- Anthologien und Hilfsmittel 157
- § 70. Die verschiedenen Formen der Begeisterungslyrik und das Gemeinsame
- Drittes Hauptstück: Die didaktischen Dichtungen.
- Seite
- § 78. Einteilung der didaktischen Dichtungen 159
- I. Symbolische Didaktik.
- § 79. Fabel 160
- a. Tierfabel163
- b. Fabel, die leblose Gegenstände redend einführt164
- § 80. Parabel 167
- § 81. Paramythie 171
- § 82. Sinnbild 174
- § 83. Allegorie 175
- § 84. Rätsel 179
- a. Das Worträtsel179
- b. Charade oder Silbenrätsel180
- c. Logogriph181
- d. Anagramm182
- e. Palindrom (Doppelrätsel)183
- f. Die Homonyme184
- § 79. Fabel 160
- II. Lehrgedichte mit besonderer Tendenz.
- § 85. Satire 185
- § 86. Travestie 191
- § 87. Parodie 193
- § 88. Humoristische Dichtungen 195
- III. Eigentlich didaktische Gedichte.
- § 89. Die ideale Gedankenlyrik 200
- § 90. Kulturhistorisches Gedicht 203
- § 91. Sinngedicht oder Epigramm 203
- § 92. Die Priamel oder der Schnepper 207
- § 93. Xenien 209
- § 94. Gnome 210
- § 95. Epistel 212
- § 96. Heroide 215
- § 97. Kurze lyrisch=didaktische Formen 218
- § 98. Wirkliches Lehrgedicht 219
- § 99. Großes Lehrgedicht 222
- Viertes Hauptstück: Die epischen Dichtungen.
- § 100. Einteilung der epischen Poesie 227
- I. Aus dem Leben der Wirklichkeit ─ dem Erlebnisse ─ erblühende
epische Gattungen.- § 101. Poetische Erzählung 228
- 1. Humoristische poetische Erzählung 229
- 2. Ernste poetische Erzählung 230
- Seite
- § 102. Epische Rhapsodie (erzählende Rhapsodie) 231
- § 103. Die Jdylle 231
- § 104. Beschreibendes Gedicht 236
- § 101. Poetische Erzählung 228
- II. Aus der Sagenwelt (der Überlieferung) schöpfende epische Gattungen.
- § 105. Die Sage 240
- § 106. Mythus 246
- § 107. Legende 250
- α. Ernste Legende251
- β. Komische Legende252
- § 108. Das Märchen 253
- § 109. Romanze und Ballade 262
- 1. Allgemeines, Gemeinsames und Unterscheidendes zur Begriffsbegrenzung
von Romanze und Ballade263 - 2. Die Romanze. Romaneska. Romancero 264
- 3. Die Ballade 268
- 1. Allgemeines, Gemeinsames und Unterscheidendes zur Begriffsbegrenzung
- § 110. Epos == Epopöe oder Heldenlied 274
- § 111. Einteilung des Epos und Geschichtliches 279
- § 112. Die Volksepen 282
- § 113. Aufzählung sämtlicher Volksepen 283
- § 114. Analyse sämtlicher Volksepen nach Jnhalt, Konzeption, Ausführung &c.
- 1. Die klassischen Volksepen der Griechen: Jlias und Odyssee 283
- 2. Die indischen Nationalepen: Mahâbhârata und Râmâjana285
- 3. Die deutschen Volksepen: Nibelungen, Gudrun &c. 289
- 4. Die Volksepen der Finnen, Esten und Lappen 291
- a. Das finnische Volksepos Kalewâla291
- b. Kalewipoeg294
- c. Das Volksepos der Lappen297
- § 115. Gemeinsame Ausgangspunkte od. Vergleichsmomente sämtl. Volksepen 300
- § 116. Die Kunstepen 302
- § 117. Charakteristische Gruppen oder Arten des Kunstepos 304
- § 118. Altromantisches oder höfisches Epos 304
- § 119. Vorführung der altromantischen Epen 306
- 1. Parzipal 307
- 2. Tristan und Jsolde 308
- 3. Jwein 311
- 4. Rolandslied 313
- 5. Der rasende Roland 315
- § 120. Das neuromantische Epos 317
- 1. Wielands Oberon 317
- 2. Ernst Schulzes Cäcilie 317
- 3. „ „ Bezauberte Rose 318
- 4. Kinkels Otto der Schütz 319
- 5. Redwitz' Amaranth 320
- 6. Hofmanns von Nauborn Ritter Konrad Beyer von Boppard 320
- § 121. Das religiöse Epos 322
- 1. Die Messiade von Klopstock 322
- 2. Die göttliche Komödie von Dante Alighieri 323
- 3. Das verlorene Paradies von Milton 323
- § 122. Das idyllische Epos (Eidyllion) 325
- 1. Luise von Voß 325
- 2. Jukunde, von Theobul Kosegarten 326
- 3. Hannchen und die Küchlein, von Eberhard 326
- 4. Hermann und Dorothea, von Goethe 327
- Seite
- § 123. Das historische Epos (Heldenepos) 329
- 1. Das Schah-Nameh des Firdusi 329
- 2. Rostem und Suhrab, von Rückert 331
- 3. Vergils Äneis 332
- 4. Das befreite Jerusalem, von Torquato Tasso 333
- 5. Die Lusiaden des Camoëns334
- 6. Scherenbergs historische Epen 335
- § 124. Das komische, humoristische, satirische Epos 337
- 1. Die Eselsjagd, von Fritz Hofmann 337
- 2. Nibelungen im Frack, von Anastasius Grün 339
- 3. Tulifäntchen von Karl Jmmermann 340
- § 125. Das Tierepos 342
- 1. Reineke Fuchs, von Goethe 342
- 2. Rollenhagens Frosch-Meuseler 344
- 3. Der Muckenkrieg, von H. C. Fuchs 345
- III. Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildete prosaische Gattungen.
Roman und Novelle.- § 126. Begriff, Verbreitung und Bedeutung des Romans 347
- § 127. Verhältnis des Romans zum Epos 349
- § 128. Verhältnis des Romans zum Drama 350
- § 129. Stoff des Romans 352
- § 130. Jdee des Romans 353
- § 131. Bau des Romans 356
- § 132. Der Held des Romans 356
- § 133. Die übrigen Charaktere des Romans 359
- § 134. Das Jdealisieren im Roman 360
- § 135. Charakteristisches in der Technik unseres Romans 361
- § 136. Stilgesetze des Romans 362
- § 137. Ästhetische Anforderungen an den Roman 364
- § 138. Grundlage des guten deutschen Romans der Neuzeit 366
- Arten des Romans.
- § 139. Einteilung der Romane nach Jean Paul 367
- § 140. Einteilung nach Form und Jnhalt 367
- § 141. Einteilung in Tendenzromane und Stoffromane 371
- § 142. Unsere Einteilung der Romane 372
- 1. Der historische Roman 372
- 2. Der philosophische Roman 374
- 3. Der moderne Roman 374
- 4. Der volkstümliche Roman oder die Dorfgeschichte 375
- § 143. Beispiele lesenswerter Romane und geschichtlich charakteristische
Stilproben 375 - § 144. Zur Geschichte und Litteratur des Romans 381
- § 145. Novelle 388
- § 146. Anforderungen an die Novelle, wie an den Novellisten 390
- § 147. Beispiele lesenswerter Novellen und charakteristische Stilproben 391
- § 148. Litteratur der Novelle 399
- Fünftes Hauptstück: Die dramatischen Dichtungen.
- Seite
- § 149. Einteilung der dramatischen Poesie 403
- I. Formell dramatische Gedichte.
- § 150. Monolog 404
- § 151. Dialog 406
- 1. Lyrischer Dialog 407
- 2. Didaktischer Dialog 407
- 3. Epischer Dialog 408
- 4. Dramatischer Dialog 409
- § 152. Dramatisierte Begebenheit (Dramolet) 410
- II. Eigentliche Dramen.
- § 153. Einteilung und Benennung der eigentlichen Dramen 413
- § 154. Das dramatische Gedicht 413
- § 155. Tragödie == Trauerspiel 421
- § 156. Der Held der Tragödie 425
- § 157. Die poetische Gerechtigkeit 428
- § 158. Eigenartiges in der Technik der Tragödie 431
- § 159. Die griechische Tragödie im Vergleich mit der unserigen 434
- § 160. Die Technik der Tragödie an Schillers Wallenstein praktisch erläutert 439
- § 161. Verschiedene Benennung und Einteilung der Tragödien 449
- § 162. Unsere Einteilung der Tragödie nebst Begründung 450
- 1. Sagenhaft=heroische (altklassische) Tragödien 450
- 2. Philosophische Tragödien 451
- 3. Geschichtliche oder heroische Tragödien 451
- 4. Bürgerliche Tragödien 452
- 5. Schicksalstragödie 454
- § 163. Litteratur und Entwickelung der Tragödie. Der griechische Chor.
Analysen der wichtigsten Tragödien aller Völker 456 - § 164. Schauspiel (Drama) 465
- § 165. Einteilung der Schauspiele 466
- § 166. Litteratur des Schauspiels nebst Analyse und Würdigung hervorragendster
Schauspiele 468 - § 167. Komödie oder Lustspiel 475
- § 168. Anforderungen an die Handlung im Lustspiel 478
- § 169. Einteilung der Lustspiele nach der Stoffquelle 479
- § 170. Einteilung der Lustspiele nach den Lebenskreisen des Helden, sowie
nach ihrer Tendenz und Herkunft 481 - § 171. Einteilung nach Entwickelung und Verwickelung, sowie das Jdeal
eines deutschen Lustspiels 483 - § 172. Einteilung nach Form und Ausdehnung 484
- § 173. Posse, Lokalposse, Zauberposse, Schwank 485
- § 174. Die Tierkomödie 488
- § 175. Verschiedenartige Benennungen bestimmter dramatischer Gattungen
und ungewöhnliche Namen einzelner dramatischer Dichtungen 490 - § 176. Parodistische und travestierende Dichtungen verschiedener dramatischer
Gattungen 491 - § 177. Litteratur der Komödie und Angabe von Proben 493
- § 178. Verzeichnis dramatischer Autoren, Sammlungen von Dramen aller
Arten, Übersetzungen und Quellenschriften 500
- III. Musikalisch-dramatischweltliche und kirchlich-musiaklische Formen.
- Seite
- § 179. Einteilung dieser Formen 503
- I. Musikalisch-dramatisch-weltliche Formen.
- § 180. Das Melodrama 503
- § 181. Das Vaudeville und das Sing- oder Liederspiel 505
- § 182. Das Schauspiel mit Musik 507
- § 183. Die Oper im allgemeinen. Begriffliches 508
- § 184. Die ernste (große) Oper in Deutschland 509
- § 185. Die komische Oper in Deutschland 510
- § 186. Die Operette 511
- § 187. Das Jntermezzo. (Zwischenspiel) 512
- § 188. Entstehung und geschichtliche Entwickelung der Oper in Jtalien,
Frankreich und Deutschland 513 - Erste und älteste deutsche Oper 517
- § 188. Entstehung und geschichtliche Entwickelung der Oper in Jtalien,
- § 189. Das Geheimnis der Wagnerschen Opernreform 520
- § 190. Wagners Tetralogie 524
- § 191. Wagners Stilcharaktere und seine Leitmotive 525
- § 192. Vorschriften, Gesichtspunkte und Winke für die Libretto-Dichtung,
und Beispiele besserer Librettos 527
- II. Kirchlich-musikalische Formen.
- § 193. Einteilung der geistlichen Formen und Begründung derselben 528
- § 194. Der Choral 529
- § 195. Das deutsch=accentuierende Prinzip und der Choral 531
- § 196. Die Motette 532
- § 197. Psalm 533
- § 198. Die Kantate 534
- § 199. Die Passion 536
- § 200. Die Messe 538
- § 201. Das Requiem 540
- § 202. Das Oratorium 541
- § 203. Analyse vorzüglicher Oratorien der Neuzeit, sowie Litteratur des
Oratoriums. Weltliche Oratorien 543
- Schlußbemerkung 546 ──────
- Anhang.
- Sach- und Namenregister für Band 1 und 2 547
Die
Dichtungsgattungen.
[RXVI]
Goethe.
Einleitung.
Charakter der Poesie und Einteilung derselben. ──────
§ 1. Objektive und subjektive Poesie.
1. Alles durch menschliche Thätigkeit Entstandene leitet seinen
Ursprung entweder aus dem Gebiete der Geistes- oder dem der Sinnenwelt
her: aus dem Anschauungs- und dem Empfindungsreiche. Auch
die Poesie hat ihren Ursprung entweder in einem derselben, oder in
beiden gemeinschaftlich.
2. Je weniger der äußere anregende Stoff als solcher ersichtlich
ist, je unbedeutender er ist, desto subjektiver wird die Poesie erscheinen.
3. Objektiven Charakter wird die Poesie an sich tragen, wenn
der von ihr behandelte Stoff als das Wesentliche, Bestimmende oder
Beabsichtigte entgegentritt.
1. Von der Außenwelt erhält der Dichter die Anregung, oder den Stoff,
welchen er nach innerer Aneignung in seinem Gedichte verwertet. Das Gedicht
entsteht somit aus der Durchdringung der dichterischen Subjektivität mit
der von außen entgegen tretenden Objektivität.
2. Zu jedem objektiven Stoffe muß der Lyriker von seiner Subjektivität
hinzusetzen. Man könnte einen geringfügigen Stoff einem glatten Stamme
vergleichen, an welchem sich die subjektive Empfindung des Dichters emporrankt
und fest hält. Je einfacher und geringfügiger der Stoff ist, desto bedeutender
wird sich das Überwiegen des Subjektiven vor dem Objektiven nötig
machen müssen, desto mehr wird sich die dichterische Schöpfungskraft zu bewähren
haben.
Jn folgendem Gedichte von Martin Greif überwiegt die subjektive
Zuthat den objektiven geringfügigen Stoff um ein Bedeutendes:
Am Buchenbaum.
[2]
Jeder Dichter, der aus seinem Leben, aus seiner Phantasie mitteilt, der
sein Urteil ausspricht, der sich selbst zum Helden seiner Dichtung macht, schreibt
subjektive Poesie. Nicht der zu besingende Gegenstand, sondern der durch
denselben hervorgerufene Gemütszustand ist der wahre Jnhalt des subjektiven
Gedichts. Der Dichter dieses subjektiven Gedichts ist dabei nur insofern objektiv,
als er seine Personen ihre eigenen (subjektiven) Empfindungen aussprechen
läßt. Seinen Gedichten ist immerhin seine Jndividualität aufgeprägt. Sein
Geist, seine Anschauungs- und Gefühlsweise leuchten aus ihnen hervor. Ein
bestimmter Dichter wird eine Person in einem besondern Falle nicht ebenso
einführen, wie ein anderer zweiter, weil er eben sein ganzes Jch mit in die
Dichtung hineinbringt. Anders wird z. B. der Jüngling, die Mutter, ein
König, oder ein Bauer im gleichen Vorkommnisse bei diesem Dichter sprechen
als bei jenem. Anders wird die Anschauung des einzelnen Dichters gefärbt
erscheinen. Wesentlich bleibt nur, daß nicht gegen die Wahrheit verstoßen
ist, daß der Menschheit Seele und seines ganzen Volkes Herz auch des Dichters
Seele, des Dichters Herz sei, daß er die dunklen Gefühle, die im Herzen
wunderbar schlafen, (vgl. Schillers Der Graf von Habsburg Str. 5, dessen
Die Macht des Gesanges Str. 1, sowie Goethes Der Sänger Str. 5) gewaltig
zu wecken vermöge, daß er da, wo Qual und Weh den Mund der anderen
Menschen verstummen macht, noch ihre Leiden klagt.
3. Objektiv schreibt der Dichter, wenn er in die Geschichte, in das Gebiet
des von Andern Erlebten, in die Außenwelt, in das Räumliche, Zeitliche
eingreift, ohne mit seinem Urteil darüber in den Vordergrund zu treten.
Während der subjektive Dichter nur giebt, was er fühlt, oder was er in seinem
Herzen erlebt, während dieser seinen Leser oder Hörer nötigt, mit ihm zu empfinden,
was in seiner Brust vorgeht, entzieht sich der objektiv gestaltende Dichter
den Blicken des Lesers; nie schaut er direkt aus seinen Dichtungen hervor,
nie zeigt er sich als Held derselben. Sein Stoff in eigenartiger Verarbeitung
und Darstellung ist es, was das Jnteresse des Hörers fesselt und fesseln will.
§ 2. Volkspoesie und Kunstpoesie.
Die Einteilung der Poesie in subjektive und objektive deckt sich
im wesentlichen mit der Einteilung in Volkspoesie und Kunstpoesie.
1. Die Volkspoesie erblüht aus der dichterischen Fähigkeit eines
Volkes. Sie ist Darstellung des wirklichen Lebens in seiner Naivetät
und Wahrheit.
2. Die Kunstpoesie dagegen entreift dem individuellen Arbeiten
des Einzelnen und der Einzelnen. Sie reflektiert das wirkliche Leben
in der idealisierenden Phantasie und Empfindung des gebildeten Kunstdichters.
1. Die ursprüngliche Volkspoesie (Naturpoesie) war meist objektive Poesie,
Hervorbrechen der Empfindung mit dazwischen liegender, unmittelbarer Darstellung
der Wirklichkeit oder des nach dem Typus derselben Erdichteten. Sie
war wesentlich beschreibend, auch wo es sich um Darlegung des subjektiven
Gefühls handelte: sie bedurfte daher weniger der schönen äußern Form, als
einer Alle gleichmäßig ergreifenden poetisch=naiven Sprache voll Wohllauts.
Ein Beispiel der Volkspoesie möge dies illustrieren:
(Aus Uhlands Volkslieder Bd. 1. S. 66.)
2. Die Kunstpoesie unterscheidet sich von der Naturpoesie dadurch,
daß sie durch geeignete Gestaltung des Stoffes, den sie mit der Naturpoesie
gemeinschaftlich haben kann, irgend eine bestimmte, beabsichtigte Jdee zu
Tage fördert. Die nachfolgenden drei Bearbeitungen des gleichen Stoffes
mögen dies beweisen.
a. Die Verlassene von Geibel.
[4]
b. Die Verlassene, von Martin Greif.
NB. Die Sprache dieser Bearbeitung hat nur hie und da etwas Gekünsteltes,
Verzwicktes, weil sie den Volkston treffen will, ohne doch die eigentliche Dialektform
zu wagen. Vgl. z. B. kein' für kei' u. s. w.
c. Das verlassene Mägdlein, von Ed. Mörike.
[5]
Diese drei ungemein anschaulichen Bearbeitungen könnten die Überschrift
„Gebrochene Treue“ tragen. Bei allen ist ein verlassenes Mädchen der Gegenstand
der Scene und die Trägerin der Jdee.
Während sich bei Geibels Dichtung der Dichter vordrängt, (sofern nämlich
der für ein Bauernmädchen zu ideale, metaphorische Ausdruck in der
dritten Strophe und ihre rhetorische Pathetik in der vierten zu Erwägungen
über den Dichter herausfordern), bringen die beiden letzten Arbeiten die Empfindung
in so natürlicher, einfach schlichter, ja naiv wahrer Weise zum Ausdruck,
daß kein Mensch an den Dichter als solchen erinnert wird.
Und dennoch sind diese Dichtungen subjektiv. Sie zeichnen sich gewissermaßen
durch ihren symbolischen Charakter aus, da der Stoff nur das Äußere
der abstrakten Jdee und der tiefen Empfindung ist.
So trägt denn die Kunstpoesie ebenso dem objektiven Charakter Rechnung,
wie sie als unmittelbarer Erguß des subjektiven Empfindens des Dichters die
Jdee mit der Empfindung vereint. Dies ist besonders ein Erkennungsmerkmal
der Kunstpoesie Goethes, wie das nachfolgende Beispiel zeigen möge:
Blumengruß.
(Goethe.)
Als ein Beispiel vollendeter Kunstpoesie kann auch das so bekannte Gedicht
Die sterbende Blume von Rückert gelten, wo die Jdee der Vergänglichkeit
mit ergreifender Wahrheit zum Ausdruck gebracht ist, dabei aber überall
das subjektive Fühlen des deutschen, tiefinnigen Dichtergemütes das Poem
überstrahlt.
Derjenige Kunstdichter, welcher die Natur in ihrer Einfachheit, in ihrer
naiven Schönheit aufzufassen und wiederzugeben versteht, so daß seine Kunstdichtung
gleichsam den Eindruck der Naturdichtung macht, ist der echte Kunstdichter.
Er ist dem Genius Shakespeares verwandt, der den Beifall ablehnend
auf die Natur (besonders in folgender Stelle seines Wintermärchens IV. 3)
hinweist:
Jch hörte,
Daß, nächst der großen schaffenden Natur,
Auch Kunst es ist, die diese bunt färbt.
Sei's:
Doch wird Natur durch keine Art gebessert,
Schafft nicht Natur die Art: so, ob der Kunst,
Die, wie du sagst, Natur bestreitet, giebt es
Noch eine Kunst, von der Natur erschaffen.
Du siehst, mein holdes Kind, wie wir vermählen
Den edlern Sproß dem allerwild'sten Stamm,
Befruchten so die Rinde schlecht'rer Art
Durch Knospen edler Frucht: Dies ist 'ne Kunst,
Die die Natur verbessert ─ mind'stens ändert:
Doch diese Kunst ist selbst Natur.
§ 3. Einteilung der Poesie in klassische, romantische und
moderne Poesie.
Jn Bezug auf das Gebiet, dem der Stoff entlehnt ist, kann
man die Poesie in geistliche und weltliche einteilen; ferner in ernste
und komische Poesie, insofern sie traurige, mitleidsvolle, strafende,
erziehliche, oder aber belebte, heitere, den Humor erregende Stimmung
hervorzuzaubern bezweckt. Häufiger teilt man sie in klassische, romantische
und moderne Poesie ein.
Wie man unter einem Klassiker einen Dichter versteht, der anderen
zum Vorbild dient, so begreift man unter klassischer Poesie eine mustergültige,
fehlerlose, einfach erhabene Poesie in relativer Vollendung.
Vorzugsweise hat man bisher die Poesie der Griechen und Römer klassisch
genannt, und neuere Dichtungen hat man mit diesem Epitheton ornans nur
dann belegt, wenn sie in der Einfachheit und Regelmäßigkeit des Baus, in
der Gediegenheit der Form, in der Jdealisierung und in der Erhabenheit des
innern Gehaltes mit jenen Poesien vergleichbar waren. Heutzutage hat man
anerkannt, daß die Dichtungen eines Wieland, Lessing, Goethe, Schiller,
Rückert &c. allen Anforderungen an vollendete Kunstwerke entsprechen, und man
hat diese Dichter als deutsche Klassiker bezeichnet. (Vgl. Bd. I. S. 88.)
Die Bezeichnung klassisch ist selbstverständlich nur relativ zu verstehen;
denn der menschliche Geist entwickelt sich in stetem Aufbau auf das Vorhandene,
und es läßt sich erwarten, daß Geister kommen werden, welche größer sein
werden, als Wieland, Lessing, Goethe, Schiller, Rückert &c.
Unter romantischer Poesie versteht man diejenige Poesie, welche
dem Geiste des mittelalterlichen Rittertums entspricht, welche der Frauenverehrung
und den religiösen Anschauungen des Mittelalters dient, nach welchen
Anschauungen das Wunder und die dämonischen, feenartigen, geisterhaften Wesen
eine Rolle spielen. Da in den Anschauungen, Empfindungen und Dichtungen
des Mittelalters sich ein dunkler Drang nach dem Jenseits und dem Übernatürlichen
zeigt; da ferner das Ahnungsvolle, Phantastische allenthalben hervortritt,
so begriff man unter Romantik das Wunderbare und Rätselhafte.
Seit dem letzten Decennium des vorigen Jahrhunderts pflegte eine
ganze Dichterschule diese Poesie. Das Wort „romantisch“ wurde zuerst [7]
litterarischer Parteiname, als Tieck 1800 seine Gedichte unter dem mit voller
Unbefangenheit gewählten Titel „Romantische Dichtungen“ herausgegeben
hatte. (Vgl. R. Köpke: „Ludwig Tieck.“ I. 265.) Die romantische
Schule erstrebte Verjüngung der mittelalterlichen Poesie und eine Vereinung
der Litteraturen, besonders der romantischen, zur Weltlitteratur. Jhre mit
Fichtes Jdealismus und Schellings Naturphilosophie durchtränkte Weltanschauung
versuchte eine Art Verbindung von mittelalterlich=christlicher Schwärmerei und Pantheismus.
Die Gedichte der romantischen Dichter (vgl. Bd. I. S. 58 und 88)
zeichnen sich durch eine gewisse Überschwenglichkeit aus, durch eine märchenhafte
Behandlung des Stoffs, den man auch in demselben Sinne romantisch nennen
kann, wie man etwa eine Gegend durch dieses Attribut charakterisiert.
Moderne Poesie endlich nennt man diejenige Poesie, welche in dem
Anschauungskreise unserer Generation sich bewegt, welche ihre Figuren und
Helden der Gegenwart entsprechend zeichnet, welche absichtlich zu dem Traum=
und Phantasieleben der romantischen Poesie einen Gegensatz bildet und dem
Realismus der modernen Zeit mit ihren Empfindungen, Bestrebungen, Kämpfen,
Kriegen, Kulturfortschritten und Eroberungen auf allen Gebieten Rechnung
trägt und das Edelmenschliche, Vernünftige und Freiheitliche pflegt. Freilich
schält sich der moderne Dichter in der Einfachheit und Gediegenheit seines
Kunstwerkes ebensowenig vom klassischen Dichter los, als er in Bezug auf Anschaulichkeit
und Lebendigkeit der bilderreichen Phantasie und im Geschmack der
Darstellung hinter dem romantischen Dichter zurückbleiben will.
§ 4. Einteilung der Poesie nach Stoff und Form.
1. Die geläufigste, allgemeinste und bezeichnendste Einteilung der
Poesie ist die in lyrische, didaktische, epische und dramatische
Poesie.
2. Diese Einteilung entbehrt nur scheinbar des einheitlichen
Fundaments.
3. Bei näherer Betrachtung liegt dieses Fundament a. im Zweck,
b. im Ursprung und Stoff der Poesie.
1. Die Einteilung der Poesie in lyrische, didaktische, epische und dramatische
Poesie ist späteren Datums. Platon kennt (in der Stelle Rep. II. 379 A.
in freilich nur vorübergehender Erwähnung) nur Epos und Tragödie: („Τοιοίδε
που τινὲς, ─ sc. εἰσὶν οἱ περὶ θεολογίας τύποι ─ ἦν δ' ἐγώ, οἷος
τυγχάνει ὁ θεὸς ὤν, ἀεὶ δή που ἀποδοτέον, ἐάν τε τις αὐτὸν ἐν
ἔπεσι ποιῇ, ἐάν τε ἐν τραγῳδίᾳ.“) Als Philosoph macht er nicht gelegentlich,
sondern recht systematisch nur einen Unterschied zwischen nachahmender und
heiliger Poesie. Selbst Homer verbannt er aus seinem Jdealstaate, in welchem
nur die heilige Poesie geduldet sein soll. (Rep. Buch II. III. gelegentlich,
dann X. bis pg. 607.) Anderwärts teilt er nach Bedürfnis ein in Epos
und Tragödie oder in diese und Komödie, oder er spricht auch noch vom Drama
(Sympos. 222 D.).
Bis in unsere Zeit teilte man in der Regel nur in lyrische, epische und
dramatische Poesie.
Wackernagel und auch Goethe (über das Lehrgedicht) sprachen sich noch
gegen die didaktische Poesie als vierte Hauptgattung aus. Derselbe Goethe
sagt jedoch: „Alle Poesie soll belehrend sein, sie soll den Menschen aufmerksam
machen, wovon sich zu belehren wert wäre; er muß die Lehre selbst daraus
ziehen, wie aus dem Leben.“
(Vgl. hierzu Horatius A. P. 333 ff:
Aut prodesse volunt, aut delectare poetae;
aut simul et jucunda, et idonea dicere vitae.
Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci,
lectorem delectando, pariterque monendo.)
Wir weisen der didaktischen Poesie aus den in den §§ 13, 14, 15 S. 18 ff.
d. Bds. entwickelten Gründen eine hohe ebenbürtige Stellung an.
2. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Einteilung in lyrische,
didaktische, epische und dramatische Poesie scheinbar an einem logischen Fehler
leidet. Sie scheint des einheitlichen Fundaments zu entbehren, indem Lyrik
(μέλος == das Gesungene), Epik (ἔπος == das Gesprochene), Drama (δρᾶμα
== die Handlung) auf das Darstellungsmittel der Poesie fundiert sind, die
Didaktik hingegen auf den Zweck.
3. Doch zeigt eine genauere Betrachtung die Möglichkeit einer einheitlichen
Fundierung a. im Zweck, b. im Ursprung und Stoff.
a. Jm Zweck.
Es steht fest, daß die Lyrik (d. i. die Poesie der Empfindung) die
eigenen d. i. subjektiven Gefühle und Empfindungen des Dichters, seine
eigene Welt ausdrückt und ihm ermöglicht, sein eigenes Fühlen zum Objekt
und zum Gegenstand der Empfindung auch für Andere, für die äußere Welt
zu machen; daß weiter die Didaktik (d. i. die Gedankenlyrik) mit der Absicht
zu belehren und sich über Fragen aus Natur, Welt, Menschenleben u. s. w.
zu verbreiten, das Gleiche thut; daß drittens die epische Poesie (oder die
Poesie der Anschauung) von vergangenen Dingen erzählt und der Anschauung
und Empfindung die äußere Welt mit den Gestalten und Begebenheiten einer
Vergangenheit vorführt; daß endlich die Dramatik (d. i. die Poesie der
Handlung) redend handelnde Personen unmittelbar vorführt und den übrigen
Dichtungsgattungen Gelegenheit zur ebenbürtigen Entfaltung wie zur harmonischen
Vereinigung bietet.
b. Jm Ursprung und Stoff.
Die lyrische und die didaktische Poesie sind subjektiv, denn der Dichter
giebt nur seine eigenen Gefühle und ist der eigene Held seiner Dichtungen,
während die epische Poesie objektiv ist und die dramatische das subjektive und
objektive Element vereinigt. Ein Fundament für die Einteilung ergiebt somit
der Umstand, ob der Stoff der Poesie der Jnnen- oder Außenwelt entstammt,
ob er der Thätigkeit unserer Phantasie entspringt, oder ob er der Sage und
Geschichte entquillt, ob erzählt wird, oder ob die Personen handelnd und redend [9]
auftreten. (Erinnerung an eine antike Einteilung in I. μίμησις a. Ausprägung
in Bildern für die Phantasie, b. Plastische Darstellung. II. ἀπαγγελία
und διήγησις, erzählende und belehrende Darstellung. III. Reflexion.) Die
Phantasie, die man nicht ohne Grund das Vermögen der Dichter genannt hat,
befähigt uns, die übersinnliche Welt von Begriffen und Jdeen in sinnlichen
Bildern auszudrücken. Sie zeigt sich zunächst als schaffende und als empfindende
Phantasie. Die schaffende erzeugt unter Anwendung des ihr aus der Außenwelt
zukommenden Stoffes die epische und die dramatische Poesie, während die
empfindende Phantasie die Lyrik und die Didaktik hervorbringt. Diese Thatsache
beweist ein einheitliches Einteilungsfundamentum.
§ 5. Einteilungsschema der Poesie.
Aus dem Abgehandelten ergiebt sich folgendes übersichtliche Einteilungsschema:
Die Poesie entstammt stofflich
A. Der Jnnenwelt.
Die Jnnenwelt (ihrer Art nach sub=
jektiv) umschließt:
a. Empfinden, b. Denken,
und äußert sich als
1. Lyrik. 2. Didaktik.
Die Lyrik schildert Die Didaktik lehrt,
subjektiv. sofern sie schildert
oder erzählt.
B. Der Außenwelt.
Die objektive Außenwelt behandelt:
c. Raum, d. Zeit,
und äußert sich als
3. Epik. 4. Dramatik.
Die Epik erzählt Die Dramatik handelt,
objektiv. gestaltet dialogisch.
Erstes Hauptstück.
Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik, Epik
und Dramatik. ──────
I. Lyrik.
§ 6. Begriff der Lyrik.
1. Lyrik ist die Poesie des subjektiven Gefühls, der subjektiven
Empfindung, der augenblicklichen subjektiven Stimmung.
2. Jhren Namen hat sie von der Lyra (λύρα), einem griechischen,
an die Stelle der Kithara (oder Kitharis) getretenen Saiteninstrumente,
mit dessen Begleitung die subjektiven Dichtungsarten vorgetragen wurden,
ähnlich wie die lyrischen Gesänge des deutschen Mittelalters mit Harfe
und Geige. Die älteren Griechen bezeichneten sie als Melos.
1. Man könnte die lyrische Poesie den musikalischen Ausdruck des
Gefühls in all' seinen Stimmungen nennen, einen musikalischen Ausdruck
der subjektiven Empfindungen, denen die äußere Welt der Erscheinungen
nur der Spiegel ist. Die Summe der Empfindungen ist die Lyrik.
Die Empfindung ist gleichsam die geheimnisvoll durchdringende Macht, von
welcher die Stoffe angezogen werden, wie das Eisen vom Magnet, so zwar,
daß beim Anschlagen des fremden Stoffes jedesmal das Gemüt erklingt in
Freude oder Schmerz, in Liebe oder Haß, in Begeisterung oder Verzweiflung,
in Hoffnung oder Bangigkeit, in welcher Beziehung man von einer Lyrik der
Liebe, der Freude, der Trauer, des hohen Seelenschwunges &c. reden
könnte. Jedes lyrische Gedicht strömt die eigenste Empfindung des bestimmten
Dichters aus. Der Lyriker, der sich nur der Außenwelt gegenüber setzt, sagt,
was er selbst fühlt, was sich mit seiner Person ereignet, spricht von seinem
Erlebten, doch so, daß die Thatsache des Erlebten vor der Gewalt der Stimmung
zurücktritt und zu derselben schließlich höchstens in einem Verhältnis bleibt, wie
der Draht zu der ihn durchzuckenden Elektrizität. Die Lyrik ist ─ um mit
Gottschall zu reden ─ aus dem Bedürfnis des Gemüts hervorgegangen, sich
selbst in künstlerischer Verklärung gegenwärtig zu werden. Erst wenn die [11]
Stimmung künstlerische Gestalt gewonnen, steht das Gemüt ihr nicht nur als
einer fremden gegenüber, sondern es sieht seine Empfindungen, der Erdschwere
entnommen, in den lichten Äther gehoben und dem flüchtigen Spiel eine schöne
Dauer gegeben.
2. Man nannte die lyrische Poesie ursprünglich die melische in der Absicht,
durch diese Benennung die lyrischen Gedichte als organisch gegliederte
Ganze auszuzeichnen. (τὸ μέλος und τὰ μέλη, einstrophige und mehrstrophige
Gesänge, ähnlich: „daz liet und diu liet.“ Die Benennung μέλος oder
μέλη hatte auch den Gesang (Melodie) mitbezeichnet. Aristoteles kennt den
Ausdruck λυρική noch nicht: in den Anakreontea kommt λυρικὴ μοῦσα vor,
noch bei Plutarch aber μελικὴ ποίησις neben λυρική. (Vgl. Plut. Num.
4 u. Anth. ─ Plut. consol. ad Apoll. p. 365. ─ Schol. Ar. Av. 209.)
§ 7. Stoffe der Lyrik; das lyrische Gedicht == Gelegenheitsgedicht.
1. Die Stoffe der Lyrik sind so reich und mannigfach, als die
Empfindung und die subjektive Auffassung verschieden ist. (Vgl. Bd. I.
§ 16. S. 39.)
2. Sie erblühen der individuellen Behandlungsweise, der eigenartigen
Geisteswelt und Weltanschauung des Lyrikers. (Vgl. Bd. I.
S. 40. 2.)
3. Da somit weniger der objektive Stoff, als die subjektive Auffassung
und Behandlung des Stoffs das Wesentliche ist, (vgl. Bd. I.
S. 40. 3) so ist das Stoffgebiet der Lyrik unerschöpflich.
4. Das lyrische Gedicht ist seiner Veranlassung nach Gelegenheitsgedicht.
1. Der Lyriker singt:
(Uhland.)
2. Der Stoff der Lyrik ändert sich nicht, aber „der stets sich erneuernde
Blumenflor“, wie Hegel die Lyrik nennt, treibt immer wieder neue Blumen
hervor, je nach der Originalität des Dichters. Von den Naturlauten der
Volkspoesie bis zu den gedankenreichen malerischen lyrischen Dichtungen der
Kunstpoesie unserer Zeit ist die reichste Stufenleiter der Stoffe nachweisbar, die
lediglich durch die eigenartige Behandlung, d. h. durch den Zusatz von Subjektivität
seitens des Dichters Stoffe der Lyrik werden. Je einfacher, geringfügiger,
unscheinbarer der Stoff, desto mehr wird die Subjektivität des Dichters
hinzuthun. Zum Beleg beachte man das folgende Gedicht M. Greifs, dessen
winziger Stoff ein Mädchen ist, das in den Bach hineinblickt:
Die Einsame.
3. Dadurch unterscheidet sich der echte Lyriker vom Nachahmer, daß ihn
allenthalben die Stoffe poetisch ansehen, daß sich ihm alles in Liederstoff verwandelt.
4. „Wie Thränen, die uns plötzlich kommen, so kommen plötzlich unsre
Lieder“ sagt Heine und bestätigt dadurch, daß die unter der Anschauung der
Dinge entstandenen lyrischen Gedichte Gelegenheitsgedichte sind.
Diese Ansicht sprach vor allen Goethe in den Gesprächen mit Eckermann
I. S. 54, aus, indem er sagte: „Die Welt ist so groß und das Reich des
Lebens so mannigfaltig, daß es an Anläufen zu Gedichten nie fehlen wird.
Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, d. h. die Wirklichkeit muß
die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird
ein specieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine
Gedichte sind Gelegenheitsgedichte; sie sind durch die Wirklichkeit angeregt
und haben darin Grund und Boden.“
(Goethe.)
§ 8. Eigenart des Lyrikers.
1. Jeder echte Dichter hat seine besondere Geisteswelt, seine eigenartige
Natur- und Weltanschauung, seine eigenartige Behandlungsweise.
2. Die Ursprünglichkeit des dichterischen Jngeniums verwechselt
der Nachahmer meist mit einer „surrogativen, objektiven Originalität“,
mit der Originalität der Stoffe, die doch ─ wie im vorigen Paragraphen
erwähnt ─ in der Lyrik ewig die gleichen sind.
3. Lediglich die Eigenart des Lyrikers in der Behandlung und
seine subjektive Auffassung, nicht aber der objektive Stoff, der immerhin
die Anregung und die Veranlassung zum Gedicht werden kann,
sind in der Lyrik das Wesentliche.
1. Die Art und Weise, wie die Empfindung des Dichters künstlerische
Gestalt annimmt, zeigt die Eigenart des Dichters, der seinen Stoff je nach
seiner Bedeutung verständnisvoll abklären und dichterisch idealisieren wird.
Gleiche äußere Anlässe bei verschiedenen Lyrikern erzeugen doch nicht gleiche
Lyrik (siehe § 2). Dem wahren Dichter und seiner Assimilationskraft tritt zwar
der äußere Stoff als Liederstoff entgegen, aber als ein durch eigenartige
Behandlungsweise individuell und subjektiv werdender.
2. Dem wahren Lyriker öffnet irgend ein Stoff den strömenden Dichterquell,
der unechte wirft sich auf einen bestimmten Stoff und müht sich, aus
dem Stoffe herauszupressen, was ihm selber fehlt. Der wahre Lyriker hascht
daher nicht nach Stoffen wie der Nachahmer; er vermählt den beliebigen, ihn
anregenden Gegenstand sofort mit seiner subjektiven Seelenstimmung. Die
Auen, die Blumen, die Wälder, die Tiere, alles fühlt mit ihm, alles ist
Echo seiner Gefühle, die bei größeren Reihen von Gedichten sich als Elemente
seiner Lyrik herausschälen lassen. Je nach der eigenartigen Bildung walten
als solche Elemente vor z. B. das Vaterlandsgefühl, oder das Heimatsgefühl,
oder das Gefühl für das Jdyllische, oder das Gefühl für die Natur, oder
das religiöse Gefühl, oder das Gefühl für die Liebe.
3. Die Eigenart des Dichters zeigt sich in der besonderen, dichterischen
Behandlung seines Stoffes, was Geibel, zwar etwas nachlässig in Form und
Sprache, doch erschöpfend und wahr so ausdrückt:
(Geibel, Distichen XVI.)
§ 9. Anforderungen an den Lyriker.
1. Vom Lyriker verlangen wir Wahrheit der Empfindung, Empfänglichkeit
für alles Schöne, Zartheit des Gemüts, welches leicht in
Schwingungen versetzt wird und das Jdeale rein darzustellen vermag,
Harmonie des Seelenlebens.
2. Der Dichter muß erhöht empfinden.
3. Er muß der Gegenstand seiner Lyrik sein.
1. „Ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz ist es, was den
Lyriker macht“, sagt Goethe. Wir sehen dem Lyriker nichts nach, weil seine
Gefühle auch die unsrigen sind. Wir dichten mit ihm und hassen jede Aufdringlichkeit
von Gefühlen, weil wir alle Mittelempfindungen genau kennen,
oder sogar mitempfinden. Wir sind erzürnt über Anmaßung, wie über allzu
naive Kindlichkeit und rügen es, wenn der Lyriker aus seiner eigenen Gefühlssphäre
heraustritt. Der Lyriker soll sich selbst seine ganze Welt sein, ohne
darnach zu fragen, wer ihn höre.
(Rückert.)
Das ist der wahre Lyriker, der, unbekümmert um die Außenwelt, seinen
Gefühlen Ausdruck verleiht, der nicht auf das Gefühl der Anwesenden spekuliert,
der nicht aus seinen Empfindungen Kapital schlagen will, der singet „wie der
Vogel singt“. (Vgl. § 1. 2 d. Bds.)
(u. s. w.)(Rückert.)
Die lyrische Poesie will es für sich aussprechen und in Worte fassen,
was das Herz „leidvoll und freudvoll“ überfließen macht.
(Goethe.)
Das ist die Unmittelbarkeit des subjektiven Empfindens: der Lyrik. Wer
den Dichter so sprechen hört, der störe ihn nicht; er lasse ihm das Gefühl,
unbeachtet zu sein.
2. Dem Lyriker wird die Welt erst bedeutungsvoll, wenn sie durch das
Medium seines Herzens hindurch gegangen ist.
(Rückert.)
Dann aber ist auch die Welt seine Welt geworden, und diese seine
innere Welt macht dann sein Gefühl überfließen. (Vgl. Rückerts geharnischte
Sonette, z. B. „Wir schlingen unsre Händ' in einen Knoten.“ Oder „Nennt
es, so lang's Euch gut dünkt, nennt's Verschwörung.“) Jeder urteilt bei
solchen begeisterten Gefühlsäußerungen: Das ist dichterische Empfindung, das
ist wahre dichterische Empfindung, echte Lyrik. ─ Schiller sagt in seiner Besprechung
der Gedichte Bürgers: „Mit Recht verlangt der gebildete Mann
von dem Dichter, daß er im Jntellektuellen und Sittlichen auf einer Stufe
mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken
will. Es ist also nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern:
man muß auch erhöht empfinden. Begeisterung allein ist nicht genug;
man fordert die Begeisterung eines gebildeten Geistes. Alles, was der Dichter
uns geben kann, ist seine Jndividualität. Diese muß es also wert sein, vor
Mit- und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Jndividualität so sehr
als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern,
ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen
zu rühren. Der höchste Wert seines Gedichtes kann kein anderer
sein, als daß es der reine, vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage,
eines interessanten vollendeten Geistes ist. Nur ein solcher Geist soll sich uns
in Kunstwerken ausprägen; er wird uns in seiner kleinsten Äußerung kenntlich
sein, und umsonst wird, der es nicht ist, diesen wesentlichen Mangel durch Kunst
zu verdecken suchen.“
3. Aus dem Bereich der eigentlichen Lyrik tritt der Dichter heraus,
der nicht selbst das Subjekt seiner in Liedern kundgegebenen Empfindungen
bleibt, sondern andere fingierte oder wirkliche Personen zu Trägern derselben
macht und seine Gefühle an historische Anschauungen und Fiktionen anknüpft.
Will er Lyriker bleiben, so muß er da, wo er sich in die Stimmung einer
andern Person versetzt, oder wo er sich als Organ der ganzen Menschheit betrachtet,
mindestens aus dem Geist und Gemüt der von ihm Vertretenen heraussprechen. [15]
Ebenso muß er bei Stoffen aus der Natur die Natur mit seinem
Gefühl durchziehen, sie mit seiner Jdealität vermählen und aus diesem Gefühl
heraus sie reden lassen, wie es beispielsweise Heine in den Naturbildern
„Fichtenbaum“ und „Lotosblume“, ─ Goethe in „Erwin und Elmire“ &c.
gethan hat. Auch bei den Naturbildern muß die Empfindung und das Gefühl
des Dichters der Mittelpunkt bleiben, und stets muß der weitauszubreitende
Blütenbaum seiner Poesie auf dem Stamm seines subjektiven Jch ruhen bleiben.
§ 10. Das paläontologische (primitive) Element der Lyrik.
1. Die Anschauung=verleihenden, malenden Beiwörter sind die
wichtigsten Bestandteile der Lyrik.
2. Viele derselben erscheinen wie eingetrocknete, gewissermaßen zu
Versteinerungen gewordene Metaphern.
3. Der gebildete Dichter wird seine erhöhte Empfindung durch
geschickte Verwendung der Metaphern beweisen, dem weniger gebildeten
fehlt der sprechende Ausdruck. Note: Abgr. Beiwort
1. Schon Aristoteles sagt (Rhetorik III. 3) von Alkidamas, daß ihm die
Epitheta nicht bloß eine Würze der Rede (ἥδυσμα) seien, sondern die Hauptkost
(ἔδεσμα). Wie sehr er im Rechte war, haben wir in Bd. I. § 30
S. 137 ff. gezeigt. Jn der Lyrik sind die malenden Beiwörter umsomehr
am Platze, als sie wesentlich dazu beitragen, dem Gefühlsausdruck seine eigenartige
Färbung zu verleihen.
2. Die Auffassung der Lyrik als paläontologische Weltanschauung ─ wie
sie Karl du Prel in „Psychologie der Lyrik“ versucht hat, ─ zwingt uns, an
den Standpunkt zu denken, welchen der Mensch im Naturzustand und ohne
Schulbildung einnimmt. Es ist der Zustand, in welchem der Mensch seine
Anschauung durch Naturbelebung und Naturbeseelung (Personifikation) ausdrückt.
Viele Beiwörter aus jener Zeit und aus jener Bildungssphäre lassen
keinerlei Reflexion zu und haben es lediglich auf Anschaulichkeit abgesehen.
Sie sind Grenzsäulen der dichterischen Anschauung und muten uns wie Versteinerungen
an. Bekanntlich ist die Sprache der Wilden um so reicher an personificierenden
Metaphern, je ärmer sie ist. Vgl. Bd. I. S. 148 ff. u. S. 169 ff. Note:
3. Die erhöhte Empfindung des Lyrikers zeigt sich in der glücklichen
Anwendung des metaphorischen Beiworts, das dem lyrischen Gedichte
jedesmal ein besonderes Gepräge verleiht, und durch welches, wie schon B. I.
S. 138. 2. angedeutet, Note: z. B. Goethe seine Weichheit und Anmut, Schiller
seinen idealen Schwung, Rückert seine herzerwärmende Jnnigkeit, Platen
seine klassische Würde, Lenau seinen gewitterschwülen, die Brust beängstigenden
und doch so süß bestrickenden Zauber, Heine seine bald leichtfertig tändelnde, [16]
bald ergreifende Leichtigkeit, Chamisso seine anmutend liebenswürdige Naturwahrheit,
Freiligrath seine hochfliegende Freiheitsbegeisterung, Geibel seine
glatte, einfache, sinnige Weichheit, Gottschall seine vom Gedanken durchleuchtete
Klarheit, Keller sein sinniges Gemüt und seine gesunde Männlichkeit
erreicht. Die Metapher bedingt zum Teil das Unterscheidende der Richtungen
und Schulen. Note: Ein Dichter des Mittelalters hat andere Metaphern als
Homer, oder auch als der Dichter des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, Note: Personen: Dichter des MA, Homer, Dichter des 17., 18., 19. Jh. ein
Romantiker andere als ein Klassiker, Heine andere als Geibel, Herwegh Note: Personen: Romantiker, Klassiker, Heine, Giebel, Herwegh andere
als Freiligrath. Note: Person: Freiligrath Freilich macht die Metapher nicht das Wesen der Lyrik aus; Note:
dieses liegt, wie im vorigen Paragraphen ausgeführt wurde, im dichterischen
Jngenium, im gebildeten Gefühl des Dichters, in seiner quellsprudelnden
Phantasie, wodurch er befähigt wird, im Geistesflug über die Erde und ihre
Erscheinungen zur reinsten Ätherhöhe sich emporzuschwingen, bald hier das Auge
an den lebensvollsten Erscheinungen labend, bald dort den Blick an den brillantesten
Phantasiegemälden bezaubernd &c.
§ 11. Umfang des lyrischen Gedichts.
Da das reine Gefühl nur Eine Grundstimmung haben kann,
da ferner das lyrische Gedicht der Stimmung des Augenblicks entquillt,
so erhellt, daß ein Abirren nicht gut möglich ist.
Das Eine Gefühl bedarf keiner Ausbreitung; auch kann die Empfindung
als Spannung auf einen Punkt wohl Dauer, aber keinen großen Umfang
haben, weshalb das lyrische Gedicht seiner Natur nach kurz und einfach ist,
im Gegensatz zum epischen Gedicht, das unendlich ausgebreiteten Stoff zur
Beschauung gewährt.
Wird der äußeren Anschauung ein das subjektive Fühlen beeinträchtigendes
Übergewicht eingeräumt, so wird das Gedicht episch=lyrisch, ─ sofern es
aber Gedankenreihen entwickelt, didaktisch=lyrisch.
§ 12. Stil im allgemeinen, und Stil der Lyrik.
1. Der Stil im allgemeinen, wie speziell der Stil eines Gedichtes
ist von wesentlicher Bedeutung. Jeder Stil ist Form und doch spricht
aus ihm zugleich die Seele, das Eigenartige des Schriftstellers und
Dichters.
Man unterscheidet in der sprachlichen Darstellung:
a. den niederen Stil,
b. den mittleren Stil,
c. den hohen Stil oder den Stil der Lyrik.
2. Der Stil der Lyrik selbst hat mehrfache Abstufungen.
1. Der niedere Stil ist die Redeform des Verstandes und beherrscht
das Gebiet der Prosa. Er verlangt Deutlichkeit. Der mittlere Stil steht [17]
im Dienste der Einbildungskraft und fordert vor Allem Anschaulichkeit,
weshalb er in der gesamten Poesie ─ die lyrische ausgenommen ─ sich
findet. Der höhere Stil ist der Stil des Gefühls, weshalb Erregung,
Erhabenheit über das Gewöhnliche, Leidenschaft &c. seine Merkmale sind, wenn
er auch der Deutlichkeit und Anschaulichkeit nicht entraten kann oder will.
Sofern der höhere Stil neben Belebung des Gefühls auch Deutlichkeit
erstrebt, ist er der oratorische Stil. Sofern er jedoch mit Erregung des
Gefühls epische Anschaulichkeit erstrebt, ist er der Stil der Lyrik.
Die griechischen Rhetoren führen als leidenschaftliche Erregungen des
Gefühls an: Ethos (ἦθος) und Pathos (πάθος), wofür Quintilian die
affectus mites und affectus concitatos setzt.
Die Affekte des Ethos sind sanfter, ruhiger, rührender, gemütlicher Natur,
die des Pathos lebhafter, bewegter, ergreifender, leidenschaftlich fortreißender Art.
2. Man teilt den Stil der Lyrik ─ denselben an sich betrachtet ─ wieder
ein in einen niederen, in einen mittleren und in einen höheren Stil der Lyrik.
Die Elegie, (§ 75) welche dem Lyrischen noch das Epische am meisten beimischt,
repräsentiert in dieser Beimischung den niedern Stil der Lyrik. Das
Lied, (§ 62 ff.) welches sich von den epischen Äußerlichkeiten teilweise losringt,
zeigt den mittleren Stil der Lyrik. Die Ode, (§ 71), der Hymnus (§ 73)
und der Dithyrambus (§ 74) hingegen, in welchen Gattungen die Empfindung
zum höchsten Jdealismus sich emporschwingt, zeigt den höheren Stil der Lyrik.
Jn der rührenden Elegie zeigt sich das Ethos; in der Ode, dem Hymnus &c.
das Pathos; das Lied steht in der Mitte.
Von dem Stil der oratorischen Prosa, welcher vor allem Deutlichkeit
neben Anschaulichkeit und Leidenschaftlichkeit, d. i. eine lebensvolle, schöne Wirklichkeit
erstrebt, unterscheidet sich der Stil der lyrischen Poesie dadurch, daß er
nicht das Verstandesmäßige aufsucht, weil das sezierende Verstandesmäßige nur
eine negative Rolle in der Lyrik spielt, und daß er Wohllaut in der metrischen
Anordnung der Worte fordert. Sein Ziel ist vielmehr schöner Ausdruck und
lebhafte Erregung des Gefühls. Dabei ist sein Ausdruck bald Ethos, bald
Pathos, bald eine Vereinigung beider. Jn seiner niedern Form bedient er
sich mehr der Figuren, in der höhern der plastischen Tropen. Der niedern Art
steht der volkstümliche, idyllische Ton gut, weshalb sie sich auch zuweilen der
Provinzialismen bedient, oder ganze Gedichte in einer der Mundarten bietet,
während die höhere Form kühnen Gedankenflug, kühne Bilder, Wortschöpfungen,
Neologismen erstrebt oder gestattet. Die Ode liebt Satzgefüge, die Elegie kürzere
Sätze (vgl. Schillers Elegie Der Spaziergang mit den Oden Klopstocks &c.).
Die Lyrik als höchste Gattung der Poesie (die vollkommenste ist das umfassende,
auch die Lyrik ermöglichende Drama) erhebt aus den Gebieten des
Sinnlichen zu denen des Jnnerlichen, Übersinnlichen, Geistigen, Gefühlsmäßigen.
Daher ist der Stil der Lyrik nicht mit der monotonen Wiederkehr gleicher
Rhythmen zufrieden, wie Epos und Drama, sondern er verlangt eine der
Bewegung, dem Gefühlsausdruck entsprechende Mannigfaltigkeit in den Verstakten,
Versen und Strophen. Wie die Gefühlszustände wechseln, so läßt er [18]
im Äußeren belebte Mannigfaltigkeit eintreten. Er verbindet die verschiedenartigsten
Versarten unter einander, sowie symmetrische und unsymmetrische
Strophengebäude, er wendet zwei- und mehrgliedrige Strophen an, Antistrophen
und Epoden und a. m.
II. Didaktik.
§ 13. Begriff des didaktischen Gedichts und der didaktischen
Poesie.
1. Gedichte der Kunstpoesie, in denen der Gedanke, die Jdee
vorherrscht, oder denen es lediglich um Veranschaulichung eines Gedankens
zu thun ist, oder welche Wahrheiten der Sittenlehre, der
Religion, der Philosophie in schöner Form zur Kenntnis bringen, sind
didaktische Gedichte.
2. Die didaktische Poesie gehört zur subjektiven Poesie. Sie ist
die Lyrik des Verstandes, die Gedankenlyrik. Jhr Gegenstand und
Wesen ist ein geist- und gemütreiches Abstraktes, das sie in schöner
Form bietet. Dieses Abstrakte ist der durch die dichterische Phantasie
bestrahlte und verklärt durch das Medium des Herzens gegangene
Gedanke.
3. Jm Gegensatz zur Lyrik läßt die Didaktik daher das Reflektierende,
das Jnstruktive und Spekulative zu, wenn dieses auch nicht
ihr eigentlicher Zweck ist.
1. Von der Lyrik des Gefühls unterscheidet sich die Didaktik dadurch,
daß die Erregung des Gefühls keine unmittelbar oder direkt diktierte ist, vielmehr
das Gefühl erst durch verstandesmäßige Anregung in Schwingung versetzt
wird, daß also die Erhebung auf den Gedanken gegründet ist und als
Zweck der poetischen Produktion erscheint.
2. Der Didaktiker wählt den Weg zum Herzen durch den Kopf und
erreicht seine Wirkung durch den Wiederhall, welchen der Gedanke dem Herzen
entlockt.
Da die didaktische Poesie somit hauptsächlich den Gedanken zu ihrem
Vorwurf nimmt, so gehören ihre Gegenstände entweder der Außenwelt, oder
doch wenigstens der objektiven Herzenswelt an. Letztere verwertet dieselben
nicht selten zu Spekulationen, so daß Gedankenreihen entstehen, die zunächst
belehrend (instruktiv) wirken, die aber mit dem Gemüt immerhin verschwistert
sind, und selbst in der Belehrung wie in der Spekulation mindestens eine
Beziehung auf das Gefühl haben. Jch denke hier zunächst an Rückerts Lehrgedicht
„Weisheit des Brahmanen“ und muß mich daher auf Belehrung
und Spekulation als zwei durch Rückert in die didaktische Poesie gebrachte
wesentliche Momente etwas weiter einlassen.
3. Spekulation, Reflexion und Belehrung in der Didaxis. An
sich darf und will die Poesie nicht belehren; ihr ursprünglicher Zweck ist, wie [19]
der alles Schönen, zu erfreuen. Daher gehören Belehrung und Spekulation nicht
in den eigentlichen Begriff der Poesie, deren Gesetz allein die Schönheit ist.
Beides, das Jnstruktive wie das Spekulative, beeinträchtigt das ruhige Empfinden,
die unmittelbare Aufnahme und den ungeteilten Eindruck: das Jnstruktive,
weil es das Gefühl erst in zweiter Linie berücksichtigen kann;
das Spekulative, weil es seinem Wesen nach nicht als fertig dargereicht
wird, und somit ebenfalls nicht auf das Gefühl unmittelbar wirkt. Dante
(Göttliche Komödie) und Goethe (Faust) haben allerdings das Problem der
Vereinigung von Spekulation und Poesie gelöst, während andere, wie W. Jordan
(Demiurgos), Mosen (Ahasver) philosophisch reflektierend blieben.
Wenn schon eine leichte Reflexion dem Dichter zum Gedichte werden kann,
und er zu seinem Gedichte die passende, schöne Form findet, soll dann nicht
auch für den höchsten Gedanken, für die höchste Spekulation eine Form gefunden
werden können, unter welcher das Gedankliche, Spekulative für die Poesie
flüssig gemacht wird, sollte nicht eine vollendete dichterische Darstellung zu erzielen
möglich sein, in welcher auch dieser tiefe Jnhalt mit einer dichterischen
Form sich deckt? Da hier der Jnhalt an das Erhabene grenzt, so wird allerdings
auch die Form erhaben sein müssen. Das Erhabene aber ist nur das
Schöne in gewaltiger Form. (Vgl. Bd. I. S. 92 u. 93.) Die wahre
ästhetische Freiheit liegt gerade in der Form, durch welche auf das Ganze
des Menschen gewirkt werden kann. Wir geben zu, daß ein in Reime gebrachtes
philosophisches System noch kein Gedicht sei; aber wir verlangen eben vom
didaktischen Gedichte etwas anderes, vielleicht das Höchste, was durch dichterische
Darstellung auszudrücken ist. Wir verlangen, daß der Dichter und der
Philosoph nicht zwei Personen seien, sondern eine einzige normale,
geist- und phantasiereiche Persönlichkeit, welche ihren
Platz auf dem Parnaß hat, der aber die Thäler der Weisheit
nicht verschlossen seien. Nur so finden die ernsten Harfentöne drunten
im Thale ihren entzückenden Wiederhall, während oben neben der Harfe die
Lyra bebt und leise harmonische Accorde mit einmischt, wenn die Schallwellen
der Harfe über sie hinstreichen.
Dies war auch Rückerts Ansicht. Er sprach sie nur mit andern Worten aus:
(Weisheit des Brahmanen X. 98. S. 379.)
Jene sogenannte Didaktik, bei welcher sich das Lehrhafte als solches ausschließlich
in den Vordergrund drängt, oder die das Ergebnis von Spekulationen
ohne alle subjektive Durchdringung und Belebung nur in bloße Reime bringt,
fällt aus aller Poesie heraus, eben weil eine, wenn auch noch so schön
aufgeputzte nüchterne Lehre nur Reimerei sein kann; eine Reimerei, bei welcher [20]
die Lyra nimmermehr mitschwingen wird. Jene Didaktik jedoch, welche die
höchsten Fragen aus Natur und Menschenleben begeistert zu erfassen und mit
den gemütbestrickenden Herztönen der dichterischen Empfindung sinnig zu vermählen
versteht, kann vielleicht als die vornehmste und höchste Gattung aller
Poesie angesehen werden. Jn diesem Sinne darf man kühn behaupten, daß
derjenige Dichter, welcher einen ewigen Jnhalt aus den Gebieten der Belehrung
und der Spekulation in eine schöne dichterische Form zu gießen vermag, ein
echter Didaktiker, ein wahrer Dichter sei, welcher geistige Kunst übt und für
die Unsterblichkeit wirkt. Ja, in dieser Richtung ist alle wahre Poesie belehrend,
didaktisch, jeder wahre Dichter ein Lehrer, ein Didaktiker.
§ 14. Schiller und Rückert als Begründer einer echten didaktischen
Poesie: der Gedankenlyrik. (S. § 13. 2. dss. Bds.)
Ferner das Gesetz der Didaxis.
1. Die von Schiller und Rückert gegebene didaktische Poesie wirkt
auf das tiefere Erkenntnisvermögen und läßt den tiefen Gedanken im
Gefühle aufgehen.
2. Beide Dichter bilden für die didaktische Poesie eine Epoche.
Von ihren Dichtungen ist daher für die Folge der Begriff und das Gesetz
der Didaktik zu abstrahieren.
3. Jean Paul ahnte bereits die Zukunft der didaktischen Poesie.
4. Rückert war der erste, der ihre Mission klar legte und
betonte.
1. Die didaktische Poesie, welche auf das tiefere Erkenntnisvermögen
wirkt, und bei welcher der Gedanke im Gefühle aufgeht, behauptet einen ausgezeichneten
Platz. Diesen Standpunkt nimmt die Schillersche wie die Rückertsche
Didaktik ein. Nie zur Unzeit schaut aus dem Dichter der Philosoph mit seiner
dürren Metaphysik hervor, überall deckt sich schöne Form mit dem tiefen Gedanken,
reine geistige Kunst ist vorhanden. Um auf den Verstand
zu wirken, stellen diese Dichter ihre Wahrheiten in poetischer Form dar; für
Einwirkung auf das Gefühl geben sie denselben eben diese schöne Form.
2. Nach Schillers und Rückerts didaktischen Gedichten wird man für die
Folge den Begriff und das Gesetz der wahren Didaktik, die man als Gedankenlyrik
bezeichnen muß, folgendermaßen zu präcisieren haben: Die
Didaktik besteht darin, das Abstrakte in konkreter Form zu geben, um
Wahrheiten und Jdeen bessern Eingang und Dauer zu verschaffen.
Jenes Abstrakte aber muß geist- und gemütreich, diese Form aber
vollkommen, schön und gediegen sein. Der durch die dichterische
schöpferische Phantasie bestrahlte Gedanke muß durch das Medium
des Herzens verklärt werden und im Gefühle aufgehen; die schöne
Form muß den tiefen Jnhalt decken.
Die didaktischen Gedichte Rückerts und Schillers (zum Teil auch Goethes
in „Gott und Welt“ und des mittelalterlichen Freidank) vermögen ebenso auf
das Gemüt, als auf den Verstand und die Phantasie zu wirken, und dies
muß das Ziel der Didaktik sein. Das echte didaktische Gedicht erhebt sich über
jene prosaischen, trockenen, kalt moralisierenden oder nüchtern auseinandersetzenden,
fälschlich als didaktische Gedichte bezeichneten Reimereien, oder über
das unklare Ringen, wie wir es z. B. bei Sallet in „Unsterblichkeit“ finden;
das echte didaktische Gedicht, wie wir ihm bei Schiller und Rückert begegnen,
verdrängt daher die Vorgänger und Zeitgenossen aus der Reihe von Didaktikern,
wie z. B. Haller (Die Alpen, in dessen Reimen der Dichter die Blumen
zerzupft, um uns Wurzel, Stengel, Blumenkrone und Kelch mit Staubfäden
und Griffel zu zeigen, der aber weder den Duft analysieren kann, noch es
versteht, sein breites, im Versbau übrigens gutes Gedicht mit Duft zu übergießen),
v. Kreuz (Die Gräber, ein Lehrgedicht in 6 Gesängen, ─ Youngs
Nachtgedanken nachgebildet, ohne dichterische Lebendigkeit), Neubeck (Gesundbrunnen),
Dusch (Die Wissenschaften, Lehrgedicht in 8 Gesängen), Tiedge
(Frauenspiegel, beschreibt die Schwächen und Tugenden der Frauen), und
vollends viele neuere Talmidichter, die unfähig sind in goldener Prosa
zu schreiben und nun glauben, ihre jämmerlich gereimte Prosa in Folge des
Reims unter der hochtrabenden Firma: „Didaktisches Gedicht“ in das Gebiet
der Poesie einschmuggeln zu können.
Diese didaktische Reimerei mit all den zum Gemüt in keiner Beziehung
stehenden Gedächtnisversen aus allen möglichen Wissensgebieten (wie der Geographie,
der Arithmetik, der Grammatik, der Jagd, der Gartenkunst und der
Geschichte; vgl. z. B. Weltgeschichte in Versen von Aßmann) steht auf gleicher
Stufe mit der früheren antiken, wie sie uns in dem ältesten Denkmal aller
griechischen Lehrdichtung, in des Hesiodus „Werken und Tagen“, entgegentritt.
(Wir finden da noch alle Arten nicht bloß von didaktischer Epik, sondern überhaupt
von didaktischer Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich
prosaische, ungesondert beisammen, Vorschriften, wie sie nur der Verstand dem
Verstande erteilen konnte, über Ackerbau und über Handel zur See; dann
wieder, indem die Lehre, jedoch ohne eine epische Anschauung zu gebrauchen,
sich an das sittliche Gefühl wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen
Wandel; dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen,
überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; dann endlich wieder
ein Stück bloß beschreibender Poesie, eine Schilderung des Winters. Und das
alles bunt verwirrt durcheinander in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk
als den ersten Versuch und Anlauf bezeichnet und die neuere Kritik veranlaßte,
es als Sammelwerk zu betrachten.) Die deutsche didaktische Poesie,
welche ursprünglich als Satire und Spruchgedicht zur Lehrreimerei überging,
zog sich durch die Priamel des 14. Jahrhunderts (§ 93 d. Bds.) über eine nüchterne
Moralitätspoesie und didaktische Sentimentalität hinweg, hatte aber immer
die Belehrung als Zweck und Absicht. Erst durch Schiller und (nachdem sie am
Gesundbrunnen des heiligen Ganges getrunken) durch Rückert hat sich die [22]
didaktische Poesie die Stellung erobert, die sie jetzt einnimmt, und unter der
ihr der letztgenannte Dichter in der Weisheit des Brahmanen ein unvergleichliches
Denkmal gesetzt hat.
3. Jean Paul ahnte bereits mit prophetischem Geiste die Zukunft der
didaktischen Poesie zu ihrer nur von Schiller (z. B. die Glocke), Rückert, und
annähernd nur noch von wenigen erreichten Höhe, z. B. von Schefer
(Laienbrevier), Agnes Franz (Der Christbaum, an Schillers Glocke erinnernd),
Uz (Theodicee, eine didaktische Ode), Haller (vom Ursprung des Übels),
Tiedge (Urania, ein Lehrgedicht über die Unsterblichkeit in 6 Gesängen,
schön in Form und Gedanken, aber ermüdend und ohne Tiefe), Herder
(Jch, Selbst), Gleim (Halladat, eine eigentümliche Art kurzer Lehrgedichte,
aus seinen Studien des Koran entstanden), Hammer (Schau in dich und
schau um dich, 1851, und Zu allen guten Stunden, 1854), ferner von den
sog. philosophischen Lyrikern Mosen, Sallet, Titus Ulrich (Das hohe
Lied, 1845), Jordan, Gottschall, Schloenbach, Prutz und Geibel.
Jean Paul sagt: „Reflexionen oder Kenntnisse werden nicht an sich zur Lehre,
sondern für das Herz zur Einheit der Empfindung gereicht, und als eine mit
Blumenketten umwickelte Frucht dargeboten. Jn der Dichtkunst ist jeder Gedanke
Nachbar eines Gefühls, und jede Hirnkammer stößt an eine Herzkammer.“
Wie mochte er sich freuen, diesen Gedanken in den Werken Schillers verkörpert
gesehen zu haben (im Genius; An die Freude; Würde der Frauen; Die
Glocke; Die Jdeale; Resignation; Macht des Gesangs; Das Jdeal und das
Leben; u. s. w.). Wie mochte ihn die Wahrnehmung überrascht haben, daß
Schiller auf dem Gebiete des Denkens Eroberungen auch für die Poesie zu
machen verstand (z. B. im Gedicht: Die Künstler, welches als seine Ästhetik
in der Poesie bezeichnet werden darf), was ja auch Goethe anerkennt (vgl.
Schillers Briefwechsel mit Goethe, in dem er ihm schreibt: „Jhre Gedichte
haben besondere Vorzüge; sie sind nun, wie ich sie vormals von Jhnen hoffte.
Diese besondere Mischung von Anschaun und Abstraktion, die
in Jhrer Natur ist, zeigt sich nun in vollkommenem Gleichgewicht, und alle
übrigen poetischen Tugenden treten in schöner Ordnung hervor“ &c.). Wie
mochte er in der Glocke die erreichte Harmonie zwischen Jnhalt und Erscheinung,
zwischen Jdee und Vorstellung erkennen. Bei Schiller fand er eine gewaltige
Fülle der schönen Gedanken mit dichterischem Gefühl vermählt. Schiller, wie
später besonders Rückert, wurde Repräsentant der zur Gedankenlyrik gewordenen
Didaktik.
4. Die hohe Mission der Didaktik hat zuerst Rückert in folgenden
Alexandrinern gezeichnet:
[23]
(Rückerts W. d. Br. XIX. 6.)
Ferner:
(W. d. Br. V. 1.)
§ 15. Der Didaktiker ein wahrer Dichter.
Der Didaktiker, der es auf das höhere Erkenntnisvermögen abgesehen
hat, bleibt Dichter, auch da, wo er noch so sehr als Philosoph
oder Sittenlehrer auftritt, sofern ihm ─ wie bemerkt ─ der Gedanke
im Gefühl aufgeht, und die schöne Form den schönen Jnhalt deckt.
(Vgl. § 13 d. Bds. am Schluß.)
Wie der Didaktiker im Stoffe einen Januskopf hat, der mit dem einen
Gesichte in das naheliegende, einzelne, kleine, deutsche Leben, mit dem andern
in weite fremdländische Zaubergärten schaut, so hat er auch in der Produktion
und in der Form seines dichterischen Geistes eine doppelte Gestalt. Die eine
ist ihm Quell rein lyrischer Ergüsse, die andere singt ihm in poetischem, vom
Gefühl geleiteten Schwunge philosophische Sätze und Weisheitssprüche. Beim
wahren Didaktiker bleibt, wie an Schiller und Rückert zu sehen ist, die
lebendige Vorstellung Hauptsache für die Dichtung. Wer könnte uns poetischer,
das Herz ergreifender mit den Worten der Weisheit erfreuen, als solche Dichter,
denen Natur, Leben und Menschenherz, ja, die ganze Welt das Buch war,
in dem sie forschten, die in goldenem Gefäß den tiefsten Jnhalt vermittelten?
Wo bei ihnen einmal das ästhetische Element weniger stark hervortrat, da war
es stets das ethische, das den Ersatz bildete und befriedigte.
Der didaktische Dichter stellt sich als Ziel seiner didaktischen Poesie nicht
eben die Belehrung an sich, vielmehr die auf den Gedanken gegründete Erhebung,
Erquickung und eine nachdrückliche Erbauung der Phantasie hin. Jch
mache zum Überfluß noch auf Rückerts Gedicht: „Griechische Tageszeiten“ (Ges.
Ausg. VII. 262) aufmerksam, welches, so lyrisch auch Ton und Sprache im
einzelnen sind, doch wegen seines Endzwecks und gedanklichen Zieles echt
didaktisch genannt werden muß. Der Didaktiker verkörpert eben seine Jdeen
dichterisch, ohne daß man ihnen die Gedankenschwere und Abstraktion anmerkt.
Dadurch erreicht er das Höchste, was man von der subjektiven Poesie verlangen
kann, dadurch sichert er sich im hervorragenden Sinn den Ehrennamen
─ eines wahren Dichters.
III. Epik.
§ 16. Begriff der Epik.
1. Die epische Poesie hat ihren Namen vom griechischen Worte
Epos (ἔπος == Wort, Erzählung τὰ ἔπη, Od. 4. 597). Sie ist die
dichterische Erzählung des Geschehenen, des erlebten Wirklichen wie
des in der Sage Lebenden, oder auch des Erdichteten. Epische Poesie
und erzählende Poesie sind gleichbedeutend.
2. Sie ist objektive Poesie.
1. Sofern die Epik auf der Basis der nationalen Sage ruht, ist sie
national, während die das dichtende Subjekt wiederspiegelnde Lyrik individuell
oder im weiten Sinne kosmopolitisch, universell ist.
2. Die epische Poesie ist im Gegensatz zur subjektiven lyrischen und didaktischen
Poesie objektiv. Jhr Objekt sind äußere, außerhalb des Dichters
liegende Erscheinungen, Thatsachen, Begebenheiten des menschlichen Lebens,
oder auch Erdichtungen, welch letztere nur der innern Wahrscheinlichkeit nicht
entbehren dürfen und so dargestellt sein müssen, wie sie möglicherweise geschehen
konnten. Es soll nicht gesagt sein, daß die epische Poesie das Gefühl ganz
ausschlösse. Dieses geht jedoch von den Personen des Epos aus, sofern es
nicht in symbolischer Form auftritt. Ein Vorzug der Poesie im Epos ist es,
wenn sie ihre Helden mit dem dichterischen Zauber subjektiven Empfindens
schmückt, so daß ─ unter Hinzutritt anmutiger Wahrscheinlichkeit in den Verhältnissen
und Situationen ─ der objektive Gegenstand gleichsam mit der
subjektiven Empfindung und Anschauung zusammenschmilzt.
§ 17. Anforderungen an den Epiker.
1. Der Epiker muß malend vorgehen. Er muß das Leben erzählen;
er muß vergangene Begebenheiten in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge
wiedergeben, wie wir es des näheren unter Epos darlegen
werden.
2. Der Epiker darf sich nie in den Vordergrund drängen.
1. Die Anforderungen an den Epiker sind wahr in folgenden Versen
geschildert:
(Odyssee, übers. v. Voß 8. 487 ff., vgl. 11. 368 ff.)
2. Wesentlich für den Epiker ist, daß er hinter seinem epischen Helden
ganz verschwindet, daß er Entwickelung, Fortgang, Verwickelung und Lösung
aus den Charakteren hervorgehen lasse, ohne daß man seine leitende Hand merkt.
„Wie die Gottheit hinter'm Weltgebäude, so muß der epische Dichter
hinter seinem Werke stehen.“ (Vgl. Schiller: „Über naive und sentimentale
Dichtung.“ Die Sage von der Blindheit epischer Dichter z. B. des Demodokos,
Od. 8. 64, des Homeros, soll andeuten, daß des Dichters Persönlichkeit, sein
Urteil und die Gegenwart verschwinde. Jch erinnere an die Stelle in Goethes
Sänger: „Der Sänger drückt' die Augen ein, und schlug in vollen Tönen“ &c.)
§ 18. Geschichtliche Stellung und Entwickelung der Epik.
1. Die epische Poesie ist der Anfang und die Quelle aller Poesie.
Sie war überall die erste.
2. Erst nach Ausbildung der Epik entwickelte sich die Lyrik.
3. Die aufblühende Lyrik drängte zum Drama hin.
1. Mit der Epik begann überall die Litteratur. (Vgl. Bd. I. S. 18 ff.)
Sie ließ ursprünglich geschichtliche Stoffe in volksmäßig dichterischer Weise als
Sage erscheinen. Spätere Nachfragen nach Grund und Ursache dieser Sagen
ließen aus Naturphilosophie und Religion den Mythus erstehen, d. i. die
Erklärung der Erscheinung. So lange die spekulativ=phantastische Lösung geglaubt
wurde, war der Mythus rein. Später wurde derselbe didaktisch behandelt
oder mit Absicht allegorisch. Sobald die dichterische Phantasie eines Volkes
Geschichte und Naturleben in Sage und Mythe allseitig durchgearbeitet und
genügendes Material beschafft hatte, begann die Blütezeit der Epik. Große
Dichter bearbeiteten den aufgehäuften Stoff in künstlerischer Weise und Rhapsoden
verbreiteten die Dichtungen. Welche poesieempfänglichen Zeiten müssen es
gewesen sein, in denen nach Homers Bericht die Hörer dem Demodokos
lauschten, oder von denen Beowulf berichtet:
(Beowulf. Übers. und erläut. v. Simrock S. 106.)
An das Heldengedicht jener deutschen Zeit, die auch einen einheitlichen
Baustil für Errichtung unvergleichlicher Dome schuf, reihte sich das Kulturepos; [26]
aus diesem entwickelte sich das idyllische Epos, wie aus der religiösen Sage
des Mittelalters die dem Didaktischen sich zuneigende christliche epische Gattung,
die Legende, erblühte.
Die ursprüngliche bloße poetische Erzählung war lediglich Naturpoesie.
Zur Kunstpoesie wurde das Epos, das einen mehr reflektierenden Charakter
annahm und dessen Stoff einer großen Jdee Ausdruck verlieh. Nunmehr war
die epische Muse einem lebendigen Gemälde zu vergleichen, auf welchem der
Blick die Mannigfaltigkeit durch die Kunst des Dichters zur Einheit sich
gestalten sah.
2. Als die Epik ihren Höhepunkt erreicht hatte, machte sich ähnlich, wie
bei den Griechen, das subjektive Element der Poesie geltend. Die Erzählung
in Liedform (Ballade, Romanze) führte die Lyrik ein. Das lyrische Element
trennte sich nach und nach vom Epos ab. Die Formen, in welchen sich diese
Lostrennung offenbarte (Volkslied, Ballade &c.), waren sehr einfach, bis endlich
die Subjektivität erstarkte, die epischen Formen sprengte und gemischtere Weisen
zur Blüte führte.
3. Mit dem Aufblühen der Lyrik fiel das Abblühen der Epik zusammen,
bis endlich die Vereinigung des Subjektiven und Objektiven in der nunmehr
aufblühenden Poesie der Handlung, im Drama, erfolgte.
§ 19. Epischer Stil.
Der epische Stil kann sich nach drei Richtungen hin kundgeben:
Er kann a. naiv (vgl. Bd. I S. 103), b. ironisch (vgl. Bd. I S. 199),
c. sentimental sein. (Letzteres als Übergewicht des Subjektiven über
das Objektive in der poetischen Darstellung aufgefaßt.)
Die Stilarten hängen ─ um mich der Worte Keiters in Versuch einer
Theorie d. Rom. S. 223 zu bedienen ─ mit der Konstitution des Dichtergeistes
zusammen. Wo sich Phantasie, Gefühl und Verstand in schöner
Harmonie zusammenfinden, haben wir den objektiven Stil der Epik. Er ist
Eigentum des naiven Dichters oder eines solchen, der ihm in den Zeitaltern
der Kultur am nächsten kommt. Der naive Dichter geht (wie wir
dies im § 17 d. Bds. forderten), in seinem Stoffe auf und gewinnt so die einzig
künstlerische Darstellungsweise. Wiegt von den dreien den Dichter bildenden
Kräften der Verstand vor, so ist der ironische Stil das Ergebnis. Der
Dichter erhebt sich gleichsam über seinen Stoff. Er sieht weiter als die von
ihm dargestellten Personen, sein Horizont ist ein unbeschränkter, während der
Blick seiner Personen auf dem Nahen haften bleibt. Seine Miene zeigt deshalb
gern etwas gutmütig Spöttisches; er nimmt aber an den Schicksalen seiner
Personen herzlichen Anteil. Ein durchgängig ironischer Stil wird schließlich
unleidlich. Es muß deshalb des Dichters Streben sein, ihn den verschiedenen
Stadien der Entwickelung anzupassen. Ganz vortrefflich handhabt beispielsweise
Eliot in „Die Mühle am Floß“ den ironischen Stil. So lange die Hauptpersonen
noch Kinder sind, macht die Dichterin uns mit gutmütigem Spott [27]
auf die guten und schlechten Seiten derselben aufmerksam. Jhre Lippen umschwebt
ein launiges Lächeln, wenn einer ihrer Lieblinge irgend eine Thorheit
begeht. Aber die Kinder werden größer, sie werden den Stürmen des Lebens
ausgesetzt, ihr Charakter bewährt sich. Nun bekommt die Dichterin selbst Respekt
vor ihren Zöglingen. Sie wird ernst und steht dem jungen Herzen als treue
Ratgeberin zur Seite. Wo aber endlich das Gefühl über Phantasie und
Verstand triumphiert, da kommt der sentimentale Stil zum Vorschein. Der
Dichter steht gleichsam unter seinem Stoffe und schaut mit Ehrfurcht zu ihm
herauf. Sein Gegenstand begeistert ihn, er ist mehr Redner als Erzähler; er
kennt die Wirkungen der Rhetorik und sucht mit ihren Mitteln zu wirken, die
Gesetze der Objektivität sind ihm fremd. Unzweifelhaft ist der objektive (naive)
Stil der dem Wesen der Dichtkunst am Meisten entsprechende. Er verleiht
dem Kunstwerk einen großen Teil von Selbständigkeit. Zugleich aber bekundet
er, daß der Dichter den höchsten Gipfel seiner Kunst erreicht hat.
Proben des epischen Stils:
a. Naiver Stil. (Bruchstück aus Goethes „Wilhelm Meister“. Werke
XVI. S. 102.)
„Ein Mädchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren
Korb dar, und er kaufte sich einen schönen Strauß, den er mit Liebhaberei
anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines an der
Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich aufthat, und ein wohlgebildetes
Frauenzimmer sich an demselben zeigte. Er konnte ungeachtet der
Entfernung bemerken, daß eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte. Jhre
blonden Haare fielen nachlässig aufgelöst um ihren Nacken; sie schien sich nach
dem Fremden umzusehen. Einige Zeit darauf trat ein Knabe, der eine Frisierschürze
umgegürtet und ein weißes Jäckchen anhatte, aus der Thüre jenes
Hauses, ging auf Wilhelmen zu, begrüßte ihn und sagte: Das Frauenzimmer
am Fenster läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schönen Blumen
abtreten wollen? ─ Sie stehen ihr alle zu Diensten, versetzte Wilhelm, indem
er dem leichten Boten das Bouquet überreichte, und zugleich der Schönen ein
Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruß erwiderte,
und sich vom Fenster zurückzog. Nachdenkend über dieses artige Abenteuer
ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm
entgegen sprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidenes
Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen
standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und
Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung
an u. s. w.“ (Vgl. Bd. I S. 103.)
b. Jronischer Stil. (Bruchstück aus Jean Pauls Belagerung der
Reichsfestung Ziebingen.)
Das Reichsstädtchen Diebsfehra ─ nicht das meißnische Dorf ─ besaß
mit Ziebingen auf den Grenzen eine Gemeinehut, worauf beide Städte ihre
Gänse weiden durften. Unglücklicher Weise fiel den 4. Mai ein so starker [28]
Hagel auf die Markung und Koppelhut-Aue, daß vierzig teils Gänse teils
Ganser erschlagen wurden, den Diebsfehraner Gänsehirten nicht einmal gerechnet,
welchen der Blitz niederstreckte. Der Ziebingsche Gänsehirt ließ als Patriot
alles Tote liegen und trieb so viel Lebendiges, wie sonst, nach der Festung.
Diebsfehra, eine Stadt von mehr als anderthalb hundert Einwohnern, konnte
eine solche Verletzung der Weideparität nicht schweigend erdulden, wenn sie
bleiben wollte, was sie war. ─ Minister mit dem Portefeuille der auswärtigen
Angelegenheiten wurden mit den stärksten Vollmachten und Ausdrücken in die
Festung geschickt ─ auf Halbpart oder Parität der Gänse wurde bestanden ─
Schmerzensgelder wurden gefordert ─ Sturmläufer gedroht. ─ Aber die
Ziebinger, schuß- und stichfest durch ihre Festung, schickten ihnen nichts als
ein Protokoll der Aussage des Gemeindehirten, daß die Hagelwetter bloß über
die Diebsfehraner Gänse gezogen; was, wie er beifügte, auch der erschlagene
Gänsehirt beschwören würde, wenn er als Gespenst vor Gericht erschiene. Angebogen
war noch ein physikalischer Beweis vom Stadt- und Landphysikus,
daß nie eine Hagelwolke die ganze Erde treffe, sondern stets nur einen Streif,
neben welchem folglich nicht einen Gänsefuß breit davon der ungetroffene liegen
müsse, woraus erhelle, warum die in Frage gestellte Wolke sich bloß an den
feindlichen Gänsen verschossen ... u. s. w.
Wir gingen da zu einem Töpfer, um ein Kabinetsgefäß zu kaufen, welches
allerdings nur dann in eine Küche gehört, wenn ein Bett dazu dasteht, worunter
man's stellt, sonst nie. „Welche reine Farbengebung und Zeichnung,“ sagt'
ich, als ich in das Gefäß hineinschaute, und die Blumenstücke recht in's Auge
faßte, „Meister! Führ' Er so fort, und lief' Er sich täglich so selber den Rang
ab, Meister, ob Er dann zuletzt uns nicht mit einer Barbarini- oder Portlandvase
überraschte? Da möchte ich den Mann sehen, der sich herstellte und
schwüre, diese könn' Er so wenig machen, als ein egyptischer Zauberer eine
Laus.“ ─ Nur sollte das Töpferhandwerk seine Kunstwerke nicht, wie Christen
ihren Schmuck, bloß innen anbringen. Wie so mancher Kunstliebhaber muß
jetzo seine Schüssel saurer Milch erst ausessen, bis er allmählich sich durch den
Löffel ein gemaltes Blatt nach dem andern von dem Schüssel- oder Blumenstück
aufdeckt, so daß er das Ganze nicht eher genießt, als bis er satt ist?
Als ich mich aber nach einigen der neuesten Werke des Künstlers umsah: fand
ich die Blumenstücke sämtlich wie von einem Höllenbreughel so verzerrt, und
die Gefäße so verdreht, daß ich ihn darüber befragte. „Ach,“ sagte der Töpfer,
„vor dem teuflischen Geschieße zittert dem Menschen Arm und Bein; und da
verfumfeiet er freilich jeden Bettel.“ So ist also die Bemerkung nicht allgemein
wahr, daß immer in Kriegsläufen, wie z. B. in Athen, die Künste
besonders blühen u. s. w. ─ (Man vgl. hiezu Bd. I S. 199.)
c. Sentimentaler Stil. (Bruchstück aus Brachvogels Friedemann.
Buch I S. 40 und 41.)
„Welch' eine stolze Versammlung Alles dessen, was Sachsen Reiches,
Schönes, Vornehmes und Berühmtes bot! Welche Fülle strahlender, froher
Gesichter! ─ War es nicht gerade, als wüßten diese Leute nicht, was eine [29]
Thräne sei, als wäre unter ihnen der Schmerz ein Fremdling? ─ O prahlt
nur, wallende Federn, wehende Fächer, schwellende Busen, auf denen Demanten
blitzen! ─ Und wie das lacht und schwatzt und lustig ist, als sei die Ewigkeit
ein Traum und das Glück eine gefesselte Magd! ─ Und doch tanzt dieses
ganze Geschlecht auf seinem Grabe, und doch ist so manches Lächeln erlogen,
erzwungen; unter jenen seidenen Gewändern schlägt ein gemartertes, wimmerndes
Herz, unter diesen Sternen windet sich ein falsches, treuloses und gequältes
Gewissen. Schon seh' ich den geheimnisvollen Finger, der das Mene tekel
an die Wand schreibt, und ein schattenhaftes Gespenst, das durch die Gruppen
schreitet und bald auf diese, bald auf jene Stirn, wie sorglos sie noch heute
glänzen mag, das Siegel des Verhängnisses drücken wird.“ ─ (Als weiteres
Beispiel des sentimentalen Stils vgl. Börnes bekannte Denkrede auf Jean Paul.)
IV. Dramatik.
§ 20. Begriff der Dramatik.
1. Die dramatische Poesie (von δρᾶμα == Handlung) ist die
Poesie des Thuns oder der werdenden Handlung. Jhr Zweck ist die
Darstellung von etwas Geschehendem in mimisch und dialogisch handelnder
Form; ihre Absicht: Darstellung der Leidenschaft, die zur
That fortreißt, Darstellung jener starken Seelenbewegungen und inneren
Kämpfe, die der Mensch vom ersten Regen der Empfindung bis zum
leidenschaftlichen Handeln durchmacht, oder auch die das Handeln
anderer in ihm hervorruft.
2. Die dramatische Poesie soll das wirkliche Leben in seinen
erhabensten, entzückendsten Gestalten, in seinen ergreifendsten, reizvollsten
Weisen, durch Schönheit verklärt und durch Harmonie verbunden,
poetisch vorführen.
3. Auf die aus Poesie und Mimik gemischte Darstellung der
dramatischen Poesie ist unsere Bezeichnung „Spiel“ mit seinen Zusammensetzungen
(Lustspiel, Schauspiel, Trauerspiel, Singspiel &c.) zu beziehen.
4. Das Skelet des dramatischen Körpers ist das, was mit den
Augen gesehen werden kann, was auf der Bühne (Scene) vorgeht.
Das gesprochene Wort trägt für die Ausschmückung Sorge.
1. Durch die Darstellung einer sich entwickelnden Handlung oder einer
Kette von Handlungen unterscheidet sich die dramatische Poesie wesentlich von
der epischen, welche Geschehenes, Thaten, Begebenheiten erzählt, oder dem
Erzähler in den Mund legt. Ebenso unterscheidet sie sich durch die handelnde
Form von der lyrischen Poesie, welche lediglich die innern Zustände (Gefühle
und Empfindungen) schildert und besingt. Jn ihrer sich selbst entrollenden
Handlung ist die dramatische Poesie die Poesie des in Bewegung begriffenen
Werdens, während die Lyrik als Ausdruck innerer Zustände [30]
und Seelenbewegungen die Poesie der Gegenwart des Gefühls, und
die Epik als Erzählen des Geschehenen die Poesie der Vergangenheit
genannt werden kann. Das Drama, welches sich aus der epischen und lyrischen
Poesie entwickelt hat, wurde schon von Aristoteles (Poet. 26) als höchste
Poesie bezeichnet. Derselbe räumt der Epopöe die zweite Stelle ein, sofern
sie dramatisch ist oder es sein kann. Das Drama war erst nach Ausbildung
der Epik und Lyrik möglich. Es ist die Blüte aller Dichtkunst, indem es durch
Verschmelzung von Epik und Lyrik ─ also der äußern Wirklichkeit und der
innern Seelenzustände ─ ebenso auf die Anschauung wie auf die Empfindung
zu wirken vermag. (Aristoteles sagt in dieser Hinsicht in Poet. 3: ὅθεν
καὶ δράματα καλεῖσθαί τινες αὐτά φασιν, ὅτι μιμοῦνται δρῶντας,
desgleichen in Poet. 2: μιμοῦνται οἱ μιμούμενοι πράττοντας.)
Der Handelnde repräsentiert die subjektive gegenwärtige Empfindung im
Affekt, in der Leidenschaft. Anstatt Erzählung der Begebenheiten ─ wie im
Epos, ─ führt das Drama die Begebenheit in dialogischer Form wirklich auf,
und es werden die Begebenheiten im Drama zur That, oder besser zu dem,
was man eben Handlung (d. i. die in Entwickelung begriffene entscheidende
That bis zur Vollendung) nennt. Jm Drama begiebt sich nicht nur Verschiedenes
mit und an den auftretenden Personen, sondern diese zeigen durch
eigene handelnde Vor- und Darstellung alle Seelenprozesse, welche in der
Hauptperson des Drama bis zur leidenschaftlich vollbrachten That sich vollziehen,
alle inneren Motive in ihrer vollen Geltung, weshalb die griechische Bezeichnung
Drama (von δρᾶν == handeln) viel bezeichnender ist, als die lateinische
fabula, die doch nur das epische Moment charakterisiert. (Der Lateiner hilft
sich, indem er sagt: fabulam agere.)
2. Nach Shakespeare (Hamlet Akt III, Scene 2) bezweckt die dramatische
Poesie, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, der Tugend ihre eigenen
Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der
Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen. (Jm Englischen lauten die letzten
Worte: to show ... the very age and body of the time his forme and
pressure. Delius (3. Aufl. Elberf. 1872. II. 391) kommentiert: Dem
Jahrhundert (age) selbst wie der in Eins zusammengefaßten Zeit (body of
the time) ihre Gestalt und ihren Ausdruck zu zeigen. Nach S. Johnson
bedeutet age bei Shakespeare any period of time attributed to something
as the whole or part of his duration: also jede Periode, den ganzen
Verlauf der Zeit, auch den Charakter der Zeit soll das Drama nach Shakespeare
darstellen. Wir möchten ergänzend auch an die verkörperte Zeit, d. i. die
Zeitgenossen denken, insofern sie persönliche Zuschauer resp. Leser sind.
3. Das Wesen des Drama ist die in Kampf, Gegenkampf, Spannung &c.
sich zeigende Handlung. Diese bedarf zu ihrer Vorführung einer Bühne (σκηνή),
der Dekorationen, der Kostüme, wobei selbstredend auch ein Schauplatz (θέατρον)
und Zuschauer vorausgesetzt sind. Die Ausmalung, Schilderung und die Beschreibungen
der Gegenden sind beim Drama Aufgabe der Scenerie.
4. Zum Ausdruck der innern Empfindungen und der Zustände, welche
in einem kausalen Verhältnisse stehen, bedient sich das Drama der Gesprächsform,
des durch Mimik und Gestikulation unterstützten Wortes,
der wechselnden Rede und Gegenrede.
§ 21. Handlung, Fabel und Charaktere im Drama.
Die unmittelbar vor den Augen des Zuschauers sich entrollende
Begebenheit ist die Handlung. Sie wird als äußere That durch den
freien Willen des Handelnden hervorgebracht. Sie unterscheidet sich
wesentlich von der Fabel, unter welcher lediglich diese nicht zur Darstellung
gelangte Begebenheit zu verstehen ist.
Die handelnden Personen nennt man die Charaktere.
Die Fabel im Drama ist die äußere stufenweise Entwickelung der Begebenheiten,
aus denen die That resultiert. Oder besser: Unter Fabel im Drama
versteht man die nach dem Zweck des Dichters eingerichteten Begebenheiten,
deren Anfang, Fortgang und Ende sich der Dichter dem Ausgang entsprechend
zubereitet, während Handlung die in Ausführung begriffene Begebenheit
ist. Oder endlich: Handlung ist dasjenige, wodurch die Begebenheit geschieht,
ihren Fortgang gewinnt, ihr Ende erreicht: die Vorführung alles dessen,
was sich begiebt, was geschieht.
Über die Begriffe Handlung und Fabel herrscht selbst bei den gewiegtesten
Dramaturgen keine Übereinstimmung. Manche bezeichnen als Fabel,
was wir als Handlung bezeichnen, und umgekehrt. Die Römer nennen die Handlung,
wie erwähnt, fabula. (Vgl. S. 30 d. Bds.)
Die Handlung, welche im freien, nach bestimmter Absicht handelnden
Wesen ihren Grund haben und also aus den Charakteren und Verhältnissen
der Personen gewissermaßen entspringen muß, ist so wichtig, daß die handelnden
Personen erst in zweite Linie zu setzen sind. Ja, sie ist das Wichtigste
im Drama. Aristoteles sagt (Poet. 6): „Man handelt nicht, um seinen
Charakter darzustellen, sondern man macht durch seine Handlungen zugleich
auch seinen Charakter kund.“
Daher sind die Thatsachen und die Fabel der Endzweck der tragischen
Darstellung, der Grundbestandteil und gleichsam die Seele der Tragödie.
Das zweite darin sind die Charaktere, d. h. die idealen Personen,
welche durch Kraft der Empfindung, Eigenart des Willens und Wesens besondern
Charakter besitzen. (Das Dritte sind nach Aristoteles die Gedanken, d. i. die
Gesamthandlung, die über die Entfaltung des Charakters hinübergeht, oder
wodurch die Charaktere ihr inneres Leben bethätigen: die nach bestimmter
Jdee organisierte Begebenheit, welche eben durch die Charaktere dargestellt wird.)
Eine Tragödie ohne Handlung ist undenkbar; aber immerhin wäre eine
solche ohne individuelle Charaktere möglich.
Charakterschildernde Reden und geistreiche Gespräche geben kein Drama,
aber sie werden in einem Drama möglich sein, in welchem die Handlung fortschreitet.
§ 22. Das Lyrische und Epische im Drama. Die Episoden.
1. Wesentlich ist im Drama der Fortschritt der Handlung. Es
ist daher ein Mangel des Drama, wie ein Verstoß gegen seine Schönheitsgesetze,
wenn das überwiegende lyrische oder epische Moment diesen
Fortschritt hindert, d. h. wenn die auftretenden Personen anstatt zu
handeln, sich in lyrischen Tiraden ergehen, oder den Fortschritt der
Begebenheit mehr erzählen und beschreiben, als durch wirkliche plastische
Handlungen vorführen.
2. Einschaltungen und Zwischenhandlungen, Episoden, können nur
mit gewisser Beschränkung gestattet werden.
3. Kein deus ex machina, kein Schicksal, keine Gottheit darf den
Fluß der Handlung stören.
1. Es soll nicht gesagt sein, daß überhaupt keine lyrischen und epischen
Stellen im Drama vorkommen könnten. Jn den besten Dramen finden sich
dergleichen, z. B. im Tell das Alpenjäger- und Fischerlied, die Erzählung vom
Ursprung der Schweizer &c.; im Wallenstein Erzählung des schwedischen Hauptmanns;
in der Jungfrau von Orleans Raouls Erzählung I. 9. Johannas
Monolog I. 4 u. s. w.
Erzählende Stellen sind sogar am Platze, wo wesentliche Momente, die
nicht auf der Bühne darstellbar sind, mitgeteilt werden müssen, um die Handlung
des Helden zu motivieren.
(Vgl. hierzu:
Segnius irritant animos demissa per aurem,
Quam quae sunt oculis subiecta fidelibus, et quae
Ipse sibi tradit spectator. Non tamen intus
Digna geri, promes in scenam; multaque tolles
Ex oculis, quae non narret facundia praesens:
Ne pueros coram populo Medea trucidet,
Aut humana palam coquat exta nefarius Atreus,
Aut in avem Progne vertatur, Cadmus in anguem.
Quodcumque ostendis mihi sic, incredulus odi.
Horatius, A. P. 180 u. flg.)
Jn besonderer Macht kommt u. a. bei Shakespeare in Romeo und Julie
die Leidenschaft der Liebe zum Ausdruck und zeigt, daß das lyrische Element
die Vorstufe des dramatischen ist. Das lyrische oder epische Element muß den
Verlauf der Handlung unterstützen, in genauer Verbindung mit dem Fortschritt
derselben stehen, zu deren größerer Veranschaulichung dienen, aber es darf
nicht dominieren wollen. Der Dichter kommt sonst in Gefahr, den Rahmen
der dramatischen Technik zu durchbrechen und seinem Gedichte die lyrische Form
zu verleihen, wie es Rückert in „Saul und David“ that, wo er z. B. (Ges.
Ausg. Bd. IX, S. 202) einen allzulangen, lyrisch. gefärbten Monolog mit
einem Sonett beginnt u. a. m.
2. Die sich absichtsvoll entwickelnde Handlung muß das Wesentliche des
Drama sein. Kein Moment darf im Drama sich finden, das nicht auf das [33]
Endziel dieser Handlung hindrängte. Daher sind auch alle Einschaltungen und
Zwischenhandlungen (sog. Episoden), sofern sie nur äußere und keine innere
Verbindung mit der Handlung haben, unstatthaft. Sie thun der Mustergültigkeit
des Drama Eintrag, indem sie der Abgeschlossenheit der Handlung entgegenstreben
und sie hindern, aufhalten. Lediglich als Schmuck können sie an
Stellen, wo die Handlung Ruhe ermöglicht, zu Situationsbildchen erweitert
werden, um dem Dichter die Jllustration eines bedeutenden Grundzuges, einer
Eigenartigkeit seines Helden, einer interessanten Gestaltung der Nebenfiguren zu
ermöglichen. Episoden mit innerer Verbindung dienen im Drama auch zur
Motivierung. (Lady Milford ist z. B. die Motivierung der Härte des Präsidenten
gegen die Liebe seines Sohnes zu Luise. Jch verweise auch auf die Liebesepisode
des Max und der Thekla in Wallenstein. Aristoteles Poet. 17 sagt:
ἐν μὲν οὖν τοῖς δράμασι τὰ ἐπεισόδια σύντομα, ἡ δ' ἐποποιία
τούτοις μηκύνεται.) Shakespeare hat so viel des Schönen, die Totalwirkung
Fördernden in Episoden gegeben, daß sie niemand bei diesem Dichter vermissen
möchte; z. B. Hamlets Unterhaltung mit Schauspielern und Hofleuten, die
Totengräberscenen &c. sind für die psychologische Charakterentwickelung wertvolle
Zieraten, die dem Ganzen verwachsen sind und nicht ohne Schädigung abgelöst
werden können.
Ähnlich ist es bei Lessing, dessen Maler und dessen Gräfin Orsina in
Emilia Galotti, Riccaut in Minna von Barnhelm, Derwisch in Nathan &c.
als Muster der deutschen Episoden bezeichnet wurden. Goethe hat Episoden in
den regelmäßigen Dramen Tasso, Clavigo, Jphigenia vermieden, nicht aber
Schiller, der (z. B. durch den überflüssigen Parricida in Tell) des Guten zu
viel thut.
3. Schon Horaz ist gegen das Eingreifen eines deus ex machina.
(Nec deus intersit, nisi dignus vindice nodus inciderit. A. P. 192.
Vgl. hiezu Aristoteles Poet. 15.) Jnteressant ist, wie Euripides und Goethe
sich unterscheiden. Ersterer hat in der Katastrophe seiner Jphigenia des Eingriffs
der Athene nötig, während Goethe alles so fest exponiert und vorbereitet
hat, daß er dieses Eingreifens entraten konnte.
§ 23. Anforderungen an die Handlung.
Die Hauptforderungen an die Handlung beziehen sich auf ihre
Einheit, Wahrscheinlichkeit und Wichtigkeit oder Bedeutung.
1. Einheit der Handlung. Unter Einheit der Handlung ist das
Hinstreben sämtlicher Teile des Drama nach einem gemeinsamen letzten Ziele
der Haupthandlung zu verstehen: also Einheit des Zweckes und beabsichtigte
Richtung des Gemütes des Zuschauers nach diesem einen Zweck. (Vgl. Aristoteles
Poet. 23.) Die Einheit verlangt, daß die Handlung ─ sie mag aus noch
so vielen Einzelheiten zusammengesetzt sein ─ die gleiche vom Anfang bis
zum Schluß der dramatischen Dichtung bleibe. Die Einheit der Handlung, bei [34]
der das Ende dem Anfang entspricht, bedingt nur einen Helden, nur eine
Haupthandlung, auf die sich alles bezieht. Ein gutes Drama kann anfänglich
als aus mehreren Handlungen zusammengesetzt erscheinen, aber es
müssen diese einzelnen Handlungen wie Bahnen einander nahe rücken und sich
endlich zu einer Haupthandlung vereinigen. Man vergleiche z. B. Shakespeares
Kaufmann von Venedig, wo ein Liebesabenteuer und eine Rechtssache nebeneinander
herlaufen. Jn Schillers Tell laufen sogar drei Handlungen neben
einander her, wodurch mehrfach das Jnteresse für die Haupthandlung geschädigt
wird. Die Familie Attinghausen könnte leicht ganz gestrichen werden, um die
Abschwächung des Jnteresses an der Haupthandlung, sowie die vielen Striche
unserer Schauspieler zu vermeiden. Jm „Geräuschlosen Feldzug“ vom Verfasser
(2. Aufl., Leipzig, C. G. Theile) läuft neben der Liebe der Fürstin das Unglück
der Familie Warandin her, um sich zur rechten Zeit als wesentliches Moment in
die Haupthandlung einzufügen. Jn A. Werners Martin Luther, dessen geniale
Einzelheiten wie zerstreute Blitze durch die mystische Nacht des ganzen Schauspiels
hindurch zucken, und dessen Gebetsscene am Schlusse des II. Aktes
wunderbar ergreifend wirkt, fehlt doch ganz und gar die Einheit der Handlung.
Der Dichter hat anstatt eines Drama eine Reihe wandelnder Bilder ohne
inneren Zusammenhang gegeben, in denen selbst die Gestalt des Helden einer
nebelhaften Verschwommenheit anheim fällt und mehr durch Pathos der Rede,
als durch Energie der That sich an unser Jnteresse wendet. Luther in Wittenberg,
Luther in Worms, Luther auf der Wartburg: das sind die Hauptpartieen
des Stücks, von denen jede einzeln für sich als selbständiges Drama gelten
sollte und könnte u. s. w.
Lessing bewahrt die Einheit der Handlung am meisten; Goethe beweist sie
in Clavigo, in Tasso und in Jphigenia; Schiller in Kabale und Liebe. Schillers
Neigung zu Episoden und Doppelhelden ließ ihn zuweilen die Grenze des Erlaubten
streifen, z. B. in Maria Stuart oder Wallenstein, wo ihn eine zu
dunkle Figur zur Schaffung der glänzenden des Max veranlaßt, die sich sodann
als Genius erweist, dem kein Gehör geschenkt wird. Es stört die Einheit,
wenn z. B. Schiller den feindlichen Brüdern in der Braut von Messina
überwiegende Bedeutung verleiht, was Klinger in den Zwillingen (dem Vorbilde
Schillers) dadurch vermieden hat, daß er den einen der Zwillinge von
vorne herein in den Vordergrund stellte. Jn Äschylus' „Sieben gegen Theben“
kommt nur Polynices auf die Bretter, vom zweiten Bruder werden die Begebenheiten
erzählt &c.
2. Wahrscheinlichkeit der Handlung. Wahrscheinlich ist die Handlung,
wenn sie jeden Augenblick in diesem oder jenem Lebenskreise möglich ist.
Zur Wahrscheinlichkeit der Handlung gehört, daß der Stoff der Wirklichkeit
entnommen und allgemein verständlich ist, daß nicht Unrichtigkeiten vorkommen,
die jeder Gebildete rügen muß (z. B. das Absenden von Seeschiffen am
böhmischen (!) Ufer, oder das Schießen mit Kanonen zur Zeit Karls des
Großen), daß nicht gegen die Stimmungen und berechtigten Empfindungen des
jeweiligen Publikums verstoßen werde, daß die Menschen, welche das Drama [35]
darstellt, eben Menschen bleiben u. s. w. Wenn Riesen, Elfen, Zwerge auf
unseren Bühnen erscheinen, so verletzt dies die Wahrscheinlichkeit nicht, da diese
Gestalten im Volksglauben Teil an menschlicher Empfindung haben. Mephisto
ist Lustspielfigur. Shakespeares Zuschauer faßten den Geist Banquos, Cäsars,
des alten Hamlet und die Hexen in Macbeth gewiß anders auf als wir.
Aber auch uns stören sie nicht, weil wir uns in die frühere Anschauung leicht
zu versetzen vermögen. Für uns sind sie Arabesken, welche die Anschauung
und Stimmung der Zeit widerspiegeln. Der Geist Banquos ist uns z. B.
eine mit psychologischer Feinheit nach außen projicierte Hallucination des bösen
Gewissens in der eigentümlichen Situation, die dann natürlich als real genommen
wird und somit auch mit der Anschauung der Zeit harmoniert.
3. Wichtigkeit der Handlung. Die Handlung ist wichtig, bedeutungsvoll,
wenn sie in ihrem Verlauf, wie in ihrem Ausgang das Jnteresse aller
Edlen wachzurufen vermag. Um dies zu erreichen, muß sie vor allem jene
Lebenskreise aufsuchen, die das Leben widerspiegeln und die einer großen Jdee
Ausdruck verleihen. Nur eine solch bedeutende Handlung kann ihre großen
Personen rechtfertigen. Bei einer unbedeutenden Handlung wird ein Mißverhältnis
der großen leidenschaftlichen Bewegung der Charaktere unschön berühren.
Eine wichtige Handlung vermag durch lebhafte Bewegung der Charaktere
eine fortdauernde Steigerung der Wirkungen zu erstreben, wie sie
z. B. politische Staatsaktionen, Handlungen eines staatsklugen Fürsten nicht
ergeben, wohl aber die Stoffgebiete der innern Kämpfe unserer Denker, Erfinder,
Künstler. Wir lieben für die Beweglichkeit keine epischen Berichte, wohl
aber wichtige Aktionen, wie sie den Griechen trotz Flugwerken und perspektivischer
Malerei unmöglich waren, z. B. Kriegführung u. s. w.
§ 24. Die Aristotelische Forderung an das Drama.
1. Aristoteles verlangte Einheit der Handlung, des Ortes und
der Zeit.
2. Die Franzosen beachten auch bis heute seine Forderung: Einheit
der Zeit, der Handlung und des Ortes.
3. Wir Deutsche begnügen uns mit der Einheit der Handlung.
1. Für ein gutes Drama fordert Aristoteles ursprünglich weniger die
Einheit des Ortes, als Einheit der Zeit und der Handlung. Es
war dies selbstverständlich, da die Handlung ohne Unterbrechung und Einschieben
nebenhergehender Handlungen vor den Augen des Zuschauers sich abwickeln
mußte, weil der Chor, anders als bei Akteinteilungen, nie die Bühne
verließ und die Pausen durch Gesang (in der Komödie durch Parabasen) ausfüllte.
Die Zeit der Handlung durfte einen Sonnenlauf, also die Zeit von
Sonnenuntergang bis wieder dahin nicht überschreiten, und der Ort durfte,
wenigstens bei der Genossenschaft des Sophokles, nicht wechseln.
2. Die sog. klassische Schule der Franzosen hält an der Aristotelischen [36]
Lehre aus gewohnter Pedanterie fest, ohne wie bei den Griechen durch Einrichtung
der Bühne und durch den Chor dazu gezwungen zu sein. Es erklärt
sich das vielleicht dadurch, daß die Franzosen sich an die geläufige Jllusion
halten, welche die auf der Bühne erwirkten Jllusionen oder Vorstellungen
genau dem Leben adäquat macht, so daß z. B. eine Stunde auf der Bühne
auch einer Stunde der Wirklichkeit entspricht, daß ferner der Ort bleibt, weil
das Leben keinen unvermittelten Scenenwechsel giebt. Aber die Täuschung
sollte wenigstens nur so weit gehen, als es das Prinzip des Schönen gestattet.
Deshalb ändern wir Deutsche so oft, als es die Handlung fordert; uns gilt
die Minute oft für einen Tag. Wir haben eben Vertrauen in die geistigen
Fähigkeiten des Zuschauers, dessen Phantasie wir mehr als ein bloßes Hinnehmen
zumuten, und der bei uns nicht teilnahmloser Zuschauer ist (um ─
wie in Frankreich ─ alles ruhig genießend am Auge vorübergehen zu lassen),
sondern thätiger Mitdichter.
3. Die französische Schule läßt z. B. zur Erreichung der Einheit des
Ortes in ein- und demselben Zimmer die Hausfrau wie die Kammerzofe ihre
Liebesintriguen abspinnen und zum Austrag bringen; während nach Shakespeares
Vorgang besonders die deutschen Dramatiker ohne Nachteil für den ästhetischen
Eindruck sich eine größere Freiheit gestatten und namentlich seit Lessing (vgl.
Hamburger Dramaturgie) nur die Einheit der Handlung respektieren, derselben
die Einheit des Ortes und der Zeit unterordnend. Wohl muß das
Drama, das ja in wenigen Stunden vorzuführen ist, sich auch in der Zeit
beschränken, wohl fordert schon die Einheit der Handlung, daß nicht zu Verschiedenartiges
verbunden werde, und daß sich nicht die Helden mit ihren
Zwecken nach einander ablösen (wie etwa Cäsar und Brutus), aber für die
strenge Aristotelische Lehre läßt sich doch kein Beweis der Ästhetik erbringen.
§ 25. Die handelnden Personen (Charaktere). Der Held.
Die Handlung wird nach § 20 repräsentiert durch die handelnden
Personen, die sog. Charaktere, vorzugsweise aber durch eine Hauptperson,
um deren Geschick sich alles dreht, und die aus freiem Entschluß
ihrem ganzen Wesen nach nicht anders handeln kann, als sie
eben handelt. Man nennt diese Hauptperson im Drama den Helden.
Jhm gegenüber sind die übrigen Personen Nebenpersonen. Statisten
nennt man sie, wenn sie als stumme Teilnehmer an der Handlung
für irgend einen Zweck auf der Bühne erscheinen.
Nach der Hauptperson sind viele klassische und moderne Dramen
benannt.
Die hauptsächlich handelnde Person ─ der Held ─ muß einen ausgeprägten
Charakter, einen bestimmten Zweck haben. Der Held muß der Centralpunkt
des Ganzen sein, er muß die sich entgegentürmenden Widerwärtigkeiten,
Hindernisse, Jntriguen kräftig bekämpfen, so daß durch den Aufbau dieser [37]
Widerwärtigkeiten spannende Verwickelungen entstehen mit einer logischen Schürzung
des sog. dramatischen Knotens. Ein fortwährend schwankender Charakter paßt
für eine komische Figur, nimmermehr aber zum Helden eines Stückes, das
feste Ziele und Endzwecke haben soll. Ferner eignet sich ein Held, der nur
duldet, so wenig für's Drama, als ein solcher, welcher lediglich handelt ohne
die Rückwirkung seiner Handlungen zu verspüren. Er ist dann ein epischer
Held, ähnlich wie Odysseus, der bis zum Schluß des Epos ohne Veränderung
derselbe listige, ausdauernd unternehmende Held bleibt.
Ein dramatischer Held verändert sich in seinen einflußübenden Handlungen
durch das Werden. Man betrachte bei Othello, Richard III., Macbeth &c.
die Seelenstimmung, die Gewissensschläge, das Grausen, das diese dramatischen
Charaktere durchleben. Weiche Naturen, die einer leidenschaftsvollen Erregung
nicht fähig sind, passen ebenso wenig für's Drama, als hartgesottene Scheusale,
die jede Handlung unberührt läßt. Aristoteles (Poet. 2) will weder untadelhafte
noch durchaus böse Charaktere haben. Jedenfalls soll der Held in der
Handlung mit den sittlichen Anforderungen des Jahrhunderts im Einklang
stehen. Jn der Nichtbeachtung dieser Forderung ist wohl der Grund zu suchen,
weshalb z. B. Sakuntala mit der eigenartigen Ringgeschichte und der stark
orientalisch gefärbten Scene in der Laube (selbst in der verdienstlichen Wolzogenschen
Bearbeitung) für unsere deutsche Bühne nicht paßt, während ein
Hamlet, ein Othello nicht von ethischen Anschauungen des Jahrhunderts und
des bestimmten Volkes abhängen, da eben die Leidenschaft etwas allen Jahrhunderten
Gemeinsames ist. Shakespeare hat nur solche Helden gewählt, welche
durch beispiellose Energie und wunderbare Kraft der Leidenschaft und des
Willens die Handlung lebhaft vorwärts treiben. Die Helden der Deutschen
waren im vorigen Jahrhundert meist durch äußere Verhältnisse bewegt, und
selbst Schiller gab nicht selten den Gegenfiguren im ersten Teil die Führung.
§ 26. Stoff des Drama.
Einzelne Dramatiker entlehnen ihre Stoffe aus der Sagenwelt
und Geschichte, andere aus dem gesellschaftlichen Familienleben, andere
aus schon vorhandenen dichterischen Arbeiten, (aus der Novelle, aus
dem Romane, aus der Ballade), andere endlich aus der eigenen Erfindung,
aus der Phantasie. (Vgl. Bd. I. § 16. S. 36.)
Ein wirklich dramatischer Stoff darf in seiner Ausführung weder
gegen die ästhetischen, noch gegen die Rechts- oder Sittlichkeitsverhältnisse
des Zuschauers und seiner Zeit verstoßen.
Alle Lebensphasen, alle Verhältnisse des Menschen bilden die Domäne
des Dramatikers für den dramatischen Stoff. Hier eine Badekur, leichtes Leben,
dort Faust im Ringen nach dem Höchsten ─ nach Erkenntnis; hier Burleske
und Spott, dort Ernst und Würde: Aristophanes und Sophokles! Hier
ein Handel, der sich um nichts dreht, dort eine den Untergang eines Reiches [38]
erzielende Jntrigue, hier Robert und Bertram, dort Julius Cäsar. Eine große
Anzahl der Shakespeareschen Dramen wurzelt in den so mannigfaltigen tiefen
Gemütsstimmungen, welche in der Seele des Menschen sich regen, oder in
sündlichen Leidenschaften, die mit ihren riesengroß anwachsenden Begierden das
ganze Wesen erfassen, verwildern, beherrschen u. s. w. Bei den Griechen, die
unsere Liebesscenen und deren Stoffgebiete in ihren Dramen nicht kannten,
enthält jeder Sagenkreis Verlust und Wiederfinden: das Erkennen. Kinder
finden z. B. ihre bis dahin ungekannten Eltern, Gatten begegnen sich nach
langer Trennung, Gäste, Freunde und Feinde, welche Namen und Absicht verhüllten,
enthüllen sich u. s. w.
§ 27. Jdee des Drama, Jdealisieren, Jdeale.
1. Der Dichter muß sich den rohen Stoff, den er bearbeiten
will, erst zurichten, herrichten; er muß ihn dichterisch gestalten. Alles
Zufällige, Gräßliche, Verletzende, Unsittliche muß er von ihm losschälen
und aus eigener Erfindung ihn zu einem einheitlichen Gefüge
mit festem Ziel gestalten. Diese so entstandene neue Einheit, dieses
Ziel ist die Jdee des Drama.
2. Man spricht von Jdealisieren des Stoffs, wenn dieser nach
solch einheitlicher Jdee künstlerisch umgebildet wird, und man nennt
auch die Personen des Dichters, im Gegensatz zu ihren Stoffbildern,
Jdeale. (Vgl. den geschichtlichen und den Schillerschen Wallenstein.)
3. Schon Aristoteles verlangt vom dramatischen Dichter das Jdealisieren.
1. Obwohl die originelle Erfindung höchst verdienstlich ist, so ist es doch
nicht der Stoff allein und somit auch nicht die Erfindung ausschließlich, wodurch
sich der Genius bewährt, vielmehr ist es die Gewalt der Darstellung,
die Weltanschauung, d. i. das, was der Dichter aus der Fabel zu machen
versteht: wie er eine Jdee im Drama entfaltet.
2. Jst der Stoff aus der Geschichte, so hat der Dichter in der Veränderung
wirklicher Umstände und in der Hinzudichtung neuer Momente sorgfältig
zu sein, um die innere Wahrheit nicht zu verletzen. Aber auch sonst
hat er die Stoffe erst zu dramatischen Stoffen zu gestalten, d. h. eben: er
hat sie zu idealisieren. So hat Shakespeare seine der italienischen Novelle
entnommenen Stoffe nicht etwa bloß dramatisiert (d. i. in dramatische Dialogform
gebracht), sondern die schöpferische Gewalt seines Genius hat sie neu
gebildet; Shakespeare hat sie idealisiert. Sollen Personen aus der mythischen
oder sagenhaften Zeit als Träger von Jdeen dargestellt werden, so muß die
Behandlung so allgemein werden, daß sie lediglich zu typischen Personen umgeschaffen
werden. Wenn freilich der Dichter den Stoff modern gestalten will,
darf er eine individuelle Behandlung an Stelle der typischen treten lassen.
Äschylus hat mehr typische Behandlungsweise, Shakespeare mehr individualisierende. [39]
Jedenfalls darf der Dichter niemals viele typische Personen neben
einander stellen, während die individuelle Zeichnung keine andere Beschränkung
fordert, als die der Übersichtlichkeit.
Die Vergeistigung des rohen Stoffs zu einer poetischen Jdee zeigt folgendes
Beispiel Gustav Freytags (S. 8 ff. a. a. O.): Ein junger Dichter des
vorigen Jahrhunderts liest folgendes Zeitungsinserat: Stuttgart vom 11. Am
gestrigen Tage fand man in der Wohnung des Musikus Kritz dessen älteste
Tochter Louise und den herzoglichen Dragoner-Major Blasius von Böller tot
auf dem Boden liegen. Der aufgenommene Thatbestand und die ärztliche
Obduktion ergaben, daß beide durch getrunkenes Gift vom Leben gekommen
waren. Man spricht von einem Liebesverhältnis, welches der Vater des Majors,
der bekannte Präsident von Böller, zu beseitigen versucht habe. Das Schicksal
des wegen seiner Sittsamkeit allgemein geachteten Mädchens erregt die Teilnahme
aller fühlenden Seelen.
Über diesen gegebenen Stoff bildet, durch Mitgefühl aufgeregt, die Phantasie
des Dichters das Bild eines feurigen und leidenschaftlichen Jünglings, eines
unschuldigen, zartfühlenden Mädchens. Der Gegensatz zwischen der Hofluft, aus
welcher der Liebende hervorgetreten ist, und der engen Atmosphäre eines kleinen
bürgerlichen Haushalts wird lebhaft empfunden. Der feindliche Vater wird zu
einem herzlosen, ränkevollen Hofmann. Zwingend macht sich das Bedürfnis
geltend, den furchtbaren Entschluß eines lebensfrischen Jünglings, der bei solchem
Verhältnis von ihm ausgegangen scheint, zu erklären. Diesen innern Zusammenhang
findet die schaffende Seele in einer Täuschung, dem Verdachte von der
Untreue der Geliebten, welche durch den Vater in die Seele des Sohnes
geworfen ist. Jn solcher Weise macht der Dichter den Bericht sich und andern
verständlich, indem er, frei erfindend, einen inneren Zusammenhang hineinträgt.
Es sind dem Anschein nach kleine Ergänzungen, aber sie schaffen ein ganz
selbständiges Bild, welches der wirklichen Begebenheit als etwas Neues gegenübersteht,
und etwa folgenden Jnhalt hat: Einem jungen Edelmann wird durch
den Vater die Eifersucht gegen seine bürgerliche Geliebte so heftig aufgeregt,
daß er sie und sich durch Gift tötet. Durch diese Umbildung ist ein Ereignis
der Wirklichkeit zu einer dramatischen Jdee geworden. Von jetzt ab ist das
wirkliche Ereignis dem Dichter unwesentlich, der Ort, die Familiennamen fallen
ab; ob in der That der Hergang so war, wie der Toten und ihrer Eltern
Charakter und Stellung war, kümmert durchaus nicht mehr; warme Empfindung
und die erste Regung schöpferischer Kraft haben der Begebenheit einen allgemein
verständlichen Jnhalt und eine innere Wahrheit gegeben. Die Voraussetzungen
des Stückes sind nicht mehr zufällige und individuelle, sie könnten geradeso
hundertmal wieder eintreten und bei den angenommenen Charakteren und dem
gefundenen Zusammenhang würde der Ausgang immer wieder derselbe sein....
Sogar aus dem oben erdachten Zeitungsinserat ist der beginnende Umbildungprozeß
bereits erkennbar. Jn dem letzten Satz: „Man spricht von einem
Liebesverhältnis, welches u. s. w.“ macht der Berichterstatter den ersten Versuch,
die Thatsachen in eine innerlich zusammenhängende Geschichte zu wandeln, die [40]
Katastrophe zu erklären und den Liebenden dadurch erhöhtes Jnteresse zu verleihen,
daß ihrem Wesen ein anziehender Jnhalt gegeben wird ─ u. s. w.
Um an einem andern Beispiel zu zeigen, wie der Dichter den Stoff
dramatisch gestaltet, wie er ihn durch Umarbeitung idealisiert, motiviert, neu
schafft, erinnere ich noch daran, daß Schiller aus der geschichtlichen, ränkesüchtigen,
buhlerischen Maria Stuart eine ideale, über alles menschliche Leid
erhabene vorbildliche Fürstin schuf, aus deren Charakter sich das Warum
ihres tragischen Geschicks mit Notwendigkeit entrollte. Das Wesen Wallensteins
hat er für einen ergreifenden Eindruck so umgebildet, daß der finstere, angsterweckende
Bandenführer ein peripatetischer Philosoph, ein hochsinniger, träumerisch
reflektierender General wird; und hiefür dichtet er die Begebenheiten um, schafft
er neue Charaktere (z. B. den Max), gestaltet er Schicksale und Schuld, verfährt
er mit souveräner Dichterfreiheit, und gliedert er sein Material in dramatische
Momente.
3. Schon Aristoteles verlangt (Kap. 17. 5. 6. 7. 8.), was Freytag im
obigen Beispiel ausführte, daß sich nämlich der dramatische Dichter bei überlieferten
wie bei selbsterfundenen Stoffen zuvörderst die allgemeinen Grundzüge
entwerfe, daß er sodann die Stoffe von allen Zufälligkeiten entkleide, bevor
er sie ins einzelne ausführt. Am Stoff der Jphigenia zeigt Aristoteles, wie
der dramatische Dichter den Hergang erst in allgemeinen Umrissen zur Anschauung
bringen müsse, wie also die Jphigenia und der Orestes im Drama
durchaus anders gestaltet sind, als im überlieferten Stoffe. Er beweist, daß
die Beibehaltung der Namen des rohen Stoffes für den schaffenden Dichter
fast gleichgültig ist. Erst wenn der Dichter Handlung und Charaktere aus dem
Zufälligen, aus dem geschehenen Faktum herausgeschält und einen allgemein
gültigen Jnhalt an dessen Stelle geschaffen habe, möge er den Personen die
Namen des rohen Stoffes und die Episoden desselben einfügen, „dabei aber
wohl darauf achten, daß die Episoden wirklich zur Sache gehören, wie z. B.
beim Orestes der Wahnsinnsanfall, durch welchen seine Gefangennahme zu Wege
gebracht wird, und seine Rettung durch die (vorgebliche) Reinigung.“
§ 28. Tendenz des Drama.
Die schwebende Jdee der Gegenwart nennt man Tendenz. Die
Tendenz hat es mit den Tagesfragen zu thun.
So ist die Befreiung des Menschengeschlechts, wie des Jndividuums als
absoluter Begriff Weltidee; die Befreiung Jtaliens von den Bourbonen und
von der päpstlichen Herrschaft als relativer Begriff Zeitidee; diese Jdee ist
eben die Tendenz des Drama.
Das Tendenzdrama wird immer nur politische und sociale Konflikte zum
Stoff der Handlung wählen, nie aber einfach menschliche Konflikte, deren Darstellung
doch die Bühne allein gewidmet sein soll.
Die Tendenz erhält Berechtigung, wenn sie sich mit der allgemeinen Weltidee [41]
verschmilzt, wie es Lessing that, der von dem widerwärtigen Dogmenkampf
mit der Sehnsucht erfüllt wurde, im philosophischen Drama „Nathan“
der Toleranz und Gleichberechtigung einen Ausdruck zu geben. Nathan war
gegenüber einem Göze, Wöllner und Konsorten Tendenzstück, im Hinblick auf
die Weltidee der Toleranz hat es ewige Bedeutung.
§ 29. Das Motivieren im Drama.
Alle überraschenden Ereignisse in der Handlung des Drama müssen
so vorbereitet und erklärt sein, daß sie als wahrscheinlich erscheinen;
sie müssen ihre Begründung erhalten. Man nennt dies motivieren.
Durch Motivieren bringt der Dichter die einzelnen Teile der Handlung in
enge Beziehung, in einheitlichen Guß und Fluß, durch sie bewirkt er das dramatische
Jdealisieren seines Stoffes (§ 27). Jch erinnere beispielsweise daran,
wie Shakespeare durch feine Motivierung eine kleine Novelle zur Tragödie
Romeo und Julia gestaltet. Er führt die übermütigen Genossen des Romeo
ein, um diesen schwermütig erscheinen zu lassen. Er schafft die Masken= und
die Balkonscene, um die entstehende Zuneigung der Liebenden glaubhaft zu
machen und um zu beweisen, wie die süße Liebesleidenschaft das treibende Agens
edler Liebenden wird. Er schafft die Figur des Lorenzo, um Verwicklung und
Katastrophe zu motivieren. Er begründet den Haß Tybalts gegen Romeo und
dessen Genossen schon in der Zwischenscene beim Maskenfest, um später durch
Entfaltung der stärksten Motive, zu denen der Tot Mercutios gehört, Romeo
zum Kampfe zu reizen. Die Novelle läßt hier den Romeo ohne weiteres verbannen.
Shakespeare zeigt jedoch erst durch Motivierung den edlen Charakter
der Julia, um für deren späteren verzweifelten Entschluß das Substrat zu liefern.
Der Brautnacht läßt der Dichter das Versprechen des als heftig und hart
motivierten Vaters vorausgehen, dem Paris die Tochter zu geben. Nun motiviert
der Dichter auch noch durch Herbeiziehung des Zufalls, der sich
an Schlaftrunk und Begrabenwerden reiht und dem Zuschauer als wahrscheinlich
erscheint. Damit das Unglück um so unvermeidlicher erscheine, läßt seine
Motivierung auch noch den Paris vor der Gruft töten. Alle Hoffnung sinkt:
─ Untergang! Das ist eine untadelige Motivierung! So zeigt Shakespeare
den Unterschied zwischen epischer Darstellung und dramatischer Verbindung. Er
zeigt aber auch, um die Worte des Aristoteles in § 20 zu gebrauchen, daß
die Handlung das Erste und Wichtigste, die Charaktere erst das Zweite sind.
§ 30. Aktion und Reaktion im Drama. Seine Dreiteilung.
1. Der Aktion des Helden im Drama (speziell in der Tragödie)
stellt sich die Reaktion entgegen.
2. Mit Hinzurechnung einer Einführung hat daher das Drama
an sich schon eine Dreiteilung.
3. Neben den Dramen, in welchen der Held dem Gegenkampf
unterliegt, giebt es deren, in welchen er als Sieger hervorgeht. (Wir
werden diese Gattung als Schauspiel weiter unten zu behandeln haben.)
1. Jn vielen Dramen schreitet die innere Bewegung der Hauptperson
bis zu jenem Punkte vorwärts, wo sich sein ganzes Sein zur folgenschweren
That entschließt, oder, wie im Wallenstein, zur entscheidenden That gedrängt
wird. Von hier tritt die Umkehr der Handlung ein. Nun wirkt das Thun
des Helden auf ihn zurück, es macht ihn verantwortlich und führt (in der
Tragödie) seinen Untergang herbei. Der erste Teil des Drama ist also
Aktion, der zweite Reaktion. So sind die Tragödien Shakespeares gebaut,
(Othello und Lear ausgenommen), so Wallenstein.
2. Der Bau dieser Dramen zeigt den Kampf des Helden und den Gegenkampf
oder die Bekämpfung desselben, das Aufsteigen des Konflikts bis zum
Kulminationspunkt und das Herabsinken bis zur Lösung. Sie haben somit
folgende drei Teile: 1. Einführung (Exposition), 2. Schürzung des Knotens
(δέσις) und 3. Lösung (λύσις).
Jn vielen Dramen treiben äußere Faktoren den Helden auf den Höhepunkt
verhängnisvoller Befangenheit, von wo aus derselbe handelnd bis zur
Katastrophe abwärts stürzt (z. B. Emilia Galotti; Kabale und Liebe). Bei
der ersten Art von Dramen treiben die Hauptfiguren, bei der zweiten werden
sie getrieben.
Wenn Kühnheit als die höchste Gewalt eines Menschen bezeichnet werden
darf, welcher sein eigenes Jnnere den feindlichen Gewalten gegenüberstellt, so
verdienen die Konstruktionen jener Dramen, die im ersten Teil das Spiel, im
zweiten Teil das besiegende Gegenspiel markieren, den Vorzug. Es sind die
Tragödien. Doch kann derselbe Held siegreich aus dem Spiel hervorgehen.
Und man erwartet dies, wenn ihn keine Schuld trifft, da wir kein Fatum
kennen.
3. Seit Jffland unterscheiden wir Tragödien mit versöhnendem Schluß,
oder Dramen, bei welchen der Held siegreich aus den Kämpfen ─ oder durch
eine Art Kompromiß versöhnt ─ hervorgeht. Auch die Griechen hatten einzelne
Stücke mit versöhnendem Schluß. Sie scheinen es überhaupt, wie unser
Publikum, nicht ungern gesehen zu haben, daß der Held, wenn auch arg mitgenommen,
mit heiler Haut und heiterem oder selbstbewußtem Blick davonkam.
§ 31. Teile des Drama und Umfang desselben.
1. Die Dreiteilung ist nicht immer für die Akteinteilung des
Drama bestimmend.
2. Jn der Regel hat es 5 Teile, die man Akte nennt.
3. Mehr als 5 Teile sind nicht zu empfehlen.
1. Bei den alten Griechen war die Dreiteilung des Drama gebräuchlich
(nämlich Vorakt, Episodion, Schlußakt). Bei den modernen Völkern ist die [43]
Dreiteilung nur selten. Seit Ausbildung der modernen Bühne bei Franzosen
und Deutschen zählt es in der Regel 5 Hauptabschnitte, die man Akte nennt,
von denen jeder ein für sich abgeschlossenes Teilganzes bildet. (Es sind: 1. Einleitung,
2. Steigerung, 3. Höhepunkt, 4. Umkehr, 5. Katastrophe.) Actus
hieß bei den Römern jeder Abschnitt der Handlung; bei uns bedeutet das
Wort soviel als Aufzug (vom Aufziehen des Vorhangs). Die Spanier, die
den Akt jornada (Tag) nennen, haben auch Dramen bis zu 7 Akten, desgleichen
die alten Jndier, bei denen einzelne Dramen sogar bis zu 10 Akten
zählten.
2. Cicero (an Quintus fr. I. 1) will 3 Akte haben. Dagegen verlangt
Horaz in seiner Epistel an die Pisonen 5 Akte von jedem Drama:
(Ars poet. 189.)
3. Auf keinen Fall darf sich das Drama so lang ausspinnen, daß der
Zuschauer mit normalen Nerven längst vor dem Schluß erschlafft und ermüdet.
Ein sechsstündiges Drama ist entschieden zu kürzen, oder in zwei Stücke zu
zerlegen; bei noch längeren Dramen sind 3 Stücke zu bilden, was z. B. in
den Trilogien (Ödipus-Trilogie, ferner in Wallenstein, in dem Nibelungenring)
geschehen ist. Die an drei einander folgenden Tagen aufzuführenden
Trilogien (Dreihandlungen: mit dem Satyrspiel verbunden heißen sie Tetralogien
== Vierhandlungen) gaben den Griechen Gelegenheit, Zeit, Ort, Personen
&c. zu ändern und ausgedehntere Handlungen darzustellen, ohne der
Aristotelischen Forderung untreu zu werden, ─ also das zu erreichen, was wir
durch Akte und Scenenwechsel erstreben.
§ 32. Jnhalt der Akte. Prolog. Epilog.
1. Bei einem Drama von 5 Akten hat
der I. Akt die Exposition,
der II. Akt die Steigerung,
der III. Akt den Höhepunkt,
der IV. Akt die Peripetie,
der V. Akt die Katastrophe.
2. Nur ausnahmsweise hat ein Drama auch noch Prolog oder
Epilog.
3. Bei Dramen von geringerer Ausdehnung treten die einzelnen
Teile enger zusammen.
1. Erster Akt. Das Drama bringt in seinem ersten Akt mit dem einleitenden
Accorde die sog. Expositionsscene, d. h. mit der Vorbereitung
und Begründung der Handlung das aufregende Moment und die
erste Steigerung.
Beispiel: Jn Emilia Galotti giebt die Scene des Prinzen am Arbeitstisch
den stimmenden Accord, die Unterredung mit dem Maler die Exposition,
die Scene mit Marinelli das aufregende Moment (welches die
Meldung der bevorstehenden Vermählung liefert), der Entschluß, Emilia bei den
Dominikanern zu treffen, die erste Steigerung. Der Dichter führt im ersten
Akte die Personen vor, welche seine wichtige Angelegenheit beschäftigt, er bringt
sie mit all den umgebenden Lebensverhältnissen unserem Jnteresse nahe, zeigt
uns die Grundlage seines Baues und spannt nun unsere ganze Aufmerksamkeit
auf das Wie und Wodurch des darüber aufzuführenden Gebäudes. Er
versetzt uns a priori ─ der Bestimmung des ersten Aktes gemäß ─ in die
dramatische Stimmung, in die Situation des Drama, und gewährt so einen
ahnenden Vorblick in die Zukunft derjenigen Personen, deren Geschick sich vor
unsern Augen abspielt.
So versammelt sich ─ um noch ein Beispiel zu geben ─ im Oedipus
tyrannos von Sophokles die Jugend Thebens unter Führung der Priester
vor dem Palast des Königs. Wir erfahren, daß als Strafe der Götter für den
ungerächten Mord des vorigen Königs eine Pest wüte; das Volk kommt, um
die Entdeckung des Mörders herbeizuführen. Dies ist die Exposition der
Handlung.
Als Muster solcher Expositionen ist z. B. noch der erste Akt von Schillers
Tell zu nennen. (Einleitende Unterredung; Baumgartens Flucht und Rettung;
Scene vor Stauffachers Haus; Unterredung vor dem Hut auf der Stange;
Blendung Melchthals. Darauf die erste Steigerung: Beschluß, auf dem Rütli
zu tagen.)
Nicht durch Erzählung oder gar durch einen Prolog soll exponiert werden,
sondern durch Handlung; jedoch gehört zur Exposition auch das „aufregende
Moment“, d. i. das zu der Seele des Helden aufsteigende Gefühl und Wollen,
welches die Haupthandlung veranlaßt und den Helden bestimmt. Die Exposition
darf nie zu viel geben, um nicht den Verlauf der Handlung zu verraten; nur
ahnen lassen, nur das Verständnis vorbereiten soll sie. Die Exposition ist die
Frage, auf welche der Ausgang des Stückes (d. i. die Katastrophe) Antwort giebt.
Zweiter Akt. Jm Fortschritt und Verlauf der Handlung, also im
II. Akte (d. i. dem Akte der Steigerung), wird die eigentliche Verwickelung
(Kollision) klarer eingeleitet. Hier werden die Personen des Gegenspiels eingeführt.
Die Absichten und Pläne der Handelnden durchkreuzen sich: es
beginnt die eigentliche Handlung. Situation erwächst aus Situation,
Ringen und Kämpfen gegen feindliche Mächte wechseln ab.
Beispiel: Jn Emilia Galotti führt der Dichter erst die Familie Galotti
ein; dann folgt die exponierende Jntrigue Marinellis; dann Handlung:
a. Emiliens Aufregung nach dem Kirchenbesuch, b. Marinellis Besuch und
Auftritt mit Appiani &c.
Dritter Akt. Jhren höchsten Punkt erreicht die Verwickelung im dritten
Akt, den man deshalb als den Akt des Höhepunktes im Drama [45]
bezeichnet. Entschlüsse und Situationen der hervorragenden Personen wechseln.
Der Kontrast, in welchem sich die Charaktere gegenüberstehen und in welchen
sie zu ihren Situationen gebracht werden: dieses Kämpfen und Ringen gegen
das Schicksal giebt der dramatischen Handlung Bedeutung und anziehende
Kraft. Durch das Bestreben, die Verhältnisse ihrem Zwecke anzubilden,
schlingt oder schürzt sich der sog. dramatische Knoten. Der Konflikt spitzt
sich auf's äußerste zu, die höchste Spannung tritt ein.
Beispiel: Jn Emilia Galotti nach kurzer Einleitung, welche den Überfall
exponiert, Emilias Eintreten und darauf die Gipfelscene (5. Auftr. des 3. Aktes),
worin der Fußfall Emilias und des Prinzen Erklärung die Höhepunkte sind.
Durch die Erbitterung der Claudia gegen Marinelli wird die sinkende Handlung
eingeleitet.
Nach Aristoteles (Kap. 18. 9) zerfällt jede Tragödie in Schürzung und
Lösung. Er versteht unter Schürzung alles vom Anfang an bis zu demjenigen
Teil (der Begebenheiten) hin, welcher die Grenze bildet, von der ab der
Wechsel des Schicksals ─ sei es nun in Unglück oder in Glück ─ einzutreten
beginnt, ─ unter Lösung aber das, was von diesem Anfange des Glückwechsels
bis zum Ende erfolgt.
Vierter Akt. Die Krisis erfolgt im 4. Akte durch Eintritt der sog.
Peripetie (περιπέτεια, d. i. Umschwung nach Aristoteles), oder den Umschlag der
Geschicke der handelnden Personen und des glücklichen in einen unglücklichen
Zustand, oder umgekehrt, besonders des Helden. Peripetie ist bei Aristoteles
auch als eine einzelne Scenenwirkung zu betrachten, ─ als das tragische
Moment, das plötzlich einbrechend die Handlung in das Gegenteil verwandelt.
Die Griechen hatten auch Tragödien ohne Peripetie. Aristoteles (Poet. 11. 4)
nennt als beliebte Form der Peripetie die in § 26 erwähnte Erkennung.
(ἀναγνώρισις. cf. auch Plat. Theaet. 193. c.) Ödipus erkennt, daß der
von ihm Erschlagene sein Vater, und daß sein Weib seine Mutter ist. Alles
will zusammenbrechen. ─ Jon erkennt in der Totfeindin die Mutter, Jphigenia
den Bruder, den sie opfern soll, Elektra den betrauerten Bruder u. s. w.
Die Erkennungsscenen wurden bei den Griechen häufig zu Peripetie-Momenten
verwertet.
Jm vierten Akte führen die Deutschen meist noch die neuen Charaktere
für's Gegenspiel ein (z. B. Gutzkow den Ben-Akiba in Uriel Acosta).
Beispiel: Jn Emilia Galotti erst Unterredung, dann Eingreifen der
Orsina; Odoardos Eintritt und Orsinas Einfluß steigern die Handlung zum
höchsten, die Lösung fordernden Punkte und leiten zum fünften Akt.
Fünfter Akt. Der 5. Akt führt die Lösung des Knotens herbei, die
Hinwegräumung der entgegenstehenden Hindernisse und Konflikte, die eigentliche
Katastrophe (καταστροφή == Sturz), das Ende des Drama. Wie die einzelnen
Aktschlüsse die Antwort auf einzelne Fragen geben, so ist die Katastrophe
die Kardinalantwort des Ganzen. Die Hauptperson hat nunmehr die Hindernisse
entweder beseitigt, oder sie erliegt denselben.
Beispiel: Jn Emilia Galotti: Einleitung. Unterredung zwischen dem
Prinzen Odoardo und Marinelli; Weigerung, die Tochter zurückgeben zu wollen;
Katastrophe: Ermordung der Tochter.
2. Nur ausnahmsweise geht dem Drama ─ z. B. bei festlichen Gelegenheiten
─ ein besonderer Prolog voraus, der meist nichts mit dem Drama zu
thun hat, der nur ausnahmsweise die Handlung geschichtlich einleitet, oder den
Zusammenhang des Stücks mit der festlichen Gelegenheit angiebt. (Vgl. § 34. 1.)
Ebenso ausnahmsweise folgt dem Drama ein Epilog, der einem ähnlichen Zwecke
nach Abschluß des Drama dient, wie der Prolog vor dem Beginn desselben.
Es giebt auch 4=, 3=, 2= und 1aktige Dramen. Selbstredend treten bei
denselben Exposition, Kollision, Peripetie und Katastrophe entsprechend enger
aneinander.
§ 33. Schema für den Bau des Drama und Beispiele der
Bauart.
Die im Nachstehenden gegebenen Schemata bezwecken, das im § 32
Gelehrte durch Bild und Beispiel zu veranschaulichen.
Jn seiner o. a. Schrift (Seite 100) versinnbildlicht Gustav Freytag den
pyramidalen Aufbau des Drama (a. Einleitung, b. Steigerung, c. Höhepunkt,
d. Fall oder Umkehr, e. Katastrophe) durch Figur I.
Schillers Wallenstein (ohne die Piccolomini) versinnbildlicht er durch
Fig. II (a. a. O. S. 177):
Jn Fig. II wäre a b c == Teil bis zum Höhepunkt: die inneren Kämpfe.
c. Höhepunkt: erste Aktion des Verrats, z. B. Verhandlungen mit Wrangel,
c. d. Versuche zur Verführung des Heeres, d. Umkehr: das Gewissen der
Soldaten empört sich, e. Katastrophe: Wallensteins Tod.
(Jm Drama des Verfassers: „Römisches Schattenspiel“, ─ Leipzig,
Theile. 2. Aufl. ─ würde das Schema, sofern man sich die Exposition als
Bewegung a b denkt und dieselbe nicht, wie bei Freytag, auf den Punkt a
konzentriert, das Bild der Fig. III ergeben.
a─b Einleitung in die Handlung == Exposition, ruhiges Geschehenlassen
und Geschehen, b─c Aufwärtsstreben der Handlung, c─d rasche Entfaltung
zum höchsten Punkt, d─e Abwärtssinken mit dem Bestreben, das rasche Abfallen
noch aufzuhalten, e─f Katastrophe, Schluß.)
Beispiele für den Bau ganzer Dramen.
a. Maria Stuart. (Schiller.)
Exposition. 1. Akt: Streit des Paulet und der Kennedy.
Schürzung des Knotens. 2. Akt: Elisabeth will ihre Feindin in
Schloß Fotheringhay sehen.
Höhepunkt. 3. Akt: Begegnung und Streit der Königinnen im Park.
Peripetie. 4. Akt: Leicesters Verrat und Marias Todesurteil.
Katastrophe. 5. Akt: Maria Stuarts Tod.
b. Othello. (Shakespeare.)
Exposition. 1. Akt: Mitteilung an Brabantio von Othellos und
Desdemonas Flucht.
Schürzung des Knotens. 2. Akt: Jagos Plan zum Verderben
des Othello; Absetzung Cassios.
Höhepunkt. 3. Akt: Erwachen der Eifersucht Othellos.
Peripetie. 4. Akt: Othellos Vorsatz, sich an Desdemona zu rächen.
Katastrophe. 5. Akt: Desdemonas Ermordung; Othellos Selbstmord.
§ 34. Gesetze, Regeln, innere Beziehungen und Feinheiten
im Bau des Drama.
Zwischen den 5 Teilen des Drama liegen 3 dramatische Momente:
1. das erregende Moment ─ vgl. Figur I § 33 ─ zwischen a (Einleitung)
und b (Steigerung), 2. das tragische Moment, zwischen c
(Höhepunkt) und d (Fall) und 3. das Moment der letzten Spannung
kurz vor der Katastrophe e, um diese noch einmal zu steigern. Das
erste Moment ist wesentlich, das zweite kann fehlen, das dritte ist
Hilfsmittel.
Sonach hat der Bau des Drama folgende 8 wesentliche Teile zu
bieten: 1. Einleitung, 2. erregendes Moment, 3. die Steigerung, 4. den
Höhepunkt, 5. das tragische Moment, 6. die fallende Handlung, 7. das
Moment der letzten Spannung, 8. Katastrophe.
Wir suchen sie nachstehend näher darzulegen.
1. Einleitung. Vor die Einleitung tritt zuweilen ein die Handlung
bedingender Prolog. Bei Euripides ist er ein epischer Botenbericht; bei Shakespeare
eine artige Aufforderung zum Aufmerken. Jn Kleists Käthchen von Heilbronn
ist die Einleitung zum Situationsbild geworden, ebenso in Schillers Jungfrau
von Orleans. Ein Vorspiel ist verwerflich, weil es wieder aus Teilen zu
bestehen hat und als Teilganzes nur lockere Verbindung mit dem Drama hat.
Der Prolog ist nur ausnahmsweise, wie in Kleists Käthchen von Heilbronn,
Schillers Wallensteins Lager, und Jungfrau von Orleans, Goethes
Faust &c. zu gestatten, wenn er ein die Handlung einführendes, ihr zur Unterlage [48]
dienendes Stimmungsbild entwirft; ganz kann er den Anforderungen an
eine in dialogischer Form gegebene, handelnd fortdrängende Exposition nicht
entsprechen.
Die Einleitung (Jntroduktion) hat Ort, Zeit, Verhältnisse und Gesamtstimmung
des Ganzen zu schildern, zu introducieren, gleichsam mit vollem
Accord anzuschlagen, z. B. in Hamlet: Kommandoruf, Nacht, Aufziehen
der Wache; in Romeo: Tag, offene Straße, Streit, Schwertergeklirr der
feindlichen Parteien; in Macbeth: Sturm, Donner, unheimliche Hexen auf
öder Heide.
Darauf folgt die Exposition, die vom Anfang häufig durch scenischen
Einschnitt getrennt ist, z. B. in Hamlet die Hofscene, in Macbeth Duncans
Auftreten &c. Die Exposition soll lediglich vorbereiten, nicht aber zersplittern,
zerstreuen. Daher wählt der Dichter meist eine etwas ausgebreitete Scene,
z. B. in Julius Cäsar den Festzug und die Unterredung des Cassius
und Brutus; in Maria Stuart den Streit, die Expositionsscene: Maria
und Kennedy.
2. Das erregende Moment. Die Handlung gelangt in Bewegung,
wenn im Helden der Entschluß zur That sich regt. Jn Julius Cäsar ist es
der Beschluß, Cäsar zu töten, in Maria Stuart das Bekenntnis Mortimers,
in Emilia Galotti die Nachricht von Emilias bevorstehender Vermählung;
im Faust beginnt es mit Mephistos Eintritt, das Vorhergehende ist Exposition.
Das erregende Moment muß kurz sein, da es eben nur Motiv ist. Nach
seiner Einführung beginnt die ernste Arbeit des Dramatikers.
3. Steigerung. Sie ist die interessevolle Fortspinnung der in Fluß
geratenen Handlung. Alle noch nicht vorgestellten Personen müssen jetzt erscheinen.
Jn Julius Cäsar ist die Steigerung allein schon durch die Verschwörung
ausgeführt. Jn Romeo und Julia durchläuft sie 4 Stadien in einer
trefflichen Scenengruppe: a. Maskenball, bestehend aus 2 Vorscenen (Julia,
Mutter, Amme) und einer Hauptscene: Ball. b. Gartenscene (Vorscene, in
welcher Romeo gesucht wird, und Hauptscene, in welcher die Liebenden die
Vermählung beschließen). c. Trauung (1. Scene: Lorenzo und Romeo,
2. Scene: Romeo, Genossen, Amme als Botenläuferin, 3. Scene: Julia und
Amme, 4. Scene: Trauung). d. Tybalts Tod.
4. Höhepunkt. Er bezeichnet die Stelle, wo die Handlung durch eigenes
Treiben des Helden oder durch die Resultate des Gegenspiels die höchste Macht
entfaltet, z. B. die effektvolle Hüttenscene in Lear, oder die Scene, in welcher
Jago die zum Untergang treibende Eifersucht Othellos anfacht.
5. Das tragische Moment. Es ist der Beginn der sinkenden Handlung.
Es wird meist mit dem durch Aktschluß getrennten Höhepunkt durch
eine erläuternde Scene verbunden.
Jn Maria Stuart ist es der Zank mit Elisabeth.
6. Die fallende Handlung. Sie ist die Umkehr oder der Wechsel
der Handlung vom Glück zum Unglück, oder umgekehrt. Die Behandlung der
Umkehr ist schwierig, weil die scenischen Effekte gesteigert werden müssen, um [49]
das Jnteresse wach zu erhalten. Der Dichter beschränkt in der Regel die Zahl
seiner Personen, um große, bedeutende Scenen zu gewinnen. Die Handlung
drängt zur Entscheidung und verbietet weiteres Ausmalen, Begründen und
episodisches Motivieren. Nur in großen Kontouren kann noch eine Zeichnung
gestattet sein. Es handelt sich um Thaten, Erfolge, Wirkungen. Daher ist die
fallende Handlung (Umkehr) auch kürzer, als die aufsteigende. Vgl. den Monolog
der Julia in Romeo und Julia vor dem Schlaftrunk; das Nachtwandeln der
Lady Macbeth &c.
7. Das Moment der letzten Spannung. Es ist eingefügt, um
die Katastrophe so wirksam als möglich vorzubereiten, um sie auch nicht zu
rasch eintreten zu lassen. Shakespeare läßt z. B. im Romeo ganz zuletzt auch
noch den Paris vor dem Sarge der Julia töten, um den Gedanken an glückliche
Lösung nicht mehr aufkommen zu lassen (vgl. § 28), oder er läßt die
Ermordung Hamlets durch ein vergiftetes Rappier noch im Voraus besprechen
u. s. w.
Das Moment der letzten Spannung benützt zuweilen ein kleines Hindernis,
um für einen Augenblick noch an die Möglichkeit einer andern Wendung glauben
zu machen.
Jn Laubes Essex ist es der die Rettung ermöglichende Ring; in Romeo
der erwartete mögliche Eintritt Lorenzos in die Gruft; in Coriolan die Möglichkeit,
freigesprochen zu werden; in Wallenstein der Gedanke an eine mögliche
Rettung durch Gordon und die Schweden &c.
8. Die Katastrophe (== exodus der alten Bühne). Sie ist die
Lösung, der Zusammenbruch, der Untergang des Helden. Sie muß die logische
und moralische Konsequenz der Handlung und der Charaktere sein. Die Katastrophe
muß jedes überflüssige Wort vermeiden; in ihr müssen sich alle Scenen,
wie in einem Brennpunkt der auslaufenden Handlung vereinen, ergießen. Daher
muß jede dunkle Stelle in der Jdee hier durch Wort und Handlung erhellt werden.
§ 35. Hamlet als Beispiel des Baues eines Drama.
Da es besser ist, das regelnde Gesetz an einem Beispiel eingehend
zu demonstrieren, als oberflächlich an vielen, so erläutern wir
hier noch den Bau des Drama an Hamlet, wie ihn Freytag (a. a. O.
S. 163) abstrahiert hat, und wie eine ähnliche Disposition jeder
Dramatiker bei Beginn seiner dramatischen Arbeit sich bilden sollte.
1. Einleitung. a. Der stimmende Accord: auf der Terrasse erscheint
der Geist; die Wachen und Horatio. b. Die Exposition selbst: Hamlet im
Staatszimmer vor dem Eintritt des aufregenden Moments. c. Verbindungsscene
zum Folgenden: Horatio und die Wachen unterrichten ihn vom Erscheinen
des Geistes.
2. Eingeschobene Expositionsscene. Die Familie Polonius bei
der Abreise des Laertes.
3. Das aufregende Moment. a. Einleitender Accord. b. Der Geist
erscheint Hamlet. c. Hauptteil: Er offenbart ihm den Mord. d. Hamlet und
die Vertrauten als Übergang zum Folgenden.
Durch die beiden Geisterscenen, zwischen denen die Einführung der Hauptpersonen
stattfindet, werden diese Scenen zu einer Gruppe zusammengeschlossen,
deren Gipfelpunkt am Ende liegt.
4. Steigerung in 4 Stufen. Erste Stufe: Die Gegenspieler.
Polonius macht geltend, daß Hamlet aus Liebe zu Ophelia wahnsinnig geworden;
in 2 kleinen Scenen: Polonius in seinem Hause und vor dem König. Die
letztere schließt sich eng an die folgende:
Zweite Stufe: Hamlet beschließt, den König durch ein Schauspiel auf
die Probe zu stellen in einer großen Scene mit episodischen Ausführungen:
a. Hamlet und Polonius; b. Hamlet und die Hofleute; c. Hamlet und die
Schauspieler als Hauptteil; d. Monolog Hamlets leitet zu dem Folgenden über.
Dritte Stufe: Der Gegenspieler. a. Der König und die Jntriguanten.
b. Hamlets berühmter Monolog. c. Hamlet warnt Ophelia. d. Schluß: Der
König schöpft Verdacht.
Diese drei Stufen sind untereinander zu einem größern Organismus verbunden,
die erste wird zur Einleitung, die breite und behagliche Ausführung
der zweiten bildet den steigernden Hauptteil, die dritte, durch die Fortsetzung
des Monologs schön mit der zweiten verbunden, den Gipfelpunkt dieser Gruppe
mit schnellem Abfall.
Vierte Stufe, welche zum Höhepunkte hinüber leitet: das Schauspiel.
a. Einleitung: Hamlet und die Schauspieler und Hofleute. b. Hauptteil: die
Aufführung und der König. c. Übergang: Hamlet, Horatio und die Hofleute.
Bestätigung des Verdachts. Hamlet soll zu seiner Mutter kommen.
5. Höhepunkt. Eine Scene mit Vorscene: Der König betend, Hamlet
zaudernd. Eng daran schließt sich
Das tragische Moment. Eine Scene: Hamlet ersticht in der Unterredung
mit seiner Mutter den Polonius. Zwei kleine Scenen als Übergang
zum Folgenden: Der König beschließt, Hamlet wegzusenden.
Auch diese drei Scenengruppen sind zu einem Ganzen verbunden, in deren
Mitte der Höhepunkt steht. Zu beiden Seiten in großer Ausführung die letzte
Stufe der Steigerung und das tragische Moment.
6. Die Umkehr. Einleitende Zwischenscene. Fortinbras und Hamlet
auf dem Wege.
Erste Stufe: Eine Scene: Ophelias Wahnsinn und der Rache fordernde
Laertes.
Kleine Zwischenscene: Brief Hamlets an Horatio.
Zweite Stufe: Eine Scene: Laertes und der König bereden den Tod
Hamlets. Schluß und Übergang zum Folgenden bildet der Bericht der Königin
über den Tod der Ophelia.
Der Bau dieser Scenengruppe ist nicht so durchgebildet, als in den frühern
Abteilungen; der Zusammenhang wird durch die Zwischenscene unterbrochen, [51]
welche korrespondierend mit der einleitenden Scene eine Erklärung der Reise
Hamlets darstellt.
Dritte Stufe: Begräbnis der Ophelia. Die episodische Einleitungsscene:
Hamlet und die Totengräber; die Hauptscene, kurz gehalten: scheinbare Versöhnung
des Hamlet mit Laertes.
7. Katastrophe. Einleitende Scene: Hamlet und Horatio, Haß gegen
den König; als Übergang zum Folgenden: die Meldung Osricks. Dann Hauptscene:
die Entscheidung. Darauf Schluß: Ankunft des Fortinbras.
Auch die zweite Stufe der sinkenden Handlung hat keine regelmäßige
Bildung, die episodische Einleitung füllt den größten Teil; die Arbeit des
dramatischen Ausgangs ist von altertümlicher Kürze und Strenge. ─
Es giebt kein besseres Mittel, in die Technik des Drama einzudringen,
als gute Dramen nach Maßgabe des vorstehenden Schemas zu schematisieren.
§ 36. Auftritt, Scene und Scenenwechsel in der dramatischen
Dichtung.
1. Jedes Erscheinen einer neuen Person auf der Bühne wird als
neuer „Auftritt“ bezeichnet, ebenso das Abtreten einer oder mehrerer
Personen von der Bühne. Es giebt sehr verschiedenartige Scenen. Die
Veränderung der Bühne wird als Veränderung der Scene bezeichnet.
2. Der Scenenwechsel auf der Bühne muß möglichst rasch erfolgen.
3. Die Scenen haben je nach ihrem Charakter verschiedene Bestimmung
und Wirkung.
1. Das Wort Scene bedeutet ebenso den offenen Bühnenraum, als
dasjenige Bruchstück der Handlung, welches die gleiche Dekoration hat. Für
den Dichter ist Scene die Verbindung mehrerer dramatischen Momente, welche
die gleichen Hauptpersonen haben. Die Scene kann einen ganzen Akt oder
einen Teil desselben umschließen.
Es giebt Monologscenen, Dialogscenen, Botenscenen,
Liebesscenen, Ensemblescenen, Massenscenen &c. Der Scenenwechsel
wird auf der Bühne meist durch den Niedergang eines Zwischenvorhangs
angezeigt. Bei den gedruckten Dramen wird der Scenenwechsel durch
das Wort „Verwandlung“ angezeigt. Die Scene des dramatischen Dichters
und des Regisseurs fallen nicht immer zusammen, da ja bei dem Abgang selbst
des Helden nicht immer die Dekoration zu wechseln braucht.
Um ein Beispiel anzugeben, so bietet der 4. Akt von Maria Stuart in
12 Auftritten zwei kleinere und 1 größere dramatische Scene, und durch einen
Koulissenwechsel wird der Akt in zwei Bühnenscenen geschieden. Die Verweisung
des Grafen Aubespines und der Streit Leicesters mit Burleigh bilden
in drei Auftritten die erste Scene; der Monolog Leicesters, seine Besprechung
mit Mortimer, Mortimers Tod im 4. Auftritt bilden die 2. Scene. Hier
tritt die zweite Bühnenscene ein, indem das Zimmer der Königin hergerichtet [52]
wird. Der 5. bis 12. Auftritt des 4. Aktes ergeben sodann nur noch eine
große Scene: (Doppelscene.) Kampf um's Todesurteil. (5. Auftritt: Elisabeth
und Burleigh gegen Leicester. 6. Auftritt: Leicesters Unterredung. 7., 8., 9.,
10. mit ausklingendem und verbindendem 11. und 12. Auftritt: Unterschrift
des Bluturteils.)
2. Der Niedergang des Vorhangs am Aktschluß gestattet Zeit, im Zwischenakt
die Scene zu wechseln. Diese Zeit sollte stets nur ein paar Minuten
betragen, besonders zwischen den beiden durch die Handlung so eng zusammenhängenden
Schlußakten. Dekorationswechsel ist immer mißlich, weil er die
Handlung hindert; doch ist er am besten noch in den ersten Akten anwendbar,
wo die Richtung der im Verlauf immer mehr drängenden Handlung noch nicht
so genau bestimmt hervortritt.
Was den Bau der dramatischen Scenen betrifft, so sollte eine jede nach
der Einleitung eine Steigerung durch Widerspruch, Widerstreben, Gegenrede,
Gegenhandlung und schließlich ein Resultat zeigen oder ahnen lassen, das auch
negativ sein kann.
Es ist dramaturgisches Gesetz, die Scene nie leer stehen zu lassen, wenn
dies nicht gewisse Handlungen verlangen, wie ein Mord, oder das Hinwegstürzen
der Handelnden z. B. in den beiden Grachen &c.
3. Wir geben im Nachstehenden den Begriff der wesentlichsten sogenannten
Scenen:
a. Die Monologscenen geben Gelegenheit, das geheimste Empfinden
und die dunklen Ziele dem Publikum zu entrollen, einen Blick in die Herzkammer
des unbelauschten Handelnden thun zu lassen. (Hamlet reflektiert über
die Wirkung des Schauspielers. Er bringt Thatlosigkeit in Vergleich; er faßt
den Entschluß zu handeln und legt dadurch für den Zuschauer die Einwirkung
klar, welche seine Unterhaltung mit den Schauspielern auf ihn und auf den
Fortgang der Handlung übt.) Die Monologe sind meist lyrischer Natur. (Vgl.
Tell, 4. Aufz. 3. Scene.)
b. Die Dialogscenen bilden die Seele der Handlung, die durch sie
zum Ausdruck gelangt. Hat man sich klar gemacht, daß das Wesen des Drama
Handlung ist, so wird man auch einsehen, daß die Dialogscene im ernsten
Drama anders sein muß, als z. B. im Lustspiel, im Salon- und Konversationsstück.
Sie muß den Fortschritt der Handlung ausdrücken. (Z. B. die Dialogscene
zwischen Orsini und Odoardo, 4. Akt, 7. Auftritt in Emilia Galotti:
Odoardo: Weiß ich nicht schon genug? Orsina: Sie wissen nichts. Wenn
es gar Jhre einzige Tochter ─ Jhr einziges Kind wäre! ─ Appiani ist
tot. Jhre Tochter, schlimmer als tot. Odoardo: Sprach sie in der Messe?
Der Prinz meine Tochter? ─ Nun, Mütterchen? haben wir nicht Freude
erlebt! O des gnädigen Prinzen! ─ Wunder, daß ich aus Eilfertigkeit nicht
auch die Hände zurückgelassen! Orsina: Nehmen Sie ihn! (ihm den Dolch
aufdringend). Odoardo: Liebes Kind, wer wieder sagt, daß du eine Närrin
bist, der hat es mit mir zu thun &c.)
c. Die Botenscenen sind der Gegensatz, da ihre Berichte nur referieren. [53]
Sie werden bei längeren Dramen häufig beschnitten. Mit Unrecht, da sie
über die Züge des Gegenspiels aufklären und zu neuem Fortgang drängen.
Man vgl. z. B. den Botenbericht des Schweden in Wallenstein, der den Tod des
Max meldet und Gelegenheit giebt, das ganze Seelenleben der Thekla zu entrollen.
d. Die Liebesscenen bilden in der Tragödie einen wunderbaren
Kontrast zu dem finsteren Geschick. Die großartigsten Liebesscenen finden sich
in Romeo mit der unübertroffenen Balkonscene, und in Faust die Scene Gretchens
im Garten. Sie heben sich da in der Gewalt der unmittelbaren Empfindung
von denen Schillers ab, z. B. im Tell zwischen Rudenz und Bertha, im
Wallenstein, wo die Anwesenheit der Terzki die Entfaltung hemmt. Der Eintritt
eines Dritten in den Dialog kann hemmend oder treibend wirken, da er als
Partei die Absicht des einen lähmt oder fördert, oder auch seinen Willen
einem jeden der beiden entgegensetzt.
e. Ensemblescenen. Sobald mehr als drei Personen an der Handlung
sich beteiligen, entstehen die Ensemblescenen, die in der griechischen
Tragödie fehlten, uns aber geradezu unentbehrlich sind. Sie sind zwar nicht
der Ausdruck der größten Steigerung oder Spannung, aber sie liefern einen
Beitrag, der Handlung Glanz, Bewegung, Farbe und Wirkung zu verleihen,
die Triebfedern der Handlung ersehen zu lassen, oder dieselbe effektvoll abzuschließen.
Diese Wirkung der Ensemblescenen ist nicht sowohl von der Anwesenheit
vieler Personen auf der Bühne abhängig, als vielmehr von dem
thätigen, charakteristisch=bewegten Eingreifen derselben. Der Dichter ist daher mit
Recht als der Wirt bezeichnet worden, welcher jedem seiner Gäste die Unterhaltung
in dieser Scene und das Eingreifen in dieselbe ermöglichen soll. Scenen
von großer Personenzahl (Volksscenen &c.) müssen eine sehr verständnisvolle
Gliederung haben, um ebenso die führenden Stimmen zu markieren, als das
harmonische Zusammengreifen zu ermöglichen. Selbstredend ist hier ein weises
Maßhalten geboten; auch der Held wird vieles unausgesprochen lassen müssen,
da hier eine große Gruppe nicht zum Schweigen auf lange Zeit verurteilt
werden kann.
Eine gewaltige Ensemblescene ist die Rütliscene im Tell. Jhre Teile sind:
Ankunft der Unterwalder, Melchthals und Stauffachers Unterredung, Begrüßung
der Schwyzer. Der Dichter hat es vermieden, durch wiederholtes Betonen des
Eintritts der 3 Kantone unsere Geduld auf die Probe zu stellen. Die Urner
erscheinen und die Handlung beginnt, geleitet von 2 Hauptpersonen, ja, sie
spinnt sich fort in kurzen Reden und lebhaftem Eingreifen der Nebenfiguren.
Stauffacher schildert glänzend die Absicht und das Ziel des Bundes. Widerstreit
der Ansichten über Stellung zum Kaiser; verständnisvolles Reden, Steigerung
der Gegensätze über die Mittel, sich von den Vögten zu befreien. Abstimmung,
Schwur. Stauffachers machtvoller Vortrag ist der Höhepunkt der
Scene, die so mannigfach ist in Bewegung, Händeerheben, Waffengerassel,
Steigerung, Ruhe, Umarmung! Dazu der schöne Ausklang der Scene, indem
die Morgenröte der entblößten Gruppe Farbe verleiht und das Licht der aufgehenden
Sonne die Eisberge übergießt.
f. Bei Massenscenen, für welche man auf der Bühne ja doch nur
einen geringen Teil an Personal hat, muß durch Versatzstücke, Verengerung
des Platzes, Verkleinerung des Raumes eine so geschickte Aufstellung der Personen
erfolgen, daß die Täuschung hervorgerufen wird, als habe man es mit
einer unübersehbaren Menge zu thun.
Die Behandlung der Shakespeareschen Volksscenen, wie auch deren
Aufführung in neuerer Zeit durch das Meiningensche Mustertheater, ist vorbildlich.
Die Wirkung ist aber auch eine wunderbare. Das Zusammensprechen
zu üben, die Bewegung des einzelnen vom Massenkörper abzuschälen, künstlerisches
Bewegen auch dem Statisten einzuhauchen, sollte nach Art der
Meininger allenthalben erstrebt werden. Das Verdienst der feinen Ausführung
Shakespearescher Massenscenen ist nicht so gering, als es von manchem Neidischen
geschildert werden möchte.
§ 37. Monolog und Dialog in den dramatischen Dichtungen.
Um die Handlung vor unsern Augen entstehen zu lassen, bedient
sich der dramatische Dichter kurzer Monologe (Rede des einzelnen mit
sich selbst) und treffender Dialoge (Zwiegespräch der Handelnden), was
nicht selten zur antithetischen geflügelten Wechselrede (Stichomythie)
wird, und eine erhabene Rhetorik der Leidenschaft als Resultat hat.
Der Monolog hat die Aufgabe, einen Blick in den Gemütszustand des
Handelnden zu ermöglichen. (S. 52. a.) Dagegen sucht der Dialog das Entgegensprechen
der Handelnden zu ermöglichen, das Bestreben, sich gegenseitig
zu überzeugen, manches anders darzustellen, Absichten und Gedanken hinter
Worten zu verbergen, zu imponieren, ein bestimmtes Ziel zu erreichen u. s. w.
(S. 52. b.) Jn Wahrheit ruht die poetische Kraft der dramatischen Dichtung
hauptsächlich und vorzugsweise in den Worten der Handelnden: aus ihnen
erfahren wir Ursache und Absicht ihrer Handlungen.
§ 38. Sprache und Form des Drama.
1. Schon aus dem in § 37 angegebenen Grunde ist der Sprache
besondere Rücksicht zuzuwenden, wobei das Bd. I S. 107 ff. Gesagte
zu beachten ist.
2. Bezüglich der Form ist abzuwägen, ob gebundene Rede anzuwenden
sei oder nicht.
1. Das gute Drama hat vor allem alles Schwülstige, Affektierte, Manierierte,
Gekünstelte, Unwahrscheinliche in der Sprache zu vermeiden und der
Handlung, für deren Mangel geflügelte Worte und glänzende Denksprüche nicht
entschädigen können, die Form des würdigen Ausdrucks anzupassen. Harmonische
Vereinigung der innern Wahrheit mit Schönheit des äußern Ausdrucks ist
dabei Aufgabe der dichterischen Sprache.
2. Bezüglich der Sprachform haben Schiller (Räuber), Goethe (in
seinen ersten Dramen Clavigo, Egmont, Götz von Berlichingen), Lessing,
ferner auch der Franzose Diderot nach dem Vorbild englischer Dramen des
17. und 18. Jahrhunderts die Prosa empfohlen. Es schien ihnen unnatürlich,
daß auf der Bühne eine andere Sprache gelten sollte, als im Parterre. Doch
schrieb Lessing später seinen Nathan im jambischen Quinar, dessen sich sodann
auch Goethe und Schiller bedienten. (Vgl. Bd. I S. 311.) Das sich
bahnbrechende Künstlerbewußtsein gab diesen Dichtern den Vers und sie zeigten,
daß der Dichter Veranlassung haben kann, auch die Sprache im Gebiet der
Kunst zu beteiligen.
Shakespeare ist insofern besonders beachtenswert, als er die Personen
aus niedern Ständen Prosa sprechen läßt, den edleren Personen aber Verse
giebt. Auf diese Weise malt er das Leben trefflich und zeigt ein die Einförmigkeit
vermeidendes, sich der Situation anschließendes Stilgefühl.
Für gewisse Dramen, für Komödien, Possen ist die Prosa am Platze;
die Unwahrscheinlichkeit eines rhythmisch gegliederten Dialogs moderner Figuren
empfiehlt bei diesen Gattungen von selbst die Prosa. Sie bequemt sich leicht
einer jeden Stimmung an; sie gestattet größere Unruhe und schnelleren Wechsel.
Sind aber die Helden des historischen Drama z. B. längst verstorbene
Personen, die nie unser modernes Deutsch sprachen, oder gehören sie einer
fremden Nationalität an, oder ist eine gehobene, edlere Stimmung des Herzens
verlangt, so ist die rhythmische Form geboten.
Diejenigen Völker, bei denen das Drama aus ihrem nationalen Kunststreben
emporblühte, haben nur die Form der Rede gewählt, welche der unrhythmischen,
prosaischen Form ziemlich nahe lag, z. B. die Griechen und
Römer den jambischen Rhythmus. (Aristoteles sagt von ihm: „μάλιστα γὰρ
λεκτικὸν τῶν μέτρων τὸ ἰαμβεῖον ἐστιν“.) Den trochäischen Tetrameter
bezeichnet Aristoteles als dithyrambisch: in der That findet er sich auch früher
─ bei Sophokles und Euripides ─ häufiger als später, wo die Abstammung
des Chors aus dem Dithyrambus zeitlich ferner gerückt war. Die Komödie
bediente sich auch noch des anapästischen Verses.
Unser ältestes deutsches Drama ─ der Wartburgkrieg ─ (vgl. Bd. I
S. 47) schloß sich in seiner Form der Lyrik an. Es hatte singbare Strophen.
Später gebrauchte das Drama kurze Reimpaare, bis Lessing, wie erwähnt, dem
jambischen Quinar die Bahn eröffnete. (Vgl. Bd. I S. 312, sowie 313 und
416, wo auch der Freiheiten im Gebrauch des jambischen Quinars gedacht
ist.)
Auch gereimte Trochäen hat man angewendet. Jn neuerer Zeit hat man
aus Opposition gegen die Monotonie der sog. Jambentragödie häufig die
metrische Form ganz aufgegeben, die doch von einzelnen, (z. B. von dem sprachgewandten
Ungar Doczi im „Kuß“ 1877) mit großem Erfolg verwertet
wird. Jn Frankreich wird immer noch der Alexandriner verwendet, in Spanien
der assonierend trochäische Vers.
§ 39. Anforderungen an den dramatischen Dichter im
allgemeinen.
1. Der dramatische Dichter muß die Technik des Drama kennen
und sich in den Geist seiner Figuren zu versetzen wissen.
2. Er muß den Monolog wie den Dialog seinen Charakteren
entsprechend zu bilden vermögen.
3. Er muß daher vor allem Phantasie und hohe Bildung besitzen.
4. Er muß das Charakterisieren lernen und seine Kraft auf Gestaltung
guter Figuren wenden.
5. Er darf es nicht verschmähen, sich an guten Mustern zu bilden.
1. Die Anforderungen an den dramatischen Dichter in Bezug auf Disposition
der Handlung, Methode der Charakterbildung, Darstellung der Leidenschaft
und der Seelenvorgänge sind keine geringen. Er muß sich zunächst
Stimmung, Stand, Stellung, Lage, Alter, Verhältnisse seiner handelnden
Personen vergegenwärtigen, um seine Zeichnung objektiv zu gestalten, sowie die
Wahrheit der Unterredung und die Jndividualität dieser handelnden Personen
nicht zu beeinträchtigen, und auf diese Weise lediglich zum Ausdruck zu bringen,
was dieselben empfinden, denken, wollen.
Das wirklich Dramatische wirkt in ernster Handlung sicher tragisch, wenn
der Dichter es richtig zu gestalten vermag. (Das Wort tragisch ist als specifische
Folgenschweres, Trauriges bringende Art der dramatischen Wirkung zu betrachten.
Vgl. Bd. I S. 100.)
2. Der Dramatiker muß es verstehen, den Dialog einfach, natürlich, nur
aus der Handlung und den äußern wie innern Zuständen der Personen entspringend
zu gestalten und im Monolog (anstatt historisch unterrichtend) dem
innern Drang der Gefühle ein Organ zu sein. Nur solches Verständnis wird
ihn befähigen, den Zuschauer gleichsam dem Handelnden eng an die Seite zu
stellen, den ersteren in der Seele des Helden lesen zu lassen, wie es z. B.
Schiller beweist in dem zur Entfaltung der Leidenschaft mitwirkenden dramatischen
Monolog Tells vor der Ermordung Geßlers. (4. Akt 3. Scene.)
Vom Dramatiker muß man große poetische Kraft, männlichen Mut und
souveränen Sinn für die Schlußkatastrophe verlangen, um nicht vor dem Untergang
des Helden zurückzuprallen.
3. Für den Aufbau braucht der Dramatiker neben Phantasie auch Kenntnis,
poetischen Reichtum, dichterische Routine, um guten Stoff zu wählen und
diesen nach den Regeln der Kunst zu bearbeiten. Der Dramatiker muß sich die
dramatische Bewegung vorstellen können, um nicht Hauptpersonen zu lang auf
der Bühne unbeschäftigt zu lassen, oder dem Darsteller zu viel zuzumuten. Er
muß die Leistungsfähigkeit des Sachdarstellers kennen, um nicht vom jugendlichen
Liebhaber zu verlangen, was nur der alte Jntriguant leisten kann.
Erzählende Partieen muß er zum Zweck der Andeutung der erregten Stimmung
der Hörer durch kurze Zwischenreden unterbrechen, wie dies Schiller in Wallenstein [57]
durch den Bericht des schwedischen Hauptmanns erzielt. Geschehenes aber,
oder schwer Darstellbares muß er hinter die Bühne verlegen, oder er muß
durch die Reflexe wirken, z. B. Blitz, Geschützsalven, der dumpfe Fall des
Hauptes (Graf Essex von Laube) &c. Dagegen läßt er Emilia Galotti auf
der Bühne morden, weil der Mord durch Vaterhand hinter der Bühne die
Wahrscheinlichkeit verliert.
4. Jnsbesondere verlangt man vom Dramatiker die Kunst zu charakterisieren,
das Werden des Charakters zu malen, sein inneres Sein und Leben vorzustellen.
Aus dem Handeln des Helden muß man Sitte, Denk- und Handlungsweise
der Nation zu erkennen vermögen, welche der Held repräsentiert.
Unsere Helden zeichnen sich nicht selten durch beschauliche Ausbreitung der
Gefühlszustände aus, wiewohl einzelne nie der dramatischen Bewegung entbehren.
Lessing ist hochbedeutend, was Charakterisieren anlangt. Freytag sagt
mit Recht, daß der Reichtum an Detail, die Wirkung schlagender Lebensäußerungen,
welche sowohl durch Schönheit als Wahrheit überraschen, bei Lessing
in dem beschränkten Kreise seiner tragischen Figuren größer sei als bei Goethe,
unmittelbarer als bei Schiller. Bei ihm wird durch leidenschaftliche dramatische
Bewegung erreicht, was Goethe durch Darstellung der Gemütszustände, namentlich
bei seinen Frauencharakteren erreicht. Seine Helden lassen sich zum Teil
noch vorwärts schieben, aber doch fehlt es nicht an dramatischer Bewegung.
Schillers Bedeutung zeigt sich darin, daß seine Charaktere trotz der Ruhepunkte
in den bewegten Momenten in der höchsten Spannung verharren und in dieselbe
versetzen; sie sind voll Kraft und innern Gehaltes und handeln unbeirrt
um Konsequenzen ihrem Charakter gemäß. So kommen sie in Konflikt mit
der Umgebung und schmieden sich selbst ihr Geschick.
Es ist von Wert nachzuspüren, wie Schiller seine geschichtlichen Helden
konstruiert. Das einzige Beispiel des Wallenstein möge das in großen Umrissen
zeigen. Schiller zeigt nicht den Verräter Wallenstein, wie etwa Molière den
Geizigen, sondern er zeigt, wie Wallenstein durch das Schicksal allmählich zum
Verräter gemacht wird. Auf der Bühne sollen weder Thaten noch schöne Worte
allein wirken, sondern die Darstellung der Gemütsprozesse, welche das Empfinden
zum Wollen und zur That verdichten.
Schiller hatte vor sich den geschichtlichen Wallenstein, den egoistischen
Feldherrn mit seinen großen Plänen. Er sah ihn dem Wrangel gegenüber,
er sah ihn auf dem Observatorium. Die Erwägung, daß das Mißlingen der
Wallensteinschen Pläne den Helden in recht erbärmlichem Lichte erscheinen lassen
mußte, veranlaßte den Dichter, den Glauben Wallensteins an Astrologie poetisch
zu verwerten, um einen philosophisch denkenden, über die Erscheinungen des
Lebens dahinschreitenden Mann darzustellen, der an eine Vorsehung glaubt,
der sich durch seinen Glauben an sein Geschick auf Bahnen verlocken läßt, die
von anderen richtiger beurteilt werden, als von dem großen Feldherrn. Der
Dichter benützt das Moment, um Wallensteins Vertrauen zu denen zu rechtfertigen,
die ihn verrieten. ─ Um den Oktavio Piccolomini nicht zum kalten
Jntriguanten zu machen, knüpft er sein Schicksal durch den Max mit dem [58]
Wallensteins zusammen &c. ─ Wie viel läßt sich an solcher Behandlungsweise
lernen!
5. Ein großer Teil der modernen Dichter historischer Dramen schreibt nur
dialogisierte, verstümmelte Geschichte, giebt epischen Stoff in dramatischer Form.
An Lessing, Schiller und besonders an Shakespeare sollte man sich ein Vorbild
nehmen! Des Letzteren Dichtungen: Julius Cäsar, Romeo und Julia,
Richard III., Coriolan sind im eminenten Sinne dramatisch und zeigen jene
wunderbare Kraft, die manchem berühmten Werke unserer großen Dichter fehlt.
§ 40. Aufführbarkeit der dramatischen Dichtung.
Jedes Drama muß bühnengerecht sein, d. h. seine Bedeutung und
Berechtigung muß bei der Aufführung vom Publikum mit Anerkennung
gefühlt werden, und die Schauspieler müssen im Stande sein, durch
die Mittel ihrer Kunst das Eigenartige, Menschliche auch in wirksamer
Weise zur Darstellung zu bringen.
Ein Grieche würde die selbstverständliche Betonung der Forderung der
Aufführbarkeit mindestens überflüssig gefunden haben. Aber da unsere deutschmoderne
Litteratur (welche künstliche Lieder bildet, die niemand singen und
Dramen, die niemand inscenieren kann) nicht mehr in solcher Beziehung zum
Volke steht, wie dies bei der griechischen der Fall war, so ist wohl ein prüfender
Blick auf die Aufführungsmöglichkeit der Dramen am Platze.
Ein für die Aufführung geschriebenes Stück darf vor allem nicht zu
lang sein. (Cristofero Colombo von Rückert, welches einen Umfang von
618 Druckseiten hat, ist in dieser Richtung zu verwerfen). Weiter darf ein
Drama der Darstellung keine gegen Sitte und Anstandsgefühl verstoßenden
Scenen zumuten. (Wir werden uns gerne von einem Manne berichten lassen,
der ein Dutzend Angreifer vernichtet, aber wir werden uns gegen solche Balgerei
vor unsern Augen sträuben, um nicht mit der Wahrheit der Handlung in
Konflikt zu geraten. Wir werden ferner gegen gemeines Schimpfen und Raufen,
wie es sich z. B. bei Gryphius im Horribilikribrifax findet, auf unserer Bühne
ein Veto einlegen &c. Nackte Menschen, wie sie Rückert in Cristofero Colombo
vorführt, werden wir nicht auf der Bühne sehen wollen. Das Schwimmen
werden wir vielleicht in einem Zauberstück, sowie in der Ausstattungsoper
gestatten, nimmermehr aber in einer Tragödie u. s. w. Jn dieser Beziehung
leistet R. Wagner das äußerste dadurch, daß er seine Rheintöchter nicht bloß
schwimmen, sondern auch dazu singen läßt). Endlich darf das Stück für seine
Jnscenirung keine Ungeheuerlichkeiten und Unmöglichkeiten fordern. Auch muß
es nur eine solche Jnscenierung vorschreiben, welche in bezug auf Dekorationswechsel
und Umkleidung innerhalb der Zwischenakte möglich ist, ohne diese zu
sehr auszudehnen &c. Um praktische Begriffe von Aufführbarkeit zu erhalten,
muß sich der Dichter gründliche Bühnenkenntnis verschaffen.
§ 41. Die Dekoration bei Aufführung der dramatischen
Dichtung.
1. Für die Wirkung der Handlung hat man im Drama der
Gegenwart dem dekorativen Momente und der scenischen Ausstattung
weit mehr Rücksicht zu widmen, als dies früher bei der Einfachheit
der griechischen oder der Shakespeareschen Bühne der Fall war.
2. Das Kostüm ist der bestimmten Zeit seiner Träger anzupassen.
1. Es wurde viel darüber gestritten, ob der wahren Kunst durch die
Beachtung dekorativer Nebenumstände gedient sei, und einige haben geglaubt,
der Aristotelischen Ansicht (daß das Theatralische nicht Sache der Poesie sei,
vielmehr die Tragödie ihre Kraft auch schon ohne Bühnendarstellung und
Schauspieler erproben könne, vgl. Kap. 6 seiner Poetik am Schluß) auch im
Hinblick auf unsere Zeit beipflichten zu sollen. Da das Drama aber nicht
bloß für's Ohr, sondern auch für's Auge ist, so möchten wir die scenischen
Apparate unseres modernen Theaters namentlich in bezug auf Unterstützung
der nötigen Jllusion nicht verkümmert wissen. Es ist nur zu billigen, daß den
Jntentionen des Dichters durch treue Nachbildung der äußeren Räume (z. B. des
Meers, der Wartburg im Tannhäuser, des Hohentwiel im Ekkehard u. A.) Ausdruck
verliehen wird. Selbst bei Shakespeareschen Stücken fing man mit recht an,
die Dekorationsmalerei und die Maschinerie zur höchsten Bedeutung zu entfalten.
Shakespeare hatte s. Z. kaum mehr als eine graue und eine grüne Decke, mit
deren Hülfe er Gebäude oder die grüne Natur auf seiner in bestimmte Felder
für Haus, Straße, offenes Land u. s. w. eingeteilten Bühne vorstellte. Karl
Jmmermann (vgl. Theaterbriefe von G. zu Putlitz) wagte zuerst den Versuch,
angemessene, scenische Einrichtungen für Shakespearesche (und Calderonsche)
Stücke zu erfinden; L. Tieck begann sodann im Sommernachtstraum Shakespeare
für die moderne Bühne auszustatten. Jhnen folgte mit einer feenhaften Scene
Fr. Haase in Leipzig, ferner Dingelstedt in Wien, F. Wehl in Stuttgart u. a.
Otto Devrient inscenierte den Faust nach Art der Mysterien; berühmt
sind die Jnscenierungen des Herzogs von Sachsen-Meiningen.
2. Weiter fordern wir, daß bei Aufführung des Drama auch im Kostüm
das Besondere des Charakters ausgedrückt werde. Antiquarische Raritäten
kann man nicht verlangen; aber die Tracht des Jahrhunderts und des bestimmten
Volkes kann der Zuschauer fordern.
§ 42. Die Aufgabe der Schauspieler bei Vorführung der
dramatischen Dichtung.
1. Die Aufgabe des modernen Schauspielers ist leichter, als die
des klassischen. Dafür muß das ernste Studium der Poetik seine
spezielle Aufgabe sein.
2. Weiter muß sich der moderne Schauspieler die höchste Bildung
erwerben, um seine Rolle durchgeistigen zu können.
3. Diese Bildung muß ihn befähigen, der alten, natürlichen Kunstrichtung
zu huldigen und allem Virtuosentum entgegenzutreten, dessen
Unnatürlichkeiten und Künsteleien die Anteilnahme des Publikums
ausschließen, sofern die Charaktere den wirklichen Menschen unähnlich
erscheinen.
1. Die Aufgabe des modernen Schauspielers ist keine geringe, wenn sie
auch weniger anstrengend ist, als die seines antiken Kollegen. Der erste
Schauspieler bei Sophokles hatte in etwa 10stündiger Darstellung circa
1600 Verse in der durch die Flöte dazwischen angegebenen Tonlage zu sprechen.
Dabei waren die Anforderungen an dramatische Sprachweise nicht unbedeutend.
Ein falscher Accent, ein Hiatus, ein falscher Artikulationston konnte eine Aufregung
herbeiführen, die ihm den Sieg entriß. Unsre größte Rolle, Richard III.,
hat etwa 1128 Verse (oder in Wirklichkeit 900, da mehr als 200 gestrichen
sind). Dabei sind unsre jambischen Quinare kürzer, als die antiken Verse.
Wir haben leichtere freiere Bewegung in den Stimm-Mitteln, ebenso in der
Körperhaltung. Wie sehr mußte die Maske vor dem Gesicht dem antiken
Schauspieler lästig werden, ebenso der Kothurn unter den Füßen! Dafür hat
aber der moderne Schauspieler für Beachtung der ungemein schwierigen Accentuation,
Artikulation und Modulation der Stimme, die Gesetze des freien
Rhythmus zu studieren und zu üben. Von ihm verlangt man, was man vom
antiken Schauspieler nicht forderte, daß seine Kunst die jambischen Verse nicht nach
dem Versaccent, sondern nach dem eigenartigen Sinnaccent deklamiere u. a. m.
2. Der Schauspieler muß so viel Bildung besitzen, um am rechten Ort
durch den Blick des Hasses, der Verachtung, der Furcht, des Entsetzens u. s. w.
den Dichter zu unterstützen. Er muß seine Rolle zu durchgeistigen vermögen,
d. h. er muß sich so in dieselbe hineindenken können, daß er schließlich aus
seiner Empfindung herausspielt. Je gebildeter der einzelne Schauspieler ist,
desto größer wird sich die Wirkung des Stückes zeigen.
3. Die Aufgabe des Schauspielers wird um so schwieriger sein, je mehr
er sich bemüht, der sogenannten alten oder natürlichen Kunstrichtung zu huldigen
und seine Rolle schlicht und menschlich einfach, prätentionslos zu spielen,
je mehr er sich bewußt ist, allein im Verein mit Genossen das Gesamtbild
der dramatischen Handlung zu verkörpern.
Die neue Kunstschule bevorzugt leider nicht immer die schlicht=menschliche
Seite, welche ihren darzustellenden Charakter allen übrigen Menschen ähnlich
macht, sie erstrebt vielmehr etwas Apartes, in der Darstellung Virtuoses. Sie
zeichnet wunderbare, mit Pointen und mimisch dialektischen Kunststücken ausgestattete
Charaktere, wodurch sie nicht selten eine Rolle zur Kuriosität, zur
Kunstleistung, zur Monstrosität erhebt. Der Künstler der virtuosen Richtung
spielt wie Paganini auf der Geige seine Partie möglichst solo und das „Orchestergesindel“
der Mitspielenden, die doch Genossen sind, ist leider häufig genug
verurteilt, zu Gunsten des Virtuosen sich in den Schatten zu stellen.
Der Schauspieler sollte nie vergessen, daß für Erweckung von Mitleid,
Furcht, Lachlust die Anteilnahme des Publikums nötig ist. Er sollte nicht [61]
wünschen, Jongleur oder Löwenbändiger zu sein. Sein Streben sollte bleiben,
Mensch zu sein, so daß sich das Publikum in seine Lage versetzen, sich mit
ihm identificieren kann. Dann erst wird es mit ihm leiden, fürchten, lachen.
Jst es nicht genug, wenn der Schauspieler die ihm vom Dichter geschaffenen
Charaktere belebt, sie zur menschlichen Existenz erhebt, muß er auch noch durch
virtuose Künsteleien und Unnatürlichkeiten glänzen und Überraschung und eine
dem Seiltänzer gezollte Bewunderung suchen? Die neue Schule hascht nach
Bewunderung und findet Bewunderung. Aber ein jeder sagt sich: „Dieser
Mann auf den Brettern ist dem Menschen unähnlich; so wie er, bist du nicht.“
Vor lauter Bewunderung geht sodann die ethische Wirkung des Drama, die
Würde der Poesie und der Schauspielkunst verloren. Das Haschen nach Bewunderung
verleitet den Darsteller, nicht nach der Gediegenheit des aufzuführenden
Dramas zu sehen, sondern darnach, ob seine Rolle viele auf Erregung
von Bewunderung auslaufende Effekt-Scenen habe!
Die Effekthascher unter den Schauspielern würdigen das Publikum zum
„Janhagel einer Reiterbude“ herab, anstatt durch Erregung aller menschlichen
Affekte sittlich zu reinigen und auf Verschönerung des Lebens hinzuwirken.
So verleiten sie auch den Schriftsteller, nur noch Bravourscenen zu schreiben.
So tragen sie zum Verfall der Bühne bei, und das Publikum rächt sich durch
„grobsinnliche Unersättlichkeit seiner gesunkenen Bildung“.
Jn neuester Zeit sind es in Deutschland in hervorragender Weise die
Meininger-Schauspieler, welche ihre Aufgabe begreifen und lösen, welche in
Wiedergabe der klassischen Dichtungen in ihrer Totalität künstlerische Thaten
liefern, die ihresgleichen in Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Kunst
nicht haben. Jm harmonischen Zusammenwirken aller Künste ist es ein Kultus,
den sie feiern, ein Triumph des wahrhaft Schönen. Die harmonische Zusammenwirkung
ist hinreißend, erschütternd, erhebend. Wir betrachten diese Thaten
edler und wahrer Kunst als den Beginn einer neuen Ära deutscher Schauspielkunst.
§ 43. Erfolg der dramatischen Dichtung.
1. Jst ein Drama in Hinsicht auf Erfindung wie auf innere und
äußere Technik gelungen, und wird es gut aufgeführt, dann ist seine
Wirkung eine bedeutende.
2. Das gute Drama hat die Aufgabe, die Bildung des Jahrhunderts
zu heben.
1. „Hier sieht,“ wie schon A. W. Schlegel (Sämtl. Werke V 37) sagt,
„der Fürst, der Staatsmann und Heerführer die großen Weltbegebenheiten der
Vorzeit, denen ähnlich, in welchen er selbst mitwirken konnte, nach ihren innern
Triebfedern und Beziehungen entfaltet; der Denker findet Anlaß zu den tiefsten
Betrachtungen über die Natur und Bestimmung des Menschen; der Künstler
folgt mit lauschendem Blick den vorüberfliehenden Gruppen, die er seiner
Phantasie als Keime künftiger Gemälde einprägt; die empfängliche Jugend [62]
öffnet ihr Herz jedem erhebenden Gefühl; das Alter verjüngt sich durch Erinnerung;
die Kindheit selbst sitzt mit ahndungsvoller Erwartung vor dem
bunten Vorhange, der rauschend aufrollen soll, um noch unbekannte Wunderdinge
zu enthüllen; alle finden Erholung und Aufheiterung und werden auf
eine Zeitlang der Sorgen und des täglichen Drucks ihrer Lebensweise enthoben.“
2. Jede Wirkung hinterläßt einen Eindruck, eine bleibende Spur. Die
Summe dieser Spuren bedingt und hebt die ästhetische und moralische Durchschnittsbildung
des Jahrhunderts. Daraus erwächst die Forderung, nur solche
dramatische Dichtungen vorzuführen, welche für das Edelste und Erhabenste
Begeisterung schaffen. Nicht darf eine dramatische Dichtung durch sinnlichen
Glanz blenden, nicht Verbrechen als Tugend stempeln, nicht Verführung in
anziehendem Gewande erscheinen lassen, nicht niedrige und gewöhnliche Ausbrüche
der Leidenschaft und Gemeinheit ihren Personen in den Mund legen,
nicht anstand- und schamverletzend (wie es in vielen französischen Machwerken,
sogar in dem neuerdings beliebt gewordenen bessern Stück „Dora“ von Sardou
geschieht; vgl. Ende des I. Aktes), die Handlung fortspinnen; vielmehr muß
das Jdeale, Erhabene, Edle, Wahre und Schöne das Ziel der guten dramatischen
Dichtung sein, das sie durch Entfaltung aller Mittel, durch Sinnestäuschungen
(Jllusionen), durch Mimik, Deklamation, Malerei erreicht. So
wird die Dramatik auch durch die Bühne nachhaltiger wirken, als das Leben
selbst; so wird sie sogar diejenigen gewinnen, denen sonst alles Jdeale unverständlich
ist; so wird sie einen Beitrag liefern zur Geistes- und Herzensbildung
der Nation.
V. Übergänge der Gattungen der Poesie.
§ 44. Einteilung der Übergangsformen.
Nicht immer beschränken sich die einzelnen Dichtungen einseitig
auf das lyrische, didaktische, epische und dramatische Element. Häufig
gehen in einem und demselben Gedichte verschiedene dichterische Elemente
in einander über, so daß man das Gedicht für lyrisch, oder für episch &c.
halten könnte. Jn solchem Falle wählt man folgende zusammengesetzte
Bezeichnungen und Einteilungen:
I. Vorwiegen des lyrischen Elements.
a. lyrisch=episch, b. lyrisch=didaktisch, c. lyrisch=dramatisch.
II. Vorwiegen des didaktischen Elements.
a. didaktisch=lyrisch, b. didaktisch=episch, c. didaktisch=dramatisch.
III. Vorwiegen des epischen Elements.
a. episch=lyrisch, b. episch=didaktisch, c. episch=dramatisch.
IV. Vorwiegen des dramatischen Elements.
a. dramatisch=lyrisch, b. dramatisch=didaktisch, c. dramatischepisch.
§ 45. Darstellung der häufigsten Übergangsformen.
a. Lyrisch-episch.
Lyrisch=episch ist eine Dichtung, deren Gefühlsausdruck mit Erzählung
oder Beschreibung verbunden ist.
Die Bezeichnung lyrisch=epischer Dichtungsarten verdienen daher vorzugsweise
Balladen und Romanzen, sowie einzelne Legenden. An Balladen und
Romanzen nenne ich als Beispiele: Bürgers Der brave Mann; Goethes Sänger,
Fischer, Erlkönig; Schillers Bürgschaft, Handschuh, Taucher, Kraniche des
Jbykus; Chamissos Riesenspielzeug; Uhlands Des Sängers Fluch; Mosens
Andreas Hofer; Platens Das Grab im Busento; Heines Grenadiere; Freiligraths
Löwenritt; Georg Schultzes Präriebrand; H. Bessers Choral von Leuthen.
Als Beispiele lyrisch=epischer Legenden nenne ich Goethes Legende vom
Hufeisen; Bürgers Schatzgräber; Kosegartens Amen der Steine; Rückerts
Chidher; Julius Sturms Luther beim Tode seines Lenchens; Herders Der
gerettete Jüngling.
Von anderen lyrisch=epischen Dichtungen sind erwähnenswert: Alfred
Meißners Ziska; Moritz Horns Die Pilgerfahrt der Rose, Die Lilie vom See,
Magdala; Adolf Böttgers Habaña; Otto Roquettes Hans Haidekuckuk; Fontanes
Gedicht von der schönen Rosamunde; Eduard Schulzes Die Himmel;
Rückerts Windstille; Lenaus Faust, Savonarola, Die Albingenser; G. Morins
Stern und Rose; Ad. Strodtmanns Rohana; C. Ferd. Meyers 2. Abteil.
seiner Gedichte; Wilh. Jensens Lieder aus dem Jahre 1870; A. Beckers
Jung-Friedel; Rob. Hamerlings Venus im Exil; sowie Geibels lyrisch=epische
Meisterstücke, (z. B. Mythus vom Dampf, Babel, Der Bildhauer des Hadrian,
Der Tod des Tiberius) &c.
b. Lyrisch-didaktische Dichtungen.
Lyrisch=didaktisch sind alle jene Dichtungen, deren Gefühlsausdruck
belehrende Tendenz gewinnt.
Als vorzügliche Proben sind zu nennen: Schillers Lied von der Glocke;
Rückerts Die hohle Weide &c. Rhetorisch=didaktisch sind die freireligiösen Gedichte
von Leberecht Uhlich (Gera 1872), didaktisch=lyrisch (== philosophisch=lyrisch)
ist Arnold Schlönbachs Dichtung Die Weltseele &c.
c. Lyrisch-dramatische Dichtungen.
So bezeichnet man jene Dichtungen, bei welchen das Gefühl in
Gesprächsform zum Ausdruck gelangt.
Als Proben nenne ich das bekannte Bienengesumme von Rückert, sowie
besonders M. Blanckarts' ergreifendes „Mutter und Kind“.
d. Episch-lyrische Dichtungen.
Sie verbinden die lyrische Entwickelung innerer Gefühlszustände
mit einem epischen Motiv.
Diese Form bildete den Übergang von der Epik zur Lyrik und ist daher
in den ältesten Denkmälern unserer Litteratur nachweislich. Man vgl. z. B. [64]
in Tiecks Minnelieder (Werke Bd. XX S. 79) Nr. 33. Dieses Gedicht
Dietmars von Aist beginnt mit der Erzählung:
Daran fügt Dietmar einen Monolog der Frau, welcher ihre Gefühlszustände
durch Vergleichung mit dem Falken darlegt und schließt:
Episch=lyrisch ist Reinmar der Alte. Episch=lyrisch, an vielen Stellen
rhetorisch=lyrisch, könnte man ferner Klopstocks Messiade nennen. Episch=lyrisch
sind J. G. Fischers Bilder vom Bodensee u. a.
e. Episch-didaktische Dichtungen.
Episch=didaktisch ist ein Gedicht, wenn die Lehre in Form einer
Erzählung gegeben wird.
Beispiel: Der Fürst und der Landmann von Fr. Rückert. Ferner:
Theophania von Fr. Beck (Gotha 1855) &c.
Didaktisch=episch ist das Gedicht Die Gesundbrunnen von Valerius Wilh.
Neubeck.
f. Episch-dramatische Dichtungen.
Bei ihnen ist Erzählung mit Gespräch verbunden.
Beispiele: Rückerts Gottesmauer. Ferner Die Vergeltung von Blanckarts
&c.
g. Dramatisch-didaktische Dichtungen.
Es sind dies diejenigen Gedichte, bei welchen das Belehrende in
Gesprächsform geboten ist.
Beispiel: Fr. Rückerts Gespräch mit Uhland, sowie Sallets Fragment
aus einer Tragödie im antiken Stil u. s. w.
§ 46. Genesis und historische Verbindung der Dichtungsarten.
(Eine historisch=philosophische Betrachtung im Umriß.)
1. Bevor wir die einzelnen Dichtungsarten vorführen, ist eine
mehr philosophische Betrachtung des Zusammenhangs und der historischen
Entwickelung der einzelnen Dichtungsarten im Anschluß an das in § 10
und § 18 des 1. Bandes gegebene Material geboten. Wir gehen dabei
davon aus, daß die Quelle der epischen Poesie die ursprünglich
älteste: die Erinnerung ist, indem wir fragen:
2. Wie verhält es sich mit dem Abblühen der Epik?
3. Wie lösten sich nachweislich die einzelnen Gattungen der Poesie
ab? Endlich
4. Welcher geschichtliche oder auch völkerpsychologische Grund für
die Beziehung und Herrschaft der einen oder anderen Dichtungsgattung
bis in die Gegenwart war maßgebend?
1. Wollte man anknüpfend an den Schluß des § 11 Band I dieser
Poetik untersuchen, wie sich im Volksglauben das historische Bewußtsein von
der Epik als dem Anfänglichen aller Poesie ausspreche, so wäre zu erwähnen,
daß z. B. der Homersche Hymnus an Hermes die Mnemosyne (also das
Gedächtnis) besang, welche ihm die Gabe des Gesangs verlieh. Die Erinnerung
war die Quelle der epischen Poesie. (Nicht umsonst ist das Gedächtnis
der Musen Mutter genannt worden. Die Muse (μόντια == μοῦσα) hat vom
Erinnern monere den Namen. Deshalb ruft der Sänger die Musen besonders
da an, wo sein Gedächtnis auf die Probe gestellt wird &c. (Vgl. hierzu Bd. I.
S. 23 und 25.) Die mythische Tradition ist hier ein schwerwiegendes, mindestens
nicht bedeutungsloses historisches Zeugnis. Die epischen Gesänge der Gothen,
Longobarden (vgl. Paulus Diaconus 1. 27) fußten ebenso auf der Erinnerung,
als die ältesten Gesänge der Jnder, Perser, Araber und Hebräer. Homer
fand bei seinem Volke nur ungeschriebene epische Gesänge vor. Die dort auftretenden
Sänger (ἀοιδοί), Phemios auf Jthaka, Demodokos bei den Phäaken
&c. sangen ihre epischen Stoffe aus der Erinnerung. Die epische Poesie
ließ am besten das Schöne in den Formen der Wirklichkeit anschauen und gab
der Phantasie wie dem Gedächtnisse gleichmäßige Gelegenheit zur Entfaltung.
2. Jn § 18 dieses Bandes haben wir dargethan, daß mit dem Aufblühen
der Lyrik das Abblühen der Epik Hand in Hand ging. Nur allmählich
kam das lyrische Moment zum Durchbruch. Man vgl. die ersten Minnesinger,
deren Lieder meist noch episch=lyrisch sind.
3. Da die Lyrik aus der Epik erwuchs, so mußte sie eigentlich so verschieden
sein, als die Mundarten, und man wäre fast versucht, an die ionische,
äolische und dorische Lyrik zu denken.
Bei den Griechen folgte der Epik nachweislich die Elegie der Jonier,
dann kamen die Epoden und Jamben des Archilochos von Paros und die
freien Maße und Strophen der Lesbier (Äoler: Alcäus, Sappho). Die Übergänge
fanden bei den verschiedenen Stämmen auf verschiedene Weise statt.
Bei den Deutschen folgte der Epik die lyrisch=epische Behandlung Dietmars von
Aist, die episch=lyrische Reinmars des Alten, die rein lyrische des Hauptvertreters
des Minnesangs Walthers von der Vogelweide. Erst die mittelalterliche
Lyrik bildete das Gesetz der Dreiteiligkeit in der Lyrik aus: das Lied, welches
die einmal erlangte Herrschaft behielt.
4. Unsere deutsche Lyrik löste sich wie die griechische vom Epischen ab;
sie wurde gesungen, wie diese. Aber sie wurde nicht eigentümlich, d. h.
aus dem Volksgeist und mit seinem Material zur Vollendung gebracht, vielmehr
durch fremde Vorbilder beeinflußt und genährt. Es fehlte unserer deutschen
Lyrik (wie besonders Wackernagel in Gesch. d. deutsch. Litteratur nachweist)
die selbständige Entwickelung. Man ahmte Franzosen und Provençalen nach,
und unter der Geringschätzung gegen das Heimatliche mußte auch das verkümmern, [66]
was sich unter der Pflege der bevorzugteren Geister hätte national
entfalten können. Die Nachahmung zeigt sich in der Nachbildung der Formen
und in der Übertreibung derselben. Auch fehlte der nachgeahmten Dichtung
die Fülle der Gefühlsäußerung. Bei den Franzosen und Provençalen mit ihrer
mehr südlichen Glut war die Minneverehrung begreiflich, bei uns nahm sich
diese nachgeahmte Minne-Verherrlichung, welcher der französische Humor fehlte,
manieriert aus; daher hatte die höfische Lyrik nur kurze Blüte, kurzen Bestand.
Die romantische Lyrik hemmte, erschwerte unsere nationale Lyrik. Der Minnesang,
der ausschließlich von den höheren Ständen in Burgen und Palästen
gepflegt wurde (man unterschied von diesen die das Volk mit Sagen und
Geschichten unterhaltenden, fahrenden Poeten), verstummte gar bald mit seinen
nicht selten schwärmerisch religiösen, die heilige Maria erhebenden Weisen.
Die Liebhaber des deutschen Meistergesangs, die wenig vom Wesen der
Poesie verstanden, und nur die äußere Form jener Lieder des Minnesangs,
das Regelwerk (Tabulatur), festhielten, bereicherten die Litteratur mit Liedern
ohne Schwung und Gehalt.
Jn der Reformationszeit begann man das klassische Altertum zu pflegen.
(Agrikola von Eisleben, Reuchlin aus Pforzheim, Erasmus von Rotterdam,
Melanchthon aus Bretten.) Das Kirchenlied erhielt durch Luther Übergewicht.
Der 30jährige Krieg brachte eine Verwilderung oder Ertötung in Deutschland
hervor, die jeden Aufschwung der dichterischen Phantasie für lange Zeit
unmöglich machte.
Nachahmungen des Ausländischen, fremdländische Wörter und Wendungen
überwucherten die Litteratur. Die erste schlesische Dichterschule unter Opitz'
Führung suchte vergebens der Litteratur aufzuhelfen. Die zweite unter Hoffmannswaldaus
und Lohensteins Leitung (Bd. I. S. 51) verschmähte das Verständige
der ersten und erstrebte das Gefühlvolle, ließ sich aber im Nichtverständnis
der Korrektheit der Form nicht selten zu Schwulst, Geschmacklosigkeit und
Schlüpfrigkeit hinreißen, bis endlich im 18. Jahrhundert der Nationalsinn in
herrlichen Flammen emporschlug und unsere Litteratur zur neuen Blüte brachte.
Der Schweizer Bodmer (mit Breitinger) trat siegreich gegen Gottsched auf,
der die Franzosen als Muster der Poesie empfiehlt, und frischte das Andenken
der altdeutschen Poesie auf durch Herausgabe der Minnesinger und der Nibelungen.
Drei Männer sind es besonders, welche die deutsche Litteratur zum
zweitenmal aufblühen machten und zwar schöner, als in der Zeit des Minnesangs.
Es waren der auf klassischem Boden stehende Klopstock, der im
„Messias“ ein deutsches Nationalwerk lieferte; ferner Lessing, der mit seiner
Kritik die fremden Beimischungen bekämpfte; endlich Wieland, der die Glätte
der deutschen Sprache darthat. Jhre Werke muß jeder Freund der Poesie
gelesen haben. Die Dichter des Hainbundes, die Stürmer und Dränger unterstützen
diese Bahnbrecher und helfen die Litteraturblüte herbeiführen.
Der gefühlvolle Barde Klopstock (I. S. 54) vereinigte Darstellung und Verschmelzung
des Deutschen (das deutsche Element zeigen seine Bardiete), mit dem
Christlichen (Messias), und dem Altklassischen (Hexameter und andere Maße &c.).
Schillers Genius verdunkelte ihn, aber seine Einwirkung auf die Litteratur
war doch gewaltig. Größer war die des besonnenen, kühlen, kritischen
Lessing, der durch seine Leistungen, wie durch seine Kritik der Dichter wurde,
an den sich die Satiriker und Dramatiker der Folgezeit anreihten. Wieland
brachte durch seine fließende Sprache eine heilsame Bewegung hervor und wurde
Vorbild und Vorläufer der Romantiker, der Ritterdichter und vieler Romanschriftsteller.
Der Hainbund, der 1772 unter Boie gegründet wurde, wandte
sich gegen Wieland und nahm Klopstock als Vorbild. Nun traten die Kraftgenie's
der „Stürmer und Dränger“ auf, welche den Dichterparnaß gleichsam
zu erstürmen suchten, und zu denen auch Herder, Goethe und Schiller in der
Jugend gehörten; im reiferen Alter erreichten letztere das höchste Ziel: litterarische
Allseitigkeit und Gefühlsinnigkeit.
Obgleich Schiller und Goethe nunmehr die Poesie zur höchsten Stufe der
Entfaltung brachten, so waren doch die nun auftretenden sog. Romantiker nicht
zufrieden. Sie betrachteten die herrschende Poesie als eine Gelehrtenpoesie und sie
verlangten größere Gefühlsinnigkeit, Volkstümlichkeit der Poesie.
Sie nahmen ihren Stoff nicht aus dem klassischen Altertum, wohl aber aus
dem romantischen Mittelalter, und lehnten sich an die ihnen näher verwandten
englischen, italienischen und spanischen Dichter an (an Shakespeare, Tasso, Petrarka,
Camoëns, Dante, Calderon &c.), zum Teil auch deren Formen nachahmend. So
wurden sie die Vorläufer der modernen Poesie, und ihr Einfluß auf das
gesamte litterarische und künstlerische Leben Deutschlands war nicht zu verkennen.
An der Grenze der modernen Lyrik, welche reine Form mit nationalem
Jnhalt anstrebt, steht die schwäbische Dichterschule: ein Uhland, Schwab, Kerner,
Pfizer, Mörike. Der Schreck, welcher durch die Juli-Revolution die konservative
Aristokratie aufrüttelte, wirkte auflösend, zurückdrängend auf die romantische
Poesie, die mit ihrer Begeisterung für den Zauber des Mittelalters, mit ihrer
nicht selten salbungsvollen religiösen Schwärmerei, an diese Aristokratie sich
anlehnte. Das sogenannte junge Deutschland (junge Schriftsteller, die ein freies
Litteratenleben zum Beruf wählten) segelte auf den hochgehenden Wellen des
Zeitgeistes siegreich dahin, die Emancipation des Geistes auf das Banner schreibend.
Jmmer mehr rang die Poesie nach Selbständigkeit. Schon in Chamissos
und Eichendorffs Poesieen vernehmen wir die Totenklage der abscheidenden
Romantik. Man begann im ganzen sich frei zu machen von den veralteten
antiken Formen, und schloß sich der deutschen Anschauung und dem deutschen
Zeitbedürfnisse an. Dies wurde die Signatur der neuesten Litteratur.
Die modernen Dichter stehen zum Teil hinter den Klassikern zurück, aber sie
haben unstreitig den richtigen Weg betreten, indem sie aus dem Volksgeist
schöpfend dem wechselnden Leben der Zeit sich hingaben. Ein Hebbel, Strachwitz,
Feuchtersleben, deren Wirksamkeit zum Teil noch vor 1848 fiel, ein Rückert,
Freiligrath, Gutzkow, sie haben die Poesie aus der engen, idyllischen Dichterstube
auf den lebendigen Markt der bewegten Welt verpflanzt. Ein Heine,
Jordan, Scheffel, Hamerling, ja, ein Richard Wagner durchbrachen die hergebrachte
Schulmetrik und drängten ─ nur den deutschen Rhythmus und [68]
Accent berücksichtigend ─ zum Deutschtum, aus dessen Gesundbrunnen auch die
Nachromantiker (Dreves, Görres, Victor v. Strauß), die Vertreter der modernen
Wald- und Blumenpoesie (Gustav zu Putlitz, Adolf Böttger, Moriz Horn,
Corrodi, Karl Lehmann), die frommen und beschaulichen Lyriker (Knapp, Spitta,
Julius Sturm, Gerok, J. Hammer, Schults, Alb. Träger, Heffemer), die
Realisten in der Poesie (G. Freytag, Ludwig, Edm. Höfer, Scherenberg, Fontane,
Sigismund, Anton Niendorf), unsere neuesten Dramatiker und Epiker (Otto
Banck, Bodenstedt, Hamerling, Grosse, Heyse, Hans Hopfen, Gottfried Keller,
H. Lingg, Albert Lindner, Scheffel, Roquette, Schneegans, Spielhagen, Ad.
Stern, Theodor Storm, Max Waldau, Ad. Wilbrandt, Robert Prölß), und
besonders auch unsere modernen Anakreontiker trinken (ein Geibel, Redwitz, Gottschall,
Kinkel, W. Jensen, Grosse, Rittershaus, Claire von Glümer, Ludwig
Bauer, P. Cornelius, Richard Pohl, Gotthelf Häbler, J. G. Fischer, Alb.
Möser, Emil Kuh, Zeise, Al. Kaufmann, Amara George u. A.).
So gewinnen wir eine nationale Litteratur und steuern zweifelsohne einer
dritten Blüteperiode zu, die in Vereinigung alles geistigen Kapitals mit Genialität
und Originalität den Ausdruck deutschen Empfindens, Denkens und Wollens
sicher erreichen wird.
§ 47. Übersichtstafel sämtlicher poetischer Formen.
Die in den nachfolgenden Hauptstücken ausgeführte Einteilung und
Darstellung entrollt die sämtlichen Dichtungsgattungen unserer Poesie.
─ Wir stellen denselben der Übersicht und Orientierung wegen eine
schematische Übersichtstafel voraus, um sodann den einzelnen Formen
in erschöpfender Weise nahe zu treten.
I. Lyrische Poesie.
I. Formen ruhiger Empfindung.
Das Lied.
Volkslied.
Kunstlied und seine Formen.
A. Weltliches Lied.
1. Vaterlandslied.
2. Naturlied.
3. Liebeslied.
4. Komisches Lied.
5. Geselliges Lied.
6. Elegisches Lied.
7. Jdyllisches Lied.
B. Geistliches Lied.
1. Religiöses Lied.
2. Kirchenlied.
a. Bußlied.
b. Danklied.
c. Trostlied.
d. Gebetlied.
e. Loblied.
f. Glaubens= od. Bekenntnislied.
C. Fremde Formen des Kunstliedes.
(NB. Abgehandelt Bd. I. § 164 ff.)
- 1. Sonett
- 2. Ritornelle
- 3. Sestine
- 4. Stanze
- 5. Sicilian
- 6. Kanzone
- 7. Vierzeile
Provençalisch=
italienische
lyrische Formen.- 8. Decime
- 9. Glosse
- 10. Tenzone
- 11. Kancion
- 12. Seguidilla
Spanisch und
Portugiesisch.- 13. Madrigal
- 14. Akrostichon
- 15. Triolett
- 16. Rondeau
Französisch.- 17. Alexandrinerstrophen.
- 18. Persische Vierzeile
- 19. Ghasel
Orientalisch.
[69]
II. Formen begeisterter Empfindung.
1. Ode.
2. Lyrische Rhapsodie.
3. Hymne.
4. Dithyrambe
5. Elegie.
II. Didaktische Poesie.
I. Symbolische Didaktik.
1. Fabel.
2. Parabel. Paramythie.
3. Sinnbild.
4. Allegorie.
a. Allegorie.
b. Rätsel.
II. Didaktik mil besonderem Charakter.
1. Satire.
2. Travestie und Parodie.
3. Humoristische Dichtungen.
III. Eigentliche Didaktik.
1. Jdeale Gedankenlyrik.
2. Kulturhistorisches Gedicht.
3. Epigramm.
a. Sinngedicht.
b. Gnome, Spruch.
4. Poetische Epistel. Heroide.
5. Kurze lyrisch=didaktische Formen.
6. Wirkliches Lehrgedicht.
III. Epische Poesie.
I. Aus dem Leben der Wirklichkeit.
1. Poetische Erzählung und Rhapsodie.
2. Makame. (Abgehandelt I. S. 589.)
3. Jdylle.
4. Beschreibendes Gedicht.
II. Aus der Sagenwelt.
1. Sage.
2. Mythus.
3. Märchen.
4. Legende.
5. Romanze.
6. Ballade.
7. Epos. a. Volksepos.
b. Kunstepos.
III. Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildet.
Prosaische Gattungen.
a. Roman.
b. Novelle.
IV. Dramatische Poesie.
I. Gedichte mit nur dramatische Form.
1. Monolog.
2. Dialog.
3. Dramatisierte Begebenheit.
II. Eigentliche Dramen.
1. Dramatisches Gedicht.
2. Tragödie.
3. Schauspiel.
4. Komödie.
a. Lustspiel.
b. Posse.
III. Musikalisch dramatische Formen.
1. Weltliche Formen.
a. Große Oper (Oper. Singspiel).
b. Komische Oper.
c. Vaudeville.
d. Jntermezzo.
e. Melodrama.
2. Kirchliche Formen.
a. Motette.
b. Choral.
c. Kantate.
d. Passion.
e. Messe.
f. Oratorium.
Zweites Hauptstück.
Die lyrischen Dichtungen. ──────
§ 48. Einteilung der lyrischen Dichtungen.
Am leichtesten wird sich das Gebiet der Lyrik übersehen und
rubricieren lassen, wenn wir den Jnhalt der Gedichte und die in denselben
zu Tage tretende größere oder geringere Erregtheit des Gefühls
zum Einteilungsgrund nehmen.
Die lyrischen Gedichte drücken entweder religiöse oder klagende Gefühle
aus oder Gefühle irgend eines poetischen Moments des Lebens. Sie äußern
sich in Teilnahme, in Freude und Lust; sie tragen heiteren oder traurigen
Charakter. Je nachdem die Gefühle in ruhiger Klärung oder in erregter,
schwärmerischer Bewegung oder Begeisterung sich äußern, wird auch das lyrische
Gedicht einen andern Charakter und in Folge davon einen andern Namen zu
erhalten haben. Es läßt sich je nach dem Jnhalt des Gedichts und der
Jntensität der Gefühlserregtheit folgendes Schema bilden:
I. Der Jnhalt des lyrischen
Gedichts, der äußere Anstoß,
das Objekt stammt:
1. Aus dem Gefühlsleben:
2. Aus dem Leben der Geselligkeit:
3. Aus dem reflektierenden
Gefühl (Reflexion):
4. Aus der Religion:
II. Der Grad des Jmpulses auf das Gefühl ergiebt:
I. Dichtungsarten
ruhiger Empfindung.
Gruppe des ruhigen
Lieds.
Volkslied.
Kunstlied mit seinen Formen
(s. § 61 d. B.), wozu
die in den §§ 164 bis
185 des I. Bandes abgehandelten
Formen (II.
S. 68) wie die nachstehenden
Gattungen zu rechnen
sind.
Geselliges Lied.
Elegisches Lied.
Jdyllisches Lied.
Geistliches Lied. (S. § 61
d. Bds.)
II. Dichtungsarten
höherer Erregtheit.
Gruppe des begeistert erregten
Lieds.
a. Ode und
b. Lyrische Rhapsodie.
c. Kantate. (Abgehandelt
im letzten Hauptstück d.
Bds.)
d. Dithyrambe.
e. Elegie. Nänie.
f. Hymnus.
I. Formen ruhiger Empfindung.
Das Lied und seine Formen.
§ 49. Begriff und Einteilung.
1. Jedes lyrische, ein sanftes Gefühl darstellende Gedicht, dessen
eigentliche und ursprüngliche Bestimmung ist, gesungen zu werden,
und das man als den lebendigen poetischen Ausdruck einer individuellen
Stimmung des Gemüts betrachten kann, nennt man ein Lied.
2. Die erste Form des Liedes war das seit Herder sog. Volkslied.
Wir teilen daher die Lieder ein: in Volkslieder und Kunstlieder.
1. Das Lied ist die wesentliche Form und die Blüte aller Lyrik; in ihm
ist die Jndividualität und Subjektivität des Dichters am unvermitteltsten ausgeprägt.
„Daz liet“ war in seiner ursprünglichsten Form eine einzelne
Gesangsstrophe. Zur Bezeichnung mehrerer Gesangsstrophen bediente man sich
des Plurals „diu liet“ (nicht zu verwechseln mit lit == Glied).
Vor allen andern Völkern haben die Deutschen den größten Reichtum an
herrlichen Liedern aufzuweisen. Dies hat seinen Grund teilweise darin, daß
der Deutsche die Weisen und Arten vieler fremder Völker abgelauscht hat.
Die Franzosen kennen das eigentliche Lied nicht und haben dafür auch
kein Wort, weshalb sie jetzt für diese Gattung das deutsche Wort „Lied“ aufgenommen
haben.
2. Dem Volkslied stellt sich das Kunstlied gegenüber. Dieses nahm
ursprünglich die Gestalt des Minneliedes an. Darauf folgte das Meistersängerlied.
Luther pflegte das geistliche Lied, und Opitz gab uns das Lied mit
gelehrtem Anstrich: das Sprachlied im Gegensatz zum Singlied.
Durch Klopstock erhielt das Lied klassischen Charakter. Goethe war es, welcher
das Lied auf die höchste Höhe hob.
Die strophische Einteilung des Liedes hat bewirkt, daß man auch erzählende
Gedichte (z. B. das Nibelungenlied und Hildebrandlied &c.) fälschlich als Lieder
bezeichnet, was vielleicht noch dadurch veranlaßt wurde, daß diese Gedichte
gesangsweise vorgetragen wurden, also die rhythmische Form des Liedes hatten.
Auch Schillers Lied von der Glocke ist ein didaktisches Gedicht und kein Lied
im eigentlichen Sinn u. s. w.
Nach dem ruhigeren oder gesteigerten oder reflektierenden Gemütsausdruck
ließe sich diese Einteilung auch in folgendes Schema fassen:
A. Lyrik ruhiger Empfindung == Lied, geselliges Lied, geistliches
Lied, und fremde Formen.
B. Lyrik begeisterter Empfindung == Ode, lyrische Rhapsodie,
Dithyrambe, Hymne.
C. Lyrik der Reflexion == Elegisches Lied, Elegie.
Die Einteilung der lyrischen Poesie ist bei den verschiedenen Litterarhistorikern
je nach den Ausgangspunkten verschieden. Der Ästhetiker Vischer [72]
macht die Art und Weise, wie das Gemüt das dichterische Objekt in sein inneres
Leben umsetzt, zum Einteilungsgrund und unterscheidet a. die Lyrik des
Aufschwungs (das Hymnische, Dithyramb, Ode), b. die reine lyrische
Mitte (das Liedartige), c. die Lyrik der Betrachtung (Elegie, orientalische
Lyrik, romanische Formen, Sonett, Epigramm u. s. w.).
Carrière unterscheidet Lyrik der Empfindung und der Anschauung
(auch des Verstandes). Rudolf Gottschall teilt in Lyrik der
Empfindung, der Begeisterung und der Reflexion. W. Wackernagel geht
vom historischen Verhältnis der Lyrik zur Epik aus und unterscheidet: a. lyrische
Lyrik == Lyrik des Gefühls; b. epische Lyrik == Lyrik der Einbildungskraft;
c. didaktische Lyrik == Lyrik des Verstandes.
Wir wählen auch aus äußeren Gründen bei Vorführung der lyrischen
Dichtungsarten die obige Einteilung in der Weise, daß wir zuerst die sämtlichen
weltlichen und geistlichen Liedformen abhandeln, um sodann die Formen
höherer Erregtheit zu bieten. Charakteristisch für unsere Unterscheidung ist,
daß das Lied prädestiniert ist, gesungen zu werden, während Ode, Dithyrambus,
Hymnus, Elegie mehr für die Recitation geschaffen zu sein scheinen. Letztere
Gattungen sowie die in Band I § 164 ff. abgehandelten Formen sind Kriterien
des künstlerisch gebildeten Lyrikers: sie sind die Lyrik gesteigerter dichterischer
Bildung und Befähigung.
Da die Kunstdichtung sich erst aus der Volksdichtung entwickelte, so lassen
wir den Volksliedern die Kunstlieder folgen.
Die verschiedenen Formen des Kunstliedes sind im § 61 aufgezählt.
§ 50. Anforderungen an das Lied im allgemeinen.
Die Haupterfordernisse des zum Gesang bestimmten Liedes sind:
1. Einfachheit und Schönheit,
2. gesetzmäßige rhythmische Anordnung,
3. Sangbarkeit.
1. Die Einfachheit und Schönheit fordert Natürlichkeit und Wahrheit
der Jdee sowie Wärme und Jnnigkeit der Gefühlsäußerung. Sie verlangt
ferner ─ gleichviel ob das Lied heiteren oder ernsten Jnhalts ist ─ eine
klare, leicht dahinfließende Sprache. Die schöne Jdee darf nur Mittel dazu
sein, die gemäßigte Empfindung zum gemütbestrickenden sprachlichen Ausdruck
zu bringen. Man soll es der ungezierten, ungekünstelten Sprache anmerken,
daß sie unmittelbar vom Herzen komme, „wie der Quell aus verborgenen
Tiefen“ u. s. w.
2. Da das Lied für den Gesang bestimmt ist, so unterscheidet man in
seiner äußerlichen Form eine geregelte Einteilung in Verse und Strophen, die
sich selbstverständlich in metrischer Hinsicht möglichst entsprechen müssen. Lieder
der Freude sind nicht selten in jambischen oder trochäischen, wie auch in
jambisch=anapästischen und trochäisch=daktylischen Maßen geschrieben, während [73]
traurige, sentimentale, Schwermut atmende Lieder meist im drei- und fünftaktigen
Trochäus gedichtet sind. Außerordentlich viele Lieder sind in vierzeiligen
Strophen geschrieben. Überachtzeilige Strophen sind seltener. Doch wirken auch
mehrzeilige Lieder, wenn sie sangbar sind. (Vgl. Geibels Spielmannslied mit
seinen 12zeiligen Strophen.)
3. Sangbar ist ein Gedicht, welches von den Wellen des Gefühls getragen,
eine, der dichterischen Empfindung verwandte Stimmung hervorruft und
in Sprache, Accent und Modulation so natürlich volkstümlich klingt, daß wir
beim Vorlesen ohne weiteres eine eigenartige Melodie heraushören. Es tönt
wie Gesang, es zwingt uns zum Gesang, sein Wesen ist Gesang. Das sangbar
melodiöse Element des Lieds zeigt den bedeutenden Liederdichter. Von
diesem Gesichtspunkt aus sollte jeder Dichter auch der Komponist seiner Lieder
sein. Jn der Regel sind leider unsere Dichter unfähig, ihre Lieder in Musik
zu setzen, wie ja auch die meisten Musiker keine Dichter sind. Mindestens
sollte sich jeder Komponist in den Geist des Gedichtes versetzen, um dessen
ernsten, freudigen oder wehmütigen Charakter zum Ausdruck bringen zu können.
Leider singt man oft eine ganze Reihe Lieder ohne gleiche Grundstimmung
nach ein und derselben Melodie. Tüchtige Komponisten, die in den einzelnen
Strophen eine Steigerung des Gefühls oder Abweichungen vom Grundgefühle
wahrnehmen, komponieren das Lied „durch“, d. h. sie komponieren sämtliche
Strophen bis zum Ende nach Maßgabe des Jnhalts.
Volkslied.
„Es muß etwas in diesen simplen Liedern
stecken, das ihnen Stärke giebt, dem Zahn der
Zeit zu trotzen.“ Elwert.
§ 51. Begriff, Charakter und Dichter des Volksliedes.
1. Volkslieder nennt man im allgemeinen jene in der Zahl beschränkten,
einfachen, gang- und sangbaren lyrischen oder lyrisch epischen,
der Naturpoesie entstammten Dichtungen in schlichter Form und in
kindlich naivem Ton, die ursprünglich das gemeinsame Eigentum des
gesamten Volkes in seiner Durchschnittsbildung und in seinem einfachen
Naturzustande waren.
2. Es giebt edle und gewöhnliche Volkslieder. Die edlen Volkslieder
sind der Ausdruck wahrer Schönheit und ächter Poesie.
3. Die Volkslieder galten als gemeinsame Schöpfung des Volks
insofern, als das ganze Volk sie sang, sie veränderte, ergänzte, redigierte.
Der Einzelne sang sie nur als Glied des Volks zum unmittelbaren
Ausdruck dessen, was das ganze Volk bewegte. Sie erhielten
sich durch Jahrhunderte im Volk, ohne daß man ihre Verfasser kannte.
4. Einzelne Volkslieder veränderten sich im Lauf der Jahrhunderte
durch Zufall oder Absicht.
1. Man könnte die Volkslieder musikalische Gelegenheitsgedichte von naiver
Einfachheit und Natürlichkeit zur Bezeichnung der durchschnittlichen Volksempfindung
nennen, Lieder, welche die musikalischen Mittel der Sprache (Reim, Lautmalerei
&c.) zur Anwendung bringen, deren Melodieen daher einfach und ohne
künstlerischen Schmuck sind.
Schon der Dithmarsche Chronist Neokorus (Ausg. von Dahlmann) rühmte
die Einfachheit und Wirkung ihrer Komposition. („Und iß to verwundern, dat
so ein Volk, so in Scholen nicht ertagen, so vele schone leffliche Melodien jedem
Gesange nah Erforderinge der Wort und Geschichte geven konnen, up dat ein
jedes sine rechte Art und ehme gebörende Wise, entwederst mit ernster Graviteteschheit
oder frohdiger Lustigkeit hedde.“
Besonders die Naturwahrheit der Volkslieder ergreift das Herz eines jeden.
Sie sind in ihrer unvermittelte Übergänge liebenden Ausführung gewissermaßen
Produkte eines sogenannten „kecken Wurfs“ ihrer Dichter.
Herder (Ausgew. Werke 1844, S. 305) sagt: „Nichts in der Welt hat
mehr Sprünge und kühne Würfe als Lieder des Volks, und eben diejenigen
Lieder des Volks haben deren am meisten, die selbst in ihrem Mittel gedacht,
ersonnen, entsprungen und geboren sind, und die sie daher mit so viel Aufwallung
und Feuer singen und zu singen nicht ablassen können.“ Grimms
Ausspruch: „Die Volksdichtung ist unbekümmert um den Zusammenhang abgebrochen
und fällt doch nie heraus“, ist eben so erwähnenswert.
Als kecken Wurf könnte man bezeichnen, was als das Charakteristische
an jedem Volksliede aller Nationen anzusehen ist. „Alles darin ist voll Lücken
und Sprünge, alles knapp und wie zum Nachhelfen und zum Ausfüllen auffordernd,
eine Reihe von Eindrücken für die Einbildungskraft, die der Nachhilfe
des Verstandes nicht bedürfen, der schönste innere Zusammenhang ohne
genaue logische Verknüpfung.“ (Gervinus, Gesch. der poet. Nat.=Lit. Bd. II.
5. Aufl. 1871, S. 492.)
Das Volkslied ist der ungekünstelte Ausdruck des ächten Naturgefühls,
und dieses ist bei allen Menschen das gleiche. Für Niemand ist das Volkslied
gedichtet und wird doch von allen gesungen; niemand soll es hören, und
doch paßt es für alle, doch ergreift es alle. Es ist allüberall heimisch. Vom
Wanderburschen, wie von der Stallmagd, in der Spinnstube, wie auf der
Alm, auf der Straße, wie in der Schenke wird es gesungen. Es wird
niemals alt oder alltäglich; für alle Jahrhunderte wahrt es sich fortdauernde
Schönheit und jugendliche Frische, eine an den erquickenden Erdgeruch des
Waldes erinnernde Naturanziehung, einen unwiderstehlichen, das Herz umstrickenden
Zauber. Was es besingt, das besingt es aus dem Charakter der
Zeit heraus. Sein Jnhalt, der durch Stoffe des allgemeinen Volksinteresses
und der Volksempfindung dargestellt wird, z. B. eine bedeutende Schlacht
(Prinz Eugen) oder eine unerhörte Handlung (Bernauerin) oder ein besonderes
Geschick (Pfarrerstochter von Taubenheim) war einmal allbekannt.
Der Jnhalt ist eben das wirklich Erlebte und Erfahrene mit den daraus
resultierenden Gefühlen und Stimmungen. Jm Volksliede sind „alle Farben [75]
des Lebens ausgeteilt: Scherz, Lust, Mut, Üppigkeit, treue Liebe, Trauer
und höchstes Leiden, und in der Tiefe ruhen die Geheimnisse eines schönen
Glaubens, der die ganze Natur belebt und erhöht.“ (W. C. Grimm.) Treffend
sagt der Prospekt zu Scherers Volksliedern: „Jm deutschen Volksliede sprudelt
ein unversiegbarer Quell echtester Poesie. „Dergleichen Gedichte,“ sagt Goethe,
„sind so wahre Poesie, als sie irgend nur sein kann; sie haben einen unglaublichen
Reiz, selbst für uns, die wir auf einer höheren Stufe der Bildung
stehen, wie der Anblick und die Erinnerung der Jugend für's Alter hat.“
Es ist die Schönheit der Unschuld, die „nicht sich selbst und ihren heil'gen
Wert erkennt“. Waldfrische ist der Charakter dieser Lieder, sie erquicken und
erfreuen uns wie ein duftiger Strauß von Wald- und Feldblumen: es ist
der Duft der Jnnigkeit, des lauteren, braven, ehrlichen, grundguten Herzens,
der uns entgegenkommt. Es zittert, es schwebt um die Klänge dieser Lieder
ich weiß nicht welche besondere Art von Rührung, es ist so etwas darin, daß
man sagen möchte: arme gute Seele! Doch daneben scherzt und jauchzt auch
wieder Lustigkeit, Mutwillen, frohes derbes Lebensgefühl; in dunkeln, schrecklichen
Balladen zückt Haß und Zorn das Messer, dann hebt sich die geängstete,
schuldige, reuige Seele auf sanftem Flügel der Andacht zum Himmel. Diese
Kraftwelt, das Stramme, Sichere, was bei der rührenden Güte nicht fehlt,
der hohe Ernst stimmt uns wieder frei und zuversichtlich. ─ Das Volkslied
ist eine ergiebige Fundgrube für die Kulturgeschichte unseres Volkes; zugleich
aber ist es durch die Frische seiner Unmittelbarkeit eine Verjüngungsquelle für
die Kunst einer ausgetrockneten Bildung. ─ „Kein Moment der Einwirkung
des Volksliedes auf die Kunstdichtung war so bedeutend, als der, da Percy's
Sammlung in England, stärker und früher noch entscheidend in Deutschland
zündete, die Göttinger Schule zu den ersten frischeren Lauten geweckt wurde,
Bürger die erste wahre Ballade dichtete, Herder die „Stimmen der Völker“
sammelte und Goethes Genius sich zu diesem frischen Borne beugte, um zu
trinken. Und wo wären Uhland, Wilhelm Müller, Eichendorff und die ganze
Gruppe der Lyriker, in welchen die romantische Schule ihre gesundesten Sprossen
trieb, wo wäre Heine geblieben, wenn sie nicht alle aus diesem frischen Felsquell
getrunken hätten?“ ─ Das Volkslied ist selbst der Jungbrunnen, von dem
es singt:
2. Das edle Volkslied ist von edler, idealer Gesinnung getragen und sinkt
nie zum Gassenhauer- oder Drehorgellied herab, welch letzteres nur der Ausdruck
der Stimmung des Pöbels ist, also eine Art niederen, rohen, gemeinen
Volksliedes, dessen Jnhalt gemeine Stoffe, Schauerscenen, Räuber- und Mordthaten
bilden. Das edle Volkslied lehrt ohne Absicht und Gelehrsamkeit; es
kennt keine philosophischen Systeme, keine Formen und Regeln. Aber trotz
seiner Nachlässigkeit im Strophenbau und im Reim &c. ist es der unmittelbare
Ausdruck des lebendigen Sprachgeistes und der poetischen Kraft der Nation,
und es ist daher schön und allmächtig in seiner Wirkung, ohne es zu beabsichtigen, [76]
ohne es zu wissen. Jm edlen Volkslied hat bereits das Gemüt
seinen harmonischen Gleichmut erlangt und Jrrtum und Schmerz besiegt. Es
basiert auf einer Anschauung und Grundstimmung, an der auch die Hochgebildeten
Anteil nehmen können, in welcher reich und arm, alt und jung,
hoch und nieder Gütergemeinschaft zu machen im stande sind. Dies ist selbst
da der Fall, wo der Stoff in seiner gesunden Urwüchsigkeit den Quell des
Volkshumors zum Übersprudeln bringt durch Geißelung der Unzuträglichkeiten
und Einseitigkeiten des Lebens, oder wo Schuster, Schneider, Handwerker,
Bauern, oder Schwaben, Bayern, Pinzgauer &c. sich necken und höhnen.
Das edle Volkslied ist der Ausdruck des treuen, treuherzigen, ehrlichen,
offenen deutschen Gemüts, für das die fremden Sprachen ebensowenig ein
Wort haben, wie für das Wort „Lied“. Durch seinen lyrischen, liedartigen
Grundcharakter ist es, wie unsere Romanzen und Balladen, zum Gesang
prädestiniert. Es zeichnet sich durch Naturfrische und Freudigkeit aus, die sich
besonders in den Jägerliedern und Jägerballaden offenbart, und die selbst trotz
ihrer Derbheit und Sinnlichkeit kerngesund ist und trotz ihres naturwüchsigen
Realismus den idealen Keim nicht verleugnet. Es ist selbst, wo es die Form
des höfischen Minnelieds trägt, nie weichlich, oder süßlich, oder sentimental.
„Wer hat nicht von den Wundern der Barden und Skalden, von den
Wirkungen der Troubadours, Minstrels und Meistersänger gehört oder gelesen?
Wie das Volk dastand und horchte! was es alles in dem Liede hatte und zu
haben glaubte! wie heilig es also die Gesänge und Geschichten erhielt, Sprache,
Denkart, Sitten, Thaten, an ihnen mit erhielt und fortpflanzte! Hier war zwar
einfältiger, aber starker, rührender, wahrer Sang und Klang, voll Gang und
Handlung, ein Notdrang an's Herz, schwere Accente oder schwere Pfeile für
die offne, wahrheittrunkene Seele.“ (Herder Ausg. 1844, S. 311.)
3. Oft haben die Volkslieder nicht einen Verfasser, sondern mehrere:
(Jungbrunnen. Simrock 262.)
Man vgl. auch das im dreißigjährigen Krieg vielgesungene „Schloß in
Österreich“, das im Schwedischen fast gleichlautet und so schließt:
(Vilmar Handbüchlein &c. 1868. S. 101.)
Jn munterer harmloser Gesellschaft unter der Dorflinde fing einer an,
einen Vers zu sagen, der andere machte einen neuen, der dritte reimte hinzu, [77]
und auch der vierte half nach. Man sang die Strophe nach einer bekannten
Melodie, oder die lauschenden Mädchen und Bursche machten auch wohl eine neue,
wie es paßte. Auf der Straße wurde die Strophe wiederholt u. s. w. Gefiel
das Lied, so blieb es im Gedächtnisse und wurde Volkslied.
Selten erfährt man mehr vom Verfasser, als daß er Landsknecht, Reitersmann,
Jäger, fahrender Schüler, freier Knab, Jungfrau, oder gut Geselle ist z. B.
a.
(Die Türken vor Wien.)
b.
(„Es geht ein Butzemann &c.“ Kriegslied gegen Karl V.)
c.
(Uhlands Volkslieder Nr. 49. Vgl. noch Nr. 60. 61. 144. 198. 288 &c.)
Es giebt mehrere Volkslieder, welche Ort und Zeit ihres Entstehens, sowie
auch den Namen ihrer Dichter auf der Stirne tragen. So ist z. B. von den späteren
gesungenen volkstümlichen Liedern ausnahmsweise der Dichter des einen oder des
anderen bekannt geworden. Jch erwähne beispielshalber: „Ännchen von Tharau“
(Simon Dach † 1659), „Sohn, da hast du meinen Speer“ (Stolberg),
„Wenn jemand eine Reise thut“ und „War einst ein Riese Goliath“ (Claudius),
„Heute scheid ich, heute wandr' ich“ (Maler Müller), „Gott erhalte Franz
den Kaiser“ (Seidl, geb. 1804 zu Wien), „Es ist bestimmt in Gottes Rat“
(v. Feuchtersleben † 1849), „Jch komme vom Gebirge her“ (Schmidt von
Lübeck † 1849), „Nun ruhen alle Wälder“ (Paul Gerhardt † 1676),
„Schier dreißig Jahre bist du alt“ (Carl E. v. Holtei † 1880), „Ach, wenn du
wärst mein eigen“ (Hahn-Hahn), „Steh ich in finstrer Mitternacht“ (Wilh. Hauff
† 1827), „Heil Dir im Siegerkranz“ (eine durch Schumacher 1793 vorgenommene
Umbildung des Harriesschen „Lied für den dänischen Unterthan,“ das am
27. Januar 1790 zuerst im Flensburger Wochenblatt erschien) u. s. w.
Einige Volkslieder weisen schon in ihrer Ausdrucksweise und geschlossenen
Bildung auf den Urheber hin; bei dem aus dem Gemeingefühl des Volkes
entsprossenen Volkslied hat freilich die Zeit wie die Gemeinsamkeit ein Anrecht auf
dasselbe. Die Verbreitung und fast traditionelle Fortpflanzung schliff sodann
das Eigentümliche, Jndividuelle nach der allgemeinen Volkssinnesart zu.
„Gewöhnlich“, so sagt Heinrich Heine anmutend, „sind die Verfasser des
Volksliedes wanderndes Volk, Vagabunden, Soldaten, fahrende Schüler oder
Handwerksburschen, und letztere ganz besonders. Gar oft auf meinen Fußreisen
verkehrte ich mit diesen Leuten und bemerkte, wie sie zuweilen angeregt
von irgend einem ungewöhnlichen Ereignisse, ein Stück Volkslied improvisierten [78]
oder in die freie Luft hineinpfiffen. Das erlauschten nun die Vögelein, die
auf den Baumzweigen saßen. Und kam nachher ein anderer Bursch mit
Ränzel und Wanderstab vorbeigeschlendert, dann pfiffen sie ihm jenes Stücklein
in's Ohr, und er sang die fehlenden Verse hinzu, und das Lied war fertig.
Die Worte fallen solchen Burschen vom Himmel herab auf die Lippen, und
er braucht sie nur auszusprechen, und sie sind dann noch poetischer, als all
die schönen poetischen Phrasen, die wir aus der Tiefe unseres Herzens hervorgrübeln.“
K. Bormann meint in gebundener Rede:
4. Manches noch lebende Volkslied kann durch eine Reihe von Textrezensionen
und =redaktionen mehr als drei Jahrhunderte zurückverfolgt werden
(vgl. z. B. Vilmars Handbüchlein &c. 1868. S. 116), wodurch der Nachweis
ermöglicht wird, wie der Text mit der Zeit sich leise und allmählich verändert
hat. Durch Absicht, durch Vergessen einzelner Strophen, durch mangelhafte
Überlieferung &c. erhielten so manche Volkslieder ihre Veränderungen
oder Entstellungen. Anders wurde das gleiche Lied an der See gesungen,
als im Gebirg, anders in der Stadt, als im Wald, anders im 18. Jahrhundert,
als im 16ten. Und doch war es im Grunde genommen das nemliche.
Manche Liedersammlungen gaben nur die ersten Gesätze, so daß die übrigen
oder einzelne derselben vergessen wurden, wodurch sich die Annahme begründete,
daß das Abgerissene, Lückenhafte, naiv Unsinnige ein Kriterium des echten
Volksliedes sei. Jn mancher Gegend hat daher ein Volkslied fünfzehn Strophen,
während es in der andern durch obigen Umstand und das redigierende Volk
nur drei oder fünf behielt u. s. w. (Als Beispiel kühner Redaktion des Volkes
selbst in der Gegenwart vgl. das Beisp. von Scheffel § 65 d. Bds.)
§ 52. Das Volkslied als Beweis besonderer deutscher dichterischer
Naturanlage und poetisch-schöpferischer Volkskraft.
Wenn auch bei allen Völkern Spuren von volksmäßigen Dichtungen
sich finden, so sprudelt doch bei keiner Nation ein so reicher
Quell von Volkspoesie, so gewähren die Volkslieder nirgends einen so
tiefen Einblick in's Geistes- und Gemütsleben, als bei uns Deutschen.
Man könnte daher urteilen: Die Fülle und Tiefe unseres deutschen
Volksliedes beweist die dichterische Beanlagung und Begabung unseres
Volkes, den Gehalt seines Gemüts- und Gefühlslebens.
Dies zeige ein historischer Überblick.
Das deutsche Volkslied wurde vom Volke gesungen neben und vor den
Kunstliedern, welche in der Mitte des 12. bis Anfang des 14. Jahrhunderts
dem Ritterstand entsprossen sind und an den Höfen wie auf den Ritterburgen
geübt wurden. Die jugendliche Frische und der poetische Glanz der ersten
Minnelieder, die unmittelbar aus der Volksweise hervorgingen, lassen ahnen,
wie das kräftige Volkslied doch wohl schon vor dem 12. Jahrhundert geblüht
haben muß.
Man kann das deutsche geschichtliche Volkslied zweifelsohne als die letzte
Umgestaltung des epischen Nationalgesangs betrachten, als die letzte Zuckung
der alten Epen.
Die Verbreitung des Volksliedes zeigt, daß es eben so bedeutend in
seiner Wirkung auf die großen Kreise des ungebildeten Volkes war, als der
höfische Kunst- und Minnegesang, ja, daß es durch Vermittlung oder Benutzung
der Heldenstoffe und Heldengedichte, sowie der vaterländischen und örtlich=heimischen
Sagen noch viel populärer gewesen sein muß.
Die gelehrte und gelehrt thuende Kunstpoesie trat im 12. Jahrhundert
mit der volksmäßigen Poesie in schroffen Gegensatz, noch mehr die spätere
handwerksmeisterliche Formen-Dichtung. Die ächte Volkspoesie flüchtete sich daher
in die Kreise des gemeinen Volks, der fahrenden Schüler und Gesellen, der
Jäger, Landsknechte und Hirten. Auf diese Weise blieb ihr Jnhalt einfach
und natürlich=schlicht.
Als die das Volkslied verdrängende, gelehrt=kunstmäßige Dichtungsweise
im Meistersang zu erstarren begann, grünte und blühte ─ gleich dem immer
mehr erstarkenden Selbstgefühl des Bürgerstandes ─ das mit ihm verwachsene
Volkslied im 14. Jahrhundert in erneuter Pracht, um im 15. Jahrhundert
zur Herrschaft zu gelangen. Die deutschen Heldensagen, deren Grundlage ja
Volkslieder waren, lebten in volksmäßiger Form neu auf. Die bürgerlichen
Volkslieder der Spielleute und fahrenden Sänger, welche noch nicht in schulgemäßem
Zunft-Zwang abgeschlossen waren, und sich jener leichteren freien Form
bedienten, welche nur den Sinnton (die Hebungen mit beliebigen Senkungen)
respektiert, sangen noch hervorragende, volksbewegende Begebenheiten, oder Ereignisse,
so daß sie gewissermaßen das Volksgewissen repräsentierten. Die Märchenstimmung,
die im Volke heimisch war, kam ihnen entgegen und die Wanderburschen,
die fahrenden Schüler und Landsknechte leisteten durch Weiterverbreitung
in alle Teile der Windrose wichtige Dienste. Die Landsknechte hatten ihre
Landsknechtslieder, der Landmann sang Graslieder, der Jäger Jägerlieder, der
Bergknappe Bergliedlein; Abends zogen Jünglinge und Jungfrauen in den
Dörfern vereint „gassatim“ d. h. durch die Gassen und sangen Gassellieder
oder „Gassenhawer“. Bei frohen Gelegenheiten sang man Gesellschaftslieder.
Meist waren es episch=lyrische (historische) Volkslieder, die im 14., 15. und
16. Jahrhundert dem Volke entsprossen und vom Volk gesungen wurden.
Die höfische Poesie der gesangliebenden Hohenstaufen besang keine Heldenthaten,
sondern sang von Minne; der große Sieg Karl's V. über Franz I. von [80]
Frankreich bei Pavia (25. Febr. 1525) konnte anstatt eines politischen Volksliedes
nur ein Trutzlied gegen den Kaiser hervorrufen.
Der große Sieg Österreichs über den Erbfeind bei Belgrad, war etwas
Gemeinsames, weshalb das Volkslied: „Prinz Eugen, der edle Ritter“ eine
nie erlebte Verbreitung fand.
Wie das nationale Epos, behandelt dieses Lied Ereignisse, welche das
ganze Volk bewegten und ergriffen. Dies war überhaupt beim historischen
Volkslied der Fall, das immer von einem Dichter ausging, „der dabei war“
und es miterlebte und dann mit dichterischer Fähigkeit es verstand, seinen Stoff
zu gestalten, poetisch zu verklären, ihn zu idealisieren, und ihm den Charakter
des mythischen Sagenstoffes zu verleihen. Das historische Volkslied „von der
schönen Bernauerin“ trägt ganz das Gepräge einer historischen Ballade an sich.
Das zeitlich und räumlich Auseinanderliegende ist hier wie in der Ballade eng
zusammengerückt. (Man beachte z. B. daß die Ertränkung der Bernauerin sich
1435 ereignete, Herzog Ernst aber erst 1438 starb, trotzdem aber das Lied
singt:
Also 3 Jahre wurden zu 3 Tagen zusammengedrängt. Ähnlich ist es
auch bei den übrigen historischen Volksliedern.)
Jmmer gewaltiger verbreitete sich das Volkslied seit Erfindung der Buchdruckerkunst
und wurde ein nicht zu unterschätzender Kulturfaktor. Liederbücher,
denen meist die Melodieen beigedruckt waren, wurden allenthalben verbreitet.
Diese Verbreitung währte sodann bis in's 17. Jahrhundert. Der dreißigjährige
Krieg, der alle Spuren nationalen Lebens vernichtete, schädigte auch den Volksgesang
empfindlich. Dazu kamen die Bestrebungen der schlesischen Dichterschule
(Opitz, Weckherlin), welche durch gelehrte Buchdichtungen mit antiker Skansion
dem Volkslied den größten Eintrag thaten, ohne es indes ─ Dank dem poetischen
Sinn und unverbildeten Geschmack unseres Volkes ─ ganz erdrücken und
verdrängen zu können. Namentlich in abgeschlossenen Gegenden hat sich das
echte Volkslied erhalten.
Bereits im 15. und 16. Jahrhundert begann man, die Volkslieder aufzuzeichnen
auf Blätter und Bogen, auch in Liederbüchlein, ─ zu Straßburg,
Basel, Augsburg, Nürnberg gedruckt. Aus solchen Drucken und Handschriften
ging Uhlands Sammlung hervor.
Als man anfing, fabrikmäßig Zimmermanns=, Maurer=, Schmiede=,
Schneider=, Gerber- und Leineweberlieder zu dichten, trat ein nüchternes, reflexives
Moment in die Volkspoesie, das gar sehr der Prosa Vorschub leistete, wenn
es auch die Volkspoesie nicht ertöten konnte.
So ging es bis in die Neuzeit, in welcher das dramatisch hastende,
gelderwerbende Fabrikleben und die ruhelosen Lokomotiven und Dampfmaschinen
die ruhige Beschaulichkeit des Gemütslebens und die idyllische, volkspoetische
Stimmung illusorisch machen und das volksliedverbreitende Wanderleben mit [81]
den Herbergshäusern und Pflegstätten des naiven Volksliedes ganz beseitigen
möchten.
(Weber, Dreizehnlinden.)
Der Materialismus hat sich breiter als je gemacht und möchte den Todestritt
aller Volkspoesie versetzen, die sich in gewissen Vereinen mit ihren materiellen
Tendenzen komisch genug ausnehmen müßte, in denen man nur von Rache
gegen die Besitzenden singt, vom Gefühl:
ja, wo die poetische Zeit des Handwerksburschen mit dem Pfennig in der Tasche
verlacht wird:
(Vgl. Die Arbeiterdichtung in Frankreich. Ausgewählte Lieder der Proletarier.
Übersetzt von Strodtmann.)
Aber trotz alledem lebt das Volkslied, und wird fortleben als bleibendes
Zeichen deutschen poetischen Sinnes und poetisch=schöpferischer Volkskraft. ─
§ 53. Das Volkslied als Naturpoesie.
1. Das Volkslied ist Naturpoesie, das volkstümliche Lied
Kunstpoesie.
2. Der Volksdichter singt aus dem Volk heraus, der Kunstdichter
läßt sich zum Volk herab.
1. Das Volkslied ist ursprünglich naturwüchsige Poesie == Naturpoesie.
Diese bildet einen Gegensatz zu der ein bewußtes dichterisches Produzieren bezweckenden
und voraussetzenden Kunstpoesie. Die Dichtungen der letzteren werden
─ sofern sie sich dem Bildungsgrade und den Bedürfnissen des Volks anbequemen
─ zu volkstümlichen Liedern, die deshalb noch lange nicht Volkslieder
sind. Die Naturpoesie des Volksliedes setzt freilich auch eine Kunst (ein
Können) voraus, aber doch eine Kunst ohne planvolles, schulmäßiges Studium,
ohne ästhetische Schulregeln und Schultheorien, ohne Poetik, eine naive Kunst ─
wie sie Grube in seinen ästhetischen Vorträgen nennt, ─ die auch da noch
naiv bleibt, wo sie sich an die Kunstpoesie anlehnt und deren Formen in
ihrer Weise benutzt.
Diese Naturpoesie ist wie die Natur selbst: bald bizarr und grotesk erhaben,
bald anmutig lieblich, bald einförmig und gehaltlos. Jn ihr herrscht
scheinbar Regel- und Planlosigkeit und Willkür; alles knospt, grünt und rankt
in buntem Durch- und Nebeneinander. Sie ist von wunderbarer Schönheit,
die das Herz umfaßt, fesselt, anzieht. Der unverdorbene Geschmack findet sie [82]
entzückend, wie die freien Berge mit ihren Felsen, Rissen, Schluchten, Wäldern
und Seen. Diese urwüchsige Schönheit ─, sowie auch ihr Ursprung ─ ist
ein wesentliches Unterscheidungs-Moment des Volksliedes von dem regelvollen
Kunstliede.
Das Volkslied wächst aus dem gesamten Volksgewissen und Volksgemüt
heraus. Der Dichter, welcher es gesungen hat, war nur das Organ dieses
Volksgeistes, der Ausdruck der die Nation bewegenden Volksstimmung; er wollte
sich nie in seiner Vorzugsstellung präsentieren; er wollte nur das ausdrücken,
was sein Volk bewegte. Daher ist das Volkslied arm geblieben in sprachlichen
Formen und Wendungen und Metaphern, daher kam es ihm auch nicht auf
Originalität an. Note: Werkgr. Volkslied
2. Der Volksdichter setzt keine besondere Bildung bei seinem Publikum
voraus. Er ist daher auch dem Ungebildeten verständlich. Der Kunstdichter
muß sich herabstimmen, er muß sich der Bildung des Volks accommodieren.
Dies vermag nicht jeder.
Daher haben es nur wenige Kunstdichter verstanden, den Volkston zu
treffen; doch haben mehrere derselben Kunstlieder geschaffen, die mit einfachedlem
kräftigem Ausdruck und poetischem Gedanken nicht einer besonderen Kulturstufe,
wohl aber dem ganzen Volksleben entsprechen, die nicht Standespoesie,
sondern volkstümliche Poesie sind, die den Geist des Volks und seine Bedürfnisse
ausdrücken und die unsere Nation durchwogende Stimmung wiederspiegeln,
die also, wenn sie auch keine Volkslieder waren, doch (wie es zuerst Hoffmann
von Fallersleben that) volkstümlich genannt zu werden verdienen.
§ 54. Geheimnisse in der Bildung des Volkslieds.
1. Das Volkslied meidet die Abstraktion. Es verlangt anschauliche
naive Ausdrucksweise.
2. Alle Volkslieder sehen sich ähnlich. Die geheimnisvolle Eigenart
ihres Baues besteht im Gebrauch gleicher Phrasen, Anklänge, Wendungen,
Vorschläge, Elisionen.
Eigenartig ist:
A. Die Wiederholung ganzer Satzteile und Satzformen im gleichen
Volksliede.
B. Wiederholung ganzer Satzteile und Satzformen in verschiedenen
Volksliedern.
C. Umbildungen und Nachbildungen beliebt gewordener Volkslieder.
D. Anklang des gleichen Gedankens in veränderter Form.
E. Anwendung von Vorschlägen, Elisionen &c.
1. Das Charakteristische des Volksliedes erkennt man erst, wenn man
sich in dasselbe hineingelebt hat. Jst dies der Fall, so wird man sich hüten,
alles, was ein Teil des Volkes singt, ohne weiteres als Volkslied zu bezeichnen.
So ist ─ um nur eines zu erwähnen ─ das Lied „Freut Euch des Lebens“ [83]
von Usteri trotz seines so volksmäßigen Refrains, trotz seines so herzlichen,
einfachen Tones, wegen der Absichtlichkeit seiner moralischen Beziehungen kein
Volkslied im eigentlichsten Sinn. Das Volk liebt keine Abstraktionen, in welchen
─ wie hier ─ von einer Genügsamkeit gesprochen wird, die bald zum Bäumchen
aufschießt, das goldene Früchte trägt u. s. w.
2. Eine Eigenart des geheimnisvollen Baues und der rätselhaften Beliebtheit
des Volksliedes sind seine Anklänge an lieb gewordene Phrasen, seine
Ausdrücke und Wendungen, seine Wiederholungen, Umbildungen, Anklänge,
Vorschläge, Elisionen &c. Wir beweisen dies durch Beispiele aus allen Volksliedern:
A. Volksmäßige Wiederholungen einzelner Satzteile und
Formen in ein und demselben Volksliede.
1. Wiederholung einzelner Wörter.
a.
b.
(Zum Ausmarsch.)
c.
(Erlkönigs Tochter.)
2. Wiederholung der Frage in der Antwort oder ganzer
Strophenteile.
a.
(Ulrich u. Annchen.)
b.
(Volkslied vom Hildebrand.)
B. Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Satzteile und Satzformen
in verschiedenen Volksliedern verschiedener Dichter oder Zeiten.
1. Die Frageform wiederholt sich:
a.
(Magdalenenlied.)
b.
(Heimkehr.)
c.
(Falsche Liebe.)
d.
(Hildebrandlied.)
e.
(Treue.)
f.
(Die Linde im Thale.)
g.
(Vgl. Uhlands Volksl. S. 283. 287. 356. 361. 376. 412. 431. 549. 557. 645 &c.)
[84]2. Eine bestimmte Form wiederholt sich, ähnlich dem stereotypen
Märchen-Anfang: „Es war einmal.“
a. Es ist ein Schnitter, heißt der Tod.(Schnitterlied.)
b. Es blies ein Jäger wohl in sein Horn.
(Die schwarzbraune Hexe.)
c. Es ist ein Ros' entsprungen.(Winterrose.)
d. Es steht eine Lind' in jenem Thal.(Nachtigall.)
e. Es sangen drei Engel einen süßen Gesang. (Die arme Seele.)
f. Es sah ein Knab' ein Röslein stehn &c.(Röschen auf der Heide.)
g. Es war einmal ein feiner Knab'. (Der treue Knab.)
h. Es war einmal eine Müllerin.(Die stolze Müllerin.)
3. Die Anredeform wiederholt sich:
a. O Mutter, liebe Mutter mein, o Tochter, liebe Tochter mein.
b. O Reitknecht, lieber Reitknecht mein ─.
c. Ach Mutter, liebe Mutter, ach Tochter, liebe Tochter.
d. Ach Mutter, sagte sie, Mutter, ach Tochter, sagte sie, Tochter.
(Ähnlich Der Goldschmied. Simrock 60.)
e. Ach Mutter, liebste Mutter mein.
(Macht der Thränen. Ähnlich Der freche Knab. Simrock 113.
Ebenso in Der Erbgraf. Simrock 33.)
f. Ach Sünder, ach Sünder, was hast du für Not.
(Die untreue Braut.)
g. Ach Fischer, lieber Fischer &c.
h. Ach Mutter, ach Mutter, es hungert mich! &c.
(Volkslied aus Sachsen.)
i. Ach Eslein, liebstes Eslein mein. (Uhlands Volksl. Nr. 46 u. 45.)
k. Frau Luddelei, Frau Luddelei! und warum spinnt Jhr nicht?
(Ebd. Nr. 293.)
4. Ganze Teile beliebter Volkslieder werden wiederholt
oder nachgebildet:
a.
(Lied von der Bernauerin.)
b.
(Lied vom Muschelbeck.)
c.
(Lied vom Reiter, der die Liebste aufgiebt.)
d.
(Der Wirtin Töchterlein.)
e.
(Der grobe Bruder. Simrock 43.)
f.
(Des Markgrafen Töchterlein. Simrock 48.)
g.
[85]
(Die Mordwirtin.)
h.
(Zucht bringt Frucht.)
i.
(Drei Reiter am Thor.)
k.
(Tannhäuser.)
l.
(Der Schreiber im Korb.)
m.
(Ein Thüringer Lied aus Spangenbergs Mansfeldscher Chronik. Vgl. hierzu
Uhlands V.=L. S. 155. 538. 761.)
C. Umbildungen, Nachbildungen der Form, Veränderungen,
Varianten, welche von späteren Sängern herrühren,
von der Gebirgsgegend, oder der Ebene, in der das Volkslied
gesungen wurde &c.
Das Lied:
(Vgl. Herder, Stimmen der Völker &c.)
tönt im thüringischen Volkslied wieder:
(Vgl. Simrock 234.)
indem dessen dritte Strophe beginnt:
Ein Wiederklang dieses Liedes ist das Volkslied:
(Mitgeteilt von Meinert.)
welches ähnlich schließt, wie das vorige beginnt, nämlich:
Das Wiegenlied:
ist imitiert aus Des Knaben Wunderhorn (III. 36:)
D. Gleichheit des Gedankens mit veränderter Ausdrucksform.
a.
(Lied aus dem Kuhländchen.)
b.
(Reise nach Albanien von Holhouse.)
c.
(Serbisches Volkslied.)
Die deutsche Volksballade „Königskinder“, welche der griechischen Sage
„Hero und Leander“ verwandt ist, findet sich in Varianten in der Schweiz,
in Schweden, Dänemark und Holland. Sie beginnt z. B.:
Jm Deutschen:
Jm Schwedischen:
Jm Verlauf der Ballade heißt es u. A.:
Jm Deutschen:
Jm Schwedischen:
Der Schluß lautet:
Deutsch:
Schwedisch:
Eine ähnliche, inhaltliche Verwandtschaft zeigt z. B. die Ballade „Lenore“
von Bürger mit der schottischen Ballade „Wilhelms Geist“, sowie auch mit
einer holländischen, durch Gebr. Grimm in Haus- und Kindermärchen mitgeteilten
Sage. (Teil III. S. 75.)
Das Lied, welches Bürger (nach Althofs „Leben Bürgers“, Göttingen
1798, S. 37) ursprünglich im Mondenschein von einem Bauernmädchen [87]
singen hört, und das auch im norwegischen, sowie im englischen Volkslied wiederklingt
(vgl. Mohnike, Volkslieder der Schweden S. 160), findet sich ganz mitgeteilt
in „des Knaben Wunderhorn“. Vgl. Schillers Kindesmörderin mit dem
herrlichen Volkslied aus dem 17. Jahrh. „Joseph, lieber Joseph, was hast du
gemacht“ u. a.
E. Anwendung von Vorschlägen, Elisionen &c.
Charakteristisch und von großer Wirkung ist noch der bei Volksliedern sich
wiederholende Vorschlag, sowie die fast regelmäßig angewandte Elision. Herder,
welcher Vorschlag wie Elision auch in englischen Stücken fand und zuerst darauf
aufmerksam machte, wie viel die Minstrels darauf gehalten, sagt (Ausg. 1844,
S. 306): Der (Vorschlag) ist nun noch im Deutschen, wie im Englischen in
den Volksliedern meistens der dunkle Laut von the in beidem Geschlecht (de
Knabe), 's statt das ('s Röslein) und statt ein ein dunkles a, und was
man noch immer in Liedern der Art mit ' ausdrücken könnte. Das Hauptwort
bekömmt auf solche Weise weit mehr poetische Substantialität und Persönlichkeit.
‘Knabe sprach, ‘Röslein sprach, u. s. w. (Vgl. Goethes Heidenröslein
u. s. w.)
§ 55. Einteilungsversuch der Volkslieder.
1. Die Wissenschaft verteilt diese Volkslieder je nach den Lebenskreisen,
Stoffen, nach Jnhalt und Stimmung &c. in viele Gruppen
und Unterabteilungen.
2. Einfacher ist die auf S. 91 von uns vorgeschlagene und beibehaltene
Einteilung in ernste, in heitere und in historische Volkslieder.
1. Als wissenschaftlich und sachlich erschöpfende Einteilung der Volkslieder,
wie jener durch ihre Volksmelodie zu Volksliedern gewordenen volkstümlichen
Kunstlieder könnte vorgeschlagen werden:
A. Hymnenartige Volkslieder, Heimwehlieder, Vaterlandslieder
und Heldenlieder.
a. Hymnen.
Beispiele:
(Der Ambros. Lobgesang. Deutsch von Luther.)
(Luther.)
b. Heimwehlieder.
Beispiele:
(Des Schweizers Heimweh.)
(Justinus Kerner.)
c. Vaterlandslieder.
Beispiele:
(Arndt.)
(H. Straß.)
[88]d. Königslieder.
Beispiele:
(Österr. Volkslied.)
(Heinr. Harries.)
e. Freiheitslieder.
Beispiele:
(Arndt.)
(Schenkendorf.)
f. Völkerklagen.
Beispiele:
(Körner.)
(Freiligraths Jrland.)
g. Nationale Heldenlieder.
Beispiele:
(Histor. Volksl. v. Soltau, Nr. 85, desgl. Simrock 494.)
(Arndts Blücherlied.)
h. Manneswert.
Beispiele:
(Dachs Mannestreue.)
(Körner.)
i. Soldaten- und Kriegslieder.
Beispiele:
(Simrock 477.)
(Pfeffel.)
k. Reiterlieder.
Beispiele:
(Schiller.)
(Kretzschmers Volksl. I. Nr. 196 S. 346.)
l. Jägerlieder.
Beispiele:
(Uhlands Volksl. Nr. 103.)
(Schiller.)
B. Liebeslieder.
a. Sehnsuchtslieder.
Beispiele:
(Reinhold, Liederbuch S. 260.)
(S. Dach.)
[89]b. Liebesgrüße.
Beispiele:
(Walter, Volksl. Nr. 18.)
(Liederbuch für deutsche Künstler S. 250.)
c. Ständchen.
Beispiele:
(Goethe.)
(Geibel.)
d. Liebesglück.
Beispiele:
(Liederbuch für deutsche Künstler S. 246.)
(Goethe, Schweizerlied.)
e. Liebesringen.
Beispiele:
(Herders Stimmen der Völker.)
(Liederbuch für deutsche Künstler S. 249.)
f. Abschiedslieder.
Beispiele:
(Wunderhorn I. 253.)
(Österr. Volksl.; mitgeteilt von Tschischka und Schottky.)
g. Liebeskummer.
Beispiele:
(Wunderhorn I. 190.)
(Altdeutsches Lied, bei Zarnack II. 51.)
C. Balladen und Romanzen.
a. Heldenlieder.
Beispiele:
(Rückert.)
(Uhland.)
b. Legenden.
Beispiele:
(Wunderhorn I. 15.)
(Usteri.)
[90]c. Elfensagen.
Beispiele:
(Uhlands Volksl. Nr. 297.)
(Goethe.)
d. Geistersagen.
Beispiele:
(Bürger.)
(Aus Ursinis schottischen Balladen S. 95.)
e. Liebessagen.
Beispiele:
(Wolffs altholländ. Volksl. S. 28.)
(Uhland.)
f. Schwänke und Spottlieder.
Beispiele:
(Menzel, Ges. d. V. S. 577.)
(Wunderhorn II. 376.)
D. Freuden- und Trauerlieder.
a. Jahreszeitenlieder.
Beispiele:
(Uhlands Volksl. Nr. 57.)
(Ebenda Nr. 58.)
b. Haus- und Arbeitslieder.
Beispiele:
(Aus des Knaben Wunderhorn.)
(Ebenda III. 36 u. 40.)
c. Trinklieder.
Beispiele:
(Altes deutsches Studentenlied.)
(Studentenlied.)
d. Gesellige Lieder.
Beispiele:
(Kotzebue.)
e. Totenlieder.
Beispiele:
(Volkslieder der Polen 1833. S. 46.)
(Ebenda S. 51.)
2. Wir empfehlen für die vorstehende, komplizierte Einteilung die nachfolgende,
einfachere Rubrizierung:
a. rein ernste Volkslieder, die von Liebe, Trennung, Wiedersehen,
vom Wandern und der Natur handeln,
b. heitere, von Wein, Geselligkeit und Spott übersprudelnde,
c. historische.
a. Ernste Volkslieder.
Die Macht der Thränen.
Ein schlichtes, schmuckloses, im Rhythmus ungekünsteltes Volkslied ohne
Reim, bei dem die ergreifenden Worte: „verdorben, gestorben“ gewissermaßen
die unausgesprochene Moral des Ganzen sind, ist das folgende:
Weder Glück noch Stern. (Simrock 94.)
[92]
Das in der beliebten, volksmäßigen Dialogform gehaltene Volkslied vom
Mädchen und der Hasel s. § 2 S. 3 d. Bds.
Lyrisch=episch ist „Erlkönigs Tochter“ aus Herders „Stimmen der Völker
in Liedern“, das irrtümlich meistens in sechszeiligen Strophen mitgeteilt wird.
Erlkönigs Tochter.
[93]
Die drei Soldaten.
[94]
(Vgl. Schenkel II. 577.)
b. Heitere Volkslieder.
Als Probe für das heitere Volkslied erinnern wir an das vielgesungene
Pinzgauerlied, ferner an die Studentenlieder: In dulci jubilo, und Ça ça
geschmauset; endlich an das allbekannte:
Hieher sind auch zu rechnen die zu Volksliedern gewordenen bekannten
Gedichte: Vanitas von Goethe, und Das Fläschlein von Langbein (Jch und
mein Fläschlein sind immer beisammen), Die Bitte Noahs von Kopisch (Als
Noah aus dem Kasten war), und Ein lustiger Musikante von Geibel.
c. Historische Volkslieder.
Als Probe für diese Gattung erinnere ich an die Volkslieder:
Prinz Eugenius, der edle Ritter (Hist. Volksl. v. Soltau Nr. 85).
Friederikus Rex, unser König und Herr (Wilibald Alexis).
Bertrands Abschied (Leb wohl, du teures Land, das mich geboren).
Die nächtliche Heerschau (Nachts um die zwölfte Stunde verläßt der Tambour sein
Grab, von Zedlitz).
Andreas Hofer (Schenkendorf).
Das Blücherlied (Was blasen die Trompeten? &c. von Arndt. Vgl. I. S. 604).
§ 56. Wanderung durch die geographischen Bezirke des
Volkslieds.
Um einen Überblick über den zwar eigenartigen, aber dennoch einheitlichen
Ton des Volksliedes zu gewinnen, dürfte es sich empfehlen,
einzelne Volkslieder der verschiedensten Bezirke mit einander zu vergleichen.
Wir können selbstverständlich an dieser Stelle nur eine Anregung hierzu
geben, indem wir lediglich einige für die Vergleichung geeignete, leicht zugängliche
oder allbekannte Volkslieder auswählen:
1. Es reiten drei Reiter zu München hinaus (Von der schönen Bernauerin.
Simrock 492. Schenkel II. 568).
2. Nun will ich aber heben an von dem Tannhäuser. (S. 90 d. Bds.)
3. Es wurden drei Soldaten gefangen und geführt zu Straßburg. (S. 93 d. Bds.)
4. Jnnsbruck, ich muß dich lassen (Abschiedsklage. Simrock 264).
5. Es steht ein Baum in Österreich (Die hohe Blume. Simrock 39).
6. Die Kindesmörderin (Simrock 85. Vgl. dasselbe argäuisch ebenda 87).
7. Schwabenstreiche (Simrock 116), sowie Schwäbische Tafelrunde (ebenda 536).
8. Zu Frankfurt an der Brücke (Simrock 135).
9. Ein Jäger aus Kurpfalz (Simrock 402).
10. O Straßburg, o Straßburg (Simrock 477).
11. Zu Koblenz auf der Brücken (Wassersnot. Schenkel II. 649).
12. Es steht ein Baum im Odenwald (Schenkel II. 645) u. s. w.
§ 57. Das geistliche Volkslied.
1. Das geistliche Volkslied entstand erst lange nach dem weltlichen.
Die Reformation schuf es.
2. Seine Wirkung war eine gewaltige.
3. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß man mehrfach die
Form beliebter weltlicher Volkslieder benützte, um geistlichen Jnhalt in
dieselbe zu gießen.
1. Durch Luthers Vorgang erhielt der Volksgesang bald seine ideale Spitze
im geistlichen Volks- oder Kirchenlied. Gewaltig wirkte auf die Massen das
protestantische Trutzlied „Ein' feste Burg ist unser Gott“, oder: „Vom Himmel
hoch, da komm ich her“ u. s. w.
Die christliche Begeisterung schuf aus dem Volke heraus christliche Volkslieder,
die alt und jung, gelehrt und ungelehrt sang, wie das weltliche
Volkslied.
(Wir begegnen diesen zum Volkslied gewordenen Liedern wieder beim
Kirchenlied.)
2. Mächtig war die Einwirkung dieser christlichen Volkslieder auf den
deutschen, gewohnten Volksgesang. Zur Körperlichkeit und Fülle desselben kam
die Verinnerlichung des christlichen Gefühls, die ergreifend wirkte. Thränen
vergoß Luther, als ein Bettler das Lied des Paul Speratus sang: „Es ist
das Heil uns kommen her“ und Luther erfuhr, daß dasselbe von der Ostsee
bis Wittenberg gesungen wurde.
3. Man suchte Kapital aus dem Volkslied dadurch zu schlagen, daß man
dasselbe zum Kirchenlied verwendete; einzelne beliebte Volkslieder (wie: In dulci
jubilo) formte man ganz um; andere veränderte man parodistisch z. B.
(Simrock 264.)
in:
Oder:
in:
[96]
Oder:
(vgl. Wunderhorn II. 425. Simrock 507. Uhlands Volksl. Nr. 214 A und B)
im 15. Jahrhundert in:
(Vgl. Wackernagels Kirchenlied Bd. II Nr. 835 sowie ebenda Nr. 836, endlich
die Umdichtung in eine fünfzeilige Strophe Nr. 837 u. s. w.)
§ 58. Zur Geschichte und Litteratur des Volksliedes.
Schöpfung, Verfall, Wiedererwachen, neue Blüte des Volksliedes
hielt stets mit unseren nationalen Schicksalen gleichen Schritt.
Die Mehrzahl der heute noch bevorzugten Volkslieder verdanken wir
dem aufgeweckten, mutigen, lebensfrischen Geiste unseres Volkes a. im
Zeitalter der Reformation, dann später b. dem Wiedererwachen des
deutschen Nationalgeistes unter Friedrich dem Großen von Preußen, wie
c. in den Befreiungskriegen.
Wie schon bei Beginn des Minnesangs, so wurde das Volkslied
später immer mehr die Wurzel, aus welcher das Kunstgedicht heraussproß.
Während die Gebildeten seit Opitz die Weisen der alten und neueren
Volkslieder nicht mehr beachten zu sollen meinten, sie für unschön und roh
hielten (so daß sich diese nur noch auf der Straße, in der Schenke, im Wald
im Mund des gemeinen Volkes erhielten, dem sie ja auch entsprossen waren),
hat zuerst Herder, und sodann Goethe das Volkslied wieder zu Ehren gebracht
und auf die Bedeutung desselben hingewiesen. Herder hat bereits 1778 Volkslieder
aus allen Zeiten gesammelt und unter dem Titel „Stimmen der Völker
in Liedern“ herausgegeben, wodurch er als der erste zur Ausbildung des Volksliedes
anregte und Neubearbeitungen einzelner Volkslieder veranlaßte; z. B. von
Goethe: „Sah ein Knab ein Röslein stehn“, ferner „Wenn ich ein Vöglein
wär“, „So viel Stern am Himmel stehen“, „Guter Mond, du gehst so
stille!“ u. s. w.
Herders Stimmen der Völker enthalten Lieder 1. aus dem hohen Norden
(grönländische, lappländische, esthnische, lettische, litthauische, tartarische, wendische
&c.), 2. aus dem Süden (griechische, italienische, spanische, französische),
3. nordwestliche (aus Ossian, schottische, englische), 4. nordische (skaldische,
dänische &c.), 5. deutsche, 6. Lieder der Wilden (aus Madagaskar und Peru).
Die Bestrebungen Herders machten zuerst klar, wie Deutschland nach Lage
und Geschichte befähigt sei, der Herd einer Weltlyrik zu werden, um sich im
Geben und Nehmen mit allen Ländern in Beziehung zu setzen. Dem Vorgang
Herders folgten 1806 und 1808 Clemens Brentano und A. v. Arnim mit:
„Des Knaben Wunderhorn“, neu und in guten gereinigten Texten herausgegeben
von Anton Birlinger und Wilhelm Crecelius 1874 ff. ─ Goethe urteilt [97]
von des Knaben Wunderhorn in der Jen. Allg. Lit. Ztg. 1806. No. 18. 19:
„Von rechtswegen sollte dieses Büchlein in jedem Haus, wo frische Menschen
wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher
zu liegen pflegen, zu finden sein, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblicke
der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes
oder Anregendes fände &c.“
Es schlossen sich an: die Sammlungen von Volksliedern, welche von der
Hagen und Büsching herausgaben, sowie Uhlands Deutsche Volkslieder (1844.
1882). Karl Simrocks Deutsche Volkslieder (1859), H. Pröhles Weltliche und
geistliche Lieder (1855), O. L. B. Wolffs Hausschatz der Volkspoesie (4. Aufl.
1853), Meiers Schwäbische Volkslieder, Kleinpauls Volkslieder, Erks Liederhort,
Kretzschmers, Soltaus, Körners und besonders v. Liliencrons historische Volkslieder.
Einen treuen Pfleger hat das Volkslied in unserer Zeit neben Böhme,
Birlinger, Crecelius, Hoffmann von Fallersleben, v. Ditfurt, Süß, Mittler,
Schlossar, auch an Georg Scherer, dem Dichter zarter und sinniger Lieder,
gefunden. Aus den verschiedensten Heimstätten deutschen Lebens trug er einen
Volksliederschatz zusammen, und mit diesem in der Hand förderte er die seit
Herder bei uns angehäufte Litteratur der Volkspoesie. Die erste Ausgabe
seiner illustrierten Pracht-Ausgabe des deutschen Volksliedes trug den Titel:
Die schönsten, deutschen Volkslieder mit ihren eigenen Singweisen.
Die Litteratur des Volksgesanges hat in der Neuzeit übrigens auch bei
anderen Nationen reiche Vermehrungen erfahren. Was außer den im Text
Genannten noch Elwart, Eschenburg &c. für den deutschen, ─ Percy, Pinkerton,
Walter Scott, Jameson für den englischen und schottischen Volksgesang thaten,
leistete Fauriel für den neugriechischen.
Geijer und Afzelius haben 1814─1816 die Volkslieder der Schweden
in 3 Bänden mit 3 Heften Musikbeilagen herausgegeben und das letzte Glied des
germanischen Volksgesangs ergänzt, zu welch letzterem wir außer dem eigentlich
deutschen, den so reichhaltigen skandinavischen, englischen und schottischen zählen.
England, Schottland, Deutschland und Skandinavien bilden hinsichtlich der
Sprache bekanntlich einen eigenen Stamm, der sich von den romanischen
Sprachen unterscheidet.
Diese Länder haben aber auch in ihrer älteren Volks-Poesie so viel Verwandtschaft,
daß man sie als ein eigenes großes Ganze betrachten kann. So
viel auch die Sammlungen dänischer Volksgesänge von Sofranson Wedel, Peter
Syw und besonders von Ryerup in Verbindung mit Abrahamson, Rahbeck und
Rasmussen in bezug auf schwedische Volkslieder ergaben, so verdienstlich ist die
obige Sammlung Geijers und Afzelius' in deren Volksliedern der jambisch=anapästische
Rhythmus vorherrschend ist, und die eine große Mannigfaltigkeit in der
Zeilenlänge, in der Folge der Silben, in der Strophik, ähnlich wie in der
Neuzeit die Gedichte des Königs Oscar II. von Schweden-Norwegen, aufweisen.
Arndt und Kosegarten (Blumen) haben das schwedische Volkslied zuerst
nach Deutschland verpflanzt; Herder hat nur dänische, aber keine schwedischen
Volkslieder seiner Sammlung beigegeben.
Eine neue Sammlung schwedischer Volkslieder hat Arwidssohn in Stockholm
1834 herausgegeben, die Mohnike 1836 (Stuttgart) in's Deutsche übertrug.
Leider wird trotz aller Bemühungen ─ auch der verwandten Kulturländer
─ der größte Teil des versunkenen Schatzes mittelalterlichen Volksgesanges
ungehoben bleiben. Doch hat Uhland wenigstens die Volkslieder des
16ten Jahrhunderts in ziemlicher Reichhaltigkeit nach Handschriften und alten
Drucken zu vereinen gewußt. Er behauptet von den deutschen Volksliedern (in
„Alte, hoch- und nieder=deutsche Volkslieder“ S. 10), daß ihnen der einheitliche
Geist, der gleiche Schnitt, der durchgehende, volkspoetische Charakter fehle, fand
dafür aber die lebensvolle Erscheinung interessant, wie der deutsche Volksgesang
vom 13ten Jahrhundert an mehr und mehr der wichtigsten Ereignisse und Zeitfragen
sich bemächtigte und so allgemein und wirksam wurde, daß Luther selbst
die Psalmen zu Volksliedern stimmte u. s. w.
§ 59. Das Volkslied der letzten Decennien.
Jnteressant ist die Wahrnehmung, wie das moderne Volkslied der
letzten Decennien genau so wie das früheste Volkslied je nach dem
Volksbedürfnisse auftaucht, erst leise und schüchtern, dann lauter und
sicherer, bis es endlich überall Eingang in Herz und Haus gefunden hat;
wie ferner trotz unserer Presse auch bei uns erst niemand den Dichter
des Volksliedes kannte, wie der eine es vom andern hörte, dieser vom
dritten und vierten, bis es zuletzt die Kinder in allen Orten und
Straßen sangen, bis es durch die Zeitstimmung, durch große politische
oder soziale Ereignisse geweckt mit einem Schlag zur Geltung kam.
Wir liefern den geschichtlichen Nachweis:
Es war Ende der vierziger Jahre, da ertönte aus allen Winkeln Deutschlands:
Schleswigholstein meerumschlungen (Gedicht von H. Straß, comp.
von Chemnitz). Es kam 1848 die Revolution. Wir kümmerten uns wenig
darum und jubelten in geschlossenen Reihen:
Daneben machte sich das sog. Thüringer Volkslied Platz, das alle deutschen
Volksschichten ergriff und durchklang. Das Jahr 1859 kam und brachte den
französisch=ital. Krieg. Deutschland machte zwar mobil, aber der deutsche Michel
dehnte sich höchst gleichgültig. Überall erscholl das Lied:
Es erklang kein allgemeines Volkslied mehr, bis 1863 Schleswig-Holstein
neu erwachte und in Deutschland aufging. Da schallte es 1867: „Jch bin
ein Preuße“ aus aller Soldaten und Preußen Munde. Jm übrigen Deutschland
sang man von der „schönen blauen Donau“ bis zum Wiener Krach. Der
Patriotismus erwachte und mit ihm das neue Volkslied. Es kam die Wacht
am Rhein. Schon 1840 war sie entstanden, als Frankreich zur Unterstützung
Mehemed Alis von Ägypten gegenüber der Allianz der Großmächte einen Krieg
in Aussicht stellte, der zugleich Frankreich die Rheingrenze wiedergeben sollte.
Man sang dazumal Beckers an Lamartine gerichtetes Rheinlied: „Sie sollen
ihn nicht haben.“ Man kannte die „Wacht am Rhein“ noch nicht, die 1854
erst vom Komponisten Wilhelm in Musik gesetzt wurde und langsam wuchernd
fortlebte, bis sie durch den französischen Krieg 1870/71 eine an die dämonische
Gewalt der Marseillaise von Rouget de Lisle erinnernde Macht erhielt und
ihren begeisternden, tyrtäischen Triumphzug durch ganz Deutschland hielt, ohne
daß man anfänglich den Dichter kannte. (Vgl. hierher S. 114 d. Bands.)
Kunstlied.
§ 60. Mission des Kunstliedes.
1. Jn unserer dem Volksliede feindlichen Zeit und angesichts der
wachsenden Kultur und Bildung unseres Jahrhunderts muß das Kunstlied
die Aufgabe übernehmen, das Volkslied teilweise zu ersetzen.
2. Es muß volkstümlich sangbar werden im Sinne der volkstümlichen
Kunstlieder Goethes, Heines, Uhlands u. a.
Unsere Eisenbahnen und Telegraphen als rastlos fortdrängende Kulturfaktoren,
ferner unser poesiefeindliches Cliquenwesen und unser Materialismus
drohen den letzten Schimmer eines gesund naturwüchsigen beschaulichen Lebens
und Seins zu erdrücken, in welchem das edle Volkslied fortlebte. Für die
Folge werden es nur wenige Fleckchen im gemeinsamen Vaterlande sein, wo
einzelne, naturfrische, urkräftige Menschen unberührt vom Parteigetriebe und der
prosaischen, modernen Kultur leben, bei welchen noch Gedanke und Gefühl mit
der Natur verschwistert bleiben, denen in Zeiten des Bedürfnisses ein Gott die
Zunge löst, damit sie aus Geist und Gemüt ihrer Nation heraus noch dichten
und singen, wie es dem Volksgewissen, dem deutschen Volksgefühl und dem unverkünstelten
Volkscharakter entspricht.
Jm Hinblick auf diese Thatsache, und angesichts der hohen Bedeutung,
welche das Volkslied für Poesie und Kultur, wie für Pflege des ästhetischen
Sinns, der Herzens- und Willensstimmung der Nation hat, muß das volkstümliche
Kunstlied an seine Stelle treten. Bereits haben die ersten Dichter der
Nation im Hinblick auf die große Wirkung der Volkslieder wie im Verein mit
dem Aufschwung germanischer Studien sich veranlaßt gesehen, volksliedartige,
volkstümliche Lieder zu dichten, den Ton des Volksliedes anzustreben, Gegenstände [100]
des Volksinteresses im Volkston zu besingen, und zuweilen sogar durch
den Dialekt eine engere Verbindung mit dem Volke zu erzielen. Diese vom
Hauch der Volkspoesie belebten Dichter sahen ein, daß ─ wenn sie Poesieen
im Geist und Sinn der alten Volkslieder schaffen wollten ─ sie das poetisch
gestimmte Volksleben in ihren Liedern entfalten mußten. So drangen sie mit
einzelnen volkstümlichen Gesängen in den gesunden Kern des Volkes ein, fanden
Anerkennung, und ihre Lieder wurden wie ehemals die Volkslieder allüberall
gesungen. (Man vgl. beispielshalber „Sah' ein Knab' ein Röslein stehn“ von
Goethe, „Frisch auf, Kameraden auf's Pferd, auf's Pferd!“ von Schiller, Der
alte Barbarossa von Rückert u. s. w.)
2. Nach dem Vorgang Goethes, Uhlands, Heines &c. muß sich unser Kunstlied
immer mehr von allem Geschraubten, Gekünstelten frei machen. Es muß
vor allem aus dem Jungbrunnen des edlen Volksliedes schöpfen. Die schöne
Linie, an welcher sich Kunstgedicht und Volkslied berühren, muß sein: volkstümliche
Empfindung und volksmäßige Sangbarkeit. Somit wird für die Zukunft
Ausgangspunkt und Ziel jedes echten Kunstliedes werden müssen: Volkstümliche,
echte, ungezierte Empfindung, die sich in Anschauung
umsetzt und wiederum Empfindung machtvoll zeugt!
§ 61. Einteilungsprinzip des Kunstliedes.
1. Schon im Mittelalter unterschied man das weltliche und das
geistliche Lied mit ihren vielen Unterarten. Für das Kunstlied der
Gegenwart ist der Einteilungsmodus ein sehr verschiedenartiger.
2. Wir behalten die im § 48 aufgestellte Einteilungsweise bei.
1. Man teilt die Lieder in bezug auf ihren Stoff und Endzweck in geistliche
und weltliche Lieder ein. Die weltlichen Lieder zerfallen nach den Jahreszeiten
in: Frühlingslieder, Herbstlieder, Mailieder &c., nach den Tageszeiten: in
Morgen- und Abendlieder. Ferner spricht man von Nationalliedern, welche
Vaterlandsliebe und Nationalsinn zum Ausdruck bringen, oder bemerkenswerte
Ereignisse aus der Geschichte des Vaterlandes behandeln; von Kriegsliedern, die
zur Beharrlichkeit und Tapferkeit im Kampfe ermutigen; von moralischen,
welche Rechtschaffenheit und Tugend feiern; von Trink- und Gesellschaftsliedern,
die den freundschaftlichen Verkehr würzen; von Minneliedern, die besonders die
sanften Empfindungen der Freundschaft und Liebe zum Ausdruck bringen; von
Klageliedern, die traurige Erlebnisse schildern und beklagen u. s. w. Jedem
Volk, jedem Stande und jeder Altersstufe sind außerdem noch besondere Lieder
eigen, in denen sich ihr Lebensgefühl klar darlegt.
Nach den Ständen teilt man die Lieder ein in: Studentenlieder, Jäger=,
Soldaten=, Hirten=, Winzer=, Fischer- und Reiterlieder; nach Beschäftigung
und besonderen Verhältnissen in: Erntelieder, Schlachtenlieder, Wanderlieder,
Sehnsuchtslieder, Schlummerlieder &c. Endlich teilt man ein: in ernste und
komische Lieder. Nach den ihnen zu Grunde liegenden Veranlassungen [101]
und Stimmungen könnte man die Lieder Ermutigungslieder, Hoffnungslieder
u. s. w. heißen. Häufig teilt man die Lieder in Hinsicht auf ihren Jnhalt ein:
a. in subjektiv=individuelle, welche durch besondere eigene Lebensverhältnisse des
Dichters hervorgerufen wurden, b. in objektiv=individuelle, welche durch die
Verhältnisse einer zweiten Person entstanden sind. Eine andere Einteilung
rubriziert die Lieder nach ihrer Wirkung oder nach dem Gegenstand. Gegenstand
des Liedes kann jedes Gefühl sein; deshalb giebt es so viele Arten von Liedern,
als es Lebensverhältnisse, Stimmungen, Gefühle, Stände &c. giebt.
Das Kunstlied im Mittelalter war:
1. dem Frauendienste, dem Herrendienste, der Natur, und
2. der Gottesminne gewidmet.
Die alten Kunstdichter sangen (wie Uhland im „Märchen“ bemerkt):
Jhre Lieder hatten also entweder geistlichen oder weltlichen Jnhalt.
2. Diese Einteilung können wir in unserer Poetik beibehalten. Wir werden
somit im nachstehenden folgende Gruppen abzuhandeln haben:
A. Weltliches Lied.
1. Vaterlandslied.
2. Naturlied.
3. Liebeslied.
4. Komisches Lied.
5. Geselliges Lied.
6. Elegisches Lied.
7. Jdyllisches Lied.
B. Geistliches Lied.
1. Religiöses Lied.
2. Kirchenlied.
a. Bußlied.
b. Danklied.
c. Trostlied.
d. Gebetlied.
e. Loblied.
f. Glaubenslied.
Formen des Kunstliedes.
1. Die Vaterlandslieder sind der Begeisterung und der Liebe für's
Vaterland entsprungen und preisen die Freiheit und die Selbständig= [102]
keit eines Volkes, oder feiern die Männer, die zum Gedeihen des
Ganzen beigetragen haben.
2. Viele derselben wecken Kampfesmut und Siegesfreude. Man
teilt sie ein in: a. Vaterlandslieder im engern Sinn, mit den Unterarten:
Freiheitslieder, nationale Heldenlieder und Schlachtenlieder;
sowie b. Bardiëte.
1. Die besseren Vaterlandslieder sind stets in Zeiten der Gefahr entstanden
und wurden nicht selten durch Stimmung und Bedürfnis zu Volksliedern
erhoben.
Jm Befreiungskrieg zu Anfang des 19. Jahrhunderts rühmten Freiheitssänger
(patriotische Romantiker) zum Teil noch in der traditionellen alt=klassischen
Form das hohe Gut der Freiheit, für welche Deutschlands Jugend mit Begeisterung
eintrat.
Die politischen Lyriker der dreißiger und vierziger Jahre (Prutz, Herwegh,
Kinkel, Strachwitz), die echt patriotische Gesänge schufen, erhoben sich auch gegen
die bestehende Ordnung, wurden Schildträger der Partei, Sänger oder Vorläufer
der Revolution von 1848.
Machtvoll entfaltete sich das Vaterlandslied 1870─71, als französischer
Übermut uns den Krieg erklärte. Den gesamten deutschen Dichterwald beseelte
nur ein Ziel: Befreiung vom Erbfeind; alle Gesänge sind durchglüht von Vaterlandsliebe.
2. Als Beispiele bekannter guter Vaterlandslieder aus den erwähnten drei
großen Perioden des Wachstums und der Fruchtbarkeit derselben, sowie aus
früherer Zeit, erwähnen wir die folgenden, die als patriotische Volkslieder in
Aller Munde leben und in die Kommersbücher übergegangen sind:
a) Vaterlandslieder im engern Sinn.
(Arndt.)
(Becker.)
(H. Straß.)
(Uhland.)
(C. Hinkel.)
(Hoffmann von Fallersleben.)
(Derselbe.)
(Herwegh.)
(Schneckenburger.)
Freiheitslieder.
(Julius Mosen.)
(Körner.)
(Arndt.)
(Schenkendorf.)
(Körner.)
(Rückert.)
[103]Nationale Heldenlieder.
(Gleim.)
(Wilibald Alexis.)
(Zedlitz.)
(Arndt.)
(Rückert.)
(Derselbe.)
Schlachtenlieder und Soldatenlieder.
(Körner.)
(Uhland.)
(Körner.)
(Körner.)
(Körner.)
(Schiller.)
(Emil Rittershaus.)
b) Bardiet (sprich: Bar=di=et).
Durch Klopstock, der eine gewaltige Vorstellung von der alten Bardendichtung
hatte, wurde unsere Litteratur mit dem Bardiet bereichert. Man versteht
unter Bardiet (auch Bardit ─ anklingend an den Namen Barden, den
die Dichter der keltischen oder gallischen Völker als besonderer Stand trugen)
Kriegs-Gesänge, deren Jnhalt aus der Bardenzeit ist, oder die wenigstens so
gedichtet sind, daß man sie für Bardengesänge halten könnte (vgl. Bd. I. S. 25).
Nach Klopstocks Vorgang bildete man im 18. Jahrhundert viele Bardiete, also
Lieder, welche den fingierten Charakter der alten Bardenlieder tragen sollten,
z. B. eines Ossian, des Repräsentanten des schottischen Bardentums, den man
den Kaledonischen Barden nannte.
Wenn dieselben auch nur von vorübergehender Bedeutung waren, so können
sie doch ihre Stellung und Einregistrierung in die Poetik verlangen. Sie dienten
zur Erweckung der Vaterlandsliebe, eines wesentlichen Elements deutscher Lyrik,
und sie trugen dazu bei, Sinn für nationale Gesänge zu schaffen. V. Gerstenbergs
(† 1823) Bardiet „Lied eines Skalden“ ist ebenso ergreifend, als die
Bardiete Klopstocks (Hermannsschlacht, Hermann und die Fürsten, Hermanns
Tod) oder die Bardiete Kretschmanns († 1809), den man „Rhingulf der
Barde“ nannte.
Klopstock hat dramatische Dichtungen geschaffen mit eingefügten lyrischen
Liedern (Bardiete im engeren Sinn), welche Vaterländisches aus der Zeit und
im Geist der Barden darstellen. Diesen Dichtungen gab er ebenfalls den umfassenden
Namen Bardiete. Da das Dramatische in denselben nur den Rahmen
und die Einleitung in die lyrischen Partieen bildet, so sind sie ─ wie die
übrigen Bardiete ─ an dieser Stelle zu erwähnen. Neuere Kriegssänger sind im
Unrecht, ihre gewöhnlichen Soldatenlieder als Bardiete einzuführen. Da dies
auch früher geschah, so bildete sich mit Recht eine Opposition gegen die Bardengesänge
überhaupt, und bekannt ist die komische Manier, in welcher Lichtenberg,
Kästner &c. gegen das überhandnehmende „Barden-Gebrüll“ loszogen.
Die Nachahmer des Klopstockschen Bardensanges (Kretschmann [† 1809],
Denis [† 1800, Wiens Befreiung], Mastalier in Wien [† 1795]) bezeichnet
man vorzugsweise als die deutschen Barden. Sie bemühten sich, im Sinn und
Geist der alten Barden zu dichten, sie teilten ihre patriotischen Gefühle in antiken
Formen mit und wählten meist deutsche Helden und Fürsten zum Gegenstand
ihrer Gesänge.
Beispiel des Bardiets:
Laudon, von Mastalier.
[105]
[106]
(Vgl. Laudon, von Janko. Wien, Braumüller 1881. S. 24.)
Litteratur des Vaterlandsliedes.
Die verbreitetsten, zum Teil durch ihre Melodien zu Volksliedern gewordenen,
patriotischen Gesänge schufen bei uns: Arndt (Was ist des Deutschen Vaterland?
Was blasen die Trompeten? Der Gott, der Eisen wachsen ließ. Sind wir vereint
zur guten Stunde. Deutsches Herz, verzage nicht. Aus Feuer ward der Geist
geschaffen. Durch Deutschland flog ein heller Klang), Körner (Leier und Schwert.
Viele Lieder daraus sind von Himmel, K. M. v. Weber u. a. in Musik gesetzt
worden und werden noch heut zum Teil nach Volksweisen gesungen, z. B. Vater,
ich rufe Dich. Du Schwert an meiner Linken. Das Volk steht auf. Was
glänzt dort vom Walde im Sonnenschein? Hör uns, Allmächtiger!), Schenkendorf
(Frühlingsgruß an das Vaterland. Landsturm. Schill. Soldaten-Morgenlied.
Die deutschen Städte. Freiheit die ich meine), Rückert (vgl. die Sammlung:
Kranz der Zeit), Stägemann (Siegeslied ist oft erklungen), Adolf Follen
(Vaterlandssöhne, traute Genossen!), Karl Follen (Brause, du Freiheitssang),
A. Binzer (Wir hatten gebauet), Karl Göttling (Stehe fest, o Vaterland!),
Uhland (Wenn heut' ein Geist herniederstiege). Die politischen Lyriker der 30er
und 40er Jahre: Herwegh (Jch bin ein freier Mann und singe; Reiterlied &c.),
Hoffmann von Fallersleben (Mein Vaterland), Robert Prutz (Die Mutter des
Kosaken; Noch ist Freiheit nicht verloren), Dingelstedt (Lieder eines kosmopolitischen
Nachtwächters), Freiligrath (Neue politische und sociale Gedichte), Strachwitz
(Die patriotische Hymne: Germania), Julius Rodenberg (Geharnischte Sonette),
Heinr. Zeise (Kampf- und Schwertlieder), Strodtmann (Schleswig-Holstein), Zedlitz
(Totenkränze, vgl. Bd. I. S. 560. Sein Soldatenbüchlein enthält patriotische,
der italienischen Armee gewidmete Gedichte), Anastasius Grün (Spaziergänge
eines Wiener Poeten, österreichische Zustände tadelnd), Alexander, Graf von Württemberg
(gen. Sander: Lieder eines Soldaten im Frieden), Karl Beck (Gepanzerte
Lieder, politische Zeitfragen behandelnd), Geibel (Patriotische Sonette, z. B. „Für
Schleswig-Holstein“), v. Gaudy (Kaiserlieder), Kugler (Vaterländisches Trinklied),
A. Knapp (Spielburg; Barbarossa und Saladin), Grüneisen (patriotische Lieder
und Romanzen z. B. Eberhard mit dem Barte), K. J. Simrock (Drei Tage und [107]
drei Farben), Moritz Hartmann aus Böhmen (Kelch und Schwert), Th. Fontane
(Männer und Helden, eine Sammlung von Preußenliedern), G. v. Meyern
(Welfenlied &c.). Aus der neuesten Zeit durch den letzten Krieg hervorgerufene
politisch=patriotische Lyriken schrieben: Oskar v. Redwitz (Lied vom neuen
deutschen Reich. Nicht alle Sonette dieses Cyklus sind rein lyrisch. Bei vielen
ist die lyrische Sonettenform zur epischen Darstellung verwandt), G. v. Vincke,
W. Schröder, A. Pichler, Eug. Labes, E. Kauffer, K. Gutzkow, Herm. Grieben,
E. Förster, K. Elze, C. Beyer, G. Heusinger, Edm. Höfer, F. Hofmann,
W. Jensen, O. Marbach, M. Matzerath, Alfr. Meißner, M. Remy, O. Roquette,
E. Scherenberg, A. Stern, Fr. Storck (Alldeutschland hoch!), Adolf Stolterfoth,
A. Träger, Heinr. Viehoff, R. Waldmüller, F. Wehl, W. Winckler, Müller von
Königswinter, Müller v. d. Werra, Pläschke, v. Gottschall, Julius Grosse, Karl
Hackenschmidt, Georg Hesekiel, Marie Jhering, H. Lingg, Emil Rittershaus,
Julius Sturm, Rod. Benedix (Soldatenlieder), Moritz Blankarts (Kriegs= und
Siegeslieder), Fr. Bodenstedt, M. Carriere, Joh. Fastenrath, K. Gerok, Kl.
Groth, R. Hamerling u. A.
Als Sammlungen der politisch=patriotischen Lieder der Neuzeit sind zu
nennen: a. Alldeutschland von Müller v. d. Werra, b. Kriegspoesie aus den
Jahren 1870─71 (Mannheim bei Schneider), c. die bei Lipperheide in Berlin
erschienene Sammlung mit Autographen der Dichter &c.
Die Naturlieder sind aus dem Gefühl für das Ländliche, für
das Jdyllische und für die Natur hervorgegangen. Jn ihnen fällt das
Leben des Dichters mit dem Leben in der Natur zusammen. Alle
Regungen, welche die Natur durchziehen, durchzucken auch ihn. Man
hört bei den Naturliedern gleichsam die Dorfglocken ertönen, die den
Gruß der Liebe und des Friedens vermitteln, man sieht die Sommervögel
flattern, hört die summenden Jmmchen schwirren. Man nimmt
das Erwachen der Natur im Frühling, ihr Ersterben im Winter wahr.
Goethe und Rückert haben die Natur in unvergleichlicher Weise besungen.
Einer der hervorragendsten Naturdichter neben diesen hellstrahlenden Genien
ist der weniger bekannte Hölderlin (1770─1843). Er ist Naturdichter nicht
sowohl deshalb, weil die Natur der vorwiegende Stoff seiner Gedichte ist, weil
er die Erde, das Meer, den Äther, die Flüsse und die Bäume besingt, sondern
deshalb, weil die Versöhnung und Vermählung der Natur mit dem Geiste
sein künstlerisches Grundproblem bildet, auf dessen Lösung er vom ersten Erwachen
seines Genius bis zum Versinken desselben in die Nacht des Wahnsinns
hinarbeitete. Er faßte dieses Problem nicht etwa nur ästhetisch, sondern nahm
dafür von vornherein in echt antikem Geiste den ganzen Menschen in Anspruch.
So finden wir bereits unter den Erstlingen seiner Muse vor einer Hymne an
die Schönheit (1791) das bedeutsame Wort Kants: „Die Natur in ihren [108]
schönen Formen spricht figürlich zu uns, und die Auslegungsgabe ihrer Chiffrenschrift
ist uns im moralischen Gefühl verliehen.“ Von diesem Gefühl ist zu
verstehen, was er in dem tiefsinnigen prosaischen Fragment „Grund zum
Empedokles“ sagt: „Natur und Kunst sind sich im reinen Leben nur harmonisch
entgegengesetzt. Der organischere, künstlichere Mensch ist die Blüte der Natur,
die selbstlose Natur, wenn sie rein gefühlt wird von rein organisierten, rein
in seiner Art gebildeten Menschen, giebt ihm das Gefühl der Vollendung.“
Hölderlin feiert die Natur als die „allduldende“, denn sie duldet nicht allein
das in ihr selbst vorhandene Übel, sondern auch den an ihr und sich irrgewordenen
Geist, von dem sie gleichwohl ihre Erlösung allein zu hoffen hat.
Eigentümlich gefühlsinnig, mit Vorliebe für das Wunderbare sind noch
die Naturlieder des heiteren, seelenvollen, volkstümlichen und melodiereichen
schwäbischen Sängers Eduard Mörike. Wertvolle Naturlieder haben sonst noch
die unten in den Beispielen zu nennenden Dichter geliefert.
Beispiele der Naturlieder:
a. An die Natur.
(Friedr. Leop. Graf zu Stolberg, † 1819.)
b. Jm April.
(Geibel.)
[109]c. Frühling.
(Mörike.)
Weitere Beispiele bilden die Naturlieder von:
Lenau: Schilflieder. Der Eichwald. Frühlings Tod. Herbst.
Rückert: Der Winter auf dem Lande. Abendlied. Frühlingslied, und besonders
sein dithyrambisches Lüfteleben.
Goethe: An den Mond.
Moritz Hartmann: Erster Schnee.
J. Mosen: Der träumende See.
Eichendorff: Winterlied.
Tieck: Herbst.
Heine: Fichtenbaum und Palme.
Hoffmann v. Fallersleben: Abendlied.
Uhland: Maientau. Die sanften Tage.
Karl Beck: Frühling. Heimweh.
Julius Sturm: Frühlingsgespenster. Herbstlieder. Auf dem Wasser.
Robert Reinick: Sommernacht.
Jul. Rodenberg: Schönheit. Dämmerung.
Kinkel: Abendstille. Abendmahl der Schöpfung.
Rittershaus: Der Abendfalter. Nach dem Sturme.
Cäsar von Lengerke: Der frühe Mond.
Herm. Lingg: Mondaufgang. Waldnacht.
Alfr. Meißner: Jn der Gebirgswüste.
Gottschall: Am Strande. Die letzte Rose.
Otto Roquette: Wandergruß.
Fr. Storck: Wach auf! u. a. m.
1. Man nennt das Minne- oder Liebeslied auch erotisches Lied
(von Eros == Amor). Seinen Jnhalt bildet die Liebe. Das Liebeslied
erschließt das Herz des Lyrikers in seinen geheimsten Tiefen; es
enthüllt die leisesten Ahnungen und die zartesten Regungen des beseligenden
Liebesgefühls. Daher sind seine Töne die zartesten und innigsten, die
anmutigsten und heitersten und zugleich die erwärmendsten. Das Liebeslied
ist der Spiegel der keuschen Liebes-Einfalt in ihrer sonnigen Klarheit.
Rückerts Liebesfrühling ist das Musterbuch der Liebeslieder, das
Evangelium der Liebe. Er hat für die gesamte Lyrik eine erlösende,
bahnbrechende und vorbildliche Mission erreicht.
2. Die Bedeutung des Liebesliedes soll man nicht unterschätzen.
[110]1. Zur Zeit des historischen Minnesangs, welcher eine fortschwingende
Welle jener durch die Troubadours angeregten Lyrik war, galt die Verehrung
der Frauen als eine besondere Tugend, welche im Kultus der heiligen Jungfrau
ihren Gipfelpunkt und ihre höchste Veredlung erreichte. Es gehörte zu
den Eigenschaften eines echten Ritters, im Herzen eine Dame zu tragen, für
die er in inniger Verehrung (Minne) erglühte, die er schützte und die er im
Minneliede verherrlichte. Daher fiel mit der Blüte des Rittertums die Blüte
des Minnelieds zusammen.
Es giebt seit dem Minnesang kaum einen Lyriker, der nicht Liebeslieder
geschaffen hätte, da die Liebe das treibende Agens für unser ganzes Leben ist.
Jean Paul spricht: Jeder Jüngling, sogar der prosaische, grenzt an den
Dichter ─ wie die Jungfrau eine kurzblühende Dichterin ist, beide wenigstens
in der Liebeszeit; oder vielmehr, die reine Liebe ist eine kurze Dichtkunst, wie
die Dichtkunst eine lange Liebe.
H. Heine sagt bezüglich des Gegenstandes des Liebesliedes: Die Engel
nennen's Himmelsfreud', die Teufel nennen's Höllenleid, die Menschen nennen
es Liebe.
Und Rückert, der nach Walther von der Vogelweide die zartesten und
innigsten Minnelieder sang, und der neben Chamisso in Frauenliebe und Leben
die der weiblichen Seele eigene Fülle an zarten Gefühlen am schönsten und
reichsten zum Ausdruck brachte, ruft aus:
2. Trotz der hohen Stellung des Liebeslieds findet man nicht selten
geringschätzige Urteile über dasselbe. Eine energische Verteidigung der Liebeslyrik
hat Th. Winkler der Redaktion der „Neuen Dichterhalle“ gewidmet, als
diese dem Liebesliede die Aufnahme in ihr Dichterjournal erschwerte. Warum,
so ruft Winkler in hochgradiger Entrüstung aus, soll die Liebeslyrik ausgeschlossen
sein? Jst diese Gattung der Poesie plötzlich in Bann und Acht
gethan? Oder ist das Gebiet etwa so abgegrast und ausgebeutet, daß kein
neuer, frischer Halm mehr darauf zu sprossen vermag? Bildet man sich wirklich
ein, daß mit Heine, Lenau, Rückert, Geibel &c. alles gesagt und poetisch ausgestaltet
worden sei, was je eine Menschenbrust im Gefühlssturm der Liebe
bewegen könne? Ein unbefangener Blick auf die neuere Produktion in der Lyrik
ergiebt, daß gerade das Kapitel des Liebesliedes die duftigsten, farbenprächtigsten
Blüten getrieben hat, Blüten, die trotz aller lyrischen Großmächte ihr
volles Recht haben, im Garten der Dichtkunst zu stehen und daselbst Freunde
und Verehrer zu finden. Eine Dichterhalle ist daher keinesfalls befugt, hier
eine Grenzsperre einzuführen. Nur sichten und sondern soll ihre Redaktion unter
den Einläufen. Jn der erotischen Lyrik ist die äußerste Strenge geboten, weil
sie der frequentierteste Tummelplatz des Dilettantismus ist. Es gehört in
manchen Kreisen zur Mode, ja, manche Menschen geben sich damit den Anschein [111]
einer gelehrten Bildung und eines geläuterten Geschmacks, daß sie bei bloßer
Nennung des Wortes „Lyrik“ mitleidig mit den Achseln zucken. Das darf nicht
befremden. Zunächst liegt das in dem herrschenden Zeitgeist, auf dessen Fahne
der nüchternste Materialismus steht, andererseits aber auch in dem erwähnten
Mißbrauch, den die Lyrik durch fade Reimschmiede seit Jahrzehnten erfahren hat
und leider noch täglich erfährt. Man stelle also nicht die Behauptung auf:
Liebeslieder mag Niemand mehr! ─ So lange es noch liebende Herzen und
empfindungsfähige Gemüter auf Erden giebt, so lange es dem Schachergeiste
unseres Zeitalters noch nicht gelingt, Eros völlig in den Dienst der Börse zu
zwingen, so lange wird ein wahrhaft poetisches, ein wahrhaft empfundenes und
künstlerisch ausgestattetes Liebeslied noch immer einen Wiederhall finden, wenn
auch nicht unter der feilschenden Menge des Marktes.
Diese Apotheose erinnert uns an jenen Vers Bernarts von Ventadour,
welchen Schwenk einer Kritik vorsetzte:
sowie an das Wort Hölderlins, dessen Kraft und Tiefe, dessen Geist und Adel,
dessen Zartheit und Milde ihm die Anerkennung und den Ruhm eines unserer
größten Lyriker sichern:
Wie herrliche Blüten die erotische Lyrik auch noch in unserer Zeit zu
treiben vermag, beweisen unter vielen Liebesliedern hervorragender Dichter der
Gegenwart z. B. die Erotika des gottbegnadeten Sängers Alexander Kaufmann,
die er in „Unter den Reben“ (Berlin. Lipperheide. S. 46─96) seiner
Amara George gesungen hat. Diese tiefempfundenen, formenschönen Gedichte
erscheinen wie eine Fortsetzung des Liebesfrühlings von Fr. Rückert, an den so
mancher süße Ton erinnert, ja, den man zu hören glaubt in den ergreifenden
Ghaselen: „Es führt das Schicksal Dich in weite Ferne, o bleib getreu!“, sowie
in „Jch liebe Dich nach Gottes ew'gem Schlusse ─ verlaß mich nicht!“
Beispiele des Liebesliedes:
(Rückert) [112]
(Alexander Kaufmann.)
(Uhland, Hohe Liebe.)
Weitere Proben bekannter Liebeslieder sind:
Rückerts Liedercyklus: Der Liebesfrühling.
Chamisso: Frauenliebe und Leben.
Redwitz: Einzelne Lieder des Epos Amaranth z. B. Zieht hin, ihr lieben, stillen
Lieder zu meiner süßen Amaranth! &c. (§ 121. V. d. Bds.)
Goethe: Freudvoll und Leidvoll (Liebesglück).
Salis: Wann, o Schicksal, wann wird endlich.
Schiller: An der Quelle saß der Knabe.
Tieck: Geliebte, wo zaudert dein irrender Fuß?
Geibel: O stille dies Verlangen. ─ Rühret nicht daran. &c.
Uhland: Was wecket aus dem Schlummer mich. Nachts. &c.
Bodenstedt: Lieder des Mirza-Schaffy z. B. Jch fühle Deinen Odem &c.
Mörike: Liebesvorzeichen. Hochzeitslied und neben anderen erotischen Gedichten
insbesondere das tief ergreifende Lied Agnes (Rosenzeit! wie schnell vorbei,
schnell vorbei, bist du doch gegangen! &c.).
E. Ferrand: Jugendliebe. Am Fenster.
Dingelstedt: Erste Liebe. Wiedersehen.
v. Gottschall: Liebes-Reminiscenzen.
G. Schwab: An die Geliebte.
Herm. Rollet: An die Geliebte.
Hoffmann v. Fallersleben: Liebe und Klagen.
Clemens Brentano: Nach Sevilla. Abendständchen.
Platen: Sonette.
R. Prutz: Reue. Vergessen. Die tote Braut.
Alfr. Meißner: An meine Rose.
Karl Beck: Weltgeist. Zur Nacht.
Lenau: Dein Bild. An die Entfernte. Das tote Glück. Frage. Das Mondlicht.
Cäsar von Lengerke: Liebesleid.
[113]Betty Paoli: Gabe. Jn einer Abendstunde. Gelöbnis. Bewältigung.
Heine: Der Stern der Liebe.
Fr. Storck: Von Liebe. Das Lied der süßen Liebe.
Karl v. Holtei: Frühlings-Atem weht entgegen.
Amara George: Das süße Wort. Was Liebe kann. Die Augen, die geweint. &c.
1. Das komische Lied nimmt irgend einen erheiternden, ergötzlichen
Gegenstand zum Stoff. Der Dichter fühlt sich in der gehobensten
Laune und singt aus ihr heraus.
2. Das komische Lied darf nie die zarte Linie des Schicklichen, d. i.
des ästhetisch Zulässigen überschreiten.
1. Der heiteren Seelenstimmung unserer Dichter sind eine Menge komischer
Lieder entsprungen, die schon durch ihren Titel Stoffgebiet und Tendenz verraten
und allbekannt geworden sind. Jch erinnere aus der großen Zahl derselben
nur an die folgenden komischen Lieder:
Ein lust'ger Musikante marschierte einst am Nil, o tempora o mores!
(E. Geibel). Als Noah aus dem Kasten war (Kopisch). Jch hab' mein Sach'
auf nichts gestellt (Goethe). Der Ostwind kam an's Schenkenthor; Mönch! die
Predigt schenk ich dir; Manch Jahr ist's her, seit mein letztes Buch versetzt; Die
Liebe fiel in's Grübchen am Kinn; Es ist der Kopf ein Luftgezelt (Rückert).
Die Hussiten zogen vor Naumburg (Seiffert). Das Essen, nicht das Trinken
bracht uns um's Paradies (Wilh. Müller). Grad aus dem Wirthshaus nun
komm ich heraus (Mühler). Ach! das Exmatrikulieren ist ein böses Ding, ja
ja! (W. Gabriel). Fürst Bismarck dem deutschen Manne (J. Meyer). Tragische
Geschichte (Chamisso). Krapulinski und Waschlapski, Polen aus der Polakei;
Krambambuli, das ist der Titel; Jch bin der Fürst von Thoren; Ça, ça geschmauset!
laßt uns nicht rappelköpfisch sein; viele Lieder der soeben erschienenen
Sammlung Wechselnde Lichter von Schmidt-Cabanis; Vom Hund, der das
Sprechen gelernt hat (A. Kaufmann) u. a.
2. Bei aller Munterkeit, ja Ausgelassenheit, die ja das Horazische est
modus in rebus nicht immer zu beachten braucht, müssen sich komische Lieder,
welche nicht in's Bereich der Bänkelsängerlieder gehören wollen, innerhalb der
elastischen Grenzen feinen Taktes zu halten suchen. Der Hortus deliciarum
von Eichrodt enthält neben ergötzlichen Liedern (die ─ als Ausdruck des Hochkomischen,
Burlesken, Zwerchfellerschütternden, ja, auch des Niedrigkomischen im
Bänkelsängerton ─ das Tollste bieten, was je dem Humor entquollen ist) zum
Glück nur einzelne Parodieen (wie z. B. auf das Goethesche „Nur wer die
Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“: Nur wer die Milzsucht kennt, weiß was
ich leide), die selbst den zum Jokus aufgelegten Mann wie ein Unrecht an der
lieb gewordenen Form und wie ein Hohn auf das berechtigte, innige Empfinden
des Dichters berühren.
Beispiel des komischen Liedes.
Als solches wählen wir ein Lied V. v. Scheffels, welches rasch zum
beliebten Volksliede wurde und nach der Melodie „Die Hussiten zogen vor
Naumburg“ allüberall gesungen wird.
Der Dichter schreibt uns mit Bezug auf dasselbe: „Das Lied von der
Teutoburger Schlacht, ursprünglich ein lustig Studentenlied aus der Zeit, da
weder die Vollendung des Denkmals noch die der deutschen Einheit sehr wahrscheinlich
erschien, wurde 1875 zur Einweihung des Hermannstandbildes am
16. August neu ausstaffiert, umredigiert und mit einer volkstümlichen Melodie
versehen. Es wurde auch ─ eigentlich wider die eigentliche Stimmung bei
seiner Abfassung ─ das Festlied jenes Tages und als fliegendes Blatt mit Jllustrationen
und Noten vielfach verbreitet .... Daß viele Textänderungen vorgenommen
wurden, entspricht der veränderten Sachlage; von wem dieselben
herrühren, ist mir nicht erinnerlich“ ....
Demnach illustriert dieses Lied, wie kein zweites Volkslied, die Wahrheit
des am Schluß des § 51 d. Bds. vom Volksliede Gesagten. Mit großer
Kühnheit brachte das Volk unbekümmert um den Dichter seine Änderungen an,
ja, es dichtete sogar neue Strophen hinzu. Und in dieser neuen Volks-Redaktion
hat das Gedicht seit 1875 seinen Weg in die Volksliederbücher gefunden.
Wir halten es für ersprießlich, beide Formen zu vermitteln:
Originaldruck aus V. v. Scheffels
Gaudeamus. 32. unveränderte
Aufl. 1878. S. 44.
Die Teutoburger Schlacht.
Druck aus dem Allg. Reichs-Commersbuch
von Müller v. d. Werra.
Leipz. Breitkopf u. Härtel. S. 289.
Quinctilius Varus.
[115]
[116]
Man unterscheidet drei Arten von geselligen Liedern:
1. Gesellschaftliches Lied,
2. Anakreontisches Lied,
3. Skolion.
Diejenigen Gedichte, welche der Freundschaft, der Freude und
den Vergnügungen des gesellschaftlichen Lebens gewidmet sind, die
Gelegenheitsgedichte, wie Geburgstags=, Tauf- und Hochzeitslieder,
Weinlieder, Trinklieder, Wanderlieder u. s. w. nennt man gesellige
Lieder oder Gesellschaftslieder.
Die geselligen Lieder sind meist Gelegenheitsgedichte. Das ist kein Vorwurf,
denn die schönsten Dichtungen der deutschen Lyrik im Mittelalter, der
Provençalen, der Jtaliener und Franzosen sind Gelegenheitsgedichte. (Vgl.
§ 7 d. Bds.) Die Minnesinger wußten durch ihre Subjektivität den Gelegenheitsmotiven
eine poetische Seite abzugewinnen; weniger die schlesische Dichterschule,
die jede Taufe und Hochzeit besang, und deren Dichter ganze Bände
dieser Sorte von Gelegenheitsgedichten drucken ließen. (Vgl. Bd. I S. 34.)
Goethes Gelegenheitsgedichte waren die Vereinigung seiner Empfindung
mit dem wirklichen Leben. Nachdem Goethe den Namen und den Begriff des
Gelegenheitsgedichtes erklärt und gehoben hatte, ist Rückert geradezu als Virtuos
desselben bezeichnet worden, d. h. als ein Dichter, der, was ihm im Leben
und Studium in weitesten, engern und engsten Sphären aufstieß, in ein Gedicht
verwandelte. Aus der großen Zahl von Gesellschaftsliedern, in denen eigentlich
jeder Dichter etwas geleistet hat, und von denen manche zu Volksliedern wurden,
erwähnen wir nur: Fischart (Der liebste Buhle, den ich han. Uhlands Volksl.
214 A und B); Goethe (I. Bd. Ausg. 1840. S. 87 bis 124, z. B. Mich
ergreift, ich weiß nicht wie“; Mit Mädchen sich vertragen; Ergo bibamus;
das dem Volkston nachgebildete Stiftungslied: Was gehst du, schöne Nachbarin,
im Garten so allein?); Rückert (Einladung auf's Land; Entschuldigung und
Einladung; Verwahrung); Wilh. Müller (Die Arche Noah; Doppeltes Vaterland
&c.); Kugler (Gesellige Lieder); Justinus Kerner (Wohlauf! noch getrunken); [117]
Daumer (Liederblüten des Hafis); Usteri (Freut euch des Lebens); Kotzebue
(Es kann ja nicht immer so bleiben); Miller (Was frag ich viel nach Geld und
Gut); Hölty (Wer wollte sich mit Grillen plagen).
Hoffmann v. Fallersleben hat unter dem Titel: „Gesellschaftslieder des
16. und 17. Jahrhunderts“ eine Sammlung solcher Lieder herausgegeben &c.
Desgleichen im G. J. Göschenschen Verlag F. W. Freih. v. Ditfurth 100
Volks- und Gesellschaftslieder des 16., 17. und 18. Jahrhunderts mit und
ohne Singweisen, sowie 100 unedierte Lieder des 16. und 17. Jahrhunderts
mit ihren zweistimmigen Singweisen.
Beispiel des geselligen Liedes.
Trinklied von Hoffmann v. Fallersleben.
Drum trinken wir, von Fr. Storck.
Das Anakreontische Lied besingt meist Liebe, Wein und Lebensgenuß.
Es hat anmutigen, leichten, lyrischen, sangbaren Charakter
und liebt Maßhalten im feineren Takte. Es ist einfach, leicht, naiv.
Seinen Namen hat es von dem griechischen Dichter Anakreon (geb.
550 v. Chr), dessen 67 uns erhaltenen Liedern es nachgebildet ist.
Seit Gleim leichte Gedichte als „Lieder nach dem Anakreon“ (1766)
erscheinen ließ, sind eine Menge sog. anakreontischer Gesellschaftslieder erschienen.
Viele Anakreontika sind läppisch, matt und haben oft kaum den Stoff gemein
mit denen Anakreons, der es verstand, in frischen Farben leicht tändelnd seine
dichterischen Gedanken in anmutige Form zu kleiden. Die ursprüngliche Anakreontische
Versart bestand aus 2 steigenden Jonikern. Bei uns ist folgende,
der ersten Hälfte des neuen Nibelungenverses entsprechende Form am häufigsten:
⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑, wobei die 2. Verszeile (zuweilen auch die 1.) verkürzt sein kann.
Wilh. Buchholz bedient sich in seinem „Anakreontischen Liedchen“ (vgl. deutsche
Lyriker von Kneschke und Moltke. Leipzig, Theile 1873. S. 86) des viertaktigen
Trochäus.
Beispiel des anakreontischen Liedes:
Lied von Gleim.
(Vgl. noch Gleims Anakreontika Der Vorsatz, und Die schöne Gegend,
welch letzteres Lied mehrere Zeilen des obigen Liedes wiederholt, indem es beginnt:
u. s. w.)
Man versteht unter Skolien kurze Trinklieder, improvisierte Gedichte
bei Gastmählern und dergleichen.
Bei den Griechen waren Skolien lediglich Tischlieder oder Rundgesänge.
Bloß einzelne Tischgenossen sangen sie, wie sie ihnen Laune oder Talent eingaben. [119]
Man nannte sie auch Schlangenlieder, oder auch Zickzacklieder. Der
Skoliensänger mußte einen Lorbeer- oder Myrtenzweig in die Hand nehmen,
der sodann dem folgenden Sänger überreicht wurde. Sie folgten den ersten,
dem Lobe der Götter geweihten Gesängen und waren meist scherzhaft, satirisch,
launig. Jhr Gegenstand war Liebe und Wein. Zuerst wurden sie von Terpander
aus Antissa (650 v. Chr.) gesungen.
Es giebt Skolien, deren Versmaß ein besonderes und strenges ist. Meist
waren sie nur einstrophig, wie ja überhaupt die älteste Lyrik in Griechenland
oft mit einer Strophe sich begnügte.
Als Skoliendichter bei den Griechen sind zu nennen: Alkäos, Pindar,
Simonides. Die Skolien des Pindar waren länger als die übrigen und der
Chor tanzte zu ihnen einen Reigen.
Beispiel des deutschen Skolion:
(Rückert.)
(Trinkspruch.)
Man vgl. noch die vielen meist einstrophigen Rundgesänge und Trinksprüche
unserer Kommersbücher; ferner Matthissons Skolie (Gedichte S. 75) &c.
Man versteht unter elegischem Lied das Lied, welches sanfte, leidenschaftslose
Empfindungen erklingen läßt, z. B. ruhige Klagen über entschwundenes
Glück, zarte Wehmut, süße Sehnsucht. Sein Charakter
ist somit Ruhe und sanftes Gefühl.
Elegisch sind alle Lieder, welche der Sehnsucht und der Bangigkeit, dem
Trennungsschmerz und der Trauer klagenden Ausdruck verleihen, welche das Verwelken,
das Vergehen alles Schönen, Erhabenen, Edlen betrauern, welche zu
trösten versuchen, deren Grundton (man vgl. viele Liebeslieder, Heldenlieder,
Vaterlandslieder, Freiheitsgesänge &c.) Trauer um ein verlorenes oder wenigstens
um ein bedrohtes Jdeales ist.
Von der im heroischen Aufschwung einherschreitenden Elegie (§ 75) unterscheidet
sich das sanfte, gemütsinnige, elegische Lied dadurch, daß es der unmittelbare
Erguß voller subjektiver Empfindung, also reiner Lyrik ist, während [120]
die sinnig verweilende Elegie reflektierende Überlegung und Betrachtung zuläßt
und somit an der Grenze zwischen Lyrik und Didaktik steht. Der große überflutende
Schmerz kann sich in der Elegie, und auch in der Ode ergießen, nimmermehr
aber im zarten, in Wehmut und einer harmonischen Herzensstimmung
gipfelnden, ruhig dahinfließenden, den Schmerz in stiller Klage erklingen lassenden
elegischen Lied. Die Wehmut an sich gehört nicht unbedingt zum Wesen des
elegischen Lieds, obwohl dieses eine wehmütige Art der Auffassung sehr begünstigt
Beispiele des elegischen Liedes.
a. Die Schiffersfrau von Herm. Lingg.
b. Das Bächlein, von Rückert.
[121]
(Vgl. die elegischen Herbstlieder Rückerts Ges.=Ausg. II 576.)
Nach Jahren, von Alex. Kaufmann.
Weitere Beispiele des elegischen Liedes sind:
Uhland: Die Kapelle. Der Wirtin Töchterlein.
H. Heine: Das gelbe Laub. Ferner: „Jch hab' im Traum geweinet“ u. a.
Melchior Meyr: Frühlingstrauer.
Mörike: Verborgenheit.
J. Mosen: Sehnsucht.
Eichendorff: Das zerbrochene Ringlein.
Goethe: Rastlose Liebe.
Feuchtersleben: Es ist bestimmt in Gottes Rat.
Jul. Sturm: Jm Frühling.
Hoffmann v. Fallersleben: Die Leidtragenden.
Lenau: Blick in den Strom.
v. Leitner: Der Auswanderer.
Rückert: Bleibet im Lande. Das ruft so laut.
Bürger: Feldjägerlied.
Amara George: Verlassen und allein.
Fr. Storck: Ade, mein Lieb, ade! (Aus dem tief empfundenen Cyklus: Scheiden
und Meiden! Vgl. noch dessen Daheimlieder und Auf dem Friedhof in
„Lyrik“ 1876. S. 23 ff.)
Herwegh: Reiterlied.
Karl Siebel: Deine Sterne. Begrabe deine Toten.
Faust Pachler: Vor der Reise. Angekommen. (Jm lyrischen Cyklus: Rohitscher
Brunnenkur.)
(Es ist instruktiv, aus den früher gegebenen Beispielen die elegischen Gedichte
auszuwählen.)
Das idyllische Lied ist der Gegensatz des elegischen. Sein Charakter
ist heitere, frohe, hoffnungsreiche Stimmung.
Schiller sagt: „Setzt der Dichter die Natur der Kunst und das Jdeal der
Wirklichkeit so entgegen, daß die Darstellung des ersten überwiegt und das
Wohlgefallen an demselben herrschende Empfindung wird, so nenne ich ihn
elegisch.“ Er fügt dann hinzu: „Entweder ist die Natur und das Jdeal ein
Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt
wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich
vorgestellt werden.“ Somit unterscheidet Schiller je nach dem Unterschied
in der Empfindungsweise zwischen elegischem und idyllischem Liede. Jn der
That ist das idyllische Lied der Gegensatz des elegischen, insofern das subjektive
Empfinden die Freude an der Natur mit so schönen Farben malt, daß das
Gefühl eines Gegensatzes zwischen Natur und Jdeal in uns gar nicht Platz
greifen kann. Das idyllische Lied gestattet keinen Blick auf den Unbestand des
Seienden, sondern lediglich den Blick auf jene freudigen Gefilde, welche der
schönen Zukunft entblühen. Jhm ist z. B. der Winter die Voraussetzung des
Frühlings, der Tod bringt ihm das Wiedersehen, der Schmerz die Freude.
Beispiele des idyllischen Liedes.
Frühlingsahnung, von Uhland.
Morgenlied, von P. A. Wolf.
Er ist's! von E. Mörike.
Weitere Beispiele idyllischer Lieder.
S. Dach: Der Mensch hat nichts so eigen.
H. Heine: Leise zieht durch mein Gemüt.
W. Müller: Frühlingseinzug. Das Wandern ist des Müllers Lust. Jch hört'
ein Bächlein rauschen. Halt! Kinderlust.
Geibel: Der Mai ist gekommen. Die Liebe saß als Nachtigall.
Goethe: Bundeslied. Tischlied. Vanitas &c.
Claudius: Weihelied. (Stimmt an mit hellem, hohem Klang.)
Hoffmann v. Fallersleben: Winters Flucht.
Eichendorff: Frühlingsgruß.
Schenkendorf: Unsere Muttersprache.
Uhland: Frühlingsruhe. Die Lerchen.
Arndt: Scherz.
Reinick: Heraus.
Tieck: Vogelgesang.
Aug. Stöber: Die Mutter.
Fontane: Guter Rat.
Pfarrius: Wie es den Sorgen erging.
Fr. Kugler: Wanderlied.
Faust Pachler: Kurmusik (a. a. O. S. 25, vgl. § 67) u. s. w.
(Die Bemerkung am Schluß des § 67 gilt auch für das idyllische Lied.)
Erblüht das Lied aus einer andächtigen Stimmung, oder stammt
sein Jnhalt aus der Religion, so kann man es ein andächtiges oder
geistliches Lied nennen. Seine zwei Formen sind: 1. das religiöse
Lied, 2. das Kirchenlied.
Das religiöse Lied besingt in würdevollem Tone einen religiösen
Gegenstand, oder beschäftigt sich mit den Gefühlen der Andacht, der
Reue, der Liebe zu Gott und dem Nächsten, ─ das Verhältnis zu
Gott in rein menschlicher Weise auffassend.
Erhebung des gläubigen Gemüts, zuversichtliches Hoffen und gläubiges
Vertrauen auf Gott ist der Jnhalt des religiösen Lieds. Es äußert sein religiöses,
gottergebenes Gefühl im Hause wie in der Natur. Es will sagen, was
des Menschen Brust bewegt, wenn er des allliebenden Vaters gedenkt, der ihn
mit täglichen Wohlthaten überhäuft. Aus jeder Verszeile ersieht man das Abhängigkeitsgefühl
des Dichters von einem allliebenden Wesen und den Glauben
an eine Vorsehung.
Beispiele des religiösen Liedes.
Leben wir, von Rückert.
(Sein letztes 1861 gedichtetes religiöses Lied.)
Die Nähe des Herrn, von Novalis.
(Vgl. Wenn ich nur ihn habe, von Novalis.)
Gott grüße dich, von Julius Sturm.
Weitere Beispiele des religiösen Liedes.
J. A. Cramer: Der menschliche Geist.
R. Reinick: Weihnachtsfest. (Der Winter ist gekommen.)
[125]W. Wackernagel: Der Christbaum.
K. Mayer: Glockenlaute.
Arndt: Himmelfahrt.
Grüneisen: Hinauf.
Fr. v. Schlegel: Der Ewige.
Herder: Das Saitenspiel.
Eichendorff: Wer hat dich, du schöner Wald.
G. Jakobi: Gott in der Natur.
Geibel: Morgenwanderung. Gute Nacht.
Wilh. Müller: Das Frühlingsmahl.
Ad. Stöber: Wachtelschlag.
A. Knapp: Der Morgenstern.
Spitta: Kehre wieder, kehre wieder.
K. Gerok: Kindergottesdienst.
Fr. Eggers: Trost, u. a.
1. Zum Kirchenlied wird das geistliche Lied, wenn es in Sprache
und Gedanken bestimmte Beziehungen auf die kirchlichen Dogmen und
den Kultus der bestimmten Konfession nimmt, wenn es, von epischen
Motiven ausgehend, von Jesu Leben und Leiden erzählt &c.
Das Kirchenlied unterscheidet sich vom geistlichen Lied, wie sich
das Volkslied vom Lied der Kunstpoesie unterscheidet. Es kann sich
Niemand hinsetzen, ein Volkslied oder Kirchenlied zu dichten; er muß
warten, ob sein Lied je zum Volks- oder Kirchenliede wird. Kirchenlied
== geistliches Volkslied, auch da, wo es einen bekannten Verfasser
hat. Weil es Anklang fand, ist es in die Volksgesangbücher gekommen,
und es fand Anklang, weil es das christliche Gesamtbewußtsein, das
christliche Gesamtbekenntnis aussprach.
2. Von großem Einfluß auf die Entwickelung des Kirchenlieds
war die hebräische Lyrik.
3. Luther wurde der Begründer des evangelischen Kirchenlieds.
4. Eine Epoche in der Geschichte des Kirchenlieds bildet Paul
Gerhardt. Die wertvollste Sammlung von Kirchenliedern hat Ph.
Wackernagel herausgegeben.
1. Das Kirchenlied hatte ursprünglich den Zweck, dem liturgischen Kirchengebrauche
zu dienen. Seine Bezugnahmen auf den kirchlichen Lehrbegriff befähigten
es, das Evangelium zu verbreiten und den neuen Glauben zu beleben.
Oft knüpfte der Dichter des Kirchenlieds an die Erzählung vom Leben
Jesu die Entwickelung jener inneren Zustände, welche die Betrachtung derselben
weckt. Jnsofern ist das Kirchenlied episch=lyrisch. Geht der Dichter weiter und
durchdringt er seine epische Grundlage mit einem subjektiven, persönlichen Motiv,
mit einem Seelenvorgang, der nur ihm gehört, dann ist sein Lied subjektives
geistliches Lied, nicht aber Kirchenlied der Gemeinde. Dies ist der Grund,
weshalb die katholische Kirche, bei welcher zur christlichen Geschichte ─ so zu [126]
sagen ─ noch ein Stück christlicher Mythologie in der Legende hinzu kommt,
mehr episch=lyrische Kirchenlieder, und die protestantische mit ihrer Verinnerlichung
des Gefühls mehr echt lyrische geistliche Lieder hat. Da, wo in der protestantischen
Kirche durch das geistliche Lied dogmatische und moralische Tendenzen verfolgt
werden, wird das geistliche Lied meist lyrisch=didaktisch. Dies findet man besonders
bei den geistlichen Liedern des 17. u. 18. Jahrhunderts, wo dogmatische und
moralische Bestrebungen die Signatur der ecclesia militans bildeten.
Nur wenige Dichter, wie z. B. Paul Gerhardt, Benjamin Schmolcke,
Gellert, Spee, oder bei den Herrnhutern Baptista von Albertini († 1831),
Garve († 1841) &c. blieben rein lyrisch und haben sich daher für alle Zeiten
den Namen geistlicher Lyriker gesichert.
2. Was die geschichtliche Seite des Kirchenliedes anlangt, so wurzelt dasselbe
in den lateinischen Gesängen der christlichen Kirche und der altchristlichen Hymnen.
Als Erbteil aus dem Schoße der Religion des alten Bundes hat die
junge christliche Kirche die Sitte des Psalmengesangs erhalten. Wie Jesus bei
der Stiftung des Abendmahls die bei der Passafeier gebräuchlichen Psalmen,
das große Halleluja, anstimmte, so folgten auch die Christen seinem Beispiel.
Der Gesang von Psalmen wurde fester Bestandteil ihres Gottesdienstes. Der
neue Jnhalt des gläubigen Gemüts suchte jedoch ein neues Lied und fand einen
begeisterten neuen Ausdruck in der Dichtung neuer Hymnen, die sich schon früh
neben dem alttestamentlichen Hymnus einbürgerten. Die altchristliche Hymnik
nahm von dem Geiste des klassischen Altertums neue Formen, Ausdrücke
und Bilder an. Die christliche Hymnendichtung wurde zum Kunstgesang, der
in vollendeter Form die Heilsthat Christi pries. Diesen Charakter behielt sie
bis zur Reformation. Weder Gregor der Große, der mit Vorliebe die klassischen
Versmaße gebrauchte, noch der Mönch Notker von St. Gallen, der die Sequenzen
einführte, hat der christlichen Hymnendichtung neue Bahnen gezeichnet.
Auch die Leiche (vgl. Bd. I. S. 620 ff.), welche als Grundlage des deutschen
Kirchenlieds zu betrachten sind und dem Volke Ersatz für die altheidnischen
Volkslieder bieten sollten, hatten nur die nüchternen, christlichen Wahrheiten zum
Gegenstande und blieben, unbeeinflußt von dem Geiste der hebräischen Lyrik,
meist matt und ohne Schwung. Die deutsche Gemütsinnigkeit sehnte sich nach
einem geistlichen Volkslied in der Muttersprache, und diese Sehnsucht war auf's
höchste gestiegen, als man sah, wie das Volk in Böhmen Lieder in seiner
Muttersprache sang. (Auch Ephraim Syrus hatte nach dem Vorgang des
Gnostikers Bardesanos syrische Kirchenlieder verfaßt, wie ja auch die griechische
und die armenische Kirche solche in eigener Sprache hatten.)
3. Da kam Luther, die wittenbergische Nachtigall, und setzte an Stelle
des lateinischen Hymnus das deutsche Kirchenlied, an dem sich die Gemeinde
beteiligen durfte. Er wurde der Begründer des Kirchenlieds (wenn auch nicht
der Begründer des Kirchenlieds in der Vulgärsprache, denn schon im 9. und
13. Jahrhundert finden sich Spuren deutscher Kirchenlieder. H. Hofmann teilt
in seiner Geschichte des deutschen Kirchenlieds, Breslau 1832, mit, daß man
1323 in Bayern lateinisch sang. Jm 14. Jahrhundert erst begann man die [127]
lateinischen Kirchengesänge in's Deutsche zu übersetzen. Einer der ersten Übersetzer
war der Benediktinermönch Hermann in Salzburg. Früher war das Singen
kirchlicher Lieder, wie das Bibellesen, von der Kirche verboten). Erst durch Luther
wurde das deutsche volkstümliche Kirchenlied auf die höchste Stufe seiner Vollendung
gebracht. So etwas Tiefreligiöses, Herrliches kann kein Volk aufweisen,
als die deutschen kirchlichen Lieder der Reformation. Sie boten gemeinsam
Erlebtes, Volksmäßiges in volksmäßigen Formen, oft in bekannten Volksliedermelodieen.
„Der Handwerksgesell sang sie bei seiner Arbeit, die Dienstmagd
beim Schüsselwaschen, der Ackersmann auf dem Acker und die Mutter sang sie
dem weinenden Kinde vor.“ (Kath. Zellin in der Vorrede zu einem Gesangbuche.)
Das war der Grund weshalb die Gegner Luthers dieses kirchliche
Volkslied so sehr anfeindeten. Von Luthers 38 kräftigen Kirchenliedern wurden
besonders die folgenden zu religiösen Volksliedern:
Ein großer Teil der Lieder Luthers geht auf eine Umarbeitung der lateinischen
Hymnen und geistlichen Volkslieder zurück. Aber Luther begnügte sich nicht mit
Nachbildungen. Er hat auch einzelne Psalmen für den gottesdienstlichen Gesang
umgedichtet. „Ein' feste Burg ist unser Gott“, ist als freie Schöpfung aus dem
46. Psalm hervorgegangen. Nicht verwendet hat er hierbei die kraftvollen Bilder
und poetischen Vergleichungen der Psalmen: diese mußten erst durch die Bibelübersetzung
dem Volke näher gebracht werden, bevor man sie für das Kirchenlied
benützen konnte. Beim geistlichen Lied, welches nicht für den Kirchengesang
bestimmt war, bediente sich Luther der Bilder und der Ausdrucksweisen der alttestamentlichen
Lyrik. Er hat das Verdienst, die Forderung aufgestellt zu haben,
daß das Kirchenlied subjektiv=lyrisch sein müsse und daß es sich an die alttestamentliche
Lyrik anzuschließen habe. Bei ihm findet sich nichts Gezwungenes,
nichts Eingebildetes oder Verdorbenes. Durch seine Bibelübersetzung hat er
die Förderung schriftgemäßer Poesie ermöglicht: das deutsche Kirchenlied erhielt
fortan das Element seiner geistigen und sprachlichen Ausbildung von seiner
Bibelübersetzung.
Angesichts dieser Bedeutung Luthers für das evangelische Kirchenlied ist
die Frage aufzuwerfen, wie die einzelnen Dichter den Forderungen Luthers
entsprochen haben. Der hohe Aufschwung, den das Kirchenlied durch Luther
genommen, war von kurzer Dauer. Jn den religiösen Streitigkeiten der Folgezeit
verlieren die Kirchenlieder ihren geistigen Schwung. Die folgende Periode
von Ringwaldt bis Heermann war Übergangszeit. Die Lieder sind teils noch
befangen in der trockenen, dogmatischen Weise der vorigen Periode, teils zeigen
sich die Anfänge subjektiver Poesie. Die Zeit des dreißigjährigen Krieges ist
eine Blütezeit des evangelischen Kirchenliedes. Es ist die Poesie der geängsteten [128]
und betrübten Seelen, die sich auf's engste anschließt an die Psalmen, denen
sie an subjektiver Gefühlswahrheit an die Seite gestellt werden kann. Äußerlich
wurde durch Martin Opitz eine Umwandlung insofern hervorgerufen, als derselbe
an Stelle der Silbenzählung Silbenmessung treten ließ. Bedeutsam
ist, daß auch er die Psalmen seiner Lyrik zu Grunde legte. Jhm folgten Paul
Flemming, Simon Dach und andere, die jedoch mehr den kernhaften Jnhalt,
als die Bilder der alttestamentlichen Lyrik zum Ausdrucke brachten. Dieser
Blütezeit reihte sich eine Zeit des Verfalls an: die Kraft der Nation war
durch den ungünstigen westfälischen Frieden erschüttert. Es lag die Gefahr nahe,
daß das Kirchenlied seine seitherige Glaubensinnigkeit und Frische einbüßen und
die innere Kraft mit einer äußerlichen Form vertauschen würde.
4. Da trat ein Mann auf, der dem Kirchenlied die geschwundene Frische
wieder zurückgab: Paul Gerhardt. Mit ihm beginnt eine neue Blüte des
Kirchenliedes. Seine sinnlich lebendige Darstellungsweise, seine würdige Sprache
verdankte er seinem Studium der alttestamentlichen Poesie. Die andere Seite
der Bedeutung Paul Gerhardts liegt darin, daß er der Urheber jener Richtung
wurde, welche im Kirchenlied neben dem Gemeindebewußtsein auch das persönliche
Gefühlsleben geltend machte. Die individuelle Lebendigkeit entfaltete sich
immer mehr, besonders durch Gellert, dessen bewußtes Zurückgehen auf die
hebräische Lyrik das Kirchenlied abermals in eine neue Periode lenkte. Er
stellte die Forderung Luthers auf, daß in den geistlichen Liedern die Sprache
der Schrift herrschen müsse. Klopstock nahm die Mittel seiner schwungvollen
rhetorischen Ausdrucksweise nicht aus der Schrift. Mit der Zeit der Aufklärung
beginnt eine trübe Zeit für das evangelische Kirchenlied: durch eine vermeintliche
Verbesserung und Umdichtung der alten Kirchenlieder werden dieselben
stark entstellt. Erst Ernst Moritz Arndt trat für die Befreiung des Kirchenliedes
von diesen unnatürlichen Fesseln ein. Als er ein neues geistliches Lied
sang und die romantische Schule wiederum das Element kindlicher Frömmigkeit
hineintrug in das verwässerte, mattgewordene Kirchenlied, da griff man
wieder zurück auf die Sprache der alttestamentlichen Lyrik.
Wir dürfen behaupten, daß das Kirchenlied überall da, wo es sich an
die ewig schöne Lyrik des alten Testamentes anschloß, an Kraft der Sprache,
an poetischem Schwung und gläubiger Jnnigkeit gewann, und daß es alsdann,
frisch und warm gesungen, auch um so tiefer zum Herzen des Volkes dringen
konnte.
Durch Luther erhielten seine Anhänger (1524) das erste Gesangbuch.
Erst spät wurde es verdrängt: 1696 durch ein holsteinisches, 1703 durch ein
hallesches, 1711 durch ein berliner, 1735 durch ein nordhäusisches. Zollikofer
verbesserte das Gesangbuch (1766); ihm folgten die Gemeinden in Bremen
und Lüneburg (1767), in der Pfalz (1773), Braunschweig (1776), Kopenhagen
(1782) u. s. w.
Wir können die Kirchenlieder einteilen in Bußlieder, Danklieder, Trostlieder,
Gebetlieder, Loblieder, Glaubens- oder Bekenntnislieder &c. Eine ähnliche Einteilung
zeigen alle evangelischen kirchlichen Gesangbücher, auf die wir hiermit verweisen.
Beispiele des Kirchenlieds.
a. Bußlied.
1.
2.
3.
4.
5.
(Nr. 290 des Württ. Gesangbuchs.)
b. Danklied.
, von Rinckart.(Württ. Ges.=Buch Nr. 2.)
c. Trostlieder.
, von Rodigast. (Ebenda Nr. 461.)
, von P. Gerhardt.
(Ebenda Nr. 462.)
d. Gebetlied.
, von Steegmann, † 1632. (Ebenda Nr. 7.)
[130]e. Loblied.
, von Luther.(Ebenda Nr. 1.)
f. Glaubenslied.
, von Arndt.(Ebenda Nr. 324.)
Litteratur des geistlichen Liedes.
Dichter bekannter geistlicher Lieder sind außer
Luther: Ringwaldt; Hans Sachs; Lazarus Spengler von Nürnberg (Wer
hofft auf Gott); Johann Graumann gen. Poliander († 1541: Nun lob, mein
Seel, den Herren); Johannes Heermann († 1647, der 400 Lieder schrieb,
darunter „O Gott, du frommer Gott“); Hasse von Hassenstein (O Welt, ich
muß dich lassen); Justus Jonas von Eisfeld (Wo Gott der Herr nicht bei
uns hält); Wolfgang Musculus von Bern (verfaßte 560 geistliche Lieder);
Johann Matthesius aus Rochlitz (Aus meines Herzens Grunde); Michael Weiß
(† 1540); Paul Eber von Wittenberg (Wenn wir in höchsten Nöten sein);
Nic. Decius von Stettin (Allein Gott in der Höh' sei Ehr); Ludw. Helmbold
von Mühlhausen (Von Gott will ich nicht lassen); Nic. Selnecker († 1592:
Laß mich dein sein und bleiben); S. Dach (O wie selig); Kaspar Bienemann
von Nürnberg (Jch weiß, daß mein Erlöser lebt); von Birken (Lasset uns mit
Jesu ziehen); Flemming († 1640); Nic. Hermann von Joachimsthal (Lobt
Gott, ihr Christen allzugleich); Mart. Schalling († 1608 zu Nürnberg: Herzlich
lieb); Phil. Nicolai († 1608 zu Hamburg: Wie schön leucht't uns der Morgenstern.
Wachet auf, ruft uns die Stimme) u. s. w. Auch fürstliche Personen
pflegten im 16. Jahrhundert das Kirchenlied, z. B. Johann Friedrich von
Sachsen (Wie's Gott gefällt); Wilhelm II., Herzog von S.=Weimar (Herr Jesu
Christ, dich zu uns wend); Albrecht von Brandenburg-Kulmbach (Was mein
Gott will); Karls V. Schwester, Marie von Ungarn (Mag ich Unglück); Luise
Henriette, Churfürstin von Brandenburg († 1667: Jesus meine Zuversicht);
Emilie Juliane, Gräfin von Schwarzburg-Rudolstadt († 1706: Wer weiß, wie
nahe mir mein Ende) u. s. w.
Außerdem nennen wir den Jesuiten Spee von Lengenfeld († 1635, gab
heraus: „Trutznachtigall“, eine Sammlung religiöser Lieder, „die trotz einer
Nachtigall“ so schön klangen, „daß sie sich auch wol bei sehr guten lateinischen
und anderen Poeten dörfft hören lassen,“ und deren Gegenstand der Seelenbräutigam
Jesus ist). Paul Gerhardt, (einer der bedeutendsten Kirchenliederdichter,
† 1676, dichtete 120 Kirchenlieder, z. B. Befiehl du deine Wege. O Haupt
voll Blut und Wunden. Nun ruhen alle Wälder. Wach' auf, mein Herz und
singe); Burmeister († 1688: Es ist genug); Georg Neumark († 1681: Wer
nur den lieben Gott läßt walten); v. Bogatzky (schrieb über 400 geistliche Lieder);
Joh. Scheffler (Angelus Silesius, wie Spee ein katholischer Dichter, † 1677,
z. B. Mir nach, spricht Christus unser Held; ferner „Cherubinischer Wandersmann“
== geistliche Epigramme und Gnomen &c.); Tersteegen († 1769); Martin
Rinckart aus Eulenburg (Nun danket alle Gott); Albinus († 1679 zu Naumburg: [131]
Alle Menschen müssen sterben); Samuel Rodigast († 1703: Was Gott
thut, das ist wohlgethan); Joh. Frank aus Guben (Jesus, meine Freude);
Gellert (Auf Gott, und nicht auf meinen Rat. Wie groß ist des Allmächt'gen
Güte. Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht. Gott, deine Güte reicht so weit.
Mein erst Gefühl sei Preis und Dank. Nach einer Prüfung kurzer Tage.
Wenn Christus seine Kirche schützt); Chr. Fr. Richter († 1711); Rambach
(† 1735); Benjamin Schmolcke († 1737; schrieb über 1000 geistliche Lieder
in den Sammlungen: Geistlicher Pestweihrauch, Freudenöl in Traurigkeit &c.);
Neumeister († 1756; schrieb über 700 geistliche Lieder); Lavater (Gott der
Tage &c.); Hippel († 1796: Dir hab' ich mich ergeben); Arndt; von Schenkendorf;
Gleim (Vater Unser); Uz (Der Erlöser); Cramer; Freylinghausen († 1730:
Wer ist wohl wie du); Hiller († 1769); Olearius († 1711); Klopstock (Auferstehn,
ja auferstehn wirst du. Selig sind des Himmels Erben); v. Zinzendorf
(† 1760: Jesu, geh voran &c.); Joh. Adolph Schlegel († 1793); Jacobi, Herder,
Hölty, Fr. L. Stolberg, Diterich († 1797, dichtete viele Kirchenlieder); Voß,
v. Moser († 1798: Es ist noch eine Ruh vorhanden); Novalis (Wenn ich
ihn nur habe. Wenn alle untreu werden); Mahlmann, Woltersdorf († 1761);
Christ. Sturm († 1786); Münter; Krummacher; Clemens Brentano; Eschenburg
(† 1820, dichtete viele Kirchenlieder); Funk († 1814); Schubart († 1791);
Schöner († 1818); Albert Knapp (einer der bedeutendsten Neubegründer des
gegen die Aufklärung protestierenden Kirchenliedes); Meister († 1814: Laß mir
die Feier deiner Leiden); Eichendorff, G. Görres, V. v. Strauß (Lieder aus
der Gemeinde für das christliche Kirchenjahr); Philipp Spitta (Psalter und
Harfe); Oskar von Redwitz, Geibel, Jul. Sturm (Nimm Christum); K. Gerok
(Sammlungen: Palmblätter, Pfingstrosen &c.); Agnes Franz, K. A. Döring,
J. Fr. v. Meyer, J. P. Lange, Heinr. Möwes, W. Hey, G. Jahn, Franz
Engstfeld, Albert Zeller, v. Albertini († 1831); Niemeyer († 1828); Garve
(† 1841: Preis dir, du aller Himmel); Ludw. Knack (Simon Johanna, hast
du mich lieb? eine Liedersammlung); Sachse; Hugo Hagenbach; Rochlitz († 1842);
Adolf Schults († 1858); Karl Rubel († 1868); Droste Hülshoff (katholische
Gedichte auf alle Sonn- und Festtage); Louise Hensel (katholische tiefinnige
Lieder, z. B. Müde bin ich, geh' zur Ruh'); Rückert (Saat von Gott gesäet,
zu reifen. Jn unsern Tagen ist zu erwähnen der Elsäßer Friedr. Weyermüller,
der treffliche geistliche Lieder im kirchlichen Volkston schrieb, sowie Ernst
Lehmann-Schkölen; Fr. Storck (Vertraue!); Angelika von Michalowska (Sammlung:
„Nach Gottes Rat“ 1861) &c. Die reichhaltigste Sammlung geistlicher
Lieder ist: Das deutsche Kirchenlied &c. von Ph. Wackernagel.
Lpz. 1864. 1. Bd. vom 4. bis 16. Jahrhundert (enthält Hymnen und
Sequenzen); 2. Bd. von Otfried bis zur Reformation (enth. Lieder und Leiche);
3. Bd. bis Luthers Tod; 4. Bd. von 1554─84 (von Eber bis Ringwaldt);
5. Bd. bis Anfang des 17. Jahrh. Dieser letzte Band enthält auch die
Lieder der Wiedertäufer und die der römisch=katholischen Kirche. ─ Erwähnenswert
ist vor vielen Sammlungen noch A. Knapps Evang. Liederschatz (3. Aufl.
1865).
II. Lyrik der Begeisterung.
§ 70. Die verschiedenen Formen der Begeisterungslyrik
und das Gemeinsame derselben.
Die Lyrik der Begeisterung hat folgende Formen:
a. Ode,
b. Lyrische Rhapsodie,
c. Hymnus,
d. Dithyrambus,
e. Elegie.
Da sämtliche hierhergehörige Formen durch die Römer und
Griechen zu uns gelangten, so unterscheiden sie sich nach Stoff, Sprache
und Schwung des Ausdrucks von unserem sangbaren Liede. Dieses
repräsentiert die Lyrik für jeden Stand und jeden Bildungsgrad. Die
obigen Formen dagegen wenden sich an die höchst gebildeten Kreise.
Sie sind die Lyrik der Gebildeten. Man kann sagen: Das Lied in
seinem höchsten Schwung wird zur Ode und zum Dithyrambus, das
geistliche zur Hymne oder zur lyrischen Rhapsodie, das elegische Lied
zur Elegie.
Die Abstammung der obigen Formen bedingt einen auf das Erhabene,
Majestätische, Feierliche, Große gerichteten, durch Phantasie und gedankliche
Thätigkeit geschaffenen ernsten Gegenstand, der durch die Subjektivität des Dichters
lyrische Umhüllung annimmt. Man erhält den Eindruck, als sei das Vorbild
der Griechen die Veranlassung zu einer den Dichter erfassenden Berauschung
und Begeisterung, zu einer Herbeiziehung der gewagtesten Bilder und des höchsten
Schwungs der Darstellung.
Das Lied geht mit seinem leichten, auf den Wellen des Gefühls geschaukelten
Stoff den direkten Weg vom Herzen zum Herzen: die Lyrik des
Aufschwungs wählt den Weg durch den Kopf zum Herzen.
Die Folge ist ein gegensätzliches Verhalten zum Lied. Während das Lied
einfache Darstellungsform, leichte fließende Sprache und allgemein verständliche
Bilder und Ausdrucksformen wählt, gefällt sich die Lyrik des Aufschwungs in den
kühnsten, nicht so leicht verständlichen Metaphern, in den verschlungensten Jnversionen
und im wohlberechneten künstlerisch gewundenen Bau der Rede. Note: Werkgr.: Lyrik des Aufschwungs Nicht
selten verschmäht die Lyrik des Aufschwungs unsere deutschen Kunstmittel, deutschen
Rhythmus und Reim, wohl aber entlehnt sie ihrer Abstammung gemäß häufig
die antiken Metren und den antiken Rhythmus.
Sanfte Gefühle, anmutende, allgemein verständliche Ausdrucksweise, weniger
feierliche Stoffe, Harmlosigkeit, naive Munterkeit sind der Charakter des Liedes;
die Formen des Aufschwungs verlangen die edelste, erhabenste Sprache: die
Göttersprache. Nicht allmählich ─ wie im Lied ─ erhebt sich hier das Gefühl,
sondern plötzlich, voll ungestümen Feuers. Man vgl. zum Beleg des Unterschieds [133]
zwischen dem Lied und den Formen der Begeisterung die erste Strophe
eines Frühlingslieds von Uz mit dem Anfang einer Hymne von Klopstock:
Gott im Frühlinge, von Uz.
u. s. w.
Die Frühlingsfeier, von Klopstock.
u. s. w.
Einfach und sinnig ist die anmutige Art, wie Uz im obigen Lied den
Frühling personifiziert. Der Dichter hält sich ─ etwa die letzte Zeile ausgenommen
─ frei von Überschwenglichkeit des Gefühls.
Dagegen ist Klopstock in seinem obigen Hymnus trunken von den Gefühlen
des Dankes und der schwärmerischen Bewunderung gegen den Schöpfer, der alle
Schönheiten hervorgerufen. Seiner Ekstase entspricht der Jdeengang und der
Rhythmus des ganzen Hymnus bei einfacher Sprache.
Hier ist nichts von Gleichheit in der Versart zu bemerken, nichts von einem
feststehenden Ton- oder Silbenmaß. Es herrscht je nach dem Verhältnis der
Naturscenen die bunteste Abwechslung. Auch das Kunstmittel des Reims wird
als überflüssige Zier und als Hemmnis weggelassen.
Der Dichter wollte ein Loblied singen; aber im Anschauen der Weisheit
und Größe Gottes sehen wir ihn von der Fülle und Menge seiner Gefühle überwältigt;
es wird ein Hymnus anstatt eines Liedes. Wie er sich im kühnen
Bild vom Ocean der Welten zum Tropfen am Eimer, zur Erde, herunterläßt
(denn wie der Tropfen zum Ocean, so verhält sich die Erde zum Weltall), so
erwähnt er im weiteren Verlauf vom Kleinen nur wieder das Kleinste, und
einige Frühlingswürmchen und sanft wehende Lüftchen reichen hin, seine Seele
in die Glut heißester Andacht zu tauchen. Wenn dann die Lüfte in Winde
sich wandeln und dunkle Wolken am Himmel daherrauschen und der brausende
Sturm den Wald neigen macht, da wird seine religiöse Begeisterung zur Vision.
Betend wirft er sich vor dem ihm sichtbar werdenden Gott nieder. Gott erscheint
ihm im fruchtbaren Regen, im Säuseln der Lüste, indem er den Friedensbogen
über die Erde ausbreitet u. s. w.
Ähnliche Vergleichungen, wie das Lied Uzens mit Klopstocks Hymnus [134]
ermöglichen z. B. das Rheinweinlied von Claudius und Klopstocks Ode Der
Rheinwein; ferner Schenkendorfs Lied Die Muttersprache mit Klopstocks Ode:
Unsere Sprache; Goethe's Winter mit Klopstocks Eislauf u. s. w.
§ 71. Die Ode.
1. Ode (ὠδή Gesang von ἀείδω singen) in der allgemeinen
Wortbedeutung bezeichnet eigentlich, ähnlich wie unser Wort Lied, jedes
sangbare Gedicht. Jm engeren, jetzt gebräuchlichen Sinn nennt man
jedoch Ode als Blüte der Lyrik nur das lyrische Gedicht, welches die
höchsten Jdeale in begeisterter Erregung dichterischer Empfindung besingt
und dem in die Sphäre des Jdealen erhobenen Gefühl einen
Ausdruck verleiht.
Jhr Charakter ist a. das Erhabene (z. B. das Naturerhabene
beim Anblick des Sternenhimmels in Schillers Ode: die Größe der
Welt), b. das erregte Gefühl, c. die schwungvolle Sprache und der
Bilderreichtum, d. der kunstvolle Strophenbau (die sogenannten Odenmaße).
2. Jn der Geschichte der Ode bildet Klopstock für uns die erste
Epoche: Sein Studium ist für den Odendichter unerläßlich.
1. Der Jnhalt der Ode ist wie der des weltlichen Liedes Liebe, Vaterland,
Sieg, Ruhm, Freiheit, Freundschaft, Tugend. Schon der Schluß des vorigen
§ 70 beweist, daß Ode und Lied den gleichen Gegenstand besingen können. Nicht
durch den Stoff unterscheidet sich also eigentlich die Ode vom Liede, sondern
durch den höhern Schwung, durch das Pathos (d. i. durch die leidenschaftlichere
Erregung des Gefühls), durch erhobenere Empfindung, durch glanzvolleren, sprachlichen
Ausdruck, durch Kühnheit der Wortbildung (Neologismen), durch künstlicheren
Periodenbau (Anakoluthieen, Jnversionen), durch prächtigere, schwungvollere
Bilder, durch kunstreiche, nach antiker oder moderner Form gebaute Strophen,
endlich durch eine, der größeren Begeisterung entsprechende, rhythmische Form,
welcher die ausgedehnteste Freiheit gestattet ist.
Unsere Ode richtet sich hauptsächlich auf Begebenheiten von nationalem, ja,
allgemein menschlichem Jnteresse; sie reiht ihre Gefühlszustände an eine Persönlichkeit
von unbestrittener, nationaler Achtung und Wertschätzung, um die Stimmung
und Stimme Aller zu vertreten; sie erstrebt das Jdeale und idealisiert,
um die Person oder Begebenheit über die gemeine Wirklichkeit emporzuheben.
Sie redet den von ihr besungenen Gegenstand oft an oder ermuntert und ermutigt
andere zu gleicher Begeisterung für diesen Gegenstand. Doch läßt sie
sich nicht in planloser Schwärmerei sorglos gehen, sondern ergreift die aufgestiegene
Empfindung, d. i. den bestimmten Zustand des Gefühls-Vermögens
und giebt ihm einheitliche, vollendete ästhetische Form.
Die höchste Höhe ist der Ode doch nicht zu hoch, das Erhabenste ist ihr
nicht zu erhaben. Jhr Gegenstand kann sein Gott und Natur; auch Fürsten,
Helden, Denker und Dichter in ihrer Bedeutung für die Menschheit kann sie [135]
besingen. Die Erhabenheit des Jnhalts macht es unmöglich, daß der Dichter
den Jnhalt in sich hineinziehe und in sein eigenes Gefühlsleben umsetze, vielmehr
singt der in seinem Jnnersten tiefbewegte Lyriker aus sich heraus, zu
seinem erhabenen Gegenstande empor. Die Lyrik der Ode ist eben keine kontemplativ
beschauliche ruhige Empfindung, sondern begeisterte Bewunderung. So
umschlingen sich in der Ode Subjektivität und Objektivität. Dies ist freilich
auch in der Hymne der Fall, aber man schränkt füglich den Begriff Ode ein,
indem man unter Ode nur diejenigen Gedichte versteht, welche mit höherer
Begeisterung Menschen und Personifikationen feiern; da wo ihr Gegenstand das
Allerhöchste ─ selbst die Gottheit ─ ist, nennt man die Ode Hymne (§ 73).
Gervinus sagt, was Minckwitz bestreitet: „Die Ode widersetzt sich und widerstrebt
allen logischen verständigen Grenzen und jeder Regel, die eine bestimmte
Ordnung da vorschreiben will, wo der regellose Affekt allein Gesetzgeber sein
soll, der vor jedem Gegenstand anders thätig ist, wo sich eine Empfindung, ein
Gefühl aus sich selbst und nach seinem eigenen Gesetz zu einem oft sehr gesetzlos
erscheinenden Tonstück formen will.“
Und doch muß ─ bei allen Ausschreitungen der Phantasie ─ in der
Ode eine bestimmte Jdee regelvoll hervortreten, welche versöhnt, und die im
Metaphernschmuck prangende Ode zur Blüte der Lyrik erhebt. Note: Werkgruppe: Ode
Bei der Konzeption der Ode übt die Phantasie eine hervorragende Thätigkeit,
sie versetzt ─ nach Wackernagel ─ die Anschauung in's Gebiet des Erhabenen,
wo der Verstand nicht mehr der Phantasie nachmißt und nachrechnet.
Gefährlich ist die willkürliche Jdealisierung irdischer Wirklichkeit; hier wird die
Überwirklichung der gemeinen Wahrheit nur zu leicht eine Übertreibung und eine
Lüge, die Schöpfungen der Phantasie können dem Verstande leicht so unnütz
und ungeschickt vorkommen, daß er sich nicht gefangen giebt, sondern im Widerspruche
verharrt, wo dann an die Stelle der Erhabenheit, auf welche der
Dichter ausging, die bloße Lächerlichkeit (nach Minckwitz' Mittheilung an
den Verfasser auch Humor) tritt, wo also nach dem bekannten Worte
Napoleons vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist. Darum stehen
die hebräischen Psalmisten und steht Klopstock soviel höher als irgend ein andrer
Odendichter, weil das epische Element ihrer Oden Gott und göttliche Dinge
sind (bei Klopstock wenigstens vorzüglich Gott und göttliche Dinge); darum
gerät auf der anderen Seite Ramler so oft in's Lächerliche (Prosaische), weil er
auch da, wo die Wirklichkeit an sich selbst schon groß und erhaben genug wäre
(z. B. wo er Friedrich II. besingt), dennoch mit dem Gegebenen nicht zufrieden
ist, sondern immer noch höher und drüber hinaus möchte. Darum befremdet
Ramlers und vieler Andrer Muster: Horaz durch Humoristik und jene gesuchten
Kühnheiten im Gange der Entwickelung, die zuletzt nur wie ein Schraubenwerk
erscheinen, um den Gegenstand über sich selbst zu erheben.
2. Klopstock gab der deutschen Ode ihren eigentlichen Charakter durch
Erhabenheit der Bilder, schwungvolle feierliche Sprache, eigenartige Strophik u. a.
Nach Klopstocks Vorgang hat man sich zur Ode meist antiker Maße bedient,
die unserem deutschen Ohre oft wenig zusagen. Jndem man die Griechen nachahmte, [136]
verließ man den Reim und hielt sich streng an die klassische Form.
Den Reim überhaupt zu verwerfen, hat man aber kein Bedürfnis, da er eine
berechtigte, liebgewordene Eigentümlichkeit der deutschen Poesie geworden ist.
(Vgl. Bd. I. S. 530.)
Aus der ängstlichen Nachahmung wie auch der schlechten Beherrschung
der antiken Ode entstanden mehrfach erkünstelte Gedichte, bei denen die antike
Form die Hauptsache war, während doch die Ode der von Wort zu Wort dahin
wogende Erguß des erregten und erhaben gesinnten Herzens sein soll.
Die versuchte Einteilung in philosophische und heroische Oden ist unwichtig,
unwesentlich, ja falsch. (Vgl. übrigens § 73.)
Während auf der einen Seite das antike Maß für eine Ode nicht nötig
ist, erweiterte doch die Benutzung desselben das Gebiet der Oden. Es wird
nämlich auch ein Gedicht mit Liedesinhalt (und sanfterer Empfindung) Ode genannt,
sobald es in antikes Versmaß gefaßt ist. Dies wäre die liedartige Ode.
Beispiele der Oden.
Die Grotte der Nacht, von Uz.
(Ein etwas seltsames Bild.)
(Phantasus, ein Sohn des
Schlafs, stellt in Träumen
nur leblose Dinge dar, während
Morpheus, Gott der
Träume, nur menschliche
Gestalten anzunehmen vermochte.)
[137]
(Philomele, die Nachtigall,
wie Prokne, die Schwalbe,
beide verwandelte Töchter
des attischen Königs Pandion.)
Man beachte in dieser herrlichen gereimten Ode, wie der Dichter die vor
der Sonne fliehende Nacht einer geheimnisvollen Meeresgrotte zueilen läßt, die
dem Dichter offen liegt und die er wonnevoll im Odenschwung mit schlagenden
Beiwörtern schildert, die Schatten personificierend, indem er sie zu „erschrockenen“
Schatten macht u. s. w.
Jn der nachstehenden kraftvollen „Ode an die preußische Armee“ fordert
Kleist das preußische Heer auf, mit erhöhtem Mute die zahllosen Feinde zu
bekämpfen; er verspricht der Nachwelt Ruhm, welcher das Heer über die Römer,
sowie Friedrich über Cäsar setzen werde. Jn gewaltigen Weisen mit wahrhaft
dramatischem Schwung schildert der Dichter, wie das Winken Friedrichs die
Feinde vernichte. Ja, mit Farben, wie sie das ruhige Lied nimmermehr vertragen
würde, malt er, in seiner Empfindung sich an Friedrich wendend, die
weitgehendsten Gegensätze.
Er schließt mit einer der Ode eigenen Kühnheit, indem er die Erwartung
ausspricht, der stolze Feind werde noch vor kleinen Haufen fliehn, und er, der
Dichter, werde „im rasenden Getümmel Ehr' oder Tod finden“.
Ode an die preußische Armee, von E. Ch. v. Kleist. (Sämmtl. Werke,
2. Aufl. 1790. S. 79.)
(Ähnlich die weggelassene
folgende Strophe.)
Als Beispiel einer liedartigen Ode diene noch die von Dankbarkeit und vorurteilsfreier
Anerkennung zeugende Ode Rudolf Niggelers an Johannes Minckwitz,
dem bedeutendsten Odendichter der Gegenwart, der über 200 gehaltvolle
Oden dichtete und viele antike übersetzte:
Litteratur der Ode.
Der bedeutendste Odendichter war der Grieche Pindar († 441 v. Chr.).
Darauf folgten eine Reihe Odendichter und Odendichterinnen der melischen und
chorischen Lyrik. Am würdigsten schließt sich an Pindar der Römer Horatius
an († 8 v. Chr.), der nach griechischen Mustern dichtete. Spätere Odendichter
sind der Jtaliener Petrarka (übersetzt von Förster), die Franzosen Racine,
Lamartine, der Engländer Pope &c. Die ältesten Oden findet man wohl in
den Büchern des alten Testaments. Die älteste deutsche Ode ─ obgleich man
damals den Namen nicht dafür hatte ─ ist das Annolied aus dem Jahre 1185,
das dem Frankenbekehrer, dem Erzbischof Hanno von Köln, gewidmet war (I. 86).
Zum erstenmal wurde in der deutschen Litteratur der Name Ode von
Weckherlin gebraucht, welcher 1618 eine „Sammlung von Oden und Gesängen“
herausgab. Als spätere deutsche Odendichter sind zu nennen: Gryphius (Kirchhofsgedanken
und geistliche Oden). Paul Flemming (Erstes Buch der Oden).
Günther (Ode auf den Prinzen Eugen). Klopstock (dessen Oden seine vorzüglichsten
Leistungen sind, vgl. z. B. An Fanny; Der Eislauf; Der Zürchersee;
Mein Vaterland; Die frühen Gräber; Hermann und Thusnelda &c.). Uz (Ode
auf die Sonne). Cramer (David). Denis (Die Zeit. Josephs 1. 2. 3.
4. Reise). Schubart (Auf Friedrich II). Jacobi (Die Tempel). Herder (Klopstocks
lyrische Poesie). Hölty (An die Ruhe). Stolberg, der Ausbilder klassischer
Maße (Die Natur, Der Harz, Leipzigs Schlacht, Deutschlands Beruf,
Mein Vaterland, Die Begeisterung). Voß (Anbetung, An Klopstock, An Brückner,
Der Winterschmaus). Kosegarten (Der Morgen, Die Unsterblichkeit). Goethe
(Mohamed, Meine Göttin). Schiller (Das Jdeal und das Leben, Die
Macht des Gesanges). A. Bercht (Preußens Helden). Ramler (Friedrich
der Große). Matthisson (Sehnsucht nach Rom, Genuß der Gegenwart).
Heidenreich (Die Freiheit des Menschen, Die Wollust). Hölderlin (Der Tod
für's Vaterland, Das Schicksal, Rückkehr in die Heimat). Platen (er hat
die strenge, namentlich von den Romantikern verdrängte Odenform besonders
gepflegt. Vgl. Der Vesuv, An Franz II.). Johannes Minckwitz. (Seiner besten
Oden eine ist die Nr. 221: An Samuel Brassai, 1881 gedichtet). Rückert (1.
Übergang vom Liede zur Ode: Die Berge. An unsere Sprache. Abschied.
2. Oden in freiem Versmaß: Brünstige Nachtigall. Die preußische Viktoria.
3. Oden in Ghaselenform: Du Duft, der meine Seele speiset. Sei mir
gegrüßt &c.). Kinkel. Pfizer. J. G. Fischer. R. Gottschall. Melch. Meyr. O. Banck.
Hamerling. Geibel. Hertz. Max Moltke. Jul. Sturm. v. Lepel. Scherer. Fr. Storck
(Das freie Wort) u. a.
§ 72. Die lyrische Rhapsodie.
Man versteht unter lyrischen Rhapsodien odenartige Gedichte, die
dem Jnhalte nach nur als Bruchstücke erscheinen, im übrigen nicht durchaus
den Charakter der Ode oder den der Hymne tragen. Die lyrische
Rhapsodie sucht in einer freieren Form ihren Gegenstand von der sub= [140]
jektiv fühlenden schönen Seite oft mit dithyrambischen Zügen darzustellen.
Lange vor Christi Geburt trugen wandernde Sänger bei den Griechen,
gelegentlich einzelner Feste Gesänge vor, wobei sie einen Lorbeerzweig oder einen
Stab (ῥάβδος d. i. Rhabdos) in der Hand hielten. Von diesem Rhabdos
hießen diese Sänger die Rhapsoden, bei den Deutschen varnde liute ==
fahrende Leute, singaere == Sänger, ihre Gesänge aber nannte man Rhapsodien.
(Das Wort Rhapsode leiten einige von ῥάπτειν ᾠδήν her, nicht aber
von ῥάβδος Stabsänger. Hesiod spricht im Fragm. 34 von ῥάψαντες
ἀοιδήν. Bei Pindar ist ῥαπτῶν ἐπέων ἀοιδοί Umschreibung für ῥαψῳδοί.)
Rhapsodiendichter sind: Schiller, Ramler, Kotzebue, Fr. Müller, Püttmann,
Kosegarten, Hölderlin, A. Moser, H. Heine (Nordseebilder), Goethe (Ganymed,
Das Göttliche, Grenzen der Menschheit), E. Chr. v. Kleist (Lob der Gottheit,
Sehnsucht nach Ruhe, An Doris &c.) u. a.
Beispiel der lyrischen Rhapsodie. (Jn griechischen Rhythmen.)
An die untergehende Sonne, von Kosegarten.
§ 73. Hymnus (Hymne).
Ein, in der höchsten Begeisterung gesungenes, religiöses Lied, eine
religiöse, dem Preise der Gottheit gewidmete Ode, welche zum Lob=
und Preis-Gesang auf Gott, auf Christus, auf die Wohlthaten der
Naturmächte, auch auf irdische, wie Götter gefeierte Personen sich gestaltet
und in welchem Andacht und Bewunderung sich vereinigen,
wird Hymne (ὕμνος Lobgesang, Preis einer Gottheit, von ὑμνεῖν
== preisen, besingen) oder Hymnus genannt.
Sie stimmt in Behandlung des Stoffes, in Sprache und Rhythmus ganz
mit der Ode überein und unterscheidet sich von ihr nur dadurch, daß ihre
Gegenstände meist dem religiösen Gebiet angehören. Zum geistlichen Liede verhält
sie sich, wie die Ode zum weltlichen. Wollte man die Oden in philosophische,
heroische und religiöse teilen, so wäre die Hymne eben die religiöse Ode. Nicht
die Gefühle der Demut, Wehmut, Reue, auch nicht Betrachtungen über Tod
und Unsterblichkeit veranlassen sie, sondern die Bewunderung Gottes oder einer
heidnischen Gottheit, auch eines erhabenen wie eine Gottheit angestaunten Menschen
oder irgend einer wunderbaren Naturerscheinung, weshalb man auch von weltlichen
Hymnen sprechen kann, die freilich besser den Namen Oden (Festlieder) tragen.
(Als Beispiele solcher Hymnen nenne ich: Frühlingsfeier von Klopstock; Hymne an [142]
die Sonne von Knebel; ebenso die Volkshymnen, Kriegshymnen, Kaiserhymnen,
Vaterlands-Hymnen, z. B. God save the King; „Gott erhalte Franz den
Kaiser“ von Seidl; an Österreich von Anastasius Grün; an Bismarck von
Minckwitz, eine gewaltige Ode, welche an Umfang fast der 4. Pythischen Ode
des Pindar gleichkommt, 300 Zeilen in Strophe, Antistrophe und Epode umfaßt
und rhythmisch malt z. B. den Wachtelton: Vaterland, Vaterland, Vaterland,
u. s. w.)
Auf den religiösen Charakter der Hymne, besonders in der hebräischen
Hymnenpoesie, hat zuerst Herder (Geist der hebräischen Poesie) hingewiesen. Die
Psalmen, besonders der 29te und 33te, sind in der That treffliche Hymnen.
Bei den Griechen wurde Andacht und Bewunderung teils durch feierlich
stetigen Gesang des epischen Versmaßes (Homer, Kallimachos), teils durch den
feierlichen und zugleich bewegten, lyrischen Gesang ausgedrückt. (Pindar.) Der
Hymnus wurde bei festlichen Veranlassungen mit Musikbegleitung vorgetragen.
Vom Gesang für die Gottheit löste sich das allgemeine Lied ab ─ als
Ode auf seinen Ursprung weisend ─, wovon freilich die leichten Lebe= und
Liebeslieder (die sog. Anakreontischen) ausgenommen sind. Die dem Bacchus
gewidmete Hymne wurde zum begeisterten Gesang gleichsam des Rausches und
hieß Dithyrambus (vgl. § 74), während der Sang zu Ehren Apolls: Päan
hieß. (Päan ist zunächst Fremdwort. Es soll nämlich Pa-iâon [Mann für
Krankheiten] ägyptisch sein. Bei Homer erscheint Παιήων als Götterarzt und
Stammvater der ägyptischen Ärzte (Il. F 401 od. J 232), daher schon dort
Il. A 473 παιήονα auch als Lobgesang oder Dankgesang für Erlösung von der
Pest. Dann ebenso im Triumphgesang, mit Tutti oder Refrain Il. X 391─94.
So wurde durch die Dorer besonders im Kulte des delphischen Apollon der
Paian Lob=, Dank- und Gebetslied [in der Not] an Apollo und Artemis, an
alle Schutzgötter. Eine kürzere Form ist der am Schluß des Gastmahls vor
dem Symposium gesungene. Durch kretischen Einfluß wurde der Päan auch
Angriffslied in der Schlacht; daher z. B. die Griechen bei Kunaxa unter Absingen
eines Päan den Angriff einleiteten. &c.)
Die äußere Form der deutschen Hymne ist entweder liedartig oder antik
oder auch ganz frei.
Beispiele der Hymne.
a. An den Sturmwind, von Fr. Rückert.
b. Das große Hallelujah, von Klopstock.
Zur Litteratur der Hymne.
Jm Geiste der hebräischen Poesie und durch dieselbe angeregt sind die
Hymnen der ersten christlichen Kirche entstanden. Wir erwähnen hier von den
christlichen Hymnologen zunächst die besten lateinischen Hymnendichter: Ambrosius
(Bischof von Mailand, † 398 n. Chr., dichtete den Ambrosianischen Lobgesang
„Te Deum laudamus“. Nach einer Sage sollen bei der Taufe des Augustinus
durch Ambrosius in der Osternacht 367 beide fromme Männer diesen Hymnus
wie aus göttlicher Eingebung gedichtet und abwechselnd strophenweise vor der
versammelten Gemeinde gesungen haben, bis endlich Augustinus mit den Worten
geschlossen habe: In te domine speravi, deutsch: Auf dich habe ich gehofft,
Herr! Die fromme Monika, Mutter des Augustinus, soll entzückt über diesen
Gesang ausgerufen haben: Malo te Christianum Augustinum, quam
Augustum imperatorem, d. h. Es ist mir lieber, daß du nun Augustinus [144]
der Christ bist, als wenn du Augustus der Kaiser wärest.) ─ Papst Gregor der
Große, der einen erhebenden Morgengesang gedichtet hat, schuf auch kirchliche
Hymnen. ─ Robert (König von Frankreich 997─1031, dichtete Veni sancte
Spiritus, welches am Pfingstfeste und am Anfang eines neuen Schuljahres
an katholischen Lehr-Anstalten immer noch gesungen wird. (Vgl. Wackernagel,
K. L. I, 105.)
Hermann der Lahme (Benediktinermönch im Kloster Reichenau am Bodensee,
dichtete Salve Regina, Gegrüßet seist du, Königin).
Bernhard von Clairvaux († 1153, wurde durch „Salve Regina“ bei
seinem Einzug in den Dom zu Speyer so ergriffen, daß er den nunmehrigen
Schluß zudichtete: O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria. Von ihm
der schöne Kirchengesang: Jesu dulcis memoria).
Thomas von Celano (vom Minoritenorden, Mitte des 13. Jahrhunderts,
dichtete das ergreifende Dies irae == Tag des Zorns, welches meist bei Totenmessen
gesungen wird. Eine wirkungsvolle Musik zu diesem, das Weltgericht
in erschütternder Weise schildernden Hymnus, danken wir Mozart).
Thomas von Aquino († 1274, Verfasser der meisten Kirchengesänge
für den Gottesdienst beim Fronleichnamsfeste, dichtete Lauda Sion und Pange
lingua == Preis o Zunge, die als die erhabensten Festgesänge der katholischen
Kirche berühmt sind).
Jakopomus (Minorit, † 1306, dichtete Stabat mater == Es stand die
Mutter, welches den Schmerz Mariä beim Anblick ihres gekreuzigten Sohnes
ausdrückt, und am Fest der 7 Schmerzen in den katholischen Kirchen gesungen
wird. Palestrina, Haydn, Rossini u. a. haben es komponiert).
Hymnen in deutscher Sprache dichteten: Kleist (Die Größe Gottes). Uz
(Preis des Höchsten). Klopstock (Die Frühlingsfeier; Dem Erlöser; Der Erbarmer;
Die Glückseligkeit Aller). Denis (An Gott). Stolberg (Der Himmel;
Schwanengesang). Novalis (Hymne an die Nacht). Ernst Schulze (Hymnus
an die heilige Cäcila). Gellert. Goethe (Prometheus). Hölderlin (Hymne an
den Äther). K. Gerok. A. Knapp. Knebel (An die Sonne). v. Haller (An
die Ewigkeit). Schubart (Erstickter Preisgesang). Schiller (Das eleusische Fest).
Platen brachte in der Hymne die lyrische Kunst auf den Gipfel. Sein Nachfolger
Johannes Minckwitz, welcher vier der größten Pindarschen Hymnen übersetzte
und über 20 frei dichtete, ist weiter vorgeschritten als Platen a. in der
Form, welche auch die Epode zu den Pindarschen Strophen als Dreigliederung
anreihte, b. im freieren, flüssigeren deutschen Stil. Wilh. Müller (Pfingsten).
Rückert (bei welchem manche Hymnen die ausländische Form des persischen Ghasels
annahmen, was auch bei Oden der Fall ist. Z. B. Flammt empor in
euren Höhn, Morgensonnen, lobt den Herrn. An das Meer. Von seinen
Hymnen in Strophen nenne ich: An die Göttin Morgenröte. Die Allgegenwärtige.
Gesang der heiligen drei Könige ist im freiesten Versmaß gedichtet).
Anastasius Grün, Geibel, Hamerling, Spitta, Otto Banck, J. Neumann u. a.
§ 74. Dithyrambus.
Wie das gewöhnliche Lied in der Ode und das geistliche Lied in
der Hymne eine höhere Form besitzen, so das gesellige Lied in der
Dithyrambe (vom griechischen διθύραμβος == Beiname des Bacchos).
Jeder Erguß auflodernder Gefühle voll stürmisch=trunkener Begeisterung
heißt Dithyrambus.
Das gesellige Lied heißt Dithyrambe, wenn Empfindung und Ausdruck
(in bezug auf gesellige Freude, Wein und Liebe &c.) höheren
Schwung, eine gleichsam trunken=schwärmerische, poetische Erregung
annehmen.
Die Dithyrambe atmet stürmische Begeisterung, überströmendes Wonnegefühl
und liebt auch in der Form eine an Ungebundenheit grenzende Freiheit.
Zuweilen wird statt Wein der Gott des Weines Bacchus (oder Dionysos, dem
überhaupt die ersten Dithyramben galten und von dem ─ dem zweimal
gebornen ─ sie ihren Namen haben) besungen, so daß die Dithyrambe eigentlich
eine dem Bacchus gewidmete Hymne wäre. Die Dithyrambe ist noch feuriger,
als die Hymne, wie wiederum diese mehr Schwung hat als die Ode. Jm
Gegensatz zur Hymne ist es eben die irdische Wonne, welche in der Dithyrambe
den Dichter begeistert, ja fast trunken macht, obwohl ihr Stoff nicht ausschließlich
das Zechen, Trinken und irdischen Genuß zu preisen braucht. Die bekannteste
Dithyrambe ist Schillers „Lied an die Freude“ (Freude, schöner Götterfunken
&c.), sowie J. H. Voß' Dithyrambus (Wenn des Kapweins Glut im
Krystall mir flammt). Außer einigen Liedern, welche den Übergang vom Lied
zum Dithyrambus bilden, sind bei Rückert eigentliche Dithyramben in den
östlichen Rosen zu finden. Dithyrambisch ist z. B. sein „Lebensgnüge“. Dithyrambisch,
jedoch mit mehr odenmäßigem Jnhalt, sind ferner von ihm: Zum
Empfang der rückkehrenden Preußen, Adler und Lerche &c. Dithyramben liefert
Schmidt-Cabanis in „Wechselnde Lichter“, z. B. Ein lustig Totentänzlein S. 106 &c.
Beispiele der Dithyrambe.
Am ersten Maimorgen, von M. Claudius.
Dithyrambe, von Schiller.
Litteratur der Dithyrambe.
Besonders reich an Dithyramben waren die Griechen. Die beiden horazischen
Oden II. 19 und III. 25 werden zwar als Nachbildungen griechischer Dithyramben
angesehen; aber sie haben weder die Ungebundenheit des Versmaßes
derselben, noch deren begeisterten Schwung. Außer den Fragmenten bei Bergk
Poetae lyrici graeci P. III ist besonders Eurip. Bacch. 64─165 als
eine annähernde Dithyrambe zu vergleichen. Horaz bezeichnet Od. 4. 2 die
Pindarschen Dithyramben durch folgende 3 Züge: per audaces nova Dithyrambos
verba devolvit numerisque fertur Lege solutis.
Bei uns nannte zuerst Willamov seine 1763 erschienenen lyrischen Gedichte
wegen der in ihnen herrschenden Begeisterung Dithyramben. ─ Klopstock wählte
für sein Odengebäude Wingolf den dithyrambischen Ton, den er jedoch in der
Umarbeitung alterierte. Dithyramben finden wir bei den Stürmern und Drängern,
z. B. Maler Müller; ferner bei Schiller, Goethe (Wanderers Sturmlied),
Voß, Kopisch, Kretschmann, Schubart, Tieck, sowie bei Rückert, Scheffel,
Hertz, H. Heine, Bodenstedt, Müller v. d. Werra u. a.
§ 75. Elegie.
1. Die Elegie ist eine Art höchstbegeisterten elegischen Liedes (§ 67),
ein Gedicht, welches in gehobeneren Gefühlen und im höheren Geistesfluge
als das elegische Lied einherschreitet, dabei auch dem sinnenden
Verweilen, dem betrachtenden, reflektierenden Beschauen Raum gestattet.
2. Bei den Griechen war der Elegos eine besondere Art ihrer
sog. Threnoi (θρῆνος).
Aus dem griechischen Elegos (== Klagelied, Trauerlied) wurde die
Elegie und das Elegeion, d. i. jedes in Distichen verfaßte Gedicht.
3. Das Versmaß der Elegie war das Distichon. ─ Bei unserer
Elegie ist es nicht absolutes Erfordernis.
1. Die deutsche Elegie charakterisiert neben sinnendem Verweilen hochflutendes
Schmerz- oder Wehmutsgefühl, süße, tiefe, ungestillte Sehnsucht, schwärmerischer
Tiefsinn der Liebe, schmelzende Klage. Jede Elegie verlangt ein episches, der
äußeren Wirklichkeit entlehntes Objekt, das der begeisterte Dichter mit seiner
subjektiven Empfindung durchdringt.
Jm allegorischen Sinne ist die Elegie eine Genie oder Nymphe genannt
worden (F. H. Jakobi), welche, das Gesicht in die Hand gelegt, voll Rührung
und sanfter Wehmut, nachdenkend, in Erinnerung verloren ruhig dasitzt. Ein
halb zerrissener Kranz in ihren Locken und ein welker Blumenstrauß auf ihrem
Schoße erinnern an entflohene Freudentage, an herben Verlust. Jn der Ferne
ist ein Grabmal zu sehen, von dem nur die obere Hälfte aus einem Cypressenwalde
hervorragt. Hinter diesem liegt ein Hügel voll Rosenknospen und
Morgenrot.
Der Ton der Elegie ist so verschieden, als auch der Anlaß und die Art
der Trauer verschiedene sind; anders klagt die Jungfrau, die ihren Weltschmerz
nicht entdecken will, anders der Freund, der den früh geschiedenen Genossen
seiner Jugend betrauert u. s. w.
2. Eine naive Etymologie leitet das Wort Elegie von ἔ ἔ λέγειν ==
weh weh rufen ab. Das ist jedoch nicht stichhaltig; eher wäre an eine
Verwandtschaft mit ὀλολύζω == klagen, wimmern, namentlich zu den Göttern
empor, und ἀλαλάζω == ein Kriegsgeschrei erheben, zu denken. Beachtenswert
ist, daß in Vorderasien, wo Flötenspiel zu Hause war, elegn das Rohr,
(vgl. Plin. 16. 36. 66) die Flöte, geheißen haben soll. Diese war nämlich
das begleitende Jnstrument der alten griechischen Elegie, wie ja auch der verwandten,
späteren römischen Nänien.
Die charakteristische Versart der Elegie war nach Wilh. Wackernagel der
Pentameter, vielleicht mit dem Hexameter, vielleicht mit andern Versen gemischt,
vielleicht ohne alle Beimischung für sich bestehend. Eine Ableitung von Elegos
(ἔλεγος) ist Elegeion (ἐλεγεῖον), das vielleicht ursprünglich nur der Name
des Pentameters war, dann aber jedenfalls der aus Hexameter und Pentameter
zusammengesetzten Strophe, also des späteren sogenannten Distichons. Die
neue Dichtungsart, die Elegie (d. i. das im Elegeion abgefaßte Gedicht), teilte
mit dem alten Elegos die Anlehnung an die epische Wirklichkeit; sie sprach auch
nicht selten schmerzliche Gefühle aus, sie entlehnte von dem Elegos den Gebrauch
des Distichons samt der mit dem Gesange verbundenen Flötenbegleitung. Alles
dies war Anlaß, jene von Elegos gebildete Ableitung Elegeion (ἐλεγεῖον) nun
in einem weiteren Sinne zu gebrauchen: es ward nun eben jedes episch=lyrische
Gedicht in der Form des Distichons Elegie, Elegeia (ἐλεγεία) genannt (entweder [148]
als plur. neutr. τὰ ἐλεγεῖα oder als sing. fem. ἡ ἐλεγεία). Beispielsweise
nannte man die Kriegslieder des Tyrtäos Elegieen. Auch Philetas und Kallimachos
nannten ihre nicht klagenden Gedichte in Distichen Elegieen. Somit
finden wir auch in den Benennungen eine Rückbeziehung auf die Epik: in der
älteren, ἔπη, auf die reine eigentliche, in der späteren Elegie (ἐλεγεία) auf
die lyrisch gefärbte, den Elegos (ἔλεγος).
3. Es ist wohl nicht zufällig, daß die Griechen, von deren eigentlichen
Elegieen wir nur noch Fragmente besitzen, zu denselben sich des Distichons
bedienten. Auf dem rollenden Rücken des Daktylus strebte der mehr epische
Hexameter in's Unendliche, während ihm der wehmütige, stockende, mehr
lyrische Pentameter seinen Halt gab, ihn zur Einkehr in sich selbst veranlassend.
Der meist epische Vordersatz des Hexameters fand seine Ruhe im meist
lyrischen Nachsatz des Pentameters. Die metrische Distichen-Form des Elegos
ist auch auf die deutsche Elegie übergegangen. Jn unserer Zeit ist sie jedoch
kein wesentliches, strenges Erfordernis mehr, ja, sie ist infolge des häufig angewandten
zierdevollen Reims nicht einmal wünschenswert. Wir wählen jede
Strophenform, z. B. die Kanzone (Schlegel in Totenopfer; Zedlitz, Totenkränze;
Max Waldau &c.). Wackernagel empfiehlt die Terzine, die man bekanntlich
bei erzählenden Gedichten beliebte. Opitz wandte den Alexandriner an, ebenso
Flemming u. a.; auch Geibel (Welt und Einsamkeit). Rückert bediente sich
häufig des Sonetts (vgl. Agnes' Totenfeier; Rosen auf das Grab einer edlen
Frau), ebenso Platen &c.
Beispiele und Litteratur der Elegie.
Die elegischen Gesänge eines Tyrtäos, Solon, Theognis &c. preisen den
Tod für's Vaterland und können als politisch=patriotische Elegieen bezeichnet
werden.
Mimnermos, der Stifter der zärtlichen, sanftklingenden Elegie, trauert in
erotischen Weisen um seine geliebte Nanno.
Von Simonides an, der das Distichon zu Grabschriften und Totenepigrammen
benutzte, hat man die ganze Gattung des Silbenmaßes Elegie
genannt. Die erotische Elegie haben bei den Römern Catull, Tibull, Properz
und Ovid gepflegt. Jhre Elegien haben bereits den Charakter der antiken
Elegie abgestreift und sind nur Klagelieder. Goethe in seinen römischen, nach
griechisch=römischen Mustern gebauten Elegien setzte in den Geist des Properz
und des Tibull ein. Goethes Elegien haben etwas veränderten Jnhalt, insofern
sich in ihnen nicht selten heiterer Lebens- und Kunstgenuß auf dem
Hintergrunde einer untergegangenen gewaltigen Welt ausspricht. Er näherte
sich dadurch der antiken Elegie, die ja auch das beunruhigte Gemüt zu erheitern
strebte. (Vgl. Goethes Elegie Euphrosyne; ferner die anders gestalteten römischen
Elegieen, der neue Pausias, Amyntas, und Alexis und Dora.) Aus Kleists
Elegie „Sehnsucht nach Ruhe“ spricht seine Schwermut, die ihn von dem Punkt
an befiel, als er gezwungenermaßen in's Militär eintrat. ─ Klopstocks Elegie [149]
„An Ebert“ bekundet seine Wehmut, die der Gedanke an ein mögliches Scheiden
veranlaßt. Einst in stiller Nacht erwog Klopstock das Gefühl eines Menschen,
der alle seine Freunde verloren. Er sah plötzlich seine engern Freunde, von
denen keiner gestorben war, wie aus den Gräbern erstandene Tote an sich
vorüberziehen. Jn der traulichen Gesellschaft Eberts erinnert er sich dieses
trüben Gedankens, die Wehmut entpreßt ihm Thränen, er weint sich aus, erzählt
dem Freunde seine Ahndung und spricht seine Anhänglichkeit und Liebe
aus in der reizenden Elegie, die er also schließt:
Jn der Elegie „Die tote Clarissa“ stellt sich Klopstock Clarissa (die Heldin
des Richardsonschen Romans) so lebhaft vor, daß er sie da, wo ihr Ende
erzählt wird, mit rosigen Wangen sieht u. s. w. (Vgl. die Anmerkung in der
Göschenschen Ausg. 1876. S. 69.)
Wir bieten diese Elegie als mustergültige Probe der Elegie:
Jn der Elegie „An den Frieden“ drückt Ramler mit kräftigem, ungekünsteltem
Ausdruck den Wunsch nach Frieden aus. Wir hören die vom
Kriege geängstete Menschheit in Not und Elend rufen:
Aus der Elegie „Bei dem Begräbnis eines Kindes“ von Claudius spricht
christliche Resignation, die den Schmerz zu verklären vermag. Sie schließt:
Jn engem Rahmen sind in Höltys „Elegie auf ein Landmädchen“ viele
treffende Bilder vereint und der Gegensatz städtischer Eitelkeit und ländlicher
Einfalt herrlich hervorgehoben. Die 3. Strophe lautet:
Matthisson, der ähnliche Elegien schrieb (vgl. Elegie in den Ruinen
geschrieben), lehnt sich an eine landschaftliche Wirklichkeit an, in die er den
Leser nicht einzuführen vermag; er hat ungesunde Affektation und Sentimentalität,
die man bei dem naturwahren innigen Hölty nicht findet.
A. W. Schlegel beginnt in seiner Elegie „Rom“ mit Gründung der
Stadt, um nach lyrisch epischer Ausführung der Elegie einen an Frau v. Staël
gerichteten rein lyrischen Abschluß zu geben.
Ergreifend wirkt die Übersetzung Gotters einer auf einem Kirchhofe geschriebenen
Elegie des britischen Pindars Thomas Gray († 1771).
Eine der besten Elegien ist Schillers Spaziergang, der ursprünglich auch
Elegie benannt war. Eine Landschaft ist's, die der Dichter durchwandert und
der er historischen Charakter in den einzelnen Bildern verleiht. Die Beschreibung
der Gegend wird von lyrischen Betrachtungen durchzogen; der Wechsel
der Naturscenen erscheint nur als Abbild der sich immer mehr von der Natur
entfremdenden Menschheitsgeschichte, sie gipfelt in der Überzeugung, daß die
Menschheit nur in der Rückkehr zur unveränderlichen Natur ihr Heil finden
könne. Die lyrische Betrachtung allein hätte für eine Elegie genügt; um so
gedrungener und vollendeter ist sie durch den auf Natur und Geschichte gebauten
Parallelismus, um so mehr bietet sie dem im Präsens sprechenden Dichter
Gelegenheit zur Entfaltung einer durch und durch gemütentsprossenen Lyrik.
(Auch Schillers Siegesfest, Kassandra, Die Götter Griechenlands, Sänger der
Vorwelt, Pompeji und Herkulanum, sowie Das eleusische Fest sind wohl zu
beachten.) Erwähnenswert sind von den deutschen Elegiendichtern außer den
genannten noch: Opitz. Haller (Auf den Tod seiner Gattin). Zachariä (Die
Nacht). Denis (Abschied von der sichtbaren Welt). Pfeffel (Auf Sunims Grab).
Jakobi (Die Linde auf dem Kirchhofe). Salis (Mitleid). Herder (Des Einsamen
Klage). Bürger (Bei dem Grabe meines guten Großvaters Jacob
Philipp Bauers). Stolberg (Der Abend). Voß (Besorgnis). Tiedge (Elegie auf
dem Schlachtfelde von Kunersdorf). Kosegarten (Nachtgesang). Novalis (Sehnsucht
nach dem Tod). Körner (Die Eichen). Mahlmann (Lied des Trostes).
Sonnenberg (Die Grabesblumen auf Jdas Hügel). Uhland (An den Tod).
Chamisso (Schloß Boncourt). Hebel (Auf einem Grabe). Miller (Klagelied
eines Bauern). Tieck (Lied von der Einsamkeit). Ernst Schulze. Hölderlin
(Der Wanderer). Mörike (Die schöne Buche). Nic. Lenau (Natur und Geschichte
werden von ihm in originellen, ergreifenden, bilderreichen, durch Zartheit und
Jnnigkeit der Empfindung, wie durch düstere Wehmut und Melancholie ausgezeichneten
Elegien besungen). Seidl (König Erichs Glaube). Foglar (Zypressen,
Strahlen und Schatten). Emil Rittershaus. Zelle. Freiligrath (Die Bilderbibel).
Kinkel. Alfred Meißner. Scherer. V. v. Strauß. Karl Beck. Th. Storm
(Abseits). Dingelstedt (Am Grab Chamissos). H. Lingg. Minckwitz (Elegie an
Carus 1844). Betty Paoli. Anastasius Grüns Schutt (Eine Sammlung bilderreicher
Elegien, mit dem Grundgedanken, es werde aus Europas Zerstörung eine
bessere Welt erblühen. Die vier Teile des Gedichtes sind: Der Thurm am
Strande, eine Fensterscheibe, Cincinnatus, fünf Ostern). Karl Lehmann u. a.
§ 76. Nänie.
1. Eine kleine Elegie, die sogar etwas Unbedeutendes, Kleinliches
zum Gegenstand haben kann (indem sie z. B. ein Tierchen beklagt),
heißt Nänie.
2. Sonst versteht man darunter noch Lobgedichte zu Ehren Verstorbener,
sowie kleine Klagelieder, kleine Elegien.
1. Die Nänien (Neniae, Naeniae) entsprachen in der römischen Litteratur
den Threnoi (θρῆνοι) der Griechen nur in Hinsicht auf die Veranlassung. Sie
waren zuweilen Klagelieder. So nannten die alten Römer besonders das Klagegeheul
gedungener Weiber bei Begräbnissen Nänia. Dieses war gewöhnlich ganz
sinnlos und ohne Zusammenhang. Auch ein kindisches Lied oder ein Wiegengesang
wurde von ihnen Nänie genannt.
2. Jn der Regel aber waren die Nänien Lieder zum Ruhm der Gestorbenen.
Man sang sie bei Gastmählern und Leichenfeierlichkeiten, und begleitete sie mit
der Flöte. (Vgl. Niebuhr, röm. Geschichte S. 146. 1853.)
Ähnliche Loblieder hatten auch die Hebräer (z. B. „das Lied, das David
redete vor dem Herrn, als ihn der Herr errettet hatte von der Hand aller
seiner Feinde“, sowie 1. Chron. 17., ferner Richter 5., ein Lied der Debora
nach dem Siege über Sissera).
Neben diesen Lobgesängen hatten die Hebräer auch ihre Threnen, z. B.
das Klagelied Davids auf Saul und Jonathan. Die Klagelieder Jeremias
mit ihrem politischen Jnhalt (solchen hatten auch die ältesten griechischen Elegien)
und mit ihrem Gefühls-Ausdruck der Wehmut, des Schmerzes, die in der
griechischen und lateinischen Übersetzung Threnos (θρῆνος) genannt werden,
sind für diese Bezeichnung nicht episch genug.
Bei den Deutschen ist Nänie ein kleines Klagelied. Ramler hat Nänien
auf den Tod einer Wachtel sowie auf den einer Nachtigall gedichtet. Schiller
setzt nicht selten ohne weiteres Nenie für Elegie.
Beispiel der Nänie:
Nenie von Schiller.
§ 77. Notiz über die Lyrik aller Litteraturen.
Sobald die epische Poesie eines Volks eine gewisse Höhe erreicht
hat, zeigt sich bei jedem Volke die Lyrik. Jst diese Lyrik Volkspoesie,
so ist sie zugleich ein Bild des Volkscharakters, der Gefühls- und Anschauungskreise
eines bestimmten Volkes. Jst sie Kunstlyrik, so ist sie
ein Bild des bestimmten Dichters. Es ist jedenfalls lohnend, einen
Blick auf die lyrischen Leistungen der fremden Litteraturen zu werfen
und einzelne Repräsentanten herauszuheben.
a. Die Griechen. Die Griechen mit ihrem schönen Himmel und ihrer
herrlichen Natur zeichneten sich frühzeitig durch ihren Sinn für's Schöne und
durch ihre lebhafte Phantasie aus. Jn der Epik leisteten sie das Höchste. Aber
auch in der Lyrik wurden sie Vorbilder.
Von den Hymnen des Orpheus (angeblich um 1250? wahrscheinlich eine
späte Personifikation) behauptete man hyperbolisch, daß die Bäume die Wipfel
neigten, und die wilden Tiere des Waldes lauschten, wenn sie gesungen wurden.
Die weltliche Lyrik blühte besonders, als die Monarchien allmählich in
Republiken sich verwandelten. Freundschaft, Vaterland boten den Stoff für die
Lyrik. Die hervorragendsten Dichter dieser Zeit sind:
Arion, welcher 624 v. Chr. der Schöpfer des Dithyrambus war und
auf der Jnsel Lesbos lebte.
Alkäus (ebenfalls von Lesbos, wo die lyrische Poesie blühte), etwas jünger
als der vorige, wurde der Begründer der sog. alkäischen Strophe in seinen
kräftigen Oden und Hymnen.
Sappho, wegen ihrer Gesänge die lesbische Nachtigall und die zehnte Muse
genannt, ist eine Zeitgenossin des Alkäos.
Erinna, Zeitgenossin und Landsmännin der vorigen, dichtete die herrliche,
uns erhaltene Hymne: „An die Stärke.“
Tyrtäos (Tyrtaios) aus Milet in Kleinasien, lebte in Athen während des
messenischen Krieges. Durch seine Kriegsgesänge (Elegien genannt, von denen
drei erhalten sind) feuerte er die Spartaner zu Kampfesmut an.
Die 2te Blüteperiode der griechischen Lyrik war von Solons Gesetzgebung
bis zur Thronbesteigung Alexanders des Großen (594─336 v. Chr.). Besonders
zu erwähnen sind: Jbykos (durch Schillers „Kraniche des Jbykus“ bei uns
populär geworden. Er hielt sich meist in Samos am Hof des Polykrates auf;
von seinen Gedichten sind nur wenige Fragmente erhalten).
Anakreon (530 v. Chr., hielt sich abwechselnd bei Polykrates und bei
Hipparch in Athen auf. Seine Hymnen und Elegien sind verloren gegangen).
Simonides aus Keos (559─469 v. Chr. dichtete Siegeslieder, Dithyramben
&c.).
Pindar (521─438 v. Chr., aus Theben, der bedeutendste griechische
Lyriker. Seine 45 Siegesgesänge zur Verherrlichung der Sieger in den griechischen
Nationalspielen gaben ihm größte Berühmtheit).
b. Die Römer. Jhre Begeisterung für griechische Kunst und Wissenschaft
trieb sie zu eigenem Schaffen an. Wenn ihre Pflege der Lyrik auch
hinter den griechischen Leistungen zurückstand, so waren die lyrischen Dichter
immerhin bedeutend genug.
Horaz (von Ramler, Binder, Kayser u. a. übersetzt) schrieb seine Lyriken
meist in der strengen Odenform. Sein Zeitgenosse Tibull schrieb vier Bücher
Elegien, die von J. H. Voß übersetzt sind.
Propertius, 9 Jahre jünger als der vorhergehende, dichtete ebenfalls Elegien.
Catull (gest. 54 v. Chr.) schrieb 2 große Hochzeitslieder u. a.
Publius Ovidius Naso, gewöhnlich Ovid genannt (geb. 43 v. Chr.),
starb 17 n. Chr. in der Verbannung in Tomi (jetzt Anadol=köi bei Küstendsche
am schwarzen Meer). Seine „Klagelieder“ atmen tiefen Schmerz über die Verbannung.
Er schrieb zuerst „Heroiden“ (21 an der Zahl) u. s. w.
c. Die Hebräer. Die Religiosität ist das Grundgefühl der Lyrik dieses
theokratischen, unter spezieller Leitung Jehovahs stehenden Volkes. Den ältesten
Siegesgesang stimmte Moses an nach dem Durchgang durchs rote Meer. Samuel
errichtete Prophetenschulen, in denen die Lyrik gepflegt wurde. David (1055
bis 1015 v. Chr.) zeigte sich in seinen Psalmen als bedeutender Lyriker.
Salomo (1015─975) hinterließ in dem zur Vermählung seiner Tochter mit
dem ägyptischen Könige Hophra gedichteten „Hohen Liede“ eines der wertvollsten
lyrischen Gedichte. Auch bei den Propheten findet sich viel Lyrisches z. B.
Jeremias (Klagelieder), Jesaias (Babels Fall), Ezechiel (Fall des Königs von
Tyrus), Habakuk (Klaggesang) u. s. w. Vgl. auch das Buch Hiob u. a.
d. Die Jtaliener. Den weichen Charakter der vokalreichen volltönenden
Sprache der Jtaliener trägt auch ihre gefühlswarme, für den Gesang prädestinierte
Lyrik. Der bedeutendste Lyriker der Jtaliener war: Petrarka (geb.
1304 n. Chr.). Seiner lateinischen Gedichte wegen wurde er zu Rom als
Dichter gekrönt. Seine Kanzonen und Sonette, die er seiner Laura widmete,
sind mustergültig. (Er wurde von K. Forster in's Deutsche übersetzt, auch von
Joh. Gotthard von Reinhold.) Noch sind zu nennen Pietro Bembo († 1547),
Alamanni († 1556), Giovanni della Casa († 1556), Torquato Tasso († 1595),
Filicaja († 1707), Carlo Gozzi († 1806), Giuseppi Giusti († 1880), der
italienische Beranger, Goffredo Manelli, der Theodor Körner Jtaliens während
des Krieges 1859, und besonders Giac. Leopardi († 1837) und Alessandro
Manzoni († 1873), welch' beide man als die Vorbilder der beiden Hauptrichtungen
bezeichnen kann, die sich in jüngster Zeit in Jtalien geltend gemacht
haben.
e. Die Spanier und Portugiesen. Der Jahrhunderte währende
Kampf des Christentums in Spanien mit dem Jslam entfaltete die religiöse
Lyrik, die sich durch Prachtliebe und Jnnigkeit des Gefühls auszeichnet. Lope
de Vega († 1635 n. Chr. mit dem Beinamen „das Wunder der Natur“),
dichtete wunderbar innige geistliche Lieder. Einige sind von Diepenbrock im
„geistlichen Blumenstrauße“ deutsch übersetzt. Von Lyrikern unseres Jahrhunderts
sind zu nennen: Lista y Aragon, José Joaquin de Mora, Martinez [155]
de la Rosa, der sich die klassische Schule der Franzosen zum Vorbilde nahm,
Ventura de la Vega u. a.
Jm benachbarten Portugal erwarb sich Luiz de Camoëns (1524─79)
für alle Zeiten den Ruhm des größten Lyrikers seines Landes.
f. Die Franzosen. Der Franzose mit seinem leichten, espritvollen Konversationstone
kennt die Tiefe unseres Gefühles nicht. Daher ist seine Lyrik
mehr leicht und geistreich, als tief und innig. Bei den Provençalen bildete
sich allerdings im Mittelalter eine Poesie aus, die Religion und Liebe, sowie
Abenteuer zum Gegenstande hatte: die sogenannte provençalische, deren Dichter
Troubadours genannt wurden (von trobar oder trouver, ital. trovare, erfinden,
ersinnen, erdichten). Die Zahl der Troubadours war so groß, als die
unserer Minnesinger, welche durch sie manche Anregung erhielten. Von den
späteren hervorragenden Dichtern sind zu nennen: Voltaire († 1778) und der
größte klassische Dichter des 18. Jahrhunderts Rousseau († 1741), sowie aus
unserem Jahrhundert: Lamartine († 1869), der 1848 eine Zeit lang Präsident
der Republik war. Er begründete seit 1820 durch seine Méditations
poétiques eine neue Zeit der höheren Lyrik, ebenso durch seine Harmonies
poétiques et réligieuses. (Seine Werke sind von Gust. Schwab, Demmler und
Herwegh deutsch übersetzt.) Jhm folgte die Periode des Romanticismus mit Viktor
Hugo und Alfred de Vigny. Später war beliebt: Beranger (geb. 1780),
ein Volksdichter, der bedeutendste Chansonnier, in dessen Chansons sich so recht
der Charakter der Franzosen ausspricht, was schon deren Einteilung in „liederliche,
politische und rein menschliche“ ersehen läßt. Jhm schlossen sich an
Debraux, Auguste Vacquerie, Barbier, Quinet, A. de Musset, die schwärmerische,
dabei zarte Frau Desbordes-Vallmore u. a.
Als Elegiker haben sich bei den Franzosen neben Lamartine ausgezeichnet:
Deshoulières, La Lure, Victor Hugo u. a.
g. Die Briten. Die Lyrik der Briten ist der deutschen verwandt.
Sie ist tief, ernst, wenn auch die Form weniger klangvoll und anziehend ist,
als bei den romanischen Völkern. Jn früherer Zeit waren die Minstrels die
Repräsentanten der Lyrik. Sie trugen mit Harfenbegleitung die englischen
Nationallieder vor und wahrten den Charakter der altenglischen Volkspoesie
gegen das eindringende Franzosentum (z. B. unter Wilhelm dem Eroberer,
der bekanntlich 1066 durch die Schlacht von Hastings den südlichen Teil Englands
unterwarf). Die Schöpfer der englischen Lyrik sind: Graf von Surrey
(1547), sowie Thomas Wyatt († 1542), Shakespeare (Dichter herrlicher
Sonette, † 1616).
Von den neueren Lyrikern sind zu nennen: Robert Burns († 1796),
ein schottischer Landmann, dessen Lieder erfrischend wirken, wie Bergluft. Walter
Scott (1771─1832). Lord Byron (1788─1824), wohl der bedeutendste
Lyriker Englands. Thomas Campbell (1777─1834). Thomas Moore († 1852,
ein gottbegnadeter Liederdichter. Seine „Irish melodies“ sind von Freiligrath
und Plönnies deutsch übersetzt). Zwei der jüngsten bedeutenden Lyriker sind
Algeron Charles Swinburne und Alfred Tennyson.
Die bedeutendsten Elegiker der Briten sind: Gray, Lord Byron, Shelly,
Hammond, Beattie, Jermingham &c.
h. Die Czechen. Der Charakter der czechischen Lyrik ist Weichheit in
sanften Weisen, Sentimentalität, weshalb alle Lyriken in Moll-Weisen komponiert
sind. Reich an Volksliedern sind besonders die Slaven und Böhmen, deren
älteste Lyrik religiös war. Jhr ältestes, geistliches Lied (deutsch: „Herr, erbarme
dich unser“) wird heute noch in czechischen Kirchen Böhmens gesungen. Auch
weltliche Volkslieder haben sich aus früher Zeit erhalten, z. B. das von Goethe
übersetzte „Sträußchen“ (Kytice), das viel Ähnlichkeit mit Goethe's Romanze
hat. Wenzel I. trat als deutscher Minnesinger auf. Später erhielten sich
die hussitischen Kirchen- und Kriegslieder, deren Melodien zum Teil von Luther
benutzt sein sollen. Mit der Thronerhebung der Habsburger, besonders unter
Rudolf II., feierte die böhmische Litteratur ihr goldenes Zeitalter.
Zu erwähnen sind als Dichter: Der Bischof der Brüder Joh. Augusta
(† 1575. Seine religiösen Poesien enthalten 20 000 Verse). Lomnicky von
Budeck (geb. 1560, von Rudolf II. gekrönt und in den Adelstand erhoben).
Von den Neueren: Celakovsky († 1852 als Professor in Prag; in's Deutsche
übertragen von Wenzig). Johann Rolar († 1852. Neben slovakischen Volksliedern
besitzt die Litteratur von ihm als Hauptwerk: Slary dceva == Tochter
des Ruhmes: fünf Gesänge aus etwa 600 Sonetten bestehend. Analyse:
Der Dichter lernt an der Saale die Tochter der Slava [Ruhm] kennen und
liebt sie. Von ihr getrennt, erzählt er in Ungarn die Nachricht vom Tode
der Jungfrau. Auch aus dem Jenseits geben die Sonette Mitteilung, schildern
die Freude der Verklärten, die Qualen der Verdammten u. s. w.).
i. Die Serben. Die Volkslieder der Serben sind durch Herder, Goethe,
Grimm und besonders durch die Talvj (Pseud. von Ther. Albertine Luise
Robinson) deutsch übersetzt worden. Einer der hervorragendsten Kunstdichter
der Serben war der Vladika von Montenegro, Peter P. Nejkosch. Die ersten
Lyriker der Neuzeit sind: Jovanowitsch. Sundetschitsch, Nenadowitsch, Raditschewitsch
u. a.
k. Die Ungarn. Als hervorragende ungarische Lyriker sind zu nennen:
Johann Rimay († 1631), Graf Stefan Kohary († 1730), Nikolaus Zrinyi,
Benedikt Viray († 1830) und Michael Vörösmarty († 1835). Der bedeutendste
ungarische Lyriker der Gegenwart ist Petöfi (1823─49). Seine von
Kertbeny in's Deutsche übersetzten Schlachtenlieder begeisterten 1848─49 die
ungarische Jugend.
l. Die Russen. Jn der lyrischen Poesie zeichneten sich in Rußland
u. a. aus: Karamsin, Kapnist, Schukowski (Dichter der Nationalhymne „Gott
beschütze den Kaiser“), Basil. und Alex. Puschkin, Dolgoruki, Rosenheim,
Ogarew, die Gräfin Rostoptschin, Elis. Kulmann (welche deutsch, ital. und
russ. dichtete) u. a.
m. Die Neugriechen. Neben Alex. Ypsilanti und den Brüdern Sutsos,
die durch ihre Freiheitslieder bekannt wurden, sind besonders gefeiert Athanasios
Christopulos, Georgios Zalakostas († 1858) und Alexandros Zoïros.
n. Nordische Völker. Die Poesie der nordischen Völker trägt den
germanischen Charakter des Ernsten, Großartigen, Überwältigenden. Die Dichter
Baggesen († 1826; er schrieb auch 2 Bände deutscher Gedichte), Steffens
(† 1845, ein Norweger), Munch, Bierregaard (Norweger), Öhlenschläger
(† 1850, Däne) und die Schweden Atterbom, Dahlgren, Nicander, Tegner
(† 1847) u. a. haben in ihren Litteraturen Unvergängliches geschaffen.
o. Jnder. Lyrische Dichtungen der alten Jnder finden sich in den
Vedas. Bedeutende Lyriker sind: Tschaura, Ghatakarpara, Bhartrihari, Amaru,
Kalidasa, sowie Jayadevas, der Verfasser des herrlichen Liebesidylls Gita=
Gowinda. Jn unserem Jahrhundert werden als hervorragende indische Lyriker
gerühmt: Mumin aus Delhi († 1852), Naçir († 1843), Atasch († 1847),
Mul-Chand, der Übersetzer des Schah-Nameh; endlich Mamnun, der beliebteste
indische Lyriker der Gegenwart u. a. m.
p. Perser. Zu den berühmtesten Lyrikern des 12. Jahrhunderts gehören:
der Odendichter Chakani, und Saadi. Dann begann mit Hafis die Blüte der
persischen Lyrik. (Man vgl. die deutschen Ausgaben: Daumers Hafis, 2. Ausg.
Hamburg 1846. Ferner: Duftkörner aus persischen Dichtern, gesammelt von
Hammer-Purgstall; endlich Rückerts Östliche Rosen &c.) Erwähnenswert sind:
Enweri, Nisami, Dschelaleddin-Rumi, Dschami u. a.
q. China. Als Denkmal der chinesischen Lyrik ist vor allem das von
Rückert in metrischem Deutsch nachgebildete Liederbuch Schi-King zu erwähnen.
r. Araber. Bei den Arabern ist besonders Abu Temmam (der Sammler
der von Fr. Rückert in's Deutsche übertragenen Hamasa) neben vielen andern
Lyrikern zu nennen, die der Leser zum Teil aus der erwähnten Rückertschen
Hamasa kennen lernen kann u. s. w. Vgl. auch von Rückert: Amrilkais &c.,
sowie Hariri &c.
s. Türken. Die beiden größten Lyriker der Türken waren Tedschati
(† 1508) und der unsterblich gepriesene Baki († 1600) u. s. w.
Anthologien und Hilfsmittel.
a. Für andere bedeutende Lyriker fremder Litteraturen, die hier begreiflicherweise
nicht genannt werden konnten, sowie für ausgewählte Proben verweisen
wir 1. auf Jolowiczs Polyglotte der orientalischen Poesie (Leipzig 1856), sowie
2. auf Scherrs Bildersaal der Weltlitteratur (Stuttg. 1848 und 1869).
Erstere Anthologie umfaßt Chinesen, Jnder, Hebräer, Araber, Perser, Syrer,
Türken, Tscherkessen, Afghanen, Armenier, Mongolen, Kalmücken, Turkomanen
Kurden, Yesiden, Javanesen, Malayen, Bugis, Makassaren und Madagassen
Scherr behandelt Jndien, China, Hebräer, Arabien, Persien, Türkei, Hellas,
Rom, die Troubadours, Jtalien, Spanien und Portugal, Frankreich, England,
Schottland, Jrland, Nordamerika, Deutschland, Niederland, Skandinavien, sowie
die Slavenländer: Böhmen, Serbien, Polen, Rußland nebst Ungarn und
Neugriechenland &c.
Für Proben aus deutschen Lyrikern, die wir zum Teil nicht einmal erwähnen
konnten, machen wir auf folgende Auswahlen aufmerksam: W. Menzel,
Die Gesänge der Völker (Leipzig 1851). J. Schenkel, Deutsche Dichterhalle
(Mainz. 2 Aufl. 1856). Rud. Gottschall, Blütenkranz neuer deutscher Dichtung
(Breslau, 9. Aufl. 1878). E. Kneschke und M. Moltke, deutsche Lyriker
seit 1850 (Leipzi. 3. Aufl. 1873). Maxim. Bern, deutsche Lyrik seit Goethes
Tode (Leipzig). Gödeke, a. Elf Bücher deutscher Dichtung von Sebast. Brant
bis auf die Gegenwart (2 Bände. Leipzig 1849); b. Edelsteine aus den
neuesten Dichtern (Hannover 1851); c. Deutsche Dichtung im Mittelalter
(Hannover 1852. Neue Ausg. 1871) u. s. w.
Für ein beschauliches Betrachten einzelner hervorragender Lyriker dürfte
sich neben andern in dieser Poetik bereits genannten Hilfsmitteln besonders
auch die durch freundliche Detaillirung &c. sich auszeichnende, bereits in 5. Aufl.
erschienene Deutsche Nationallitteratur des 19. Jahrhunderts von
Rud. v. Gottschall empfehlen, die auch wir hie und da (z. B. Bd. I. § 18)
zu Rate ziehen konnten.
Drittes Hauptstück.
Die didaktischen Dichtungen. ──────
§ 78. Einteilung der didaktischen Dichtungen.
Wir unterscheiden 1. symbolische Didaktik, 2. Didaktik mit besonderer
Tendenz, 3. eigentliche Didaktik.
Das belehrende (instruktive), zugleich aber auch das erhebende, erbauende,
belebende Element der didaktischen Dichtungen kann vom Dichter auf eine dreifache
Weise eingeführt werden:
1. Er kann einen Gedanken, eine Jdee in einem Bilde versinnlichen.
Diese Art einer Jnstruktion im höheren Sinne dieses Wortes, in welchem wir
es nicht mit bloßem „Unterrichten“ verwechseln dürfen, kann man füglich als
symbolische Didaktik bezeichnen.
2. Jn einer anderen Art wirkt der didaktische Dichter dadurch, daß er
der Verkehrtheit oder Einfalt gegenüber Jronie, Spott, Satire, Humor u. s. w.
anwendet, indem er je nach seiner Gemütsart nicht offen bessern oder belehren,
vielmehr durch Feinheit des Witzes und Humors auf die rechte Bahn leiten will.
Dieses charakteristische Verfahren bedingt das Lehrgedicht mit besonderer
Tendenz.
3. Jn einem dritten Fall spricht der Dichter seine Gedanken, Jdeen,
Belehrungen als solche unverblümt aus, die, weil er Dichter ist, immerhin
poetisch=künstlerisch sein werden. Es entstehen auf diese Weise die eigentlichen
didaktischen Gedichte.
Somit haben wir drei Arten Lehrgedichte, welche (je nachdem sie einen
einzelnen Gedanken oder eine Reihe von belehrenden Jdeen aussprechen) entweder
kurze Sinngedichte, oder einfache didaktische Gedichte,
oder große Lehrgedichte sein können. Nach diesen Gesichtspunkten ergiebt
sich die folgende Einteilung:
I. Symbolische Didaktik.
1. Fabel.
2. Parabel, Paramythie.
3. Sinnbild.
4. Allegorie.
a. Allegorie.
b. Rätsel.
II. Didaktik mit besonderer
Tendenz.
1. Satire.
2. Travestie und Parodie.
3. Humoristische Dichtungen.
III. Eigentliche Didaktik.
1. Jdeale Gedankenlyrik.
2. Kulturhistorisches Gedicht.
3. Epigramm.
a. Sinngedicht.
b. Gnome, Spruch.
4. Poetische Epistel,
Heroide.
5. Kurze lyrisch=didaktische
Formen.
6. Wirkliches Lehrgedicht.
I. Symbolische Didaktik.
§ 79. Fabel.
1. Eine kurze, einfache, erdichtete Erzählung, welche der Sprache
unfähige Geschöpfe, oder auch leblose Gegenstände sprechend und handelnd
einführt, um in belehrender Absicht dem Menschen sein eigenes
Bild vorzuhalten, oder einen Erfahrungssatz aus dem Gebiet der Sittlichkeit
zu versinnlichen, heißt Fabel (griech. αἶνος == Spruch ─ verwandt
mit aio? ─; lat. fabula von fari == sagen). Jhre Lehre (didaxis)
bezieht sich lediglich auf einfache moralische Wahrheiten, auf Verhaltungs=,
Klugheits- und praktische Lebensregeln, weniger auf tiefe Wahrheiten.
2. Die Fabel verlangt Einfachheit, Kürze, Kindlichkeit, und Beachtung
des Charakters ihres Objekts.
3. Sie ist gleich der Mythe eine der ältesten Gattungen der
Poesie. Der Vater der Fabel ist Äsop.
4. Jm Mittelalter hieß bei uns die Fabel auch Bîspël, von bî
bei und spël Rede, Erzählung (gleichsam παραμυθία).
5. Lessing bildet in der Geschichte der Fabel eine Epoche.
6. Fröhlich brachte ein lyrisches Motiv in die Fabel.
7. Das deutsche Sprichwort ist teilweise das übriggebliebene
Epimythium (Lehre, Nutzanwendung) untergegangener Fabeln.
8. Die metrische Form ist vorzuziehen.
9. Das Einteilungsprinzip ist ein mannigfaches. Gewöhnlich
unterscheidet man ernste und humoristische Fabeln.
1. Lessing definiert den Begriff der Fabel folgendermaßen: „Wenn wir
einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen,
diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus
dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt
diese Erdichtung eine Fabel.“
Vischer sagt: „Die Fabel ist im besten Sinn ein Stück Bauernpoesie.
Die Bauernklugheit entnimmt aber praktische Sätze, Regeln des Lebensverstandes [161]
aus dem verwandten Naturleben, namentlich aus dem Egoismus, der
Sinnlichkeit, der List der Tiere.“
Obwohl ihrer Form und ihrer Natur nach zu den epischen Dichtungen
gehörig, vereint die Fabel wie keine Dichtungsgattung die Zwecke und Teile der
didaktischen Poesie. Unter der symbolischen Hülle des tierischen Jnstinkts stellt sie
ihre Lehren als Handlungen der Tiere dar. Diese didaktische Tierfabel ist aus der
epischen Tiersage entstanden. Die epische Tiersage beschränkt sich aber lediglich auf
Tiere, welche ihre Orte wechseln können und durch ihre Art von Sprache und verständigem
Urteil zur Übertragung menschlicher Geschichten auf die Tierwelt anreizen.
Später gestattete man der Phantasie größeren Spielraum und führte neben
Tieren auch Pflanzen und leblose Gegenstände redend ein. Auf dem Standpunkt
heutiger Bildung dürfen anorganische und andere beliebige Gegenstände
der Natur die Stelle der Tierwelt vertreten. Es kann z. B. das Schilfrohr zur
Bezeichnung der Charakterlosigkeit dienen, die Eiche als Symbol der Kraft, der
Selbständigkeit u. s. w.
Menschen machen in der Fabel die geringste Wirkung, weil sich so leicht
die menschlichen Leidenschaften mit in's Spiel mischen und die naive Anschauung
wie die Überzeugung von der Wahrheit verhindern. Man würde auch immer
erst eine Charakteristik vorausschicken müssen, was bei Tieren mit ihrem bekannten
typischen Charakter und bestimmten Jnstinkt überflüssig ist, bei dem sogar die
Handlung den Schein einer Notwendigkeit trägt.
Die Erzählung in der Fabel ist nicht eigentliche Absicht, vielmehr ist die
Erzählung nur für Vermittlung einer Moral gegeben. Das was die Fabel
lehrt, heißt ihre Moral. Diese aus der Fabel zu schöpfende Moral (Lehre
oder Nutzanwendung) ist oft ihrer Erzählung angehängt. Jn diesem Fall heißt
sie Epimythium (ἐπιμύθιον == Nachwort), das im Latein regelmäßig eingeleitet
wird mit haec fabula docet. Jst die Lehre am Anfang ausgesprochen,
so heißt sie Promythium.
2. Anforderung. Die Fabel muß einfach, naturgemäß, kurz, anschaulich,
verständlich in Bildern und Sprache, kindlich im Tone sein, damit das
niedere Volk und die Kinderwelt, für welche diese didaktische Volksdichtung
geschrieben zu sein scheint, ihre Moral leicht zu erkennen vermögen. Das
redende oder handelnde Tier muß so gewählt und gezeichnet sein, daß der
Mensch in ihm seine eigenen guten und bösen Eigenschaften erkennt. Die Bestimmtheit
der Charaktere (z. B. die List des Fuchses, die Treue des Hundes,
die Trägheit des Esels u. s. f.) darf von dem Dichter nicht verändert werden.
Nur dadurch, daß z. B. der Esel ein Esel bleibt (also nicht etwa den Mut
des Löwen zeigt), bleibt die Fabel naiv, wirklich. Die Fabel will nicht als
Allegorie, sondern als Wirklichkeit aufgefaßt sein. Es sind deshalb nur Regeln
und Wahrheiten für das gewöhnliche Leben, welche in der Fabel ihren Ausdruck
finden, weil ja höhere Wahrheiten und tiefe erhabene Regungen des
Menschenherzens nicht auf die Tiere zu übertragen sind.
Die Poesie der Fabel besteht nach Götzinger darin, daß der Dichter in
eine Sache, die an und für sich nur dem Verstande einleuchten soll, poetisches [162]
Leben bringt; daß seine Figuren also nicht bloß als personifizierte Abstrakta
auftreten, sondern eine lebendige, bestimmte Gestaltung gewonnen haben; daß
er unser Jnteresse nicht nur für den Sinn der Fabel erregt, sondern für die
Form derselben; daß also die Fabel uns nicht mehr als bloße Einkleidung
erscheint, sondern als selbständiges Werk, welches uns erfreut, auch wenn wir
gar nicht auf Sinn und Zweck desselben sehen.
3. Die Fabel (wie ja auch ihre für sittliche Lehren von höherer Bedeutung
geeignete Seitenart: die Parabel) entwickelte sich am frühesten bei den
Orientalen: den Jndern und den Juden, welche letztere die ältesten Fabeln
und Parabeln besaßen. (Z. B. Richter 9. 8─15, und 2. Sam. 12. 1─4.)
Die Griechen hatten nach dem Tierepos Batrachomyomachie (das
fälschlich dem Homer zugeschrieben wird) die kurze, präcise, die Absichtlichkeit
auf der Stirn tragende Fabel von Äsop um 600 v. Chr. (bearbeitet von
Babrios im 2. Jahrhundert v. Chr.) mit ihrer Nutzanwendung. Man nennt
diese äsopische Fabel die epigrammatische.
Die Lateiner, welche dem Äsop als dem Vater der Fabel nachdichteten,
besonders Phädrus, liebten ebenfalls den moralischen Anhang.
Dies war auch bei unsern Fabeln des Mittelalters der Fall, die den
Lateinern nachgedichtet sind. Unsere Fabel wurde bald redseliger, als bei den
Lateinern und den Griechen, und erhielt nach dem Latein eine angefügte Moral.
Wir hatten bereits einen um den Fuchs Reinecke gesammelten Tiersagenkreis,
ließen uns aber gern die äsopische Fabel gefallen. Man behandelte
und verdarb teilweise einheimische Tiersagen; d. h. man äsopisierte sie
ebenso, wie man äsopische Fabeln nationalisierte. So verschwand die epische
Tiersage aus der Poesie der Gebildeten und das dem Altertum entlehnte
Fremde, die didaktische äsopische Tierfabel, siegte. (Jm Fuchs Reinhart, wie
später in Rollenhagens Froschmäusler (1505), welch letzterer auf der
Batrachomyomachie aufgebaut war, wiederholte sich der Versuch, eine ganze Epopöe
didaktisch auszuführen, wobei trotzdem der symbolische Charakter (d. i. die Lehrabsicht)
fehlt. Reinecke Fuchs, der bis nach Altindien hinüber reicht, und den
Goethe in's Hochdeutsche übertrug, war anfangs auch bloß eine harmlose Schilderung
des Tierlebens, und der Erzählung wegen da. Erst später wurde er absichtlich
zum Sinnbilde des Menschenlebens gemacht, das ja dem Tierleben in
so vielen Beziehungen so ähnlich ist, wurde er episch=didaktisch.)
4. Die didaktisch gemeinten Fabeln und Erzählungen bezeichnete man im
Mittelalter durch den gemeinschaftlichen mittelhochdeutschen Namen „Bispel“,
woraus unser Wort Beispiel wurde. (Nicht verwandt mit spel ist das Spiel,
wohl aber in Kirchspiel. Grundwort lat. (s)pellare, z. B. ap ─ anreden,
com ─ bereden; frz. épeler, engl. spell, wovon go(d)spel == Gotteswort,
Evangelium, demnach bîspël == Nebenerzählung : Parallele.)
5. Lessing bildet in der Geschichte der Fabel eine Epoche.
Er war es, der gegen die allmählich sich einbürgernde Breite und Geschwätzigkeit
der deutschen Fabel reformatorisch vorging und die äsopische Fabel
als Muster hinstellte. Nach seinem Vorgang beschränkte man sich bei uns in [163]
den Fabeln auf ein Ereignis und befleißigte sich der äsopischen Kürze. Jn
seinen eigenen Fabeln vom Jahre 1759 sucht er irgend einen moralischen
Kern aus der Tierwelt zur Anschauung zu bringen ohne besondere Nutzanwendung:
ohne Epimythium. Seine Nachfolger, die ihm zum Teil in Anwendung
der Prosa folgten, haben ebenfalls dem Leser die moralische Nutzanwendung
überlassen.
6. Fröhlich († 1865) gab der Fabel eine neue Wendung, indem er sie
aus dem Gebiet der Epik dem der Lyrik näherte, die Wirklichkeit weniger verstandesmäßig
als gemütlich auffaßte und seinen Fabeln, bei denen er die sittliche
Bedeutung in die Handlung legte, poetische Form ohne Epimythium verlieh.
7. Von vielen alten Fabeln blieb nur ein kurzer Rest übrig, den man
Sprichwort nennt.
Somit ist das Sprichwort einer paläontologischen Betrachtung fähig und
wert. Es ist eine Art versteinertes Knochengerüste früherer, in Vergessenheit
geratener Fabeln.
8. Bezüglich der Form der Fabel ist metrische Gestaltung der Prosa vorzuziehen.
Lessing hat nach seinem eigenen Geständnisse nur deshalb Prosa
gewählt, weil er befürchtete, Reim und Silbenmaß werden hie und da dem
naiven Ausdruck entgegen treten oder ihn ─ den Meister ─ meistern.
9. Man kann die Fabel einteilen in a. theoretische (Verstand bildende),
b. sittliche (Willen bestimmende), welche beide Arten ein Ereignis in
der Natur als Gesetz darstellen für die allgemeine Weltordnung, der auch der
Mensch gehorchen muß; die Geschichte der Fabel zeigt hier, wie es in der
Welt geht; c. Schicksalsfabeln, welche das Walten einer höheren
Macht im Erdenleben als Nemesis zeigen; die Lehre der Fabel heißt sodann:
so mußte es kommen; das sind die Folgen.
Sonst teilt man die Fabeln noch ein: in ernste und in humoristische
Fabeln; ferner in Fabeln mit angehängtem Epimythium und ohne ein solches;
endlich in Tierfabeln und solche, welche leblose Gegenstände redend einführen.
Beispiele der Fabel.
A. Tierfabel.
a. Mit Epimythium.
Das Schäfchen und der Dornstrauch, von Hagedorn.
b. Tierfabel, die das Epimythium dem Leser überläßt.
Das Johanniswürmchen, von Pfeffel.
B. Fabel, die leblose Gegenstände redend einführt.
a. Mit Epimythium.
Der Eppich und der Thymian, von Pfeffel.
b. Ohne Epimythium.
Niederes Loos, von Abr. Em. Fröhlich.
Litteratur der Fabel.
Als Fabeldichter sind zu nennen: Bei den Griechen Äsop (geb. in
Phrygien um 550 v. Chr.). Er war ursprünglich Sklave und lebte dann
am Hofe des Krösus. Seine nur durch Erzählung fortgepflanzten Fabeln
wurden 300 v. Chr. gesammelt und erst im 2. Jahrh. v. Chr. von dem
griechischen Dichter Babrios in choliambische Verse gebracht. Jhm dichtete der
Römer Phädrus nach (kurz v. Chr. Geburt). Er schrieb im jambischen Trimeter
Fabulae Aesopiae in 5 Büchern; 60 Fabeln hievon scheinen eigener Erfindung.
32 wurden erst 1727 aufgefunden. Von Phädrus haben teilweise die Stoffe entlehnt:
Stricker, als der älteste deutsche Fabeldichter (Mitte des 13. Jahrh.). Boner
(1340. Edelstein; es sind dies 2100 Fabeln in einfacher Sprache, die lange
ein Lieblingsbuch waren). Gerhard von Minden, Burkhard Waldis
(letzterer der bedeutendste Fabeldichter des 16. Jahrhunderts, der als solcher
über Luther, Hans Sachs und Alberus von Neubrandenburg im Mecklenburgischen
steht, welch letzterer durch seine Sammlung von 49 satirischen Fabeln
bekannt ist. Waldis schrieb den „Neuen Esop“, eine Sammlung von 400
teils selbst erfundenen, teils nachgebildeten Fabeln). Dann seit 1740 die
Mehrzahl der Fabeldichter von Hagedorn und Gellert bis Fröhlich.
Von den Arabern ist zu nennen Lokman. Er lebte lange vor Muhamed.
Seine Fabeln sind den Äsopischen ähnlich, weshalb man vermutete, daß teils
aus dem Sanskrit, teils aus dem Griechischen verschiedene Fabeln in's Arabische
übertragen und Lokman zugeschrieben wurden.
Von den Jndiern sind erwähnenswert die Sammelwerke 1. Hitopadesa.
(Die Dichter der Fabeln der Hitopadesa sind unbekannt. Die Hitopadesa
wurde teilweise von Rückert übertragen oder benutzt. 1844 übersetzte
sie auch Max Müller.) 2. Die Fabelsammlung Pantschatantra, die der Brahmine
Wischnu Sarma vereint haben soll und deren Fabeln sich als Fabeln
des Bidpai erhalten haben. (Der persische König Chosru Nuscherwan ─
6. Jahrh. v. Chr. ─ ließ diese vom Weisen Bidpai erhaltenen Fabeln aus
Jndien holen. Nach der Eroberung Persiens durch die Araber wurde die
Sammlung des Bidpai in's Arabische übertragen; so ist sie uns erhalten worden.)
Der Rosengarten des Saadi (persisch == Gulistan) und Der
Fruchtgarten desselben Dichters († 1291 zu Schiras) sind bei den Persern
berühmte Fabelsammlungen.
Bei den Engländern sind Gay und Mandeville zu nennen. (Mandevilles
Bienenfabel ist eine in gereimten Knüttelversen geschriebene Erzählung,
die um 1714 das größte Aufsehen erregte, indem die große Jury das Buch
als eines der unsittlichsten denuncierte, während es doch nur nachweisen wollte,
wie aus dem Schlimmen oft Gutes erwächst. Jn seinem Bienenstocke sorgt
alles nur für sich, die Juristen, die Ärzte, die Geistlichen, die Minister &c.;
doch prahlte alles mit Ehrlichkeit. Jeder betrog und jeder rief: fort mit den
Betrügern! Merkur lachte. Aber Zeus erlöste den Staat vom Betrug. Da
sanken die Lebensmittelpreise &c. Keine Biene machte mehr Schulden, man
imponierte nicht mehr nach außen. Man brauchte keine Künstler, keine Gewerbtreibenden [166]
mehr; ein Kleid genügte, die Genügsamkeit sammelte keine Schätze:
der Staat wurde volklos. Die Moral lautet: Also lasset die Klagen.
Die Reize der Welt, im Kriege Ruhm, und zugleich im Leben Luxus verlangen
ohne große Laster, ist ein eitles, utopisches Hirngespinst. Durch die Gerechtigkeit
gebändigt, hat auch das Laster sein Gutes; ja, sogar, wo das Volk
groß dastehen will, ist es dem Staat ebenso notwendig, wie der Hunger notwendig
ist, um zum Essen zu treiben u. s. w. Die Tendenz dieser Fabel ist
nach dem Erwähnten ebensowenig eine Empfehlung des Lasters, als es eine
Empfehlung des Zwanges wäre, wenn man sagt: „Hoffahrt muß Zwang
leiden“ u. s. w.).
Von den zu uns verpflanzten Franzosen sind besonders zu nennen La
Motte und La Fontaine, dessen humoristische Fabeln dem Tiere den gesellschaftlichen
Unterhaltungston verleihen. (Vergl. Edition corrigée Paris Libr.
classique d'Eugene Belin.)
Jn Deutschland sind außer den oben Genannten zu erwähnen: Hagedorn
(z. B. der Hahn und der Fuchs; der Bauer und die Schlange). Kleist
(der gelähmte Kranich); Gellert (er war wie Lichtwer und Gleim meist satirisch
oder epigrammatisch; seine Sprache ist rein und seine Versifikation leicht,
so daß er das Vorbild der meisten Fabeldichter der Folgezeit wurde). Eine
gute Sammlung von Fabeln (Fabellese) gab Ramler heraus. Michaelis
(† 1772, z. B. Die Stadtmaus und die Feldmaus). Lichtwer schrieb vier
Bücher Äsopischer Fabeln (z. B. Die Katzen und der Hausherr; Der Affe und
die Uhr). Gleim (z. B. Der Greis und der Tod; Der Hirsch der sich im
Wasser sieht). Müchler (Der Affe). Langbein (Das Pferd und der Stier).
Tiedge (Das Privilegium). Pfeffel (schrieb sentimental=satirische Fabeln, z. B.
Der Wolf, der Schöps und das Reh; Ochs und Esel zankten sich &c.). Gottl.
Meißner († 1807. Fabelsammlung). Bertuch, der verdienstvolle Herausgeber
des Bilderbuchs für Kinder in 237 Heften, schrieb wertvolle Fabeln von denen
mehrere in Fabelsammlungen für Schüler übergingen (z. B. das Lämmchen;
das milchweiße Mäuschen).
Der Reformator der Fabel, der sie in seinen „Abhandlungen über die
Fabel“ wissenschaftlich begrenzte, war Lessing.
Er hat häufig den Stoff anderer Fabeln benutzt, um neue zu bilden.
So läßt er z. B. das Stück Fleisch, welches bei Äsop dem Raben aus dem
Schnabel fällt, vergiftet sein und erhält nun die Fabel: Der Rabe und der
Fuchs. Oder er gestaltet die Moral edler (in Fab. Aes. 112). Oder unter
Benützung des hauptsächlichsten Moments einer Fabel macht er eine neue Fabel,
(z. B. wie dem Wolf der Knochen im Halse stecken blieb) u. s. w.
Um die Reform der poetischen Fabel hat sich nach Lessing besonders der
Schweizer Abr. Em. Fröhlich verdient gemacht. (Vgl. Ellengröße; die Sanften;
Wiederfinden &c.) Ebenso that auch Rückert manches für die Fabel. Nach
seinem Vorgang wurde die Fabel für Kinderlitteratur gepflegt durch Güll,
Hey, Franz Hoffmann, Holzmüller &c.
Von Rückerts Fabeln erwähnen wir:
a. Nicht der Tierwelt angehörige, z. B. Messerchen und Gäbelchen;
b. Aus der Tierwelt, z. B. Sperling und Kater; Die Beichte der Tiere;
Des Hahn Gockels Leichenbegängnis.
Goethe schrieb: Der Adler und die Taube. Jn neuerer Zeit sind nennenswert
K. A. Mayers heitere Fabel Spatz und Spätzin, sowie die Fabeln von
J. Sturm. Die unter dem Titel: „Vom Frühling zum Winter. Zwölf Mährlein
von B. Paul“, in Leipzig erschienenen sogenannten „Märchen“ sind ein
neues Genre dieses Verfassers, der dasselbe bereits durch seine vor einigen
Jahren erschienenen „Abendmärlein für mein Mütterlein“ in die Litteratur
eingeführt hat. Märchen im Schulsinn sind sie nicht; vielmehr könnte man
mehrere derselben Pflanzen- und Tierfabeln nennen, erdichtete Erzählungen, welche
die der Sprache unfähigen Geschöpfe oder Gegenstände sprechend und handelnd
einführen, um das Bild der Menschen zu versinnlichen, Wahrheiten zu verkörpern
oder die Elemente naturwissenschaftlicher Kenntnisse zu verbreiten &c.
§ 80. Parabel.
1. Parabel (griech. παραβολή == Nebeneinanderstellung oder Vergleichung)
ist jene didaktische Dichtungsform, welche durch eine Erzählung
die indirekte Antwort auf eine bedeutungsvolle Frage des
geistigen oder sittlichen Lebens bietet (wie z. B. Lessing auf die Frage
nach der wahren Religion durch die Erzählung von den 3 Ringen antwortet
─ vgl. Nathan III 3).
2. Die Fabel ist ein vergleichendes Beispiel für irgend etwas
Anschauliches, vor Augen Liegendes: die Parabel ist die Analogie für
eine Wahrheit.
1. Nachdem die Tiersage didaktisch geworden war, zog man auch die
menschliche Geschichte, ja selbst die der Götter in das Gebiet des Didaktischen,
und man wählte oft nur fingierte Ereignisse, um den Vorwand einer Lehre zu
erhalten. So war man zur Parabel d. i. zur Gleichniserzählung gelangt,
unter welcher man nunmehr diejenige poetische Dichtung versteht, welche im
Gegensatz zur Fabel höhere Wahrheiten vorzuführen sucht.
Sie knüpft ihre Lehre nicht an Tiere oder redend eingeführte Gegenstände, wie
die Fabel, sondern bei der höheren Bedeutung ihrer sittlichen und religiösen
Wahrheiten gegenüber den einfachen, volksmäßigen Wahrheiten der Fabel an
rein menschliche Verhältnisse (vgl. das Gleichnis vom Säemann. Matth. 13.
3 ff.), oder an geschichtliche Begebenheiten, die immer wieder vorkommen können.
Die Parabel enthält ein Gleichnis, und stellt einen einzelnen Seelenzustand,
eine bestimmte Handlungsweise oder irgend ein Verhältnis des Menschen dar,
nicht als ein einzelnes bestimmtes Ereignis, sondern als etwas Allgemeines.
Sie dient als Sinnbild einer andern Handlung, der ein moralischer Satz als
Bestimmungsgrund des Handelns untergelegt ist. Sie vergegenwärtigt einen [168]
Zustand, wie dieser auch für weitere Zeiten, noch über die Gegenwart hinausreichend,
als zutreffend erscheint. Jhr Zweck ist somit symbolisch vorgeführte
Belehrung.
2. Lehre und einkleidende Anschauung unterscheiden die Parabel von der
Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen Stufe des Lehrhaften stehend,
eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel für sittliche Lehren von
höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen oder im Sinn
des § 116 (Bd. I.) metrisch freien Form fähig. (Vgl. unten Beispiel a.)
Bei der Lehre, welche die Fabel giebt, ist es meist ganz gleichgültig, ob das
Tier ein Fuchs oder ein Wolf, ob der Baum ein Apfelbaum oder ein
Birnbaum, oder eine Eiche ist; bei der Parabel besteht eine bestimmte Wirklichkeit:
die Wirklichkeit menschlicher Verhältnisse, weshalb sie eine höhere Stufe
nach Form und Lehre einnimmt, als die Fabel. Mit der Fabel hat die Parabel
gemein, daß sie irgend eine Wahrheit von allgemeiner Bedeutung durch eine
Erdichtung zur Anschauung bringt. Von ihr unterscheidet sie sich jedoch dadurch,
daß die durch sie ausgesprochene Wahrheit eben dem höheren Geistesleben
angehört und die Auftretenden daher am liebsten Menschen selbst sind.
Nur ausnahmsweise werden Tiere als Symbole gebraucht; in diesem
Falle aber nur edlere Tiere: Löwe, Elephant, Pferd, Kamel. Von der
Allegorie (einer Reihe symbolischer Bezeichnungen) unterscheidet sich die
Parabel dadurch, daß jene nur einen Zustand durch Bilder in ein klares
Licht setzen will, diese aber eine höhere Wahrheit im Bilde anschaulich
macht. Während man daher bei der Allegorie schließlich nur eine Beschreibung
erhält, hat man bei der Parabel eine Belehrung.
Beispiele der Parabel.
a. Die Königswahl der Bäume. Aus dem Buche der Richter von
Amara George. (Aus Mythoterpe. 1858. S. 406.)
b. Der thörichte Mann, von Fr. Rückert.
(Der Vergleichung wegen machen wir auf die Bearbeitung dieser Parabel
durch Rudolf von Hohen-Ems in „Barlaam und Josaphat“ aufmerksam, welche
anstatt des Kamels ein Einhorn nennt; ferner auf die Bearbeitung, wie sie
sich im „Buch von den sieben Weisen“ findet. Vgl. unsere Studie in Nachgel.
Ged. Rückerts. Wien, Braumüller. 1878. Von den übrigen Parabeln Rückerts
sind: „Jm Feld der König Salomo“, und „Es ritt ein Herr, das war sein
Recht“ und „Die vier Thüren“, welche an Lessings Erzählung von den 3
Ringen erinnern, in die besseren Schullesebücher und Mustersammlungen übergegangen.
Desgleichen die allbekannte „Des fremden Kindes heiliger Christ“,
eine legendenartige Parabel. Man vergleiche auch die vielen Gleichnisse in
Rückerts „Leben Jesu“, denen des neuen Testaments nachgebildet, wie z. B.
Der Weinstock und die Rebe; Der Säemann.)
c. Parabel von Herder. (Ausgew. Werke. 1844. S. 104.)
Zur Litteratur der Parabel.
Die ältesten Parabeln finden wir in der Bibel, namentlich in den Gleichnissen
Jesu. Durch Herder und später durch Rückert wurde die Parabel
aus dem Orient zu uns gebracht. Seitdem hat man auf ethischen, religiösen
und ästhetischen Gebieten durch sie gewirkt. Die meisten Parabeln sind in
Prosa geschrieben, z. B. die von Krummacher (1768─1845), der seine
Berühmtheit nur seinen kindlich frommen Parabeln zu danken hat. Hervorragende
Parabeldichter sind ferner: Kosegarten (Das Gesicht des Arsenius),
Herder (Wozu es wird), Voß, Richter, Niemeyer, Bürger, Schiller
(Das verschleierte Bild zu Sais), Chamisso (Die Kreuzschau), Agnes
Franz, Amara George u. a.
§ 81. Paramythie.
1. Paramythie (griech. παραμυθία == Ermunterung oder Ermahnung,
Erholung, Trostrede) ist eine Art Parabel, in welcher mythische
Wesen, also Götter aus der Mythologie, Engel, überhaupt höhere übermenschliche
Wesen u. s. w. auftreten.
2. Den Namen erhielt diese Dichtungsart durch Herder.
1. Die Paramythie hat mit der Parabel gleiche Absicht, indem sie sittliche
und religiöse Wahrheiten zur Anschauung bringt.
2. Folgende Stelle von Herder (Ausgewählte Werke, 1844. S. 272)
möge die Benennung dieser Dichtungsart zeigen:
Theano. Paramythien? Was bedeutet das Wort?
Demodor. Paramythion heißt eine Erholung; und wie Guys erzählt,
nennen noch die heutigen Griechinnen die Erzählungen und Dichtungen, womit
sie sich die Zeit kürzen, Paramythien. Jch konnte den meinen noch aus einem
dritten Grunde den Namen geben, weil sie auf die alte griechische Fabel, die
Mythos heißt, gebauet sind und in den Gang dieser nur einen neuen Sinn legen.
Theano. Ein schöner Name zu einer schönen Sache: denn Demodor,
ich wünschte, daß ich alle abgetragene, zu oft gebrauchte Märchen der Mythologie
wenigstens in einer neuen Absicht wiederkommen sähe. Ja, mir wäre
es lieb, wenn ich jeden schönen Gegenstand um mich her mit einer Dichtung
aus alten Zeiten gleichsam verwandeln und neu zu beleben wüßte.
Demodor. Versuchen Sie es, Theano, und Sie werden unvergleichbar
schönere hervorbringen, als hier versucht sind. Wissen Sie, wie diese entstanden?
Durch das Spiel eines Wettstreites auf einigen Spaziergängen. Zwei
Einsiedler gaben sich auf einigen ihrer Spaziergänge Gegenstände auf, darüber eine
Fabel, eine Dichtung oder was ihnen sonst einfiele, zu sagen. Jch war einer
derselben, setzte auf, was gesagt wurde, und so sind diese Erzählungen worden.
Jn einigen werden Sie noch Spuren des Wettstreites finden.
Theano. Ein Spiel, das nicht jedem glücken wird.
Demodor. Jhnen gewiß, und ich sehe schon schöneren Paramythien
über einige Jhnen geliebte Gegenstände entgegen. Niemals dichtet die Seele
angenehmer, als in solchen Spielen, und ich wollte, wie schon Lessing bei der
Äsopischen Fabel gesagt hat, daß man auch Kinder darin übte.
Die alte Mythologie würde ihnen durch diese Verwandlung lieb werden,
ihre Erfindungskraft wird geschärft, und ich habe Proben, wie naive Gedanken
zuweilen aus der Seele eines Schoßkindes der Natur, das alle Gegenstände
noch mit neuer, frischer Liebe ansieht, lieblichen Knöspchen gleich, hervorkeimen.
Da Sie diese kindliche Einfalt lieben, Theano, will ich Jhnen zu einer andern
Zeit einige derselben mitteilen.
Theano. Und ich will versuchen, ob ich auch noch Kind sein kann, und
mir einige Gegenstände jugendlich malen. Wenn nicht so blumenreich ─
Demodor. Das Blumenreiche gehörte hier zu den Gegenständen; sonst
wäre es ein Fehler. Je schöner Jhre Dichtung sein wird, desto weniger hat
sie des Schmucks nötig. Sie kennen das griechische Epigramm:
Beispiele der Paramythie.
Die gefallenen Engel, von Rückert.
(Sinn: Sprecht nicht Geheimnisse denen gegenüber aus, die niedriger
stehen, als ihr; sonst fallt ihr, während sich jene über euch erheben.) (Vgl.
noch von Rückert die Paramythie „Wischnu auf der Schlange“, deren Sinn
ist: Nichts ist ganz unabhängig von Gott, ohne Geist wächst kein Stoff.)
Die Nektartropfen, von Goethe.
Zur Litteratur der Paramythie sind neben Herder (das Kind der Sorge),
Rückert und Goethe zu nennen: Krummacher, Agnes Franz, Richter, Schiller,
Daumer, Al. Kaufmann u. a.
§ 82. Sinnbild.
1. Sinnbilder sind symbolische Gedichte, welche keinen religiösen
Charakter haben, auch nicht die Sprache der biblischen Gleichnisse
nachahmen, sondern im Bilde eine allgemeine Wahrheit darstellen, ohne
Lob oder Tadel (vgl. § 91 das Sinngedicht). Sie sind der Ausdruck
einer übersinnlichen Wahrheit durch etwas Sichtbares, durch die Sinne
Wahrnehmbares.
2. Sie unterscheiden sich von der Allegorie und vom Gleichnis.
(S. Bd. I. § 35. und § 39.)
1. Jmmer sind es menschliche Gefühle, Jdeen und Zustände, welche
im Sinnbilde gezeichnet werden. Das Sinnbild bedeutet wie die Allegorie
etwas anderes, als es äußerlich darstellt.
2. Doch unterscheidet es sich von der Allegorie dadurch, daß es immer
nur ein Symbol für einen sinnlichen Gegenstand giebt, während die Allegorie
eine Reihe Symbole zu einem Ganzen vereint, zu einem Sinnbild für eine
Jdee. (Vgl. § 83.) Die einzelnen Jdeen des Ganzen entsprechen den einzelnen
Eigenschaften des sinnlichen Gegenstandes.
Vom Vergleich unterscheidet sich das Sinnbild dadurch, daß jener die
Sache nicht statt der andern nennt, sondern nur neben ihr.
Rückert definiert den Begriff des Sinnbilds folgendermaßen:
(Ges. Ausg. VIII. 43.)
Beispiele des Sinnbildes.
Den Gärtnern, von Rückert.
(Sinn: Die Erziehung darf natürliche Triebe und Anlagen nicht hemmen.)
(Heinrich Leuthold, Gedichte. 1880. S. 193.)
Weitere Beispiele des Sinnbilds s. bei Rückert: Die Cypresse,
sowie in dessen 7. Buch der Weisheit des Brahm.
Seidl: Gärtner Tod.
Herder: Der Regenbogen. Wünsche.
Logau: Heutige Weltkunst. Die deutsche Sprache.
Pfeffel: Die Wiege.
Lessing: Auf einen Lügner.
Schiller: Übereinstimmung &c.
§ 83. Allegorie.
1. Als Tropus nennt man bekanntlich schon Allegorie (vgl. Bd. I.
§ 39. S. 173) eine gedanklich zusammenhängende Reihe von Metaphern. Note:
Als Dichtungsgattung versteht man unter Allegorie die durch Verbindung
mit Sinnbildern zum abgeschlossenen dichterischen Ganzen
erweiterte Allegorie, die ein bestimmtes Bild ausführt. (Vgl. Bd. I.
S. 176.)
2. Die Allegorie hat (wie das Gleichnis, das Sinnbild und die
allegorisierende Fabel) die Absicht, einen bestimmten, lehregebenden Zustand
zu veranschaulichen.
3. Das Element der Allegorie ist das konkrete Symbol (oder
auch das Emblem).
4. Dieses ist von jeher in allen Künsten ein treibendes Agens
der Darstellung gewesen.
1. Als Dichtungsgattung bezeichnet Allegorie ein Gedicht, welches einen
übersinnlichen Gegenstand durch Anwendung von Bildern versinnlicht (z. B.
Jdeen und personifizierte Kräfte als Gottheiten), so daß die einzelnen Momente
des sinnlichen Gegenstandes den Momenten des zu vergleichenden Jdealen entsprechen.
Die Dichtungsgattung Allegorie nennt den Gegenstand ebensowenig,
als der Tropus Allegorie, aber sie stellt ihn in einem vollkommen durchgeführten
Bilde dar. Sonach kann man sagen: Die Allegorie ist ein
Gedicht, welches einen Gedanken unter einem, diesem verwandten
Bilde anschaulich darstellt und mit dem Bilde vollständig durchführt
(z. B. Das Mädchen aus der Fremde, von Schiller).
2. Als didaktisches Gedicht verfolgt die Allegorie (wie das Sinnbild und
das Gleichnis) den Zweck, einen Zustand durch Bilder in ein klares
Licht zu setzen, während die moralisierende Parabel eine Wahrheit im
Bilde veranschaulicht und die allegorisierende Fabel das Treiben der Menschen
unter der Tiermaske enthüllt.
3. Ein einzelnes Symbol zur Veranschaulichung der Poesie ist z. B. die
Lyra. Eine Summe von Symbolen (z. B. im „Mädchen aus der Fremde“
von Schiller) veranschaulicht ebenfalls die Poesie. Diese Veranschaulichung ist
zur Dichtungsgattung Allegorie geworden. Für die Stärke dient das Symbol
„Eiche“ oder „Löwe“. Dasselbe Konkretum kann dienen zur Allegorie eines
Gattungsbegriffes (z. B. die einzelnen Eigenschaften der Eiche für einen Charakter).
Nicht aber ist etwa jedes einzelne, welches aus dem Zusammenhang der Allegorie
genommen würde, ein Symbol zu nennen. Oft hat es nur in der
ganzen Reihe symbolische Geltung.
4. Eine schöne Vereinigung der Symbole zu einer sinnlichen Allegorie war
zu allen Zeiten eine der edelsten Freuden gefühlvoller Naturen. Nur wenige
Sätze mögen ausführen, wie alle Vereinigungen ihre allegorischen Symbole haben.
Jm Mittelalter begann unter dem Einflusse der religiösen Vorstellungen
das Bedürfnis des Symbolisierens auf die Baukunst einzuwirken, weshalb
die gothische Bauart meistens den Charakter des Symbolischen trägt, bis die
Renaissance auf die Antike zurückgriff und ihre Formen zu freier Verzierung
verwandte.
Die spätere Entwickelung zeigt, (abgesehen von naturwidrigen Gestalten,
wie im sogenannten Jesuiten=, Zopf=, Rokoko- und Barockstil), das Gepräge
eines dem sich reinigenden Zeitgeschmack entsprechenden Eklektizismus, in welchem
das Symbolische nur im gefälligen Schmucke als plastisches Beiwerk
(z. B. in Bekrönung des Gesimses, oder Treppendekoration &c.) seine Verwendung
findet.
Jhrer Natur nach ist die Plastik hauptsächlich zur Symbolik: zur allegorischen
Personifikation geeignet. (Vgl. Bd. I, S. 176.) Die alten Griechen
gestalteten ihre Götter und Helden anschaulich, wozu die rein plastische Form das
entsprechendste Mittel gewährte, indem sie von der wirklichen Erscheinungswelt
durch ihre Farblosigkeit abzog.
Darum aber ist die Malerei für das Gebiet des Symbolischen unangemessener;
und es mag als eine Verirrung des ästhetischen Geschmacks angesehen
werden, wenn Mythen, antike Vorstellungen, oder sogar Parabeln,
Allegorien &c. in koloristischer Weise zur malerischen Darstellung gebracht werden. ─
Die Poesie, ihrem formalen Wesen nach metaphorisch, bietet ein weites
Feld für das Symbolisieren; aber darin gerade werden in der bildenden Kunst
viele Fehler begangen, weil viele von dem Jrrtum ausgehen, auch das in
jenem künstlerischen Gebiete Mögliche in dem ihrigen darstellen zu können. Die
vielfach verunglückten Gemälde nach Dichterstellen beweisen dies. Die darstellenden
Maler vergessen, daß die Hauptbedingung des von der Poesie ausgehenden
ästhetischen Eindruckes, die Bewegung der poetischen Jdee, der Fluß
der Handlung, der Malerei abgeht.
Jn der Musik zeigt sich das Symbolische darin, daß der Ton (ohne begriffliches
Beiwerk) als Ausdruck einer seelischen Empfindung wirkt. Daher
beweist sich der symbolische Charakter in der wortlosen Musik (in der Symphonie)
am reinsten.
Wenn man endlich die Tanzkunst ihrem Ursprunge nach als bewegte
Plastik der menschlichen Gestalt, als Ausdruck der Bewegung seelischer Empfindungen
auffaßt, ist sie durchaus symbolisch, was sich deutlich genug in allen
Nationaltänzen zeigt; die Liebe besonders gelangt in ihren mannigfachen Äußerungsformen
zum lebendigen, symbolischen Ausdruck. Wenn freilich, wie in
unseren modernen Tänzen, das Bewußtsein vom symbolischen, der Tanzkunst zu
Grunde liegenden Charakter verschwunden ist, verflacht sie zu einer mechanischen,
nur sinnlich aufregenden Bewegung.
Proben der Allegorie.
a. Der treue Gefährte, von Anastasius Grün.
b. Der beste Berg, von G. Herwegh.
Litteratur der Allegorie.
Allegorien finden wir bei den Römern besonders von Claudianus,
bei den Jtalienern von Petrarka und Mestastasio, bei den Franzosen
von J. J. Rousseau, bei den Engländern von Pope. Bei den Deutschen
liebte besonders die romantische Poesie die Allegorie, indem ihre Personen
entweder die Personifikationen der Tugend oder des Lasters waren, oder die
Charaktere wirkliche Personen in anderem Gewande darstellten. (Jch erinnere
für Letzteres an den 1517 erschienenen Teuerdank von Melchior Pfinzing,
der das Treiben am Hof des Kaisers Maximilian I. allegorisch schildert. Vgl.
Bd. I. S. 48.) Deutsche Dichter der Allegorie sind außer Pfinzing noch Joh.
Valentin Andreä († 1654; „Christenburg“, allegorisch=epische Dichtung vom
Kampf und Sieg der lutherischen Kirche vor dem dreißigjährigen Kriege);
Pfeffel (Das Schachbrett; Das Schiff); Krummacher, Herder (z. B.
Tag und Nacht; Der sterbende Schwan u. s. w.); Tieck, Schiller (Teilung
der Erde); Uhland (Bei einem Wirte wundermild; Man höret oft im fernen
Wald); Lessing, Rückert (Die Blumenengel; Der Apotheker; Die hohle
Weide u. a.); Goethe (Gefunden; Zueignung); Novalis (Allegorie auf den
Wein); Chamisso (Tragische Geschichte) &c.
Große episch=didaktische Gedichte mit allegorischer Darstellung sind z. B.
Ernst Schulzes Bezauberte Rose und seine Dichtung Psyche, sowie besonders
Julius Mosens Ritter Wahn und dessen Ahasver. (Jm ersteren Gedicht
wird der Tod, die Erde und das irdische Geschick verherrlicht und die Vergänglichkeit
gerechtfertigt; im zweiten (1838) wird ebenfalls die Jdee einer Rechtfertigung [179]
irdischer Vergänglichkeit zum Ausdruck gebracht. Ahasver ist Repräsentant
des Weltschmerzes und der ganzen Menschheit; er kann nicht sterben, weil er
dem kreuzbeladenen Jesu die Ruhe vor seinem Hause verwehrte &c.)
§ 84. Rätsel.
1. Man versteht in der Poetik unter Rätsel allegorische Gedichte,
welche den zu erratenden Gegenstand andeutend, umschreibend bezeichnen.
Viele stehen an der Grenzscheide der Poesie.
2. Arten des Rätsels sind: Worträtsel, Charade, Logogriph,
Anagramm, Palindrom, Homonyme.
1. Jns Gebiet der Dichtkunst gehören die Rätsel nur dann, wenn sie
weniger kaltes Nachdenken, als Phantasie und Gemüt anregen. Das gute
Rätsel kann man daher das Rätsel der Phantasie oder das poetische Rätsel
nennen. Dasselbe muß sowohl durch seinen Jnhalt als auch durch die Schönheit
seiner poetischen Form Jnteresse für den Gegenstand des Gedichts erwecken
und befriedigen, wie wir dies bei den Schillerschen poetischen Rätseln finden.
Man könnte das Rätsel (was auch Wackernagel thut) zu den Epigrammen
zählen. Dasselbe giebt nämlich ─ ähnlich der Priamel ─ eine größere oder
geringere Summe sinnlicher Einzelheiten, die oft gar nicht zusammen zu gehören
scheinen, deren Klausel ein einzelner, alle Merkmale vereinigender Begriff ─
das Subjekt aller Prädikate ─ ist, das der Leser erraten soll. Nach dem
griechischen Bacchusfeste Agrionia, zu dessen Schlusse Rätsel aufgegeben wurden,
heißen sie auch Agrionien (Ἀγριώνια).
Arten des Rätsels.
a. Das Worträtsel.
Das Worträtsel giebt die wesentlichen Merkmale seines von ihm nicht
genannten Objekts an. Es schildert Wesen und Bedeutung des Ganzen, des
zu erratenden Wortes.
Beispiele des Worträtsels.
α.
(Lösung: Feuer, Luft.) (Schiller.)
β.
[180]
(Lösung: Regenbogen.)
(Schiller.)
Bei diesen Worträtseln Schillers schimmert die Lehre als Hintergrund
durch: Man lernt Gott aus seinen Werken kennen. Sie sind Muster
des poetischen Worträtsels. Goethe rügte an ihnen den „schönen Fehler“, daß
sie zu entzückte Anschauungen des Gegenstandes seien, mit andern Worten,
daß sie durch zu anschauliche poetische Ausführung und Ausmalung den Gegenstand
zu leicht erraten lassen. Bei dem rätselreichen Rückert finden sich Worträtsel
in den Makamen des Hariri (Makame 35, S. 248─253 und im
XII. Band seiner Ges. Ausg. S. 279 unter dem Titel: „Der Rätselmann.
Abfälle von Hariris Rätselmakamen“).
Poetischen Wert haben neben den Schillerschen und Rückertschen Worträtseln
die von Mises (Fechner), Apel, Winkler, Tiedge, Kind,
Moser, Houwald, Matthisson, Hebel, Haug, Körner, Ch.
Niemeyer, A. P. Däves, v. Kyaw, Arthur v. Nordstern (Ernst
von Nostitz), Alexander Kaufmann (Rätsel mit einer poetischen Antwort in Unter
den Reben, S. 160) u. a.
b. Charade oder Silbenrätsel.
Die Charade oder das Silbenrätsel giebt erst die Bedeutung der
Silben der Reihe nach, um sodann das ganze Wort erraten zu lassen. Sie
behandelt jede Silbe einzeln, zuletzt das Ganze und besteht somit aus mehreren
zusammenhängenden Rätseln.
Charaden, wie diese von Castelli über Roßbach:
sind gereimte Spielereien, die nicht in das Gebiet der Poesie gehören.
Beispiele der Charade.
α.
(Lösung: Steuermann.)
(Körner.)
β.
(Lösung: Nachtschatten.) (Th. Körner.)
Weitere Beispiele der Charade finden sich bei Körner (Werke, Bd. I.
Rätselspiele), bei Hebel (Zeitlose), Kind (Bachstelze), Matthisson (Rheinfall), Houwald
(Wegweiser), Hauff (Preßfreiheit), K. G. Th. Winkler (Goldpapier, Lichtscheere)
u. a.
c. Logogriph.
Logogriph (von λόγος == Wort und γρῖφος == Rätsel, fälschlich
Logogryph, wie Körner, vgl. Ausg. von 1839, und A. schreiben) ist unser
sogenanntes Buchstabenrätsel. Jhm liegt ein Hauptwort zu Grunde, das durch
Weglassung oder Zusetzung oder auch (wie bei Hebel und Körner) durch
Vertauschung eines oder mehrerer Buchstaben stets einen verschiedenen Sinn
erhält, woraus man sodann dieses Hauptwort selbst mit Sicherheit zu erraten
befähigt wird, (z. B. Tasche ─ Asche, Ziegel ─ Jgel, Hammel ─ Hummel ─
Himmel &c.
Beispiele des Logogriph.
α.
(Semele ─ Seele.)
(K. G. Th. Winkler, Pseud. für Th. Hell.)
β.
(Schmerz.)
[182]
(Merz.)
(Erz.)
(Herz.)
(Scherz.) (Apel.)
Weitere Beispiele des Logogriph.
Körner (Werke I. unter: Rätselspiele).
Tiedge (Greis. Reis. Eis).
Hauff (Treue. Reue).
Krummacher (Schmerz. Merz. Erz. Herz).
F. P. Jakobs (Mohren. Ohren.) u. s. w.
d. Anagramm.
Anagramm (von ἀναγραμματισμός == Buchstabenversetzung). Es
bedeutet die Versetzung eines oder mehrerer Buchstaben eines oder mehrerer
Wörter, so daß ein anderes Wort oder ein anderer Satz daraus wird. So
entsteht aus Lampe == Ampel, aus Leib == Blei, aus Revolution française
== un Corse la finira, aus Carl Heun == Clauren, aus Lange == Nagel
─ Angel ─ Algen ─ Galen (Schriftsteller), aus Faulpelz == Paul Felz.
Eine Reihe Schriften sind dieser dem Orient entstammenden müßigen
Spielerei gewidmet (z. B. Wheatty, On Anagrams etc. London 1862).
Beispiele des Anagramms.
α.
[183]
(Rose.)
(Eros.) (Th. Körner.)
β.
(Lösung: Ampel == Lampe.) (Hebel.)
e. Palindrom (Doppelrätsel).
Palindrom (Rückwärtslesung von παλίνδρομος rückläufig == versus
cancrinus) war ursprünglich ein Vers, welcher von vorn oder rückwärts gelesen
gleich lautete (z. B. Otto tenet mappam, madidam, mappam tenet
Otto). Als Rätselform bezeichnet Palindrom ein Wort, welches rückwärts gelesen
ebenfalls ein Rätselwort ergiebt (z. B. Regen ─ Neger). Es ist somit
ein Doppelrätsel.
Beispiele des Palindroms.
α.
(Lösung: Leben, Nebel.) (Körner.)
β.
(Lösung: Roma, Amor.) (Hauff.)
Weitere Beispiele des Palindrom.
Körner (Werke I. unter Rätselspiele).
K. G. Th. Winkler (Bast ─ Stab).
Roos (Sarg ─ Gras).
Hebel (Werke Bd. I. Nr. 66, S. 226) u. a.
f. Die Homonyme.
Die Homonyme (auch das Homonym, nach a. sogar der Homonym
von ὁμώνυμος == gleichnamig) ist eine Rätselgattung, bei welcher
dasselbe Wort einen Doppelsinn (also verschiedene Bedeutung) hat;
z. B. die Hut ─ der Hut.
(Homonym heißt das, was mehrfache Bedeutung, aber nur einerlei Namen
hat, ist also das Gegenteil von Synonym.)
Beispiele der Homonyme:
α.
(Kiel.)(Rückert.)
β.
[185]
(Lösung: Flügel.)
(E. A. W. v. Kyaw.)
Weitere Beispiele der Homonyme:
Hauff (Römer).
Castelli (Acht).
Haug (Modern).
A. G. Eberhardt (Stern).
Körner (Werke I. unter Rätselspiele).
Rückert (in der 35. Makame, sowie Ges. Ausg. Bd. XII. S. 281 ff.) u. a.
II. Lehrgedichte mit besonderer Tendenz.
§ 85. Satire.
1. Die Satire ist altrömischen Ursprungs.
2. Wir verstehen heutzutage unter Satire diejenige Dichtungsgattung,
welche auf launige, witzige, sarkastische, persiflierende Weise
Schwächen, Verkehrtheiten, Thorheiten, Fehler und Laster der Menschen
lächerlich zu machen sucht, um dadurch zu warnen, zu tadeln, zu bessern,
und den Sinn für Höheres, Jdealeres zu pflegen.
3. Sie ist somit eine Art lehrhaftes Spottgedicht mit ethischem
Ziele.
4. Der Satiriker muß über Witz, Laune, Jronie &c. verfügen
und mit liebenswürdiger Urbanität ausgerüstet sein.
5. Man teilt die Satiren in ernste und lachende ein.
1. Das Wort Satire kommt von satura her, was die Schreibweise desselben
bedingt (== satira, ähnlich wie optumus, maxumus zu optimus,
maximus &c. wurden).
Die altrömische Satire als älteste Gattung bezeichnete dem Wortlaut
nach (satura sc. lanx == Fruchtschale, tutti frutti) ein Allerlei,
Quodlibet, Potpourri. Sachlich war sie eine lustige dramatische Aufführung
der ländlichen Jugend bei Erntefesten, wobei neckische Lieder, komische Erzählungen,
bei mimischem Tanz unter Flötenspiel abwechselnd vorgetragen wurden. Seitdem
es in Rom ein stehendes Theater gab (a. 364 v. Chr.), wanderten solche
auch auf die Bühne, bis sie zu Nachspielen (exodia) herabsanken. ─ Jn
anderem Sinne als Gemengsel (nämlich von Gedichten in verschiedenen
Maßen) schrieb Ennius (a. 239─169) saturae mit lehrhaftem Jnhalt, auch
mit Fabeln untermischt. Schon früher hatte der Grieche Menippos (ca. 270
v. Chr.) Philosopheme verspottet, und ihn ahmte der gelehrte Varro in Rom [186]
(116─28 n. Chr.) nach in seinen saturae Menippeae, in welchen er teils
in Prosa teils in Versen die mannigfachsten philosophischen, historischen, litterarischen
Stoffe geistvoll behandelte. Dieselbe Mischung von Prosa und Versen
hat noch im I. Jahrhundert n. Chr. Seneca und Petronius Arbiter, im
5. Jahrhundert n. Chr. Martianus Capella, und im VI. Boethius.
Anderer Art ist die Satura des Lucilius (180─103 v. Chr.), welcher
saturae in 30 Büchern, teils in jambisch=trochäischen, teils in daktylischen
Maßen und Hexametern schrieb und zwar mit ethischer Tendenz den Luxus und
die Sittenverderbnis seiner Zeit schonungslos geißelte (secuit Lucilius urbem),
andererseits auch Gegenstände der Litteratur und Geschichte behandelte; eine
Reisebeschreibung und grammatische Stoffe befanden sich darunter, sowie Zurechtweisung
der gräcisierenden Dichter. Volkstümlicher Witz, Scherz und Bitterkeit
mischend, zeichnete ihn aus. Jhn ahmte eingestandenermaßen der uns noch
erhaltene Horaz (65─8 v. Chr.) nach, welcher jedoch mehr die Thorheiten
verlacht, als mit finsterem Ernste geißelt, der seinem Wesen überhaupt fremd
ist. Auch der junge, reichgebildete Persius (34─62 n. Chr.) dichtete erst
eine Reisebeschreibung, dann eine Verherrlichung seiner Verwandten Arria
(Paete, non dolet!), und als Schüler des Stoikers Cornutus schrieb er
sechs nicht vollends ausgearbeitete Satiren in moralischer, milder, ruhiger Darstellung,
aber freilich ohne die nötige Lebenserfahrung, und ohne sein Vorbild
Horaz in der Darstellung auch nur entfernt zu erreichen. Endlich Decim. Jun.
Juvenalis (47 bis nach 130 n. Chr.) wurde aus Zorn und Schmerz über
die greuliche Verderbnis seiner Zeit (facit indignatio versum) dazu getrieben,
in 16 Büchern Satiren die Verderbnisse im Privatleben unter Kaiser Domitian
naturgetreu und schonungslos zu schildern; er ist der ernste Sittenrichter, der
mit Sehnsucht nach der Größe des alten Rom und mit Entrüstung über die
allgemeine Korruption zu Gericht sitzt.
So ist die Satire, wie Quintilian schon hervorhob, eine echt römische
Litteraturgattung, mit welcher bei den Griechen nur zum teil die uns nicht
genug bekannten σιλλοί vergleichbar wären; der Grundzug bei der Mehrzahl
der römischen Satiriker ist die Sittenmalerei, welcher sich bald ernster, bald
heiterer die Sittenkritik beimengt.
2. Die deutsche Satire in der heutigen Form ist didaktischer Natur.
Lehrend wendet sie sich gegen die bestehende Erbärmlichkeit und Nichtigkeit, und
zwar thut sie dies oft dadurch, daß sie (mit Jronie) das lobt, was sie tadeln
möchte. Jhre Absicht ist, zu beschämen, um dadurch den Entschluß zur Besserung
hervorzurufen. Durch juvenalische Geißelung des Lasters wirkt sie nicht selten
empfindlicher, als der ernsteste Tadel eines Lehrers oder Predigers. Sie
bekämpft und trifft diejenigen, welche durch ihre Stellung oder Lehre Verderben
säen, ohne daß man ihnen sonst beikommen kann, oder ohne daß diese von
jemand sonst die Wahrheit zu hören bekommen.
Jn unserer Zeit sind der Kladderadatsch und die Wespen Organe
der Satire.
3. Die Satire, welche auch im Lustspiele, sowie in den Dichtungsgattungen
Fabel, Epistel &c. auftreten kann, fällt mit den Bestrebungen der Moralphilosophie
zusammen, indem sie durch die Art ihrer Darstellung die Beseitigung
der gerügten Mängel bezweckt. Auch die alten deutschen Satiren, welche unter
dem Namen Lichter bekannt waren, hatten ethische Tendenz. Sie wurden des
Nachts bei Licht zur Belohnung der Guten und zur Bestrafung der Schlechten
vor den Häusern abgesungen, woher der Name Lichter kam.
4. Der Satiriker muß mit feiner Menschen- und Sittenkenntnis einen
ausgezeichneten Scharfblick im Erspähen menschlicher Schwächen verbinden (was
Horaz an Lucilius rühmt: emunctae naris), um im Tone Horazischer Sermone
─ fern von Schadenfreude und niederer Absichtlichkeit ─ ein objektives
Bild menschlicher Narrheiten voll Witz, Laune, Humor &c. zu liefern. Er muß
sich des freien Witzes bedienen. (Vgl. z. B. Börnes epigrammatische Satire
Bd. I, S. 103.) Sein Humor muß sich als schalkhafte Laune entfalten (vgl.
z. B. Lessings naive Äußerung über die Galathee:
Seine feine Jronie muß den Schein des Ernstes und den Ernst des
Scheines treffen (vgl. Bd. I, S. 105). Durch diese feine Jronie muß er
den zu Geißelnden sogar als einfältig hinzustellen vermögen, sofern dieser das
Jronische gar nicht merken soll. Ein Beispiel solcher Jronie ist es, wenn
Gurdafrid (Rückerts Ges. Ausg. XII, 159) dem Suhrab, den sie entfliehend
betrog, von der Zinne zuruft: „Nun warte, Freund, bis ich die Schlüssel
bringe!“ Oder wenn Horaz mit Selbstironie, ja mit großer Naivetät an seiner
eigenen Person zeigt, was er an anderen lächerlich gefunden.
Der Satiriker muß stets bei der Sache bleiben und die Person nur als
Trägerin der Sache treffen. Hervortretende Absichtlichkeit gegen die Person an
sich würde die Wirkung der Satire von vorne herein vereiteln. Nur die Fehler
dieser Person darf der Satiriker mit grellem Lichte überstrahlen; nur die Mißbräuche,
Übelstände, Thorheiten &c. in der Gesellschaft darf er von ihrer lächerlichen
Seite darstellen und geißeln, um die Entfernung von der Natur oder
den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Jdeale zu strafen. Durch diese
Objektivität allein wird sich der Satiriker davor bewahren, die Grenzen der
Wahrheit zu überschreiten und in das Bereich der karikierenden Verleumdung,
der verletzenden Bitterkeit und der Pöbelhaftigkeit zu geraten, die sein Gedicht
zum Pasquill erniedrigen oder ihn so tief herabsteigen lassen würde, wie z. B.
Rabener, von welchem Schlosser in Gesch. des 18. Jahrh. behauptet, daß der
Jnhalt seiner Satiren gar nicht der Öffentlichkeit angehöre, vielmehr den Kaffeegesellschaften,
Schenken und Kasinos seiner Zeit &c.
5. Die Satiren scheiden sich in a. ernste (strenge, bittere, affektvolle,
direkte) und b. in lachende (scherzhafte, heitere) Satiren.
Beispiele der Satire.
α. Die Sterne, von Hoffmann von Fallersleben.
β. Unterhaltung im Freien, von Saphir.
[189]
γ. Anfang der „Philosophie des Bewußten“ von Joh. Scherr.
Litteratur der Satire.
Als besondere Dichtungsgattung kannte man die Satire bei den Griechen
nicht, wenn auch die griechischen Lustspiele viel Satirisches enthielten. Wohl aber
erzählt man von den satirischen Jamben des Archilochos, daß die durch sie Gegeißelten
aus Verzweiflung sich erhängt hätten. Es waren Spottgedichte voll
von Persönlichem. Die Satiriker bei den Römern haben wir unter 1 dieses
Paragraphen S. 185, 186 aufgezählt.
Von den Jtalienern sind als Satiriker zu erwähnen: Salvator Rosa,
und Ariosto; von den Spaniern die beiden Argensola; von den Engländern
Pope, Young, Jonathan Swift († 1744. Seine besten satirischen
Werke, die Märchen von der Tonne und die Bücherschlacht, hat Kottenkamp
in's Deutsche übertragen).
Von den Franzosen sind zu nennen: Boileau, Regnier, und als
der beste Rabelais.
Bei den Deutschen bezeichnete man die erste satirische Poesie als Narrenpoesie,
weil sie die Narrheiten verschiedener Klassen der Gesellschaft geißelte. Brant,
Murner, Fischart entsprechen dem römischen Trio Horaz, Juvenal, Persius.
Sebastian Brant, Stadtsyndikus von Straßburg (1494; Bd. I. 49),
geißelte in den 113 Kapiteln seines satirischen Narrenschiffs die Laster und
Gebrechen aller Stände. Durch Schilderung der verschiedenen Gattungen von
Narren seiner Zeit, die in einem großen Transport auf einem Schiffe in ihr
Vaterland Narragonien zurückgebracht werden, entwirft er ein Bild der damaligen
Zustände und erregte dadurch so gewaltiges Aufsehen, daß z. B. der
berühmte Theologe Geiler von Kaisersberg in Straßburg Predigten über sein
Buch hielt.
Aus Brants Narrenschiff:
Thomas Murner (vgl. Bd. I. S. 49).
Der zügelloseste und größte Satiriker Deutschlands war Joh. Fischart
(† 1590), dessen schonungslose Schriften sich schon durch ihre drolligen Titel
auszeichneten. (Vgl. z. B. Bd. I. S. 592.)
Rollenhagen (witzig, anschaulich, fein, schlagend hält sich im Gegensatz
zu Murner von Straßburg innerhalb der Schranken der Sittlichkeit). Vgl.
noch die Bd. I. S. 50 erwähnten Satiren.
Schöpfer der eigentlichen poetischen Satire in Deutschland ist Joachim
Rachel († 1669 als Schulrektor zu Schleswig. Er schrieb zehn Satiren,
in welchen er in gutmütig tadelnder Weise die Schwächen seiner Zeit geißelt,
z. B. Das poetische Frauenzimmer oder die böse Sieben. Vgl. die Probe,
Bd. I. S. 33). Als deutsche Satiriker haben sich ferner einen Namen erworben:
Laurenberg († 1659 als Professor der Dichtkunst; schrieb vier
nachlässige frivole Scherzgedichte in plattdeutscher Mundart. Das Gedicht von
der Kinderzucht ist Nachbildung der 14. Satire Juvenals). Moscherosch
(schrieb: „Wunderliche und wahrhaftige Gesichte Philanders von Sittewald,
d. i. Strafschriften, in welcher aller Welt Wesen, aller Menschen Händel mit
ihren natürlichen Farben der Eitelkeit, Gewalt, Heuchelei, Thorheit bekleidet,
öffentlich auf die Schau geführet, als in einem Spiegel dargestellt und gesehen
werden.“ Während Grimmelshausens Simplicissimus besonders das Soldatenleben
behandelt, nimmt diese Nachbildung der Suennos y discursos des
Spaniers Franzisko de Quevedo die deutschen Thorheiten und Laster aller
Stände zur Zielscheibe und sucht z. B. Hofleute, Quacksalber, Advokaten, Tabakraucher,
renommierende Soldaten, Modenarren, Sprachverdreher &c. lächerlich zu
machen, welch letztere er durch deutsches, lateinisches, griechisches, französisches &c.
Durcheinanderreden höhnt). Abraham a Santa Clara (Bd. I. 52).
Philander von der Linde (pseudonym Burkhard Monke, † 1732)
teilt in einem Anhange seiner 1710 in Leipzig erschienenen Gedichte ein satirisches
Gedicht mit: „Cartell des Bramarbas an Don Quixote.“ Joh. Christ.
Günther (Bd. I. 51) schrieb mehrere Satiren, z. B. Auf einen Büchersaal. [191]
Rabeners spießbürgerliche Satiren geißeln alte Jungfern, Landjunker, Advokaten,
Richter &c.
Haller (z. B. Die verdorbenen Sitten). Pyra, Rost, Lange (vgl.
Bd. I. S. 54). Liskow (Bd. I. 54) kam 1760 wegen seiner Satiren in's
Gefängnis, woselbst er starb; man nannte ihn den Swift der Deutschen.
(„Von der Vortrefflichkeit und Notwendigkeit elender Skribenten“ ist seine beste
satirische Arbeit.) v. Canitz (Tod eines ungerechten Geizhalses). Hagedorn
(nahm sich Horaz zum Muster). Wieland (giebt in den Abderiten eine heitere,
zutreffende Satire auf das Leben und Treiben der Kleinstädter). Stolberg
(Der Frohn an Lichtwehr; Über die Persiflage; Der zweite Rat). Falk
(† 1826. Rezept zu einer modernen Elegie; Leben des Johannes von der Ostsee).
Jean Paul (der bedeutendste Satiriker in Prosa). Haug, Lichtenberg
(Gnädigstes Sendschreiben der Erde an den Mond; Bittschrift der Narren).
Börne, Platen, Schlegel (Die satirische Ehrenpforte Kotzebues).
Heine (Deutschland, ein Wintermärchen, satirische Geißelung deutscher Zustände
am Faden seiner Reise von Paris nach Hamburg &c.). Bogumil Goltz,
Ad. Glaßbrenner (z. B. Neue lustige Komödien). Goethe (z. B. Musen
und Grazien in der Mark). Schiller (Shakespeares Schatten; Die Weltweisen;
Die Philosophen). Uhland (Frühlingslied des Recensenten; Wanderung).
Rückert (Auf die Schlacht an der Katzbach; Die 99 Schneider &c.).
Saphir (Unterhaltung im Freien, fliegendes Album für Ernst, Scherz,
Humor). Alfred Meißner (Sohn des Atta Troll). Hartmann (Reimchronik
des Pfaffen Mauritius, satirische Gedichte auf die politischen Zustände
Ungarns, Deutschlands, auf die Glieder des Frankfurter Parlaments &c.).
H. Döring (Der leere Titel). Bauernfeld (Die dramatische Satire „Reichsversammlung
der Tiere“). Gruppe (Abendentzückungen). Herloßsohn
(† 1849. Mephistopheles). Rellstab (Henriette). Schmidt-Cabanis u. a.
§ 86. Travestie.
Travestie (Vermummung) ist die Ummodelung, Umgestaltung eines
ernsthaften, oft erhabenen Gedichts zu einem scherzhaften, Lachen erregenden.
Oder: Travestie ist ein Gedicht, welches den ernsten würdigen
Stoff (== Jnhalt) eines allbekannten Gedichts beibehält und nur
die Form (Versmaß &c.) verändert, um durch Verwebung mit heiteren
Beziehungen, lächerlichen Zufälligkeiten, Gebräuchen, Sitten, Thorheiten,
modernen Anschauungen und durch trivial=komische in's Lächerliche
ziehende satirische Behandlung u. a. dem ernsten Stoff eine komische,
meist karikierende Wendung zu geben.
Jndem der Dichter den nämlichen Gegenstand eines Gedichts im entgegengesetzten
Sinn und Geist behandelt, erinnert er durch ähnliche Ausdrücke,
oder auch durch dieselben Worte, zuweilen sogar durch Beibehaltung der
Strophenart u. s. w. an das Original, dessen Ernst und Würde er karikiert [192]
und lächerlich macht. Daher heißt travestieren soviel als ein erhabenes Gedicht
in's Lächerliche ziehen, es scherzhaft umformen, umkleiden.
Da der Gegenstand häufig in niedrige, gewöhnliche Sphären herabgezogen,
ja nicht selten herabgewürdigt wird, so wirkt der Kontrast mit dem erhabenen
Vorbild um so greller. Daher haben nur wenige Travestien poetischen Wert. Die
meisten sind lediglich als Ausdruck von Witz und Laune bemerkenswert und
werden nur so lange ertragen, als sie nicht in's Frivole und Gemeine übergehen.
Zu den vornehmsten Arten des Lächerlichen gehört der Kontrast zwischen
Ursache und Wirkung, zwischen Zweck und Mittel, ferner die Entdeckung einer
unerwarteten Ähnlichkeit zwischen unähnlichen Gegenständen, endlich der Kontrast
zwischen Bedeutendem und Unbedeutendem, Großem und Kleinem nebst kurzen
witzigen Einfällen (Bonmots).
Darauf gründet sich ebenso der heroisch=komische, wie der niedrigkomische
oder burleske Stil in der Travestie (wie auch in der Parodie;
§ 87 d. Bds.).
Der heroisch=komische Stil stellt Unwichtiges als wichtig in erhabener feierlicher
Ausdrucksweise dar. Der burleske Stil dagegen zieht Erhabenes in's
Niedrige. Das Launige und Humoristische stellt Ernstes lächerlich dar und umgekehrt.
Didaktisch wirkt die Travestie dann, wenn sie satirisch ist und ihr also
ein höheres Jnteresse als bloße Belustigung zu Grunde liegt. Jn diesem Falle
macht sie eine falsche, überschwengliche Richtung des Gefühls lächerlich und
vertritt somit die Sache der Wahrheit und der Vernunft.
Jm Französischen hat Scarron die gelungensten Travestien geliefert; im
Deutschen Blumauer (Äneis). Gesammelte Travestien finden sich z. B. im
Buche deutscher Parodien und Travestien von Z. Funk. 1840.
Beispiel der Travestie.
Äneas' Flucht aus Troja.
Originalgedicht Schillers nach
Virgil.
Strophe 119.
120.
Travestie. (Aus: Blumauers travestierte
Äneis.)
[193]
121.
122.
u. s. f.
§ 87. Parodie.
1. Die Parodie (Nebengesang) ist die möglichst treue Nachahmung
irgend eines bekannten Gedichts durch fremdartigen Stoff.
2. Man unterscheidet ernste und komische Parodien.
1. Jm Gegensatz zur Travestie (welche, wie in § 86 erwähnt, den
gleichen Gegenstand in neuer Form meist karikierend erzählt) ist der Gegenstand
der Parodie vom Gegenstande des Originalgedichts durchaus verschieden;
er ist meist niedriger, gemeiner. Zum Wesen der Parodie gehört es nur, daß
Form (Metrum), Gedankenfolge, Ausdrucksweise (Wortlaut) thunlichst mit dem
Originalgedicht übereinstimmen und an dasselbe erinnern. Das älteste parodistische
Gedicht ist die im ernsten Ton der Jlias die Kämpfe der Mäuse und
Frösche erzählende Batrachomyomachie.
Unsere Litteratur ist nicht arm an Parodien. Überwiegend sind jene
schlechten Parodien, welche das Erhabene in den Staub ziehen und das Heilige,
Weihevolle, Würdige &c. sträflich verletzen. Jm 16. Jahrhundert schon
dichtete man in ernster Absicht beliebte, weitgesungene weltliche Lieder in geistliche
um, indem man die weltliche Form beibehielt und nur für den weltlichen [194]
Gegenstand einen geistlichen wählte. Beispiele haben wir in § 57 d. Bds.
genügend aufgezählt. Weitere Proben finden sich in Wackernagels Kirchenliede.
2. Der Geist der ernsten Parodien ist dem Geiste des Urbilds verwandt,
wie dies unsere erste Probe von Bretschneider beweist und wie dies viele
bekannte Parodien zu Schillers „Hektors Abschied“ und „Worte des Glaubens“
darthun. Vgl. auch die Beispiele in § 57 d. Bds.
Die komische Parodie verkehrt den Geist des Urbilds in's Komische. Sie
wird durch den Kontrast zu einer Art Travestie. Vgl. jenes allbekannte Kaffeegedicht,
durch welches Schillers Lied von der Glocke parodiert ist, sowie die
gelungene Rüpelkomödie in Shakespeares Sommernachtstraum, die mit ihrem
Pathos den tragischen Ton damaliger Poeten verhöhnt.
Berechtigt erscheint die Parodie nur dann, wenn sie eine schiefe Richtung
des Geistes lächerlich macht, also satirisch ist und didaktische Tendenz hat.
Beispiele der Parodie.
Originalgedicht: Mignon von
Goethe.
Ernste Parodie von Bretschneider.
(NB. Eine gelungene Parodie auf Goethes Mignon ist noch das Vaterland
von Cl. Harms: „Kennt ihr das Land, auf Erden liegt es nicht“ ─ u. s. w.)
Originalgedicht: Das Mädchen aus
der Fremde von Schiller.
Komische Parodie: Die Erscheinung
im Kaffeesaale von Röller.
[195]
(NB. Eine Parodie auf Schillers Mädchen aus der Fremde ist auch Saphirs
„Die deutsche Litteratur“: Jn Leipzig auf der Büchermesse erscheint mit jedem halbem
Jahr u. s. w.)
Aus Matthissons Adelaide.
u. s. w.
Aus Wießmanns Parodie:
Der Witwer.
u. s. w.
Weitere Beispiele von Parodien haben geliefert: Fischart, Murner,
Brant. Von Späteren: Mahlmann (Herodes vor Bethlehem, oder der
triumphierende Viertelsmeister, ─ eine höchst gelungene satirische Parodie auf
Kotzebues Thränenstück Die Hussiten vor Naumburg); Castelli (der Schicksalsstrumpf,
Parodie auf Müllners Schuld); Kosegarten (Klagelied eines Mißvergnügten,
Parodie auf Höltys Aufmunterung zur Freude); Blumauer, Rabener,
Falk, Roller, Schütz, Hagedorn, Lichtenberg, Wieland, Goethe (Musen und Grazien
in der Mark ─ gegen Schmidt von Werneuchen gerichtet); Hauff (Mann im
Monde ─ Clauren persiflierend); Voß, Uhland, Heine, Börne, Brunner,
Sommer (Gedichte in Rudolstädter Mundart); Rückert (Marschall Mai ─,
Parodie auf dessen Marschall Ney); Johr (Der Reimjäger, Parodie auf
Schillers Alpenjäger); Louis Wallo (Die Bürgschaft, Parodie auf Schillers
Bürgschaft); Eichrodt (im Hortus deliciarum, vgl. § 65) u. a. (Die Parodie
in der klassischen Litteratur hat H. Blümner-Zürich in der Decembernummer
1881 des „Süd und Nord“ von P. Lindau behandelt.)
§ 88. Humoristische Dichtungen.
1. Humoristische Dichtungen sind solche Dichtungen, welche durch
Anwendung von Gegensätzen (Kontrasten) das Komische ernst und das
Ernste komisch behandeln und dadurch eine komische oder erheiternde
Wirkung erreichen. Die humoristischen Gedichte verletzen niemanden:
ihr Grundgefühl ist das der menschlichen Ohnmacht und Nachsichtsbedürftigkeit.
(Von den komischen Liedern ─ § 63 ─ unterscheiden
sie sich durch ihre didaktische Tendenz.) Mit dem in ihnen waltenden
Humor darf die von den Romantikern so genannte Jronie des Schicksals
nicht verwechselt werden.
2. Der Humorist muß durch Bildung und Feinsinnigkeit über
seinem Gegenstande stehen und die Höhen des menschlichen Lebens zu
überschauen vermögen.
1. Das lateinische Wort humor bedeutet jede Feuchtigkeit, jedes Naß, es
sei Wasser, Milch, Wein oder Thränen. Humores hießen sodann im lateinischen
Mittelalter die verschiedenen Maß- und Mischungsverhältnisse (κρᾶσις, temperamentum)
von Feuchtigkeiten und von Wärme im menschlichen Organismus
und die darauf beruhenden Charakterunterschiede der menschlichen Temperamente.
Bei uns bezeichnet das Wort Humor (vgl. Bd. I S. 105) eine die
satirische Laune überragende, erheiternde Stimmung, welche in gutmeinender
Weise die menschlichen Fehler als Schwachheiten und Fehltritte, nicht aber als
Verbrechen betrachtet, sie daher wohlwollend, mitunter herzlich anteilnehmend in
naiver Weise von ihrer komischen, lächerlichen Seite nimmt, über sie scherzt
und sie gewissermaßen epikureisch=stoisch belächelt.
Nicht selten wird Humor mit Laune verwechselt. Die Engländer gebrauchen
das Wort humour noch heute unserem Worte Laune entsprechend;
in unserem Sinne wenden sie es nur an, wenn sie ihren Dichtern Shakespeare,
Swift, Sterne u. a. Humor zuschreiben.
Der Humor steht höher, als die Laune. Er ist als Widerspruch zwischen
Einbildung und Gemüt aufzufassen, insofern das Gemüt in Gegensatz zu den
von der Einbildung aus der Wirklichkeit entlehnten, ihr nachgebildeten Anschauungen
tritt; in solchen Konflikt und Kontrast mit der Einbildung stellt sich
das Gemüt aber, wenn die Anschauungen nicht die entsprechenden Beziehungen
nach Oben haben und nicht die gleiche edle Erhebung des Gefühls teilen. „Dann
schwingt sich das Gemüt ─ um mit Wackernagel zu sprechen ─ empor und
schaut hinab auf das gebrechliche, beschränkte Wesen da unten, halb voll Zorns,
halb voll Mitleidens lächelnd, aber unter Thränen; tragisch, aber es führt
zugleich die Versöhnung mit sich: es schwebt gleichsam wie die Taube über
der Sündflut, Trost und Heil von oben verkündigend, während der gemütlose
Spott eher dem ungetreu entweichenden Raben gleicht. Demnach ist dem Humor
die Beziehung auf religiöse Dinge durchaus nicht fremd, ja, bei den besten
Humoristen trägt er durchweg eine bald mehr bald minder hervorstechende
religiöse Farbe: so bei Claudius, bei Hippel, bei Hamann, bei Jean Paul,
bei Hebel; aus Hebels Gespräch auf der Straße nach Basel, die Vergänglichkeit,
kann man beinahe eine ganz erschöpfende und vollkommen umfassende
Theorie des Humors entwickeln; hier läßt sich die Entzweiung des Gemütes
mit der Wirklichkeit von Stufe zu Stufe fortschreitend verfolgen bis zu der
letzten und höchsten, wo vom Himmel selbst hinunter die seligen Geister auf
die arme vergangene Erde schauen und auf ihr das Dörflein suchen, in welchem
sie, da sie auch noch Menschen waren, ihr Leben hindurch 'gvätterlet' haben.“
Der Humor als Feind des Abstrakten bewahrt vor Verzweiflung, die
nur da Platz greift, wo der Mensch den Humor verloren hat.
Das Tragische des Humors geht aus dem Schmerzgefühl hervor, daß
wir selbst mitten in der Unvollkommenheit leben, in die Schranken des Jrdischen
gebannt sind, selbst an den Krankheiten der Zeit leiden.
Das Komische des Humors aber entspringt aus dem Gefühle, daß wir
zugleich auch über diesen Schranken stehen. Beide Gefühle wechseln und durchdringen [197]
sich beständig, ja, sind unzertrennlich von einander. Wir beklagen und
belächeln uns zugleich, unsre Lust ist unser Schmerz.
Ätzende Jronie, die im Gegensatz zum Humor das Kleine groß macht,
ja, der Spott sind dem Humor fern, denn der Humor wird nie frivol. Der
Humor zeugt von geistiger Überlegenheit; Spott und Frivolität dagegen meist
von Beschränktheit und niedriger Gesinnung. Trotzdem scheint mancher Mensch
geistig überlegen, der es nicht ist. Er produziert Lächerliches und fade Albernheiten,
die nur wie Humor aussehen; und Goethe hat mit bezug auf diese
ganz recht, wenn er sagt, es gebe keinen Unsinn, der nicht, fratzenhaft ausgedrückt,
wie Humor aussehe.
Etwas anderes als Humor ist jene verzweifelte Lustigkeit, jener Hohn
des Schicksals, den die neuere Zeit oft statt leichter Heiterkeit und jovialen
Spasses in dramatischen Dichtungen zur Schau trägt. Diese sogenannte Jronie
des Schicksals, die selbstredend nicht im antikisierenden Sinn, wohl aber in
dem unserer romantischen Dichterschule zu verstehen ist (vgl. Bd. I, S. 106),
kommt nur aus einem zerrissenen unversöhnten Gemüte; unabsichtlich leuchtet
durch erzwungenen Scherz der Ernst oder Schmerz des Lebens hindurch.
2. Der Humorist als Schöpfer humoristischer Dichtungen kann durch mancherlei
Situationen zu seinen Dichtungen veranlaßt werden, z. B. wenn der
lehrende Verstand im feinen Witz Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der Gegenstände
treffend und sinnreich vergleichend darstellt und eine gesunde frische Phantasie
ihm zu Hilfe kommt.
Der Gegenstand des Humors kann auch ein Gefühl sein. Um dem
Schmerze Worte zu leihen und ihn mit Geist und Lebenskraft doch zu verbergen,
stellt sich der echte Humorist über das Gefühl und macht sich Luft durch
kontrastierende schalkhafte Lustigkeit. Goethe meint daher mit Recht im Faust:
Um die Ansichten, Meinungen, Sitten der Menschen humoristisch behandeln
zu können, bedarf es hoher Bildung und Feinsinnigkeit. Die menschlichen
Angelegenheiten erscheinen dann entweder alle groß, oder alle klein. Der
Humorist wird sich über dieselben nur auf eine erfindungsreiche, witzige Weise
äußern, weil seine Lebens- und Weltanschauung originell und zugleich mit dem
Kopfe auch das Herz voll ist. Jmmer wird sein Humor, wenn er sich besonders
mit dem im Leben und Staate Sittlichen befaßt, den Ernst einer
höheren Wahrheit durchblicken lassen.
Ein wahrer Humorist steht, wie über seinem Gegenstand, so über dem
gewöhnlichen Leben. Jhm werden die Mängel des Erdenlebens klein und er
tröstet sich in der drückenden Wirklichkeit mit erhabenen Jdeen und lacht im
Besitze derselben.
Freilich giebt es unverschuldete Leiden, über welche nur ein Roher lachen
könnte. Bei dem echten Humoristen sieht der Ernst des Lebens auch bei dieser
humoristischen Weltanschauung hindurch. Wahre Größe durchdringt jede Form
des echten Humors.
Beispiele der humoristischen Dichtungen.
a. De Krone der Schepfung, von Edwin Bormann.
(Aus den Dagebuche eines alten Leibzigers.)
b. Wenn Einer deiht (thut), wat hei deiht, denn kann hei nich mihr
dauhn (thun), as hei deiht.
Aus Läuschen un Rimels, von Reuter. (Sämmtl. Werke II. 54.)
Litteratur des Humors.
Beispiele des Humors finden sich am anschaulichsten in jenen größeren
Dichtungsgattungen, in welchen sich der menschliche Charakter am freiesten entwickeln
kann, also in Romanen, Schauspielen, Novellen. (Jch verweise beispielshalber
auf die humoristischen Romane I 58, 69, sowie 4. Hptst.
d. Bds; ferner auf H. Heines Romancero; endlich auf einzelne Dramen
Shakespeares, den Aug. Siebenlist den unübertroffenen Meister des Humors
nennt, über den sich J. L. Klein in seiner epochebildenden Gesch. des Drama
XII. 556, sowie der Fabeldichter Jos. R. Ehrlich in seiner kleinen, 1878
erschienenen Schrift: Der Humor Shakespeares verbreitet. Vgl. des Näheren
das vortreffliche Werk: Schopenhauers Philosophie der Tragödie von
Aug. Siebenlist. 1880. S. 405 ff., wo der geistvolle Jnterpret des Philosophen
des Pessimismus erschöpfend ausführt, wie der subjektive Humor ─
den Schopenhauer den hinter dem Scherz versteckten Ernst nennt ─ als spezifische
Errungenschaft der auf dem Christentum beruhenden neuzeitlichen Tragödie ein
gleichfalls ästhetisches, unendlich höher stehendes Kompositionsmoment sei, als
die objektive Jronie u. s. w.). Doch giebt es genug kleinere didaktische Dichtungen,
welche die freie Entfaltung des Humors begünstigen. Es sind in der
Regel dieselben Dichter, welche neben größeren Dichtungen auch kleinere humoristisch
zu halten verstanden, wodurch sie sich als Humoristen erwiesen. Wir
nennen von den deutschen: Claudius, Lichtenberg, Jean Paul, Tieck, Musäus,
Mises, Heine, Aug. Kopisch, Eichrodt, Alex. Kaufmann (Der Student von
Oxford), Gottfr. Keller, Scheffel, besonders aber Eckstein, Schmidt-Cabanis und
Fritz Reuter, welchen der wahre freie Humor eigen ist, jene innige Mischung
von Witz, Laune und Gemütlichkeit, die ebenso im Kopf wie im Herzen des
Dichters ihren Ursprung hat und daher auch Geist und Gemüt des Lesers [200]
wirkungsvoll entzückt. Den Humor suchten in Deutschland vor allem die
Münchener fliegenden Blätter aufrecht zu erhalten, in neuerer Zeit auch der
Schalk unter Redaktion des Humoristen Ernst Eckstein, u. s. w.
III. Eigentlich didaktische Gedichte.
§ 89. Die ideale Gedankenlyrik.
Viele Gedichte, die in der Mitte stehen zwischen dem lyrischen
und dem didaktischen Gedicht, müssen doch ihrer lehrhaften Absicht und
Bestimmung wegen zu den didaktischen Gedichten gezählt werden. Diese
im Glanz einer schönen Sprache prangenden Gedichte entquellen
gewissermaßen dem denkenden Gefühle des Dichters, besingen einen
bestimmten instruktiven Gegenstand, entfalten Phantasie und Gemüt
und bilden so die Gattungen, welche wir unter „idealer Gedankenlyrik“
vereinen wollen.
Obwohl ihr didaktischer Zweck nicht eben in den Vordergrund tritt, so
haben die Dichtungen der idealen Gedankenlyrik doch die Absicht, einen Gedanken,
eine Wahrheit, eine Lehre zur Anschauung zu bringen. Jch
erinnere nur an viele Gedichte Schillers, die man als „Jdealgedichte“ zu einer
besonderen „ideellen Poesie“ zu vereinigen suchte, weil man sie sonst nicht zu
rubrizieren vermochte. Es tritt uns in ihnen der Dichter entgegen, von großartigen
Jdeen durchdrungen, „jedoch weder dithyrambisch fortgerissen, noch im
Begeisterungsdrange mit der Größe seines Gegenstandes kämpfend, sondern desselben
vollkommen Meister, indem er ihn mit eigener poetischer Reflexion in
ebenso schwungreicher Empfindung, als umfassender Weite der Betrachtung in
den prächtigsten volltönendsten Worten und Bildern, doch meist ganz einfachen,
aber schlagenden Rhythmen und Reimen, nach allen Seiten hin vollständig
darlegt.“ Als solche Gedichte der idealen Gedankenlyrik bezeichne ich bei Schiller:
Das Jdeal und das Leben, An die Freude, Das Glück, Der Genius, Würde der
Frauen, Die Jdeale, Die Götter Griechenlands. Ferner bei Rückert: Edelstein
und Perle, und besonders Die sterbende Blume &c. Um an letzterem Gedichte das
Wesen der idealen Gedankenlyrik näher zu zeigen, so tritt hier das lehrhafte
Motiv so zu Tage: Wenn die Betrachtungen über die Vergänglichkeit und
Hinfälligkeit alles Jrdischen zur Wehmut stimmen und schmerzliche Gefühle des
Leides mit der Trauer hervorrufen, so liegt dies in dem Umstand begründet,
daß die Vergänglichkeit den Fortbestand alteriert, also in siegreichen Kampf mit
der Existenz tritt und somit von dieser gefürchtet werden muß. Die Furcht vor
dem Aufhören ist bei dem ungebildeten Menschen nicht so intensiv, weil sein
Gefühlsleben auf der unteren Stufe steht. Er wird sich der obigen Betrachtung
kaum flüchtig hingeben können. Die Fähigkeit für diese Betrachtung erlangt
der Mensch aber in eben dem Grade, in welchem er seine Gemütsbildung
pflegt. Rückert mit seinem sehr gebildeten Gemütsleben konnte in der That in [201]
seiner sterbenden Blume mit ergreifender Wahrheit die Vergänglichkeit schildern.
Er läßt den belehrenden Trost, daß, wenn auch das Einzelne vergeht, doch
das Ganze übrig bleibt, in dessen Vereinigung dasselbe, wenn auch in anderer
Form, fortbesteht. Jn der That ein didaktisches Moment von hoher
idealer Bedeutung, welches allein das Gedicht in die Sphäre der
idealen Gedankenlyrik hebt. „Die sterbende Blume“ ist daher ebenso hinsichtlich
des Lehrhaften, wie des Lyrischen eines der bedeutendsten poetischen Produkte;
der Gedanke dieses vollständigen Hingebens der Blume an ihre Schöpferin,
die Sonne, die ihr in's Auge geschaut, bis der Strahl ihr das Leben gestohlen;
das Gefühl dieser innigen Ergebung, die auch ein Lächeln noch im Tode für
den geliebten Gegenstand hat, der beglückt und entzückt hat, war eines deutsch
fühlenden Dichters würdig.
Solche didaktische Poesie, wie sie hier Rückert und in den oben erwähnten
Gedichten auch Schiller giebt, ist echte Poesie, und bildet nur durch ihre Absicht
einen bestimmten schönen Gegensatz zur subjektiven oder Gefühlslyrik. Nur
Dichter, die zugleich Philosophen sind, können solche gehaltvolle Gedichte liefern,
die man für die Folge in die Rubrik der idealen Gedankenlyrik zu verzeichnen
haben wird. Schiller und Rückert zeigen in den erwähnten Proben der idealen
Gedankenlyrik, daß die oberste Gattung des Lehrgedichts nur eines dichterischen
Genius bedarf, der im Stande ist, den Anforderungen der Poesie wie der
Philosophie in gleichem Maße Genüge zu leisten.
Beispiel der idealen Gedankenlyrik.
Die sterbende Blume, von Rückert.
§ 90. Kulturhistorisches Gedicht.
Ein Gedicht, welches die Schicksale der Menschen und deren Entwickelungsgang
poetisch auffaßt und darstellt, so daß die wichtigsten
Momente auf Ausbildung des menschlichen Geistes und der gesellschaftlichen
Verhältnisse entweder einzeln oder im Zusammenhang
berechnet sind, kann als kulturhistorisches Gedicht bezeichnet werden.
Schiller ist der Vater dieser didaktischen Dichtungsform. Zu nennen sind
von ihm Die Künstler (ein Gedicht, das den Wert des Schönen versinnlicht),
Der Spaziergang (welcher lehrt, daß der Überbildung am besten durch die
Natur entgegen zu wirken sei), Das eleusische Fest (welches die Segnungen
des Ackerbaues preist, und die im Spaziergang nur angedeutete Kulturentwickelung
in mythologischen Bildern weiter ausführt); namentlich aber Das
Lied von der Glocke (welches das menschliche Leben in seinen wichtigsten
Momenten darstellt, wobei es auch alle menschlichen Empfindungen lehrend
berührt und damit viel Subjektives, viel echt Lyrisches verbindet). Bei Rückert
finden wir das kulturhistorische Gedicht: Der Bau der Welt u. a.
Als Beispiel des kulturhistorischen Gedichts möge Schillers Lied von der
Glocke aufgestellt sein, dessen Form den Gegenstand eines Paragraphen (Bd. I.
S. 515) bildet. (Auf den Abdruck dieser umfangreichen Dichtung können
wir um so lieber verzichten, als sich dieselbe zweifellos in Aller Händen befindet.)
§ 91. Sinngedicht oder Epigramm.
1. Ein humoristischer Einfall oder Gedanke, eine Ansicht oder ein
Urteil über ein Ereignis oder eine Person, möglichst kurz und gedrängt
in poetischer, schöner Form ausgedrückt, oder mit andern Worten:
ein kurzes, treffendes, hauptsächlich witziges Gedicht, das die Bestimmung
hat, ein allgemein bekanntes Objekt zu loben oder zu tadeln,
oder eine Anschauung auszusprechen, heißt Sinngedicht oder Epigramm.
Die letzten Worte desselben enthalten die sogenannte Pointe oder
den Treffpunkt.
2. Besondere Arten sind das Empfindungsepigramm und das
didaktische Epigramm.
3. Jn den Ausgangspunkten ist das Epigramm mit der Elegie
verwandt.
4. Die Teile des Epigramms sind Vordersatz und Nachsatz; oder
Exposition und Klausel.
5. Das ursprüngliche Metrum des Epigramms war das Distichon.
Jm Deutschen bedient man sich neben demselben noch anderer Formen.
1. Man rechnet das Epigramm wegen seines witzig und kurz ausgedrückten,
lehrhaften, poetischen Gedankens in die Reihe der didaktischen Dichtungen. Es
kann bald mit einer kleinen knospenden, aus Dorngebüschen Wohlgerüche hauchenden
Rose verglichen werden, bald und in der Regel mit einem Stachel, der
verwundet. (§ 82.) Klopstock spricht dies so aus:
Das Witzige, Tadelnde, Überraschende wird meist bewirkt, indem der
Gedanke gegen den Schluß noch eine unerwartete Wendung nimmt. Dies ist
die sogenannte Pointe oder der Treffpunkt.
2. Ursprünglich verstand man unter Epigramm (dem Wortsinn des griechischen
ἐπίγραμμα entsprechend) eine Aufschrift auf einem Weihgeschenk,
Denkmal, Grabmal, Theater, Tempel, Odeon &c. Die Gewohnheit, diese
Denkmäler mit einer Jnschrift zu versehen, gab neben dem Namen des zu
Feiernden eine oder die andere Notiz, wohl auch eine Andeutung der Empfindung,
die der Anblick des Denkmals dem Schreiber hervorrief. Bei Gräbern
war der Ausdruck dieser Empfindung mehr elegischer Art, bei Kunstwerken nicht
selten witziger, oder hyperbolischer Natur.
Viele Epigramme, ja, vielleicht die meisten, waren indes nicht wirklich
angebrachte Aufschriften, sondern sie bedeuteten nur, daß diese Unterschrift wohl
für das Denkmal sich eignen dürfte. So entstanden neben den eigentlichen
Epigrammen die Empfindungsepigramme, Epigramme ohne jeglichen Bezug
zum Kunstwerk, die sich lediglich auf historische Personen, auf Ereignisse, auf
Naturgegenstände bezogen; so wurde das Epigramm lyrisch=didaktisch.
Empfindungsepigramme, die den größten Teil der sogenannten griechischen
Anthologie bilden, kommen bei den Römern kaum vor. Doch hatten diese gewöhnliche
oder rein didaktische Epigramme schon ziemlich frühe; die alten ─ aus
der Zeit der Republik ─ sind meist verloren; dagegen haben wir noch 15
Bücher von Martialis (42─102 n. Chr.), freilich sehr verschieden nach Stoff
und Wert. Einiges von Ausonius (310─390) und noch aus dem 6. Jahrhundert
n. Chr. von Luxorius. (Alles dies gesammelt in der Anthologia
latina von H. Mayer. Leipz. 1835 und neu bearbeitet von A. Riese.)
Bei den Deutschen findet man Empfindungsepigramme seit Herder (der
1785 eine Auswahl in deutscher Übersetzung und 1791 eigene Epigramme
erscheinen ließ), und seit Goethe (der 1790 „venetianische Epigramme“ dichtete).
Man denke an die Empfindungsepigramme Goethes: „Über allen Wipfeln“
oder an Uhlands Ruhethal: „Wenn im letzten Abendstrahl“, u. s. w.
Jn den meisten Fällen drängt sich bei Römern und Deutschen der Verstand
so sehr in Exposition und Klausel ein, daß er mit dem epischen Moment eine
wirkliche Lehre oder eine Vorschrift verbindet, oder sie aus demselben abstrahiert,
oder daß er indirekt lehrend das Motiv bekämpft, verhöhnt, bewitzelt. Dadurch wird
der lyrische Charakter der Klausel verändert, sie wird didaktisch und es entsteht
somit das rein didaktische Epigramm, das Epigramm des Spottes, der
Lehre, das besonders von den Römern gepflegt worden ist (z. B. bei Martial).
Es ist wertvoll, wenn es der tiefsten Fülle der Erfahrungen entquillt.
3. Was die Verwandtschaft des Epigramms mit der Elegie betrifft, so
ging das griechische Epigramm, wie die Elegie von einem historisch gegebenen
Objekt, von einer epischen Wirklichkeit aus und diente zugleich auch der Empfindung
zum Ausdruck, welche aus der Betrachtung jener Wirklichkeit resultierte.
Während aber die Elegie des weitesten Spielraums und der größten Ausdehnung
fähig war, und sich über die weitesten Gebiete ausbreitete, beschränkt sich
das Epigramm nur auf einzelne Bilder, nur auf eine Person, nur auf ein
Kunstwerk &c. Ja, selbst die eine auf das einzige Objekt gerichtete Empfindung
durfte nur leise angedeutet werden, weshalb das Epigramm möglichst kurz war.
4. Die Elegie verschmolz das Epische mit dem lyrischen Moment, das
Epigramm hielt beide auseinander, weshalb man beim Epigramm von Vordersatz
(expositio oder auch narratio, indicatio) und Nachsatz (clausula oder
conclusio) spricht.
Die beiden Teile des Epigramms können noch bezeichnet werden als
Erwartung und Aufschluß (nach Lessing), oder Exposition und Anwendung (nach
Herder) oder auch als Thesis und Antithesis.
Der Umfang des poetischen Epigramms ist nach Maßgabe dieser beiden
Teile engbegrenzt.
5. Das gewöhnliche Metrum des Epigramms war bei den Griechen und
Römern das elegische Distichon. Der epische Hexameter bezeichnete die Erwartung
und der lyrische Pentameter gab den Aufschluß. Oder: der Hexameter exponierte,
während die Klausel ausdeutete.
Die Deutschen bedienen sich neben diesem griechischen Maß auch noch
anderer Maße und namentlich auch des Reims. Eine präzise Form für das
Epigramm ist das Sonett, das in den ersten acht Versen breiteren Raum für
die Exposition zum epischen Vordersatz hat, während die sechs folgenden Zeilen
den lyrischen Nachsatz, die Klausel, bilden können. (Vgl. Nr. 9─20 der
A. Möserschen Sonette in „Schauen und Schaffen“ 1881. S. 84 ff.) Heinr.
Leuthold hat sich neben Rückert auch der Ritornellform bedient u. s. w.
Beispiele des Epigramms.
Über das Verbot des Bettelns in Deutschland.
(Weißer.)
Hallers Lehrgedicht vom Ursprung des Übels.
(Gellert.)
(Amara George.)
Auf jagende Studenten.
(Kästner.)
Epigramm in Distichen-Form.
Auf die Thermopylenkämpfer.
(Schiller nach Simonides.)
Wissenschaft.
(Schiller.)
Die Schwaben.
(Heinr. Leuthold. Gedichte S. 190.)
Epigramm in Vierzeilen-Form.
(Rückert.)
Epigramm in Ritornellenform.
Unglück.
(Rückert.)
(Heinr. Leuthold. Gedichte S. 203.)
Litteratur des Epigramms.
Durch die Priamel aus dem 14. Jahrhundert (s. § 92) war bei uns
der Boden für das satirische Epigramm vorbereitet. Da sodann der sittliche
und politische Jammer des 17. Jahrhunderts Stoff genug bot, so adoptierte
man mit Vergnügen das römisch=satirische Epigramm, das Epigramm des Spotts.
Der bedeutendste deutsche Epigrammatiker, Frd. von Logau (welcher unter dem
Namen Salomon von Golau 3553 gute, treffende, von Simrock 1874 ausgewählte
und erneuerte Sinngedichte dichtete), bietet nach den vererbten deutschen
Sprüchen und Priameln satirische, geißelnde, indirekt belehrende Epigramme,
bis Herder und Goethe auch das Empfindungsepigramm schufen. Beide bildeten
auch insofern eine Epoche für das Epigramm, als sie dem bis dahin in Reimen
gegebenen didaktischen Epigramm die Form des elegischen Distichons gaben.
Noch sind als deutsche Epigrammatiker zu erwähnen: Opitz, Tscherning,
Kästner, Bürger, Herder, Weißer, Göckingk (Kritik über ein Drama);
Götz (Das Kind); Gleim (Aufschluß); Wernicke (der ein Buch über Epigrammatik
schrieb: Erfahrung ohne Klugheit &c.); Hagedorn (Auf gewisse Ausleger
der Alten); Kretschmann (Die Dichterin); Klopstock (Sitt' und Weise);
Lessing (der über das Epigramm schrieb und das Verdienst hat, zuerst den
vergessen gewesenen Fr. v. Logau wieder bekannt gemacht zu haben: Das
böse Weib, Der Schuster Franz, Die Verleumdung &c.); Küttner (Der
Deutsche); Menk (Der Renommist); Pfeffel (Der Selbstmord); Langbein (Der
leere Topf); Schiller (Mein Glaube, Buchhändler-Anzeige &c.); Blumauer
(Der Geizhals); Kleist (An die geschminkte Vetulla); Voß (Mein Barbier);
Kuh (Der Mann von Geblüt); Müchler (Frau Garulla); Kerner (Auf einen
Epigrammatisten); Platen; Friedrich Haug (Weiberzungen, Pilgers Grabschrift);
Rückert; und besonders Oskar Blumenthal, der unter dem Titel
„Aus heiterm Himmel“ 1880 seine gesammelten Epigramme erscheinen ließ,
in denen Theater und Litteratur eine Hauptrolle spielen und mancher Schriftsteller
arg mitgenommen wird.
Von den Franzosen dichteten besonders Scarron, Rousseau und Marot treffliche
Epigramme. Von den Engländern sind zu erwähnen: Pope und Swift.
Das englische Epigramm wurde bei uns durch Weckherlin († 1651) eingeführt.
§ 92. Die Priamel oder der Schnepper.
Die ursprüngliche Form des deutschen Epigramms ist die seit dem
14. Jahrhundert beliebt gewesene Priamel (von praeambulum == Vordersatz,
Vorspiel, Vorlauf). Sie besteht aus einer Reihe kurzer, gar nicht
zusammengehörig erscheinender Vordersätze, von denen man erst gar
nicht einsieht, was sie wollen, deren Aufzählung präambuliert, bis sie
endlich durch einen abstrakten Allgemeinbegriff (oder Urteil) verbunden
werden, durch einen sie alle umfassenden, meist eine unerwartete Gedankenwendung
nehmenden kurzen „abschneppenden“ Nachsatz.
Der Nachsatz in den Priameln, deren Verfasser häufig unbekannt blieben,
enthielt meist eine aus den Vordersätzen abgeleitete Lehre oder ein Urteil über
die in den Vordersätzen aufgestellten Behauptungen, weshalb die Priamel
gewissermaßen den Übergang von der Gnome (Spruch) zum Epigramm bildete.
Jn einer Gerichtsordnung aus dem Jahre 1482 heißt es: „Des ersten
macht ein Harfner ein Priamel oder Vorlauf, daz er die luit (Leute) im uff
zu merken bewog.“ Die Priamel war in der That sehr geeignet, zum Aufmerken
anzuregen und zwar wegen des hinausgeschobenen, aufgesparten, auf die
ganze Reihe von Vordersätzen passenden, oft überraschenden Schlußsatzes.
Schnepper nannte man die Priameln insofern, als die Reihe der Vordersätze
durch den präzisen Schlußsatz in ihrem Fluß gehemmt oder „abgeschneppt“
wurde. Die häufig satirisch abschließende Priamel ist eine Art Epigramm oder
Rätsel, bei welchem der Leser die Klausel nicht erst zu suchen braucht, da sie
im Schlußsatz gegeben ist.
Eine originelle Priamelform findet sich in der als Manuscript gedruckten
Gedichtsammlung des Herzogs Ernst II. z. S., S. 53, bei welcher auf eine
Reihe von Negationen eine die Rätsel lösende abschließende Doppelverszeile folgt.
Als Wiederbelebung der bereits in Vergessenheit geratenen Priamel dürfte diese
Form bedeutungsvoll genug erscheinen, um mitgeteilt zu werden.
Beispiele der Priamel.
a.
b.
c.
(Friedr. Spee.)
[209]Des Mannes Thräne.
d.
(Herzog Ernst II. z. S.)
§ 93. Xenien.
Xenien sind Epigramme, die am Ende eine scharfe, satirische, überraschende,
ja unerwartete Wendung nehmen.
Sie sind ihrer Pointe wegen gedichtet und heißen mit Rücksicht
auf dieselben auch „spitzige Epigramme“.
Dem Wortsinn nach bedeuten Xenien (vom griechischen ξένιον) Gastgeschenke
oder Andenken.
Der römische Epigrammatiker Martial nannte das 13. Buch seiner
Sinngedichte Xenien, und von ihm nahmen Schiller und Goethe den Namen
für ihre spitzigen Epigramme, die in ihrem Musenalmanach (Tübingen 1797)
erschienen, welche zunächst die Dichter Claudius und Stolberg scharf angriffen,
dann überhaupt das Philistertum, die Modethorheiten in der Litteratur, sowie
die Mittelmäßigkeit der Kunstleistungen mit Witz und Spott überschütteten.
Eine ausführliche Schrift über „Die Schiller-Goetheschen Xenien“ ist von
Saupe (Leipzig 1852) erschienen; vgl. auch Boas, Schiller und Goethe im
Xenienkampf. 2 Bde. Stuttg. 1851. Xenien aus der Neuzeit, die denen von
Schiller und Goethe in bezug auf treffende und stimmungsvolle Satire an die Seite
gestellt werden können, sind die von K. J. Schröer zum Berliner Kongreß
(Neue illustr. Zeitg. Wien u. Leipz. 7. Juli 1878 S. 646).
Beispiele der Xenien.
(Goethe. Zahme Xenien.)
(Goethe. Zahme Xenien.)
Klein-Griechenland, von Karl Julius Schröer.
Was den Türken zu raten? von K. J. Schröer.
§ 94. Gnome.
Gnome (Denkspruch, von γνώμη, sententia, Urteil, Spruch), das
kürzeste didaktische Gedicht, ist ein kurz ausgesprochener Gedanke, ein
Weisheitsspruch, ein Sinnspruch, eine Klugheitsregel, ein Stammbuchvers,
eine nichts satirisches enthaltende Sentenz.
Ein einfacher Denkspruch ist ebenso wenig ein Epigramm, als eine Anekdote
eine Novelle ist.
Während sich das Epigramm wie eine Aufschrift zu einem Gegenstand
ausnimmt und nicht direkt zu belehren braucht, will die Gnome, die des
epischen Vordersatzes des Epigramms entbehrt, direkt belehren. Das Epigramm
drückt Jdeen aus, die Gnome Wahrheiten. Das Epigramm ist immer in
streng poetischer Form, der Spruch häufig im Volkston. Gnomen, welche in
kalter Abstraktion abgefaßt sind, an deren Entstehen die produzierende Einbildungskraft
keinen Teil hat, fallen aus dem Bereich der Poesie heraus. Die
metrische Form, die nur das Einprägen in's Gedächtnis erleichtert, erhebt sie
nicht in's Bereich der Poesie. Rückert hat sich zu seinen Gnomen häufig der
Vierzeile bedient. Bei solch zwanglosen Reimversen kann die Gnome auch Reimspruch
genannt werden. Die poetischen Sprichwörter mit Reim (oder auch mit
Allitteration) gehören zur Gnome, wenn sie sich auch zur eigentlichen poetischen
Gnome wie Naturpoesie zur Kunstpoesie verhalten.
Die Vereinigung mehrerer demselben Anschauungskreise zugehöriger Sinnsprüche
zu einem Ganzen nach Art des Freidank oder der Rückertschen Gnomen
in Angereihte Perlen oder vieler Gedichte in der Weisheit des Brahmanen
bildet das Spruchgedicht (Gnomologie).
Beispiele der Gnome.
a. Spruch.
(Tiedge.)
b. Poetische Gnomen.
(Schiller.)
(Goethe.)
(Rückert.)
(K. G. v. Brinckmann.)
c. Beispiel eines Spruchgedichts (Gnomologie).
(Julius Hammer.)
Litteratur der Gnome.
Die ersten griechischen Gnomen ─ wie überhaupt die erste didaktische
Poesie ─ findet man in Hesiods „Tage und Werke“; die gnomische Dichtung beginnt
mit der Zeit der sieben Weisen Griechenlands. Gnomen finden wir auch
von Solon, von Theognis &c. (Die goldenen „Sprüche des Pythagoras“ sind
wahrscheinlich nicht von ihm.) Seit Hesiod blieb bei den Griechen der Hexameter
die metrische Form der Gnomen. Andere wählten die zweizeilige aus
Hexameter und Pentameter gebildete Strophe, wieder andere den Trimeter.
(Bd. I. S. 321.)
Die Gnomen Salomons und des Jesus Sirach bei den Hebräern beschränken
sich auf den einfachsten Parallelismus der Worte und Satzglieder.
Arabische Sprüche gab 1879 Socin (Tübingen) heraus, osmanische die
k. k. orientalische Akademie zu Wien (1877. Constantinopel). Die griechischen
gab Gaisford (Oxf. 1830) heraus. Lateinische sammelte Wüstemann (1864.
Nordhausen) u. a. Auch neuere Völker besitzen einen reichen Schatz von Sprüchen.
Ende des 14. Jahrhunderts war besonders die böhmische Litteratur an gnomischen
Dichtungen reich. Emil von Pardubitz († 1403) hat zur Zeit des
Königs Wenzel I. eine Sammlung der ältesten böhmischen Sprüche und Epigramme
veranstaltet, die von Joh. Wenzig in's Deutsche übersetzt wurden.
Von einem unserer Vorfahren hat die sämundische Edda treffliche
Gnomen aufbewahrt.
Jn Deutschland gab es Spruchdichter schon im 12. Jahrhundert, z. B.
Spervogel. Manche Sprüche derselben leben heute noch als Sprichwörter
im Munde des Volkes fort.
Reinmar von Zweter, einer der ersten Gnomendichter in Deutschland,
dichtete statt Lieder nur Sprüche, ─ das Wort im alten Sinn gebraucht, in
welchem der Spruch eine Strophe, wenn auch oft von größerem Umfang umfaßt.
Reinmar von Zweter lehrt selbst da, wo er die Liebe behandelt. (Bei
ihm begegnen wir zum erstenmal der gnomischen Poesie der Griechen, die er
auf deutschen Boden verpflanzte.)
Die bedeutendste Spruchsammlung ist die zum Teil auf einem Kreuzzug
etwa um 1229 verfaßte, welche nach W. Grimm und Wackernagel von Walther
von der Vogelweide, dem Frydank (== Freidenkenden), nach andern vom Fahrenden
Bernh. Freidank herrühren soll, und unter dem Namen Bescheidenheit (d. i. Bescheid
wissen == Verständigkeit) des Freidank auf uns gekommen ist. Es kommen darin
reine Sprüche, reine Sprichwörter und Verbindung beider zu sprichwörtlichen
Sprüchen vor, welch letztere man als didaktische Epigramme auffassen könnte.
Seine nach ihrer Verwandtschaft zu mehreren Hauptabschnitten verbundenen
Gnomen bilden einen Weltspiegel, in welchem alle Stände vom Kaiser und
Papst bis zum niedrigsten Manne, sowie öffentliche und private Verhältnisse,
ferner Glaube, Tugend, Laster u. s. w. in größter Abwechslung behandelt
sind. Nennenswert sind von älteren Spruchdichtern die Bd. I. S. 47, 48
und 52 erwähnten. Besonders aber Zincgref, der 1624 wie schon Agrikola
(1528) und Sebast. Franck (Spruchweisheit, 1541) eine Sammlung der deutschen
Sprichwörter (Apophthegmata) veranstaltete. Ferner Angelus Silesius
(Joh. Scheffler Bd. I. S. 52), der zu vielen Spruchgedichten der Weisheit
des Brahmanen Fr. Rückerts den Stoff liefern mußte. (Vgl. den Nachweis in
„Fr. Rückert, ein biographisches Denkmal“ vom Verf. S. 158.) Außerdem
haben uns Gnomen hinterlassen: Gleim, Kästner, Herder, Bürger,
Schiller, Lessing, Tiedge, Goethe (Gnomen 1─17), Leopold Schefer,
Haug, Rückert (in Weisheit d. Brahmanen, in Lieder und Sprüche u. s. w.)
u. a. Jnteressant sind die vielen Sprichwörtersammlungen, von denen wir
nur aus der Neuzeit diejenigen von Körte (1837 und 1861), Eiselin (1838),
Simrock (1846 und 1863), Wander (deutsches Sprichwörter-Lexikon, Leipzig
1863─78) und Binder (Stuttgart 1874) erwähnen.
§ 95. Epistel.
Poetische Epistel nennt man einen Brief in Gedichtform mit
didaktischer Tendenz.
Ähnlich unseren Prosabriefen richtet sich die poetische Epistel an eine bestimmte
Person und teilt Gefühle und Gedanken in poetischer Form und in
lehrhafter Weise mit, so daß sie von der ganzen Menschheit mit Jnteresse gelesen
werden kann, und somit nicht nur für den Einzelnen Wert hat.
Die Griechen kannten diese Art von Epistel in der klassischen Zeit fast
gar nicht, denn die Briefe des Plato, Demosthenes u. a. sind wohl großenteils
unecht. Der römische Dichter Horaz, der seine Episteln, wie seine Satiren [213]
in Hexametern verfaßte, ist der Begründer der poetischen Epistel insofern, als
er zuerst systematisch solche dichtete, wie vor ihm sporadisch Sp. Mummius
vor Korinth 146 v. Chr., der Bruder des Siegers L. Mummius. Die Episteln
des Horaz zeigen Humor, aber weniger Spott als seine Satiren. Seine Lehre
steht immer in subjektiver Beziehung zu seiner Persönlichkeit.
Er spricht frei und offen, wie an einen Freund, und einige Briefe sind
wirklich durch besonderen Anlaß hervorgerufen. Dieselben stammen sämtlich aus
seinen letzten Jahren, wo er ernst gestimmt war und Neigung zum Philosophieren
bei ihm vorherrscht. Bei einem Brief nimmt jeder Mensch seine Gedanken mehr
zusammen, als bei einer Tischunterhaltung. Daher haben die Episteln einen
geregelteren Gang und verschmähen das Nachlässige, das in der Satire herrscht.
Die bedeutendste Epistel des Horaz ist die an die Pisonen, die den
individuellen Charakter ganz verleugnet und deshalb gewöhnlich aus der Briefsammlung
als ein besonderes Gedicht unter dem Titel de arte poetica ausgeschieden
wird. Es ist eine die Regeln der Dichtkunst in poetischer nicht eben
systematischer, sondern aphoristischer Weise darlegende Poetik in Versen, die für
Schulen sehr oft gedruckt und kommentiert wurde. (Vgl. Bd. I S. 3.)
Jn der neuesten deutschen Litteratur kommen die Episteln nur höchst vereinzelt
vor, während sie nach Günthers, Uz' ─ ihrer Begründer ─ Vorgang Ende
des vorigen und anfangs unseres Jahrhunderts an der Tagesordnung waren.
Die neueren deutschen Episteldichter wenden meist kein episches Maß an,
wie Horaz es that, da wir eben ein allgemein anerkanntes nationales episches
Maß nicht mehr haben; aber sie wenden auch keine lyrischen Strophen an,
bedienen sich vielmehr meist langer unstrophischer Reihen reimender Zeilen u. s. w.
Beispiel der poetischen Epistel.
Epistel an Stockmar, von Fr. Rückert.
Litteratur der poetischen Epistel.
Von den Jtalienern schrieb poetische Episteln: Francesco Algarotti;
von den Engländern: Pope; von den Franzosen: Racine, Rousseau,
Voltaire u. a.
Von den Deutschen haben zuerst Günther und Uz Episteln gedichtet.
Dann Gleim (An Jakobi); Jakobi (Antwort); Göckingk (An meinen Bedienten,
An meinen kleinen Fritz, Einladung an einen Freund); Wieland,
Manso, Ernst Schulze (An Cäcilie, als sie einen Johannes gemalt hatte);
Pfeffel (An Zoe &c.); Gotter (Der Trost); Tiedge (An Schmidt); Thümmel,
Goethe, Platen, Rückert u. a.
§ 96. Heroide.
1. Heroiden (lat. heroides von ἡρωίς == Heldin) sind lyrischdidaktische,
in erhabenem oder elegischem Ton gehaltene Episteln, in
welchen der Dichter nicht in seinem Namen spricht, vielmehr eine
historische, mythische oder fingierte Person reden läßt.
Ovid dichtete die ersten Heroiden und ist somit ihr Begründer.
2. Die deutschen Heroiden weichen von den Ovidschen ab.
1. Ovids Heroiden sind Briefe, welche von berühmten Liebhaberinnen an
ihre entfernteren Geliebten gerichtet wurden (z. B. Deïanira an Herkules. Vgl.
auch die vorbildliche Heroide bei Properz [49─15 v. Chr.] V. 3, welche
eine Gattin an ihren im fernen Osten im Feld stehenden Gatten schreibt; wahrscheinlich
lediglich Erfindung). Der Jnhalt der römischen Heroide gipfelt in Entfaltung
innerer Zustände, wobei die epische Grundlage zum Teil vorausgesetzt
wird, zum Teil aus inneren Zuständen zu erraten ist. Sie bilden also in Hinsicht
auf die ihr zu Grund liegenden gemischten Empfindungen eine Art Elegie.
2. Seit Chr. Hoffmann v. Hoffmannswaldau (Bd. I 51) hat man
die Ovidschen Heroiden auch in Deutschland nachgeahmt; man faßte jedoch den
Namen falsch auf, indem man unter Heroides nicht Heldinnen, Heroinen, d. h.
episch berühmte Weiber verstand, sondern annahm, Herois verhalte sich zu Heros
wie Aeneis zu Aeneas und sei also ein Gedicht, das von Helden handle.
Jn der Regel legte daher der Dichter in der Heroide einer mythischen oder
schon verstorbenen, mehr oder weniger geschichtlich merkwürdigen Person seine [216]
Gedanken in den Mund, die sie von jenseits des Grabes ihren Freunden mitteilte.
Doch ließ man die Heroide auch von einer noch lebend gedachten, berühmten
Person (auch wohl von fingierten Personen) ausgehen. Ende des vor.
Jahrhunderts erreichte die 1716 von Pope geschriebene Heroide Heloise an
Abälard, welche Bürger und Tiedge deutsch übersetzten, bei uns verdiente
Berühmtheit.
Beispiele der Heroide.
α. Choröbus der Kassandra, von Platen.
β. Aus: Clemens an seinen Sohn Theodorus, von Schiebeler.
Litteratur der Heroide.
Heroiden schrieb von den Römern Ovid, Properz; von den Jtalienern:
Bruni und Crasso; von den Engländern: Pope; von den Franzosen:
Dorat; von den Deutschen Schiebeler, Eschenburg, A. W. Schlegel
(Neoptolemus an Diokles); Hofmannswaldau (Eginhard an Emma); Kosegarten
(Agathon an Thelxione); Kuffner (Thusnelda an Arminius); Therese
v. Artner (Sappho an Phaon); W. Smets (Ernst, Graf Gleichen an sein
deutsches Eheweib); Platen (Choröbus der Kassandra); Tiedge; Bürger; Kind
(Einsiedler an der Twerza); Wieland (Briefe Verstorbener an ihre noch lebenden
Freunde); Dusch; Trautzschen; Ernst Eckstein (Mutter und Kind. Jn
Ecksteins Sammlung: „Jn Moll und Dur.“) u. a.
Heroiden der Deutschen hat Raßmann (1824) herausgegeben.
§ 97. Kurze lyrisch-didaktische Formen.
Wie schon manche Episteln recht gut als Heroiden, oder Elegien,
oder Satiren, oder poetische Erzählungen aufgefaßt werden können,
wie ferner manche Satiren in Form von Briefen oder Fabeln &c.
auftreten, so findet man eine Anzahl kleinerer Dichtungen, welche sich
in keine der früher vorgeführten lyrischen Arten einordnen lassen.
Entweder ist ihr Jnhalt nicht vom Gefühl diktiert, oder es fehlen ihnen
die Anforderungen an das religiöse, elegische, gesellige, epigrammatische
Gedicht, oder endlich es geht ihnen eine, den bisher vorgeführten
Gattungen eigentümliche, charakteristische Form ab. Es steht eben dem
Dichter frei, sich von der Schablone je nach Bedürfnis zu trennen,
und die einzelnen Gattungen je nach Belieben und Bedürfnis zu vermengen
oder durch neue zu vermehren.
Wir verweisen die unbestimmten lyrischen Formen mit didaktischer
Tendenz in die besondere Rubrik der kurzen lyrisch=didaktischen Formen.
Diese kurzen lyrisch=didaktischen Formen zählen selbstredend zur didaktischen
Gelegenheitspoesie, die ähnlich der Pindarschen Gelegenheitspoesie oder den in [219]
didaktischen Betrachtungen gipfelnden Sirventêsen (== Dienstgedichten) der Provençalen,
dem Lyrischen entsprossen, das Lehrhafte in den Vordergrund stellt.
Der gewaltigste Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, räumte
in derartigen Gedichten dem Verstande nur soviel ein, als nötig für den gedanklichen
Aufbau des Gedichts war. Er bietet hier gewissermaßen die Form des
sog. Spruches, indem er jedem Gedicht nur eine Strophe, zuweilen von größerer
Ausdehnung und lang gestreckten unsangbaren Zeilen giebt.
Beispiel der kurzen lyrisch=didaktischen Formen.
Reaktion, von Fr. Rückert.
Einzelne derartige Gedichte, in denen der Jnhalt wenig bietet und in
mehr spruchartige präzise Form gedrängt ist, finden sich bei allen Dichtern,
besonders aber in Rückerts Liedern und Sprüchen. (Aus dem Nachlaß z B.
S. 87. 101. 102 &c.)
Weitere Beispiele bieten die sogenannten Endreime (Bouts-rimés). Vgl.
Rückerts: Aufgegebene Endreime (Auf dem Berg); Alois Schreibers: Das
neue Jahrhundert u. s. w.
§ 98. Wirkliches Lehrgedicht.
1. Das wirkliche Lehrgedicht ist die absichtsvolle poetische Darlegung
von Wahrheiten, die in Verwandtschaft und Beziehung zu
einander stehen und auf ein gemeinsames Ziel hinlenken. Sein Gegenstand
ist die Ausführung einer der Moral, der Wissenschaft, der Kunst,
der Religion, der Natur, dem Leben entstammenden Materie.
2. Es bedient sich zu seinem Aufbau je nach Bedürfnis der
Definition, der Jnduktion, der Analogie und der Jndividualisation.
1. Wenn im didaktischen Liede der Verstand durch das Gefühl in Schwingung
gebracht wird, so äußert in gerade umgekehrter Weise im wirklichen Lehrgedicht der
Verstand seine anregende Wirkung auf Gefühl und Phantasie. Das wirkliche
Lehrgedicht ist seinem Zweck nach ernster Natur, da das komische Lehrgedicht nur
Parodie ist.
2. Die Mittel, welche die didaktische Poesie im wirklichen Lehrgedicht zur
Darstellung und Klarlegung der Wahrheit anwendet, sind:
a. Die poetische Definition, die mit der logischen Prosa-Definition
kaum die Form gemein hat, indem sie Begriffe zur Erklärung häuft, während
jene nur die Kennzeichen des Begriffs einzeln vorführt.
Beispiel:
(Rückert.)
b. Die poetische Jnduktion, welche die Wahrheit in Beispielen zeigt.
Beispiel:
(Aus Gellerts Reichtum und Ehre.)
c. Die poetische Analogie, welche die Ähnlichkeit des Gegenstandes
in Beziehung mit anderen setzt. (Vgl. als Probe „Dem Liebesänger“ unter
I. der Beispiele.)
d. Die poetische Jndividualisation, welche statt eines abstrakten
Begriffes die untergeordneten Jndividuen nimmt. (Vgl. als Beispiel die gute
Lehre des Bettlers unter II.)
Beispiel des wirklichen Lehrgedichts.
I. Lyrisch-didaktisch.
Dem Liebesänger, von Rückert.
Als weiteres lyrisch=didaktisches Beispiel vgl. „Sei ein Mensch“, von
Leop. Schefer.
II. Episch-didaktisch.
Die gute Lehre des Bettlers, von Fr. Rückert.
III. Dramatisch-didaktisch.
Gegenstück zu Uhlands „Gespräch“, von Fr. Rückert.
Weitere Beispiele vgl. Sallets Fragment aus einer Tragödie im antiken
Stil (Sallets Ges. Ged. S. 171), sowie die am Schluß des folgenden Paragraphen
(99) gegebenen Proben aus Rückerts Weisheit des Brahmanen.
Litteratur des wirklichen Lehrgedichts.
Das wirkliche Lehrgedicht haben besonders Gellert, Herder, Tiedge,
Schefer, Sallet, Rückert &c. gepflegt.
Die Weisheit des Brahmanen von Rückert ist eine Sammlung
kleiner wirklicher Lehrgedichte, die durch gleiche Empfindung verbunden als
großes Lehrgedicht aufgefaßt werden und im nächsten Paragraph (99, ebenso
wie Sallets Laienevangelium und Schefers Laienbrevier) noch einmal erwähnt
werden müssen. Die einzelnen Gedichte sind als wirkliche Lehrgedichte zu
rubrizieren, während die Vereinigung dieser sämtlichen Dichtungen je als großes
Lehrgedicht gelten kann.
§ 99. Großes Lehrgedicht.
Giebt ein Dichtwerk nicht nur eine einzelne gute Lehre, sondern eine
ganze Anzahl von Gedanken aus einem Gebiet oder auch aus verschiedenen
Gebieten, so daß eine große didaktische Dichtung aus kleinen Einheiten
sich ausbreitet, wodurch schließlich das Thema erschöpfend behandelt
wird, so nennen wir dies ein großes Lehrgedicht.
Das große Lehrgedicht macht in seiner Ausdehnung und in seinem Verlauf
die allermannigfaltigsten Verhältnisse (z. B. Gott, Sittlichkeit, Freiheit, Tugend,
Unsterblichkeit und Glückseligkeit) zum Gegenstande seiner Betrachtung, welche es
vom Standpunkte einer höheren Weltanschauung beurteilt. Je mehr dabei der
reflektierende Verstand sich mit Phantasie und Gefühl vereinigt, desto vorzüglicher
wird das große Lehrgedicht sein. Gefühl und Phantasie werden in ihm übrigens
durch die Verstandesthätigkeit in Bewegung gesetzt. (Vgl. S. 18. 2. d. Bds.)
Das große Lehrgedicht verhält sich zu den kurzen didaktischen Formen und
namentlich zu dem wirklichen Lehrgedicht (und auch zu den Sprüchen des Mittelalters),
wie sich etwa die Epopöe zum altepischen Lied verhält. Jm Gegensatz
zum Spruch oder zum kurzen didaktischen Gedicht, die sich beide mit einer
hervorleuchtenden Lehre begnügen, umschließt das große Lehrgedicht eine Summe
von Lehren und lehrhaften Einzelheiten. Es liebt Episoden gleich der Epopöe.
Da wir alle versifizierten Anweisungen zu Beschäftigungen wie Fischfang und
Jagd (ich erwähne beispielshalber neben der auf S. 21 d. Bds. zitierten
Aßmannschen Weltgeschichte noch Tscharners Regeln von der Wässerung der
Äcker, Trillers Pocken-Jnokulation, Schröers Drei Bücher von der Vormünder
und Pflegeväter gebührender Administration &c.), sofern sie nicht das
Gefühl und die Einbildungskraft anzuregen vermögen, ─ als gereimte Prosa
und als Pseudolehrgedichte aus dem Bereich der Poesie überhaupt ausscheiden,
so kann das große Lehrgedicht nur jene umfangreiche, systematisch belehrende
Dichtung sein, die ebenso dem Gemüte wie der Einbildungskraft Rechnung
trägt. Ein Lehrgedicht, welches nur Wissen vorträgt, muß schon deshalb um
seine Existenz zittern, weil die Wissenschaft am folgenden Tage bereits zu andern
Resultaten gelangt sein kann und der Jnhalt des Lehrgedichts (somit also auch der
Zweck desselben) in sich zusammenbricht. Jch erinnere an „Die 5 Sinne“ von
Brockes, sowie an die S. 21 d. Bds. erwähnten „Gesundbrunnen“ Neubecks, deren
Didaxis durch die neueren Resultate der Naturwissenschaft längst überholt ist.
Das große (philosophische oder höhere) Lehrgedicht würde von kurzer
Dauer sein, wenn es nicht dem Gefühl genügen würde, da seine spekulativen
Wahrheiten ebensowenig unbestritten bei allen Menschen feststehen, als dies bei
den philosophischen Systemen selbst der Fall ist.
Beispiele des großen Lehrgedichts.
Anfang des ersten Gesangs der Urania, von C. A. Tiedge.
Klagen des Zweiflers.
(Jn ähnlicher Weise und in diesem Metrum breitet sich die Dichtung
aus. Der Zweifler klagt die skeptische Philosophie an und fordert von ihr
seine Ruhe zurück. Er zweifelt an Gottes Dasein; das irdische Leben erscheint
ihm als ein Rätsel. Furchtbar schreckt ihn der Tod. Er betrachtet
sich als ein vom despotischen Schicksal hin- und hergeworfenes Wesen. Dennoch
fordert eine innere Stimme die Tugend; er soll, was er nicht kann: Hoffnungslos
schmachtet er nach Zuversicht, nach Trost. ─ ─ ─ Dies ist der
hauptsächliche Jnhalt des 1. Gesangs dieses großen, aus 6 Gesängen bestehenden
Lehrgedichtes über die Unsterblichkeit. Der aufmerksame Leser findet, wie
die Didaxis bald aus dem Gefühl, bald aus dem Verstand quillt, weshalb
ihn das Gedicht bald ergreift, bald kalt läßt, ohne viel mehr zu bewirken,
als die ruhelose Stimmung von Punkt zu Punkt weiter zu drängen. Jm 6. Gesang
kommt der Dichter zur Ansicht, daß eine zweifache Natur im Menschen
waltet; in jener entwickelt er sich als Naturwesen; in dieser reift er durch
sittliche Freiheit zur sittlichen Freiheit, von deren Höhe aller Prunk
der Zufälligkeiten des Lebens klein und nichtig erscheint &c.)
Bruchstück aus dem Laienevangelium, von Fr. von Sallet.
(Das Laienevangelium ist aus 131 solcher wirklichen Lehrgedichte zusammengesetzt.
Ein Prolog leitet es ein. Darauf folgen die Lehrgedichte: Jm Anfang
war das Wort. Die Geschlechtsregister. Maria Verkündigung. Simeon. Die
Weisen aus dem Morgenland und sodann alle jene Abschnitte aus Jesu Leben,
welche uns das Evangelium bietet bis zur Himmelfahrt. Ein Epilog schließt
das große Lehrgedicht. Das Ganze erstrebt eine Art Wiedergeburt des Christentums
im modernen Sinn.)
Litteratur des großen Lehrgedichts.
Von den Alten lieferten didaktische Gedichte: Empedokles (über die Natur);
Hesiod (Werke und Tage, vgl. S. 21 d. Bds.); Virgil (der bedeutendste
Didaktiker: „vom Landbaue“; es besteht aus vier Büchern: 1. Ackerbau, 2. Baumzucht,
3. Viehzucht und 4. Bienenzucht, ist überhaupt das beste, was das
Altertum bietet); Ovid (ars amandi, übersetzt von Pernice und F. Katsch,
Leipz. 1881, vgl. § 86 d. Bds.); Lucretius (de rerum natura); Horaz.
Ferner die Neulateiner: Vida (Seidenzucht); Milio (Gartenbau); die Jtaliener:
Vavasone (über die Jagd); Duchi (über Schachspiel); die Franzosen: Louis
Racine (über die Religion); Castel (über die Pflanzen); Boileau (die Kunst
zu dichten); die Engländer: Buckingham (über Dichtkunst); Pope (über den
Menschen); Young (über die Kraft der Religion, sowie die ergreifenden, Tod
und Unsterblichkeit behandelnden „Nachtgedanken“ dieses Dichters, übersetzt von
Benzel-Sternau). Von Deutschen sind zu nennen: Ringwald (geb. 1531:
Christliche Warnung des treuen Eckarts, oder die lautere Wahrheit, die sagt,
wie ein weltlicher und geistlicher Krieger sich zu verhalten haben); Opitz
(Zlatna oder von der Ruhe des Gemüts, ferner Trost in Widerwärtigkeit
des Kriegers); Cronegk (die Einsamkeiten); Schefer (1784─1862, Laienbrevier); [226]
Kästner (die Kometen); Lichtwer (das Recht der Vernunft);
Schiebeler (Poetik des Herzens); Schreiber (Harmonie); W. Jordan
(Demiurgos, hat Ähnlichkeit mit Goethes Faust, bewegt sich in allen Kreisen
der menschlichen Gesellschaft und führt den Gedanken aus: Der Mensch soll
unbekümmert um den Weltlauf sein eigenes Ziel erstreben); v. Gottschall
(die Göttin, hohes Lied vom Weibe); Schlönbach (Weltseele, ist in mancher
Beziehung mit Hallers Alpen zu vergleichen. Einzelne Bilder daraus z. B. „Vor
dem Sturm“ sind äußerst wirkungsvoll).
Endlich sind vorzugsweise die auf S. 21 und 22 d. Bds. genannten
großen Lehrgedichte hier zu verzeichnen, sowie zum Schluß das epochebildende,
aus 2800 kleineren Lehrgedichten bestehende große Lehrgedicht Rückerts: Weisheit
des Brahmanen, welches durch die Einheit des Sinns, der Form und
der Empfindung zu einem großen Ganzen verbunden ist, alle Verhältnisse des
Menschen nach Alter, Stand, Geschlecht, Staat, Religion, Gesellschaft umfaßt,
Resultate von Studien auf philosophischen, psychologischen, sprachlichen, naturwissenschaftlichen
und pädagogischen Gebieten darbietet, alle Saiten des Menschenherzens
erklingen läßt, zur Tugend mahnt, Mut im Unglück lehrt und selbst
den religiösen Fragen über Gott, Unsterblichkeit, Glauben, Offenbarung &c.
nicht aus dem Wege geht. Von welchem Gesichtspunkte aus der Dichter selber
seine Weisheit des Brahmanen angesehen wissen will, mögen die nachfolgenden
Bruchstücke darthun:
(Weish. d. Brahm. II. 31. 1. Ausg. II. 43.)
(Ebenda V. 5.)
(Ebd. XX. 61. 1. Ausg. XX. 106.)
(Ebd. XX. 64. 1. Ausg. XX. 111.)
Viertes Hauptstück.
Die epischen Dichtungen. ──────
§ 100. Einteilung der epischen Poesie.
Wir ordnen die Gattungen der Epik nach ihrem Jnhalt an und
unterscheiden demnach epische Gedichte, welche ihren Stoff
1. aus dem Leben der Wirklichkeit, dem Erlebnisse nehmen;
2. aus der Sagenwelt schöpfen;
3. dem prosaischen Leben der Wirklichkeit in Prosa nachbilden,
also erfinden.
Demzufolge erhalten wir die nachstehende für unsere Anordnung maßgebende
Einteilung:
I. Aus dem Leben der
Wirklichkeit.
Erlebtes.
1. Poetische Erzählung u.
epische Rhapsodie.
2. Jdylle.
3. Beschreibendes Gedicht.
II. Aus der Sagenwelt.
Überliefertes.
1. Sage.
2. Mythus.
3. Legende.
4. Märchen.
5. Romanze.
6. Ballade.
7. Epos.
A. Volksepos.
B. Kunstepos.
III. Dem Leben der Wirklichkeit
nachgebildet.
Erfundenes.
Prosaische Gattungen.
a. Roman.
b. Novelle.
Einige Litterarhistoriker beachten keinerlei Einteilungsprinzip und ordnen
die obigen Gattungen der Epik willkürlich an. Andere bereichern die epischen
Gattungen durch die von uns in den §§ 79─81 dieses Bandes abgehandelten
symbolischen Gattungen der Didaxis: Fabel, Parabel und Paramythie. Heinrich
Wittstock (im 3. Programm des Gymnasiums zu Bistritz) faßt die Gattungen
der Epik unter folgende allgemeine Gesichtspunkte zusammen:
A. Rein episch: Epos, Jdylle.
B. Lyrisch=episch: Ballade, Romanze, Rhapsodie.
C. Poetische Erzählung, Schwank, Legende, Sage, Märchen, Mythe.
D. Didaktisch=episch: Fabel, Parabel, Paramythie.
Wir würden dieser Einteilung gegenüber vorschlagen die Scheidung a. in
Epik der Einbildungskraft (epische Epik), b. Epik des Gefühls (lyrische Epik),
c. Epik des Verstandes (didaktische Epik).
Doch geben wir unserer oben dargelegten Rubrizierung nach der Stoffquelle
(Jnhalt) der epischen Gedichte den Vorzug.
I. Aus dem Leben der Wirklichkeit ─ dem Erlebnisse ─ erblühende
epische Gattungen.
§ 101. Poetische Erzählung.
1. Eine poetische Erzählung (metrische Erzählung, erzählendes
Gedicht, Erzählung in Reimen oder Versen) ist im Grunde genommen
eine jede Erzählung in rhythmischer Form, sofern sie durch Jdealisierung
ein höheres Jnteresse zu erwecken vermag. Sie schildert mit dichterischem
Schwung eine einzelne Begebenheit, ein einzelnes Vorkommnis aus
dem Leben einer oder mehrerer Personen, oder sie veranschaulicht eine
ästhetische Jdee in der Form einer Begebenheit. Jhr Jnhalt muß somit
dem wirklichen Leben entsprechend sein. Alles Sagenhafte und Wunderbare
ist bei ihr ausgeschlossen.
2. Aus diesen Anforderungen ergiebt sich ihr Verhalten zur
Romanze und Ballade, zur Novelle, zur Epopöe, zur Parabel und
Fabel &c.
1. Durch die rhythmische Form unterscheidet sich die poetische Erzählung
äußerlich von der gewöhnlichen Prosa-Erzählung, die ja ebenfalls in's Bereich
der Poesie gezogen werden kann, sofern sie die inneren Gemütszustände enthüllt
und bei ihrer Darstellung die Phantasie thätig sein läßt. Der Umfang ist unwesentlich.
Die metrische Erzählung Jsabella von Kastilien vom Wupperthaler
Dichter K. Stelter umfaßt 354 vierzeilige Strophen; Bodenstedts Ada,
die Lesghierin, 72 Gesänge in 4= und 5taktigen Trochäen. Eine kurze
Erzählung in Prosa (Anekdote) kann durch die rhythmische Form ebenso zur
poetischen Erzählung werden, als eine lang fortgesponnene.
Betreffs der Form steht dem Dichter jedes Versmaß und jeder Reim frei.
Trochäen, Jamben, der Nibelungenvers, Alexandriner, Oktaven &c. sind mit
Erfolg angewandt worden.
Für die Entstehung der poetischen Erzählung ist zu betonen, daß man im
Streben nach höherer Kunstentfaltung, übersättigt von der Fabeldichtung, epische
Stoffe zu bearbeiten begann, wobei anfänglich allerdings wie in der Fabel die [229]
didaktische Tendenz überwog, so daß die poetische Erzählung sich von der Fabel
ursprünglich nur dadurch unterschied, daß statt der Tiere Menschen ihre handelnden
Gestalten waren. Dies ist noch bei vielen, satirisch gehaltenen sogenannten
poetischen Erzählungen von Gellert, Lichtwer, Gleim &c. der Fall, die deshalb
in's Gebiet der didaktischen Poesie gehören. Nach und nach erst trat die epische
Gestaltung in den Vordergrund, und allmählich bildete sich auch eine poetische
Erzählung aus, die man Schwank nannte, wenn sie komisch oder humoristisch
gehalten war.
2. Von der Parabel unterscheidet sich die poetische Erzählung dadurch,
daß sie nicht belehren will; von der Ballade und Romanze dadurch, daß sie
nicht direkt auf das Gemüt zu wirken sucht, und daß ihr die lyrische, subjektiv
erregte Färbung fehlt; von der Novelle und Novellette durch ihre metrische
Form; von der Epopöe durch kleineren Umfang, durch ihren dem wirklichen
Leben oder der Phantasie (nicht der Sage) entlehnten Stoff.
Man kann die poetischen Erzählungen einteilen:
1. in humoristische poetische Erzählungen;
2. in ernste poetische Erzählungen.
Beispiele der poetischen Erzählung.
1. Humoristische poetische Erzählung.
Der Milchtopf, von Michaelis.
(Dieselbe poetische Erzählung findet sich unter der Überschrift: Die Milchfrau
in anderer Form mit einer Lehre am Schluß bei Gleim, wodurch diese
Form didaktisch wird und den Beweis liefert, daß die poetische Erzählung an
der Grenze der didaktischen und epischen Poesie steht. Beide Erzählungen,
welche übrigens aus der Hitopadesa stammen, sind offenbar Nachahmungen
der Fabel von Lafontaine „La laitière et le pot au lait.“ Livre VII
fable 10.)
2. Ernste poetische Erzählung.
Als allbekannte Beispiele nenne ich: 1. Schwäbische Kunde, von
Uhland. 2. Johannes Kant, von Gust. Schwab.
Litteratur der poetischen Erzählung.
Von den frühesten poetischen Erzählungen aus der Zeit der Minnesinger
erwähnen wir den „Armen Heinrich“ von Hartmann von der Aue (vgl. Bd. I.
S. 46), ferner den „Guten Gerhard“ von Rudolf von Ems, welcher die Bescheidenheit,
sowie auch die das geschaffene Gute vernichtende Selbstgefälligkeit
schildert. Aus späterer Zeit: Hans Sachs, der Vater des Schwanks, der auch
später seine Vertreter fand (z. B. Der Kaiser und der Abt, von Bürger).
Dann im 18. Jahrhundert Hagedorn, der die Franzosen und Engländer nachahmte
(z. B. den Lafontaine).
Verbreitete und allbekannte poetische Erzählungen von Wert haben außer
den Obigen geschrieben: Claudius (David und Goliath); Gellert (Der Jnformator,
Der Hut, Der sterbende Vater &c.); Kleist (Die Freundschaft); Lichtwer
(Die blinde Kuh); Lessing (Das Kruzifix &c.); Fouqué (Sängerlohn); Pfeffel
(Der Bauer und der Fluß, Der Geizhals und sein Sohn); Wieland (Die drei
Lehren &c.); Nikolai (Die Traube); Gotter (Der Genuß); Herder (Das Kind
der Sorge); Falk (Der Esel); Seume (Der Wilde); Göckingk (Predigt am
Magdalenentage, humoristisch); Tiedge (Die Orakelglocke); Thümmel; Kind;
Schulze (Psyche); Schiller; Simrock; Justinus Kerner (Der reichste Fürst);
Bürde (Karl V. im Kloster); Chamisso (Giftmischerin, schaurig ernst); ferner
Rückert (Die Erfrorenen); Freiligrath; Fr. Storck; Körner; Lenau; A. Grün;
Frankl; Castelli; Paul Heyse; Feod. Löwe; Rittershaus; Heinr. v. Collin
(Max auf der Martinswand); Ludwig Lesser (Schach Jbrahim und der
Derwisch &c.); von Gaudy (Die Pestjungfrau, Der Mönch Peter Forschegrund
&c.); Alexander Kaufmann (Die Bettlerin &c.); Amara George (Der
kleine Napoleon); J. Sturm (Martin Luther am Sterbebette seines Lenchens);
Bechstein (Haimonskinder); v. Heyden (Königsbraut &c.); Waldmüller; George
Morin (Stern und Rose); Al. Aar (Alarich auf der Akropolis); Waiblinger;
Karl Stelter; Karl Zettel &c. Außerdem haben die meisten deutschen Dichter
der Gegenwart poetische Erzählungen geliefert.
Als erzählender Dichter der Engländer ist besonders Lord Byron († 1824)
zu nennen. Nachahmer von ihm waren der Pole Mikiewicz und der Russe
Puschkin u. s. w.
§ 102. Epische Rhapsodie (erzählende Rhapsodie).
Die poetische Erzählung mit höherem Schwung und größerer
Begeisterung heißt epische oder erzählende Rhapsodie oder Märe. Auch
wird jede Romanze oder Ballade so genannt, sofern sie einen für sich
allein bestehenden Abschnitt einer größeren Heldensage enthält.
Somit verhält sich die epische Rhapsodie zur poetischen Erzählung, wie
die Ode zum Liede. Sie will die Thaten und den Charakter des Helden vor
unsern Augen entwickeln, und auf diese Weise auf unser Gefühl wirken, nicht
aber durch Betrachtungen und Gefühlserregungen. Bei den alten Griechen
hießen einzelne Gesänge eines Epos Rhapsodien. Heutzutage darf man auch
ein episches Gedicht Rhapsodie nennen, wenn sein Gegenstand so großartig ist,
daß es nur wie ein Bruchstück eines größern Ganzen zu betrachten ist. Namentlich
Goethe, Schiller und Uhland sind Meister in der epischen Rhapsodie.
Viele Balladen und Romanzen sind zugleich auch epische Rhapsodien. Jch
erwähne vor allem: Schillers Ballade Graf von Habsburg. Diese
Dichtung stellt eine große Scene vor, das festliche Mahl im Aachener Schloß
nach der Krönung. Um es möglich zu machen, alles zu konzentrieren, That
und späte Erfüllung der geweissagten Segnung in einer Scene beizubringen,
wird hier der inzwischen ergraute Priester zum Sänger, aber dieses Wort in
so veredelter Bedeutung genommen, als nur irgend möglich. Der Kaiser sucht
bei der Tafel einen Sänger, der ihm die Brust bewege mit göttlich erhabenen
Lehren. Dieser knüpft die Vergangenheit an die Gegenwart, und vollendet auf
diese Weise die Harmonie des Ganzen. (Calderon, dessen Bearbeitung Schiller
höchst wahrscheinlich kannte, hat denselben Stoff zuerst in dem Auto sacramental
[Apontes III. p. II. a] und in dem Vorspiele zum Auto sacramental
[El Arca de Dios captiva VI. 39] mit großer Ähnlichkeit behandelt.)
Schillers Ballade erscheint wie ein großes Bruchstück, verdient also den
Namen epische Rhapsodie.
Beispiele der epischen Rhapsodie.
Neben dem soeben genannten allbekannten Beispiel erwähne ich nur noch
a. Pegasus im Joche, von Schiller. b. Der letzte Ritter, von Anastasius
Grün (eine Verherrlichung des letzten deutschen Ritters Kaiser Maximilian).
c. Prinz Eugenius. d. Andreas Hofer. e. Cserhalom, von Vörösmarty,
übersetzt von Faust Pachler (Wien 1878), und f. den 1881 erschienenen
Rhapsodiencyklus Barbablanca von Jul. Ernst von Günthert. Weitere Beispiele
können leicht aus der unter Romanze und Ballade gegebenen Litteratur
ausgewählt werden.
§ 103. Die Jdylle.
1. Die Jdylle (oder auch das Jdyll, εἰδύλλιον == Bildchen, von
εἶδος == Form, Bild, Gestalt) ist eine poetische Erzählung, welche den
glücklichen, ruhigen, von Schuld freien Zustand des ländlichen Lebens [232]
schildert, das einfache, schlichte, glückliche Treiben von Menschen, die
mit der Natur anmutig verkehren.
2. Sie ist der Elegie verwandt.
3. Sie hat kein feststehendes Versmaß.
1. Nicht das Bestreben, vor Störendem bewahrt zu sein, und nicht die
träumerische Behaglichkeit am Abgeschlossenen und Abgegrenzten ist Merkmal des
Jdylls, wohl aber die Liebe zum Ländlichen, die Sehnsucht nach der Einfachheit
und Natürlichkeit ländlicher, ungekünstelter Zustände und Verhältnisse. Vischer
sagt: „Aus der unbefangenen Einheit der Natur und Kultur geht die arkadische
Beseligung hervor.“
Bilder aus dem einfachen Hirten=, Fischer=, Jäger=, Winzer- und Schäferleben
sind der Jdylle am liebsten.
Jn neuerer Zeit hat man auch in die Jdylle Personen hereingebracht, die
(wie Landgeistliche, Beamte und Lehrer) erfolgreich in das Naturleben ihres
Ortes eingreifen. Dadurch wurde sie erweitert, ohne zum Epos geworden zu
sein, bei welchem ein der Jdylle fremdes, großartiges Gepräge nicht fehlen darf.
Nur harmlose Kinder der Natur voll sanfter Gefühle treten in der Jdylle auf;
verwickelte und fremde Verhältnisse, gewaltige Ereignisse, eine zu große Anzahl
handelnder Personen &c. verstoßen gegen ihr Wesen, weil die Seele des Lesers
zu sehr auf den weiteren historischen Verlauf der Thatsachen hingelenkt und
dadurch verhindert würde, einen verweilenden Blick auf die Bäume und Blumen &c.
zu werfen, die schmückend die Scene beleben. Daher hat Gervinus Recht, wenn
er meint, die Jdylle sei da zu Haus, wo Mangel an bewegter Geschichte ist.
Ziererei und höhere Lebensverfeinerung kennt die Jdylle nicht, ihr Stil ist einfach,
naiv, wohl zuweilen warm und lebhaft, nie aber leidenschaftlich. Jhr
Charakter ist der des Anmutigen, Lieblichen. Jm Jdyll muß sich jeder zu
Hause fühlen, alles muß bekannt, verständlich sein, das niedere Leben, die
gemächliche Alltäglichkeit in Stadt und Land (d. h. eine Welt, in der nichts
Großes geschieht, deren Geschichte ohne Geräusch langsam dahinfließt), muß die
Scene bilden. Daher schrieben Opitz, Geßner, Maler Müller ihre Jdyllen in
Prosa. Wo es dem göttlichen Knaben Hermes im bekannten Homerischen Hymnus
wohl wird in der heimlichen Grotte seiner Mutter, singt er nicht nur von ihrer
Liebe, sondern auch von ihrem Hausrate, von ihren Kesseln und Dreifüßen.
Das Jdyllische findet man zuweilen auch in andern Dichtungsgattungen,
z. B. im sog. idyllischen Epos (Goethes Hermann und Dorothea), oder in den
sogenannten idyllischen Schäferspielen, einer besonderen Art von Dramen des
17. Jahrhunderts, oder in den Dorfgeschichten (z. B. Auerbachs und Schaumbergers,
welche einzelne reizende idyllische Bildchen in Prosa liefern). Die Bibel
enthält Manches, was den Charakter der Jdylle an sich trägt, z. B. das Buch
Ruth. Der Jliade fehlen (Hektors Abschied und eine Scene auf Achills Schild
abgerechnet) die idyllischen Züge, ebenso unserem Nibelungenepos, während man
sie in der Odyssee (z. B. Schilderung des Naturparks der Kalypso Od. E.
55 ff.) findet.
Lange blieb das Jdyll gelegentlicher Schmuck poetischer Gattungen. Erst
spät und zwar in der alexandrinischen Zeit riß es sich bei den Griechen von
der Verbindung los und wurde selbständige Dichtungsart, ähnlich wie sich das
zierliche Beiwerk, mit dem ursprünglich der Maler die Hauptfiguren umgab,
losriß, um als Genrebild oder Stillleben Selbständigkeit zu erlangen.
2. Das Jdyll hat viele Ähnlichkeit mit der Elegie. Seine Anschauungen
haben wie die der Elegie wenig epische Beweglichkeit. Ferner schildert es, abgesehen
von dem epischen Fortschritt seiner erzählten Thatsachen, wesentlich
ruhende Äußerlichkeiten.
3. Das Versmaß des Jdylls ist gewöhnlich der Hexameter, in neuerer
Zeit auch der reimlose jambische Vier- oder Fünftakter.
Beispiele der Jdylle.
a. Minna, von Tiedge.
b. Schluß des 20. Jdylls Theokrits (die Spindel), übersetzt
von Fr. Rückert.
⏓ ⏓ – ⏑ ⏑ – – ⏑ ⏑ – – ⏑ ⏑ – ⏑ –
c. Anfang und Schluß der Wald-Jdylle von E. Mörike.
(Der Erzählende teilt nun Schneewittchens Geschichte mit. Als er geendet
kommt Margarete und bringt dem Vater das Essen. Er ißt mit und hat
diesen Wunsch:)
Litteratur der Jdylle.
Als erster Jdyllendichter in Griechenland wird Theokrit (270 v. Chr.)
genannt, der die Gattung der bukolischen Poesie oder das Hirtengedicht aus
Sicilien nach Alexandrien brachte. Seine Jdyllen sind mimische Gedichte. Nach
ihm glänzten Moschus und Bion.
Bei den Römern dichtete Virgil berühmte Jdyllen, ohne sein Vorbild Theokrit
erreicht zu haben. Er hat 10 Eclogen oder Hirtengedichte zurückgelassen.
Opitz' „Daphne“ rief in Deutschland ähnliche Gedichte hervor, besonders
bei den Pegnitzschäfern (I. 51).
Geßner (1730─1787) war der Schöpfer einer idealischen Hirtenwelt,
deren Vorbild ihm in der arkadischen Schweiz nahe genug lag. Seine Jdyllen
bieten in glatter zierlichen Prosa freundliche Scenen aus einem ersonnenen
Schäferleben. Die bis in's kleinste ausgeführten, oft unnatürlich süßlichen, oder
sentimentalen Schilderungen verraten den feinblickenden Landschafter. Sein bester
Schüler Franz Xaver Bronner († 1850 in Aarau) schrieb lebenswahre, leider
zu sentimentale Fischer-Jdyllen (z. B. der Getröstete).
Unter den deutschen Jdyllendichtern sind sonst noch bekannt: Chr. v. Kleist
(Jrin, in jambischen Viertaktern); Langbein (Abenteuer des Pfarrers Schmolke &c.
in jambischen Viertaktern); Hölty (Das Feuer im Walde; Der arme Wilhelm;
Christel und Hannchen); Voß (Der 70te Geburtstag. Diese Jdylle hat neben
Breitem und Spießbürgerlichem viele wahrhaft poetische Partien. Das Glückliche,
Schöne, Schuldlose und Einfache des Landlebens ist darin bis in's kleinste
mit anschaulichsten Farben gemalt. Vgl. auch I. 55); Kosegarten; Goethe
(Der Wanderer, das Sesenheimer Jdyll); Hebel (Habermuß); Neuffer († 1839,
Ein Tag auf dem Lande); Amalie von Helwig (das dramatische Jdyll Corcyra);
Platen (Die Fischer auf Capri; Amalfi; das Fischermädchen in
Burano); Wyß (Das Gemslein); Matzerath (Erntemahl, eine niederländische
Jdylle); Müller von Königswinter (Maikönigin, ein Gemälde des rheinischen
Volkslebens); Robert Giseke (Pfarr-Röschen); Robert Hamerling (Morgen=
Jdyll); Karoline Pichler (Der Sommerabend, und biblische Jdyllen); Günther
(die Landschaft); Rückert (Das Bienengesumme); Albert Möser hat Jdyllen
in Dialogform geschrieben, ähnlich wie Hebels Die Feldhüter oder wie Goethes
Der neue Pausias &c. Sein „Er“ beginnt mit einem Distichon, worauf seine
„Sie“ mit einem solchen fortfährt; dann spricht „Er“ wieder ein Distichon, dann
„Sie“ u. s. f. durch seine 4 Jdyllen. (Vgl. Mösers Schauen und Schaffen
S. 139 ff.); Anna Löhn (Der Schulmeister); J. G. Fischer (Der glückliche
Knecht, 9 Gesänge in trochäischen Viertaktern) u. a. Jul. Rodenberg schrieb
dramatische Jdyllen &c.
§ 104. Beschreibendes Gedicht.
Gedichte, bei welchen der Dichter bloß die Eigenschaften, Merkmale,
Zustände seines der Natur entlehnten Gegenstandes angiebt, ohne
seine eigenen Empfindungen mitzuteilen, bei denen ferner die poetische
Beschreibung meist zur erzählenden Schilderung wird, bei welchen endlich
das sinnende Verweilen der Elegie ausgeschlossen ist, nennt man
beschreibende Gedichte.
Sobald die poetische Beschreibung aufhört zu erzählen, weist sie die Einbildungskraft
von sich, welche allein im stande ist, die Einzelheiten der Beschreibung,
denen ja der organische Zusammenhang fehlt, durch die historische
Entfaltung zu verbinden. Bloße Aufzählung des in sinnlicher Erscheinung Entgegentretenden,
Reimereien, die dem Abgerissenen nicht den Eindruck der augenblicklichen
Stimmung zu verleihen vermögen, fallen somit aus dem Gebiete
der Poesie heraus, selbst wenn glänzende Rhetorik das Ohr besticht. Beim guten
beschreibenden Gedicht muß Erzählung und Gefühls-Ausdruck vereinigt sein.
Um poetisch zu sein, muß vor allem der Gegenstand des Gedichts von
so interessanter Beschaffenheit, von solcher Schönheit, Großartigkeit oder Seltenheit
sein, daß eine bloße Angabe der Merkmale schon hinreichen würde, den
Leser poetisch anzuregen (z. B. bei Naturerscheinungen, die durch Großartigkeit,
Schönheit, Seltenheit einen tiefen Eindruck machen). Der Gegenstand des beschreibenden
Gedichts kann ebenso aus dem Reiche der sichtbaren, wie aus dem
der unsichtbaren Welt des Geistes und Gemütes entnommen sein; er kann erfunden
sein. Sodann sind Anschaulichkeit und Jdealität zwei Hauptforderungen
an ein beschreibendes Gedicht. Unschönes, Störendes aus der prosaischen Wirklichkeit
ist wegzulassen, das Schöne, sofern es keinen Widerspruch hervorruft,
ist hinzuzusetzen. Das beschreibende Gedicht läßt oft Episoden zu, um die
ästhetische Kraft des Ganzen zu fördern. Ohne diese Episoden ermüdet es und
wird zur Malerei mit Worten. Daher fließen wie von selbst Betrachtungen und
lyrische Ausbrüche der Empfindungen ein.
Häufig kommen poetische Beschreibungen als Teile größerer Gedichte vor.
Torquato Tasso beschreibt z. B. im befreiten Jerusalem eine Dürre, unter
der das Kreuzheer zu leiden hat. Homer beschreibt den Schild des Achill in
der Jlias. Die unter den didaktischen Gedichten erwähnten „Jahreszeiten“ (the
seasons, vom Engländer James Thomson † 1748), ─ von Schneittheiner,
L. Schubart u. a. deutsch übersetzt ─ wurden die Veranlassung zu den beschreibenden
Nachdichtungen „Jrdisches Vergnügen in Gott“ von Brockes; Kleists
„Frühling“; Zachariäs „Die Tageszeiten“ und zu Haydns gleichnamigem
Oratorium.
Muster von beschreibenden Gedichten lieferte Schiller. Wir erinnern nur
an Laura am Klavier. Der Dichter hat hier eine Phantasie Lauras, die sie
ihm vorspielte, durch berechneten Rhythmuswechsel darzustellen gewußt. Die
Einleitung von V. 15─22 ist gewissermaßen ein Allegro Brillante, welches [237]
in ruhiges Spiel übergehend durch geschmackvollen Ausdruck mit zartem Piano
(23 und 24) und kühnem Forte (25 und 26) sich auszeichnet, endlich (V. 27
und 28) wieder zum rauschend bewegten Tanze der Töne wird, darauf im
schmeichlerischen, tändelnden, ruhigeren Spiel (29─32) dahinschwebt, (33─36)
um in ein melancholisches düsteres Adagio herabzusinken und erwartungsvoll,
Neues erhoffend, zu endigen.
Beispiele des beschreibenden Gedichts.
a. Aus Kleists Frühling. (S. Bd. I S. 171.)
b. Die Fahrt um den Posilip, von Fr. Rückert.
c. Abendlandschaft, von Matthisson.
(Nicht bloß der glückliche Versbau ist es, sagt Schiller [Über Matthissons
Gedichte], was diesem Liede eine so musikalische Wirkung giebt. Der metrische
Wohllaut unterstützt und erhöht zwar allerdings diese Wirkung, aber er macht
sie nicht allein aus. Es ist die glückliche Zusammenstellung der Bilder, die
liebliche Stetigkeit in ihrer Succession; es ist die Modulation und die schöne
Haltung des Ganzen, wodurch es Ausdruck einer bestimmten Empfindungsweise,
also Seelengemälde wird.)
d. Jn die Herrlichkeit des Himmels, von Ed. Tempeltey.
Litteratur des beschreibenden Gedichts.
Das erste größere beschreibende Gedicht unserer Litteratur ist von Opitz
(Der Vesuv, 1633 in Alexandrinern geschrieben). Später schrieben: Zachariä
(z. B. Die Tageszeiten in 4 Gesängen, in elegisch sentimentalem Ton; sein
berühmt gewordenes Hauptwerk); Kleist (Der Frühling); Stolberg (Hellebek);
Tiedge (Der Abend); Kosegarten (Der Gewitterabend); Matthisson (Der Genfersee
&c.); Lavater (Der Rheinfall); Neuffer (Die Herbstfeier); Salis (Das
Abendrot); Platen (Bilder aus Neapel); Freiligrath (Wüstenbilder); Heine
(Nordseebilder); Schiller (Elysium, Herkulanum und Pompeji &c.); Rückert (Naturbilder
in antikem Versmaß); Lenau (Mischka, Die Heideschenke, Die Werbung);
Geibel (Jtalien, Zigeunerleben, Das Negerweib); Dieffenbach (Das Kirschbäumchen);
A. Möser (Auf der Nordsee); Adolf Grimminger (Auf dem Königssee); Paul
Hagemann (Die Feuersbrunst) u. a.
II. Aus der Sagenwelt (der Überlieferung) schöpfende epische
Gattungen.
§ 105. Die Sage.
1. Sage (von sagen) ist die poetische Erzählung einer Begebenheit,
welche ihrem Stoffe nach von der im Volksmunde fortlebenden
und gefärbten Überlieferung herrührt und keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit
erhebt. Sie knüpft sich an mündlich überlieferte, durch das
Gedächtnis aufbewahrte, gefärbte Geschichte, oder an bestimmte historische
Personen, an einzelne, dem Volke interessante Orte (z. B. Ruinen,
Berge, Felsen).
2. Die Sage unterscheidet sich von der Mythe d. i. der religiösen
Sage.
3. Mehrere verwandte Sagen bilden einen Sagenkreis.
4. Besonders beliebte und verbreitete Sagen werden zu Volkssagen.
5. Es giebt ernste und humoristische Sagen.
1. Polybius hat zuerst (1. 2. 8. ὁ τῆς πραγματικῆς ἱστορίας τρόπος)
den Namen pragmatische Geschichtsforschung aufgebracht und versteht darunter
die wirkliche Geschichte, die sich im Gegensatz zur Sage wie zum Mythus befindet.
Saga (plur. Sögur) ist in der norddeutschen Mythologie eine dem Odin
als Gemahlin oder Tochter beigesellte Asin. Sie wohnt in der vierten Himmelsburg
Sökkwabeck, über welche kühle Wogen rauschen. Sie gilt als Personifikation
der Geschichte. Täglich trinkt sie mit Odin aus goldenen Schalen Weisheit und
Kunde. (Vgl. Edda 7.)
Das der Dichtungsgattung Sage zu Grunde liegende Geschichtliche ist
durch die Phantasie so entstellt, vergrößert oder verkleinert worden, daß das
geschichtliche Moment nur in den seltensten Fällen herauszufinden ist. Ursache
und Wirkung wird nicht mehr recht begriffen; es entstehen falsche Beziehungen;
das Wunderbare erscheint natürlich; der Volksgeist in seiner Eigentümlichkeit
kommt zum Ausdruck. Die Sage, welche sich aus Sagen aus- und umbildet,
bis sie mundgerecht wird, hat das Volk und die Zeit zum Dichter. Sie ist
somit Volkspoesie und muß daher einfach, ansprechend, fesselnd sein. Chamisso
urteilt über die Sage:
Das Charakteristische der Sage ist also die Überlieferung, die Tradition.
Der Dichter der Sage darf daher seinen unverbürgten Gegenstand nie der
Gegenwart entnehmen, sondern einer früheren Zeit. Nach Görres (Heldenbuch
von Jran II. 356) ist Sage der feurige Wein, in dem die vom Lebensgeiste
des Volkes durchwärmte Geschichte aufgegohren. Die Sage im Wesen historisch [241]
gemeint, ist älter als die geschriebene Geschichte. Sie ruht auf uralter,
wirklicher, ungeschriebener, entstellter Geschichte. Der Dichter darf sich daher
Einschaltungen, Ergänzungen, Änderungen gestatten.
2. Man gebraucht das Wort Sage meist für eigentlich weltliche Sagen,
wie auch für Volkssagen, also für Stamm=, Geschlechts- und Heroensagen, nicht
aber für religiöse Sagen oder Mythen (§ 107), deren Personen gottähnliche
Wesen oder Götter sind.
Neben den Sagen von geringem Umfang (z. B. Rückerts und Chamissos
Riesenspielzeug) giebt es solche von großer Ausdehnung (z. B. die Sagen von
Till Eulenspiegel, vom Doktor Faust, vom ewigen Juden aus dem 16. Jahrhundert
u. s. w.
3. Mehrere Sagen, die sich auf den nämlichen Helden und auf andere
mit dessen Erlebnissen verknüpfte hervorragende Personen beziehen, bilden einen
Sagenkreis.
Für einen Überblick der vielen deutschen Sagen besonders der mittelhochdeutschen
Poesie kann man dieselben in folgende nach den Volksstämmen angeordnete
Sagenkreise einteilen:
a. Der niederrheinische Sagenkreis: Hauptort desselben war die
Burg Xanten (oder Santen) am Niederrhein. Siegfried (altn. Sigurd) ist
ihr erster Held, der sich im Blute des erlegten Drachen badete und hörnern
(hürnen) wurde; Kriemhild ist seine Gemahlin. (I 44.)
b. Der burgundische Sagenkreis: Hauptort Worms. Der Held ist
Gunther. Neben ihm stehen Gernot, der junge Giselher, Gunthers Mutter
(Frau Ute) und ihre Tochter Kriemhild; Gunthers Gemahlin Brunhild (Brynhild
der Edda).
c. Der ostgotische Sagenkreis: Hauptheld: Dietrich von Bern
(Theodorich von Verona 423─526). Sein Waffenmeister Hildebrand, dessen
Sohn Hadubrand, ferner Wolfhard, Wolfbrand, Wolfwin, Sigestab, Helferich &c.
gehören zu diesem Sagenkreis.
d. Der ostdeutsche Sagenkreis: Hauptort: Etzelsburg (Ofen). Es
gehören dazu: Etzel (Attila), seine Gemahlin Helche; Rüdiger von Bechlarn,
Hawart, Jring und Jrnfried.
e. Der norddeutsche Sagenkreis: Schauplatz: Friesland. König
Hettel, dessen Tochter Gudrun, Horant, Wate und Frute, sowie Morung von
Nifland und Jrolt von Ortland &c.
f. Der lombardische Sagenkreis: Hauptort: Garden am See (Gardasee).
König Rother; Ortnit, Hugdietrich; Wolfdietrich. (I 45.)
g. Der fränkische Sagenkreis oder die Karlssage: Karl der Große
und Roland als Gotteskämpfer. (I 45.)
h. Der bretonisch=keltische Sagenkreis oder die Artussage: Artus
und seine Tafelrunde; ein britischer König, durch seine Verteidigung gegen die
Sachsen bekannt. Um ihn sind versammelt: Parcival, Lohengrin, Jwein,
Tristan, Gawein, Erec, Lanzelot, Wigalois u. a. (I 45.)
i. Der mit dem vorigen verwandte Gralsagen-Kreis: (le saint Graal
oder Gréal mißverstanden als Sang Réal, königliches Blut Jesu; richtiger:
heiliger Kelch, vom mittellat. gradale == crater) Titurel hat den Tempel
Montsalwäsche erbaut, in welchem der h. Gral ist. Artus sucht nach dem
Gral, um durch dessen Wunderkraft dem Tode zu trotzen.
4. Außer den vielverbreiteten Sagen dieser Sagenkreise leben in unserem
Volke viele sogenannte Volkssagen, die vereinzelt dastehen, keinem der vorstehenden
Sagenkreise unterzuordnen sind, oder wieder eigene Sagenkreise bilden.
W. v. Tettau-Erfurt verbreitet sich z. B. in einer Publikation unbekannter
Erfurter Drucke über folgende Volkssagen:
α. Die Königin von Frankreich, die vom Marschall verleumdet
wird. Es ist dies die bei den Franken verbreitet gewesene Volkssage
von einer fälschlich des Treubruchs angeklagten, von ihrem Gemahl für
schuldig gehaltenen Fürstin, bei welcher der Ankläger im Gottesgericht (durch
einen Zweikampf mit dem entdeckenden Tiere) überführt wird. (Vgl. Die Tierkomödie
im letzten Hauptstück dieses Bands.) Jhre Ausbildung erhielt dieselbe
in Nordfrankreich, um die Wanderung zu den Provençalen, Spaniern, Jtalienern,
Deutschen, Engländern, Skandinaviern zu machen. Lachmann hat ein
Fragment bekannt gemacht, das der Hauptsache nach in die große Kompilation
Karl Meinet überging. W. von Tettau hat den ganzen bezüglichen Sagenkreis
verglichen (nämlich a. die Königin Sibille, b. Sagen von Berta mit dem
großen Fuß und Hildegard, c. Macaire, d. Karl Meinet, e la gran conquista
de ultramar, f. die Oliva Sagen, g. Sir Triamour).
β. Der König im Bad des Stricker. Ein Engel tritt an des
Königs Stelle, als letzterer im Bade war, weil er in der Vesper die Vorlesung
der Worte im Magnificat deposuit potentes de sede verboten hatte.
Der Badediener verlachte nunmehr den König und erzeigte dem Engel als
dem wirklichen Könige die Ehre. Erst nachdem der König gelobt hatte, zu
glauben, was die Priester verkünden, wurde er wieder in seine Macht eingesetzt.
(Jn vielen Handschriften überliefert.)
γ. Ritter Morgeners Wallfahrt, eine der anmutigsten deutschen
Volkssagen des späteren Mittelalters, in welcher der totgeglaubte Ehegemahl
zurückkehrt, als seine zum zweitenmal vermählte Frau sich eben mit dem neu
Angetrauten in's Brautgemach zurückziehen will. Sie hatte die Treue nie verletzt.
Der Morgener gab dem zweiten Gemahl seine Tochter zur Gattin.
Zum Sagenkreis dieser Sage gehören die verwandten außerdeutschen und
deutschen Sagen: Gerhard von Holenbach; Hans von Bodman; der Graf von
Stadion; Reinfried von Braunschweig; Herzog Heinrich der Löwe; Karls des
Großen Rückkehr von Ungarn; Herzog Richard von der Normandie u. a. m.
δ. Die Historie vom Grafen von Savoyen, der, um nicht ewig
verdammt zu sein, zehn Jahre langes Ungemach und selbst die Trennung von
seinem trefflichen Weibe erträgt. Die Sage kann als eine Apotheose der Frauentreue
angesehen werden, ebenso wie die folgenden verwandten Sagen: Die [243]
gute Frau; Der Busant; Sir Jsumbras; Magelone; Märchen vom Prinzen
Kameralsaman.
Weitere Volkssagen s. unter Litteratur der Sage.
Beispiele der Sagen:
a. Ernste Sagen.
Die Riesen und die Zwerge, von Fr. Rückert.
(Gedanke: Die Mächtigen sollen die niedern Stände ihrer Brauchbarkeit
und Nützlichkeit wegen achten und schätzen; sodann mythisch ein Nachhall der
alten Riesen- und Kultursagen. NB. Das Material des erst 1831 entstandenen
Gedichtes „Des Riesen Spielzeug“ von Chamisso ist dem vorstehenden
schon 1817 geschriebenen Gedichte entlehnt.) Vgl. noch Rückerts ernste Volkssagen:
Die Begrüßung auf dem Kynast. Bestrafte Ungenügsamkeit. Ottilie.
Kind Horn in Rückerts Ges. Ausg. Band III. 56, und XII. 305 ff.
b. Humoristische Sagen.
Die Weiber von Winsperg, von Ad. v. Chamisso.
Litteratur der Sagen.
Bekannte poetische Sagen haben außer den oben Genannten noch gedichtet:
Uhland (Klein Roland); Kinkel (Dietrich von Bern); Seb. Longard (Rolands
Tod); Oer (Das weiße Sachsenroß); Otto Weber (Der schlummernde Friedrich);
A. Kopisch (Willegis); Wolfg. Müller (Die versunkene Stadt); K. Simrock
(Der bönnsche Wind; Wieland der Schmied, Neudichtung des Amelungenlieds);
E. Ebert (Frau Hitt); Müller von Königswinter (Loreley, neu gedichtete Rheinsagen);
Bechstein (Haimonskinder); Dräxler-Manfred (Sagenbuch vom Sonnenberg);
Fr. Dingelstedt (Der Scharfenstein, althessische Sage); Max Waldau
(Graubündener Sage „Cordula“); Karl Stelter (in Aus Geschichte und Sage.
2. Aufl. 1882, z. B. „Schonakisga“ &c.) u. s. w.
Die bekanntesten Sagen (Sammlungen) ─ meist in Prosa ─ wurden
herausgegeben: Altfranzösische von Ad. v. Keller, Althochdeutsche von
Simrock; Aus dem klassischen Altertum von Gust. Schwab (1838 ff. 1877);
Aus der Altmark von Temme (1839); Aus den Alpen von Vernaleken
(1858), desgleichen von Alpenburg (1861) und von Zöllner (1861); Aus Baden
von Baader (1851); Badisches Sagenbuch von Schnezler (1846); Bayerische
von Panzer (1848), desgleichen von Maßmann (1851), von Schöppner (1852)
und von Leoprechting (1855); Aus Böhmen von Grohmann (1863); Aus
Brandenburg von Kühn (1843); Die Deutschen Kaisersagen von Falkenstein
(1847); Deutsche Pflanzensagen von Gebhard (1862), desgleichen von
Perger (1864); Deutsche Sagen von J. W. Wolf (1845), desgleichen von
Rod. Benedix (1851), und von J. und W. Grimm (1865); Geschichtlich
deutsche Sagen von Simrock (1850); Deutsche Volkssage von Henne Am=
Rhyn (1874); Deutsche (1842) und thüringische (1837) von Adolf Bube; [245]
Aus der Eifel von Schmitz (1856); Aus dem Elsaß von Aug. Stöber
(1852); Aus Franken von Janssen (1852); Fränkische von Bechstein
(1842); Aus Hamburg von Beneke (1854); Aus der Vorzeit des Harzes
von Pröhle (1856); Harzsagen von Blumenhagen (1837 und 1850); Hessische
von Wolf (1853), desgleichen von Lynken (1854), und Bindewald
(1873); Aus Jndien und Jran von C. Beyer (1871); Aus Jsland von
Maurer (1860); Lithauische und preußische von Tettau und Temme (1837),
von Becker, Roose und Thiele (1847); Lübische von Deecke (1842); Aus
Luxemburg von Steffen (1853); Mainsagen von Alex. Kaufmann (1853),
desgleichen von Janssen (1852); Aus Mansfeld von Giebelhausen (1850);
Märkische von Kuhn (1843); Aus dem Neckarthale, der Bergstraße und
dem Odenwalde von Baader (1843); Niederländische von J. W. Wolf
(1843); Aus Niedersachsen von Harrys (1840), desgleichen von Schambach
und Müller (1856); Norddeutsche von Kuhn und Schwarz (1848); Aus
der Oberlausitz von Willkomm (1843); Aus der Oberpfalz von Schönwerth
(1857); Oberrheinisches Sagenbuch von Aug. Stöber (1842); Aus
Oldenburg und Mecklenburg von Studemund (1851), desgleichen von Niederhöffer
(1857); Aus dem Orlagau von Börner (1838); Österreichische von
Bechstein (1846); Aus der Pfalz von Baader und Moris (1842); Aus Pommern
und Rügen (1840); Aus dem preußischen Samland von Reusch
(1838); Sagenbuch des preußischen Staates von Grässe (1871); Rheinsagen
von Simrock (1837); Sagen des Rheinlands von Geib (für Göppinger.
1850); Rheinischer Sagenkreis von Ad. v. Stolterfoth (1835); Aus dem
Riesengebirge von Kräuterklauber (1843); Aus Rumänien von Schuller
(1857); Aus Sachsen von Ziehnert (1838), desgleichen von Grässe (1874);
Aus Sachsen und Thüringen von Sommer (1846); Aus Schleswig-Holstein
und Lauenburg von Müllenhoff (1843), desgleichen von Strackerjan
(1868); Aus Schwaben von Meier (1852), desgleichen von Birlinger (1862.
1874. 1878); Aus der Schweiz von Rochholz (1856), desgleichen von Lütolf
(1862); Aus Siebenbürgen von Müller (1857); Aus dem Spessart von
Herrlein (1851); Thüringische von Bechstein (1838); Aus Tirol von Zingerle
(1859), desgleichen von Mayer (1856); von Schneller (1867); Ungarische
aus der Erdelyischen Sammlung übersetzt von Stier (1850); Aus Vorarlberg
von Vonbun (1858. 1862); Aus Westfalen von Vincke (1856), desgleichen
von Kuhn (1859) &c.
Beachtenswert sind F. W. Genthes Deutsche Dichtungen des Mittelalters
in vollständigen Auszügen und Bearbeitungen. (Eisleben 1841─46.) Dieselben
enthalten in 3 Bänden 97 historische, legendenartige und erzählende Gedichte
des Mittelalters, welche meist sagenhaften Charakters sind, und sich zu Sagen=
Bearbeitungen sehr empfehlen dürften. Es sind zum Teil die von uns Bd. I
S. 44, 45, 46 aufgezählten Gedichte der nationalen Heldensagen, sowie Legenden
und Sagen aus den verschiedensten Sagenkreisen, Tiersagen u. a.
Für die Litteratur der Sage ist noch zu erwähnen: Brauns Naturgeschichte
der Sage (1865) und Uhlands Schriften zur Geschichte der Sage (1868).
§ 106. Mythus.
Mythus ist diejenige poetische Erzählung, welche die Thaten und
Erlebnisse der im Volksglauben einer vorgeschichtlichen Zeit vorhandenen
Götterwelt, ja, der Gottheit selbst darstellt, oder welche eine religiöse
Anschauung oder Jdee symbolisch veranschaulicht. Jhre Quelle
ist häufig der wörtlich genommene Tropus. (Vgl. die Ausführung
I. 150.) Jhre Domaine ist das unendliche, weite Geisterreich mit
seinen vielgestaltigen und vielgestalteten Figuren.
Das Wort Mythe heißt griechisch μῦθος == Rede. Der Stamm ist
mu == tönen. (G. Curtius sagt nur vermutungsweise: μύθος werde zu
dieser Wurzel gehören; wenn man aber an das englische mouth, deutsch mund
denkt, wird dies um so wahrscheinlicher.) Jm allgemeinen versteht man unter
Mythe jede Erzählung, Überlieferung des in der Vorzeit von Göttern und
Helden Geglaubten und Erzählten; der Mythus, den man füglich als Göttersage
bezeichnen kann, befaßt sich also mit Gottheiten und auf die Gottheit
Bezüglichem. Dadurch unterscheidet er sich von der Sage, welche ihren Stoff
aus der im Gedächtnis aufbewahrten nationalen Geschichte entlehnt. Der
Mythus ist bei seinem Hineingreifen in die Geschichte der Gottheit auf die
Phantasie angewiesen, die sich nun meist des Anthropomorphismus und
des Anthropopathismus bedient, indem sie die Menschengeschichte auf die Gottheit
überträgt. Selbstredend mußte dieses Streben zur Vielgötterei führen.
Jn Folge der vielen, meist aus dem Mißverständnis der Tropen entstandenen
Mythen, z. B. der Griechen, der Jnder &c., bildete sich deren Polytheismus
aus. Diese Mythen waren also die Ursache desselben, nicht die Folge. Bei
den an Mythen armen Juden erhielt sich der Monotheismus in seiner Reinheit.
Mit Recht ist behauptet worden, daß die christliche Mythologie des Mittelalters
zum Polytheismus hindrängte, den die Reformation durch Beseitigung aller
Legenden wieder über den Haufen warf.
(Der germanische Name „Gott“ für ein ewiges Wesen ist alt. Dafür
spricht schon das form- und sinngleiche persische chodâ und der Umstand, daß
das Wort in den germanischen Hauptdialekten überall vertreten ist: goth. guth,
gudaláus == gottlos, gudhûs == Gotteshaus &c. Weigand W. B. I. 608 ff.
Der Nachweis einer Verwandtschaft der Bezeichnung anderer Völker z. B. mit
dem sanskr. Devas (vgl. des Verf. Arja S. 484.) hat seine Schwierigkeiten.
Das lat. deus (samt divus, Diana, dies, diu &c.) stammt von der Wurzel
div == leuchten (δῖος, Διός, εὐδία) und ist ganz zu trennen vom griechischen
θεός. Soviel wird man G. Curtius in Grundzüge der griechischen
Etymologie 5. p. 513 ff. zugeben müssen, wenn auch eine stichhaltige Ableitung
für θεός noch nicht gefunden ist. Prof. Birlinger glaubt indes aus
derselben Wurzel djut, jut das alte guth (durch Übergang des j in g)
entstanden, welche auch in der einfachen Form dju in Tŷr, Ziu enthalten sei.
Die nur angenommene gotische Form Tius wird nur als Eigenname eines [247]
Gottes zu betrachten sein. Der altnordische Kriegs- und Siegesgott heißt Tŷr,
aber dies ist auch kein Appellativum.)
Zur Bildung von Mythen kam der sinnliche, rohe Naturmensch, wie erwähnt,
einesteils durch die wörtliche Auffassung der Tropen (vgl. I. 150),
dann, indem er schon früh die ihn erhaltende Fruchtbarkeit der Erde, die lichtspendende,
erwärmende Sonne, das Gewitter und den Sturm nicht als etwas
Zufälliges betrachtete, sondern als etwas von übersinnlichen, gewaltigen Wesen
Entsprungenes. Er personifizierte die Naturkräfte, und weil er in seiner sinnlichen
Anschauung sich diese Gewalten nicht geistig denken konnte, so schuf er
sie in Gestalten seiner Gattung um. Nur vollkommener und von feinerem
Stoff dachte er sich dieselben, die er wie Götter oder als solche verehrte.
Menschliche aber gewaltige Thaten wurden diesen Göttern angedichtet, menschliche
Verhältnisse ihnen untergelegt, menschliches Lieben von ihnen erzählt. So
entstand eben die sich auf Götter und Halbgötter beziehende Sage, also eine
Göttersage. (Vgl. I. § 38. S. 169.)
Die Bezeichnung Göttersage für Mythus ist vollständig erschöpfend für
die Mythe polytheistischer Völker. Für die Mythe monotheistischer Nationen ist
jedoch hinzuzufügen: Mythe ist auch diejenige Sage, welche einer religiösen
Anschauung oder Jdee symbolischen Ausdruck verleiht.
Die Wissenschaft von den Mythen der altheidnischen Völker, namentlich
der Griechen, bildet die Mythologie.
Später wurde der griechische Mythen-Kreis erweitert durch den religiösen
Einfluß des Auslandes, des fabulierenden Priestertums, so daß man nunmehr
ägyptische, nordische, germanische &c. Mythen hat. Die grübelnde Philosophie hat
die Götter sodann wieder in Jdeen von Natur und Welt aufgelöst und vergeistigt;
auch die Künstler und Dramatiker trugen viel zu Abänderungen der
mythischen Gestalten bei, so daß nicht selten die Mythen zu Sagen herabsanken.
Schon zur Zeit der Alexandriner gewann durch Krates aus Mallos,
den pergamenischen Grammatiker († 145 v. Chr.), die allegorische Deutung
und erklärende Umgestaltung der Mythen im Gegensatz zum strengeren, methodisch
nüchternen Aristarch die Oberhand. Krates behauptete nämlich in seinem Kommentar
zu Homer, daß alle Kenntnis und Weisheit der Späteren von dem
Dichter rätselhaft, allegorisch angedeutet sei.
Jn neuerer Zeit teilt sich die Behandlung der Mythen in die psychische,
religiöse und historische (Aristarchs Meinung).
Heyne verlangt Auflösung und Erklärung der Mythen, um zur ursprünglichen
Erkenntnis und Vorstellung zu gelangen. Ebenso Kreuzer, welcher diese
symbolische Ausdrucksweise systematisch begründet und eine Urreligion annimmt,
aus der alle Religionen stammen. J. H. Voß trat in seinen mythologischen
Briefen (1794 u. 95), besonders aber in seiner Antisymbolik (Stuttg. 1826)
gegen beide auf.
Mythus und Sage berühren sich zuweilen und gehen öfters in einander
über. Bei Homer ist z. B. Göttersage und Heldensage nicht scharf zu trennen.
Bei fortgehendem Anthropomorphismus sinken Götter zu Helden herab, erheben [248]
sich Helden zu Göttern, so daß nicht selten Sagen zu Mythen und Mythen
zu Sagen werden.
So ist Siegfried in den Nibelungen durch seine Verbindung mit historischen
Personen (Theodorich, Attila &c.) zu einer Art geschichtlicher, sagenhafter
Figur geworden, obwohl er (nach Lachmanns Ausführungen) als Gott, den
die nordische Mythologie Balder nennt, dem Mythus angehört und nur durch
die Nationalsage vermenschlicht wurde. Bestimmte Poesien können ebenso als
Sagen wie als Mythen aufgefaßt werden: als Mythen, wenn in ihnen ein mit
göttlicher Macht bekleidetes mythisches Wesen auftritt; als Sagen, wenn sie geschichtlich
erscheinen, an einem bestimmten Ort spielen u. s. w.
Beispiele der Mythe.
Hugin und Munin, von Fr. Bodenstedt.
Weitere allbekannte Beispiele erwähnen wir nachstehend unter Litteratur
der Mythe.
Litteratur der Mythe.
Gute Mythen haben u. a. geliefert: Goethe (Prometheus); Smets (die
Söhne); Hall (Biton und Kleobis, welchen Stoff auch von Feuchtersleben
benutzte); Tieck, Schlegel (beide bearbeiteten „Arion“); Streckfuß (Des Narcissus
Verwandlung); A. Grün (Elfenkönig); G. Schwab (Der Bau des Reißensteines);
Schiller (Klage der Ceres); Chamisso; Oehlenschläger; Bechstein; J. A.
Apel; A. Kopisch (Die Heinzelmännchen); Daxenberger (die erste griechische
Mythe); Wetzel (nordische); Geibel (gab Mythen in den Juniusliedern); Rückert
(schrieb Minerva und Vulkan, Griechische Tageszeiten, und morgenländische
Mythen) u. a.
Die Mythendichter schöpften lange Zeit besonders aus Homers Jlias und
Odyssee, aus Hesiods Theogonie, und aus den Tragikern Äschylos, Sophokles,
Euripides.
Bei den Römern schöpften sie aus Ovids Metamorphosen, welche in
15 Büchern Mythen behandeln, die mit Verwandlung der Menschen in Steine,
Pflanzen und Tiere endigen. (Voß hat sie übersetzt.)
Die Göttersagen der alten germanischen Völkerschaften blieben am reinsten
bei den Jsländern erhalten. Der gelehrte Priester Sämund Sigfusson (um 1100)
hat die im Volksmund lebenden Göttersagen und Gesänge gesammelt und unter
dem Namen Edda (== Ältermutter, Weisheit) uns aufbewahrt. Sie ist in
gebundener Rede gegeben, enthält 2 Teile und zeichnet sich durch ernsten,
großartigen, überwältigenden Charakter aus. Snorri Sturluson (13. Jahrhundert)
hat eine ähnliche Sammlung verfaßt, die im Gegensatz zur Sämund=
Edda die Snorri=Edda genannt wird. Simrock und Plönnies haben beide [250]
aus dem Jsländischen in's Neuhochdeutsche übertragen. Amara George, Alexander
Kaufmann und Georg Friedrich Daumer haben den Versuch gemacht, in einer
Sammlung eigner Gedichte (Mythoterpe. Ein Mythen=, Sagen- und Legendenbuch)
das weite, auf dem ganzen Erdkreis in den mannigfachsten Gestaltungen
verbreitete Reich der Mythe und Sage von ihrer Entstehung an bis zu den
noch heute im Volksmunde lebenden Nachklängen, zu ergründen, die Beziehungen
daraus auf Religion, Sitte und Sprache zu folgern und so nicht nur dem
eigenen Volke, sondern der gesamten Menschheit einen durch die Zeit und ihre
Umwälzungen halb verschütteten Schatz wieder an das Licht des Tages zu
fördern.
Wissenschaftliche Untersuchungen über Mythus haben außerdem geliefert:
Lobeck (im Aglaophamus); G. Hermann (in De mythologia Graecorum);
Buttmann (der den Mythus nicht wesentlich von der Geschichte verschieden findet,
im Mythologus); Welcker (die griechische Götterlehre); O. Müller (in Prolegomena),
Preller, Hartung u. a.
§ 107. Legende.
Legende (von legere ─ legenda == das dem Volke beim Gottesdienst
Vorzulesende) nennt man diejenige poetische Erzählung, welche
Heiligen- und Märtyrer-Geschichten aus den ersten Zeiten des Christentums
oder kirchliche Überlieferungen und wunderbare, dem frommen
Sagengebiete entstammende Begebenheiten poetisch darstellt.
Sie ist also die poetische Erzählung einer von der Kirche überlieferten
frommen Handlung von wunderbarem Erfolg, eine religiöse
Sage, deren Helden Christus und die Heiligen sind, ja, in der (wie
auch in der Sage und in der Mythe) selbst der Teufel auftreten kann.
Der Name Legende leitet sich her von Legenda, d. i. jenem Buche der
alten katholischen Kirche, welches unverbürgte, ungeschichtliche, fromme Sagen
von Heiligen und Märtyrern enthielt, die den Christen empfohlen wurden als
Legenda, d. i. etwas, das gelesen werden soll.
Der Charakter der Legende ist Einfachheit und Kindlichkeit des Stils.
Sie ist geeignet, Rührung und Erhebung hervorzurufen. Nie darf sie zum historischen
Denkmal werden, sondern sie muß immer den zarten Schimmer des
Wunders und des frommen Glaubens als Schmuck behalten. Hie und da
nähert sie sich in diesem Zuge der Frömmigkeit oder der Schwärmerei der
Romanze.
Die katholische Kirche, die in den Legenden eine Art christlicher Mythologie
besitzt, hat den meisten Stoff zur Legendenbildung geliefert.
Jn Spanien, wo jeder Christ als Kämpfer für die Gottessache erschien,
findet man die älteste Bearbeitung der Legende. Es giebt auch indische,
jüdische Legenden &c.
Herder hat die Legende als poetische Gattung in unsere Litteratur eingeführt.
Er sagt von ihr: „Nebst den Ritterbüchern war die Legende die [251]
höchste Blüte und Blume menschlicher Ausbildung.“ Ferner: „Eine kleine
Legende wird mehr Psychologie, mehr Warnung, Rat und Trost enthalten, als
vielleicht ein ganzes System kalter Sittenlehren.“ Er stellt sich dadurch in
Widerspruch mit Vischer, welcher der Legende (dieser „Spezialität des Mittelalters“,
wie er sie nennt,) bleibenden poetischen Wert abspricht.
Man teilt die Legenden in ernste und komische. Erstere stellen in
würdiger Weise eine wunderbare, ernste Begebenheit dar, letztere dagegen führen
entweder heitere humoristische Geschichten aus dem Leben eines Heiligen vor,
oder suchen das Abergläubische, Unhaltbare einer erzählten Handlung, den Mißbrauch
des Wunderglaubens zu Betrügereien nachzuweisen. Diese können zwar
schalkhaft, humoristisch heiter sein, nie aber dürfen sie den frommen Glauben
verhöhnen. Man nennt die komischen Legenden (wie auch die komischen poetischen
Erzählungen) wohl auch Schwänke. Hauptsächlich in den letzteren spielt nicht
selten der Teufel eine hervorragende Rolle. Er kann in jeder Erscheinung auftreten,
als betrogener, als dummer und als armer Teufel, wodurch er sein
Schreckliches, Furchtbares verliert und zu einer erheiternden, komischen Figur wird.
Beispiele der Legende.
α. Ernste Legende.
Elisabeths Rosen, von Bechstein.
β. Komische Legende.
Der betrogene Teufel, von Rückert.
Litteratur der Legende.
Die Geschichte der Legende unterscheidet drei Perioden:
1. Legenden, welche der religiösen Verherrlichung und der Stärkung des
Glaubens dienten bis zur Reformation;
2. Legenden, welche das Papsttum verspotten;
3. Poetische Legenden als Dichtungsgattung seit Herder.
Die Deutschen pflegten die Legende schon im Mittelalter, welches mehrere
Sammlungen aufweist. Berühmt war die Legenda Sanctorum oder Historia
Lombardica, auch Aurea Legenda von Jac. de Voragine († 1298 als
Erzbischof zu Genua). Die vollständigste Sammlung aller Heiligensagen enthalten
die Acta sanctorum, quotquot toto orbe coluntur (von Bollandus u. a.
Antwerpen 1643─1794 in 53 Foliobänden herausgegeben). Altberühmte
Legenden unserer Litteratur sind die Bd. I S. 46 aufgeführten. Unter denselben
besonders: 1. Gregor auf dem Steine (von Hartmann von der Aue.
Jnhalt: Gregor hat sich wegen unfreiwillig begagener Sünde an einen Felsen
anschmieden lassen. Nach 17 Jahren bei der Papstwahl wird derjenige für würdig
erklärt, der 17 Jahre auf einem Steine sitze. So wird er Papst.). 2. Legende
Konrads von Würzburg vom heiligen Alexius, der ─ weil er ein Kreuz zwischen
sich und seiner Braut sieht ─ Pilger wird und sodann unerkannt im Palaste
seiner Braut lebt. Außerdem waren bekannt: Die Legende Reimbots von
Durne († 1250) vom h. Georg, der 5 Jahre gegen die Heiden in Palästina
kämpft und schließlich die Märtyrerkrone sich erwirbt. Ferner die Legendensammlung: [253]
Buch von der Heiligen Leben von Herm. v. Fritzlar. Sehr beliebt
und verbreitet war im Mittelalter die Legende vom ewigen Juden. (Jnhalt:
Auf dem Wege zur Richtstätte verweigerte der Jude Ahasver unserm Heilande,
vor seiner Thüre auszuruhen. Daher darf Ahasver nicht sterben und bis zur
Wiederkehr Christi keine Ruhe finden.) Dieser Stoff wurde von neueren Dichtern
häufig benützt, z. B. von Rob. Hamerling in seinem Epos: Ahasver in Rom,
wo Ahasver mit Nero in Beziehung gebracht wird. Hier ist freilich Ahasver
weniger der ewige Jude, als der ewige Mensch, der mit dem ersten Menschenkinde
identifiziert wird: mit dem ersten Geborenen Kain, welchen der Tod
verschont zur Strafe dafür, daß er den Tod in die Welt gebracht. Die Sehnsucht
Ahasvers nach dem Tode ist als Mythe bei Hamerling nichts anders,
als die Ruhesehnsucht der Menschheit, die ewig qualvoll ringt und strebt, während
das Jndividuum sein Ruheziel im Tode findet. Vor Hamerling schon
wurde der Stoff vielfach bearbeitet z. B. von Schubart, von Lenau &c.
Nach Herders Vorgang (welcher folgende bekannter gewordene Legenden
schrieb: Das Bild der Andacht, Der gerettete Jüngling, Die Geschwister, Die
wiedergefundenen Söhne, Rosen, Der Schiffbruch u. a.) haben die Legende in
glücklicher Weise noch bearbeitet: Goethe (Petrus und das Hufeisen: diese komische
Legende ist zugleich Beispiel der Parabel und der Paramythie); A. W. Schlegel
(Der heilige Lukas); G. Schwab (Legende von den heiligen drei Königen);
Kosegarten (Das Gesicht des Arsenius, Der Ermel des heiligen Martinus, Das Brot
des heiligen Jodokus &c.); Fouqué; Tieck; Kind; Kleist (Das Grab des Herrn);
v. Boguslawsky († 1817, Diocles); Pfeffel; Langbein; Helmine v. Chezy;
Amalie v. Helwig; Uhland (Die verlorene Kirche); Leop. Schefer (Der Gast);
Silbert; Simrock; Görres; Christ. v. Schmid; Vogl; Wetzel (Das Muttergottesbild
im Teiche); Kinkel (St. Peter aus dem Himmelsthor); Kugler (Kloster
Corwei, Bild des Heilands &c.); Fr. Rückert (Maria Siegreich, Die gefallenen
Engel, Der Wert der Jahre &c.); Justinus Kerner (Die heilige Regiswind von
Laufen); Jul. Mosen (Der Kreuzschnabel); Anast. Grün (Sanct Hilarion);
Theod. Bornowsky (San-Bovo); Jul. Sturm; Krais; Rollett; Pichler; Gottfried
Keller; Amara George &c.
Als komische Legenden nennen wir: 1. Hans Sachs' Sanct Peter mit
den Landsknechten, 2. Die von Geibel bearbeitete, von Rückert übersetzte persische
Erzählung (abgedruckt in Neue Mitteilungen zu Rückerts Leben vom Verf.
I. 304), 3. Langbeins Der Substitut des heiligen Georg, u. a.
§ 108. Das Märchen.
1. Unter Märchen versteht man eine erdichtete, von Einfalt und
Naivetät des kindlichen Sinns durchhauchte, den reinen Gedanken einer
kindlichen Weltbetrachtung erfassende Erzählung, welche im bunten Gemisch
das Natürliche mit dem Wunderbaren, das Wahre mit dem Unwahrscheinlichen
vereint. Die Phantasie treibt im Märchen ihr regel= [254]
loses Spiel, indem sie sich über die gemeine Wirklichkeit und deren
ursächlichen Zusammenhang hinwegsetzt.
Neben den Personen und Gegenständen der wirklichen Welt treiben
Zauberer, Riesen, Hexen, Zwerge, Kobolde, Gnomen, Feen und Elfen
im Märchen ihr traumhaftes Spiel. Auch den Tieren und selbst leblosen
Dingen verleiht es die Sprache. Es macht das Unmögliche möglich.
2. Es hat eine ganz bestimmte Anordnung (Disposition).
3. Die Märchen sind ihrem Ursprung nach Reste der Mythologie.
Der Jnhalt der späteren Märchen ist erdichtet.
4. Sie unterscheiden sich von der Sage wie von der Geschichte
und von der Mythe durch ihren erdichteten Stoff.
5. Man teilt sie ein in Feenmärchen, Volksmärchen, Kindermärchen,
Hausmärchen.
6. Von besonderer Bedeutung für die Bildung unserer Jugend
sind die Kindermärchen.
7. Die äußere Form des Märchens ist meist die ungebundene
Rede, zuweilen auch der Vers.
1. Das Wort Märchen stammt aus dem Altdeutschen her; es ist das
Diminutivum vom mittelhochdeutschen maere, althochdeutsch mâri, gotisch meritha
Gerücht, merjan verkündigen. (Appenzell. heute noch maeren == öffentlich
beschließen.)
Die Verkleinerungsform „Märchen“ war ursprünglich die verächtliche Bezeichnung
einer erdichteten, kindischen, albernen, unglaublichen Märe. Der
Grundzug des Märchens ist das Phantastische, Wunderbare, das Übernatürliche,
die Verzauberung, Verwünschung, Verwandlung, Seelenwanderung (Metamorphose).
Die mythisch ausgesponnene Sage wird zusammengedrängt, verkleinert,
um sich jenen Volksschichten (Kindern und diesen ähnlichen Gemütern) anzupassen,
bei denen sie schließlich noch Raum finden kann, weil bei ihnen die Phantasie
am mächtigsten ist.
Nach Herder ist das Märchen ein zauberischer Traum der Wahrheit, aus
dem wir nur ungern erwachen, nachdem wir uns durch denselben in's Reich
der Geister versetzt fanden.
Des Märchens Heimat sind am liebsten waldige Gegenden, in denen
Zauberer, Kobolde, Riesen, Feen und andere wunderbare Wesen hausen. Wenn
Tiere im Märchen auftreten, so geschieht dies nicht allegorisch, sondern in der
wirklichen Absicht der Mitteilung, fern aller Belehrung. Somit hat das Märchen
mit der didaktischen Tierfabel nichts gemein.
2. Die Teile des Märchens sind: a. „Es war einmal“, d. h. ein kindlicher,
unschuldsvoller Zustand des Glücks z. B. Schneewittchen. b. Eintritt
einer feindlichen Macht, um den glücklichen Zustand zu ändern: Zauberer;
Hexen; Verwünschung. c. Sieg des Guten: Entzauberung; Eintritt unermeßlichen
Glücks. ─ Die Entwickelung des Knotens wird herbeigeführt mittels ungewöhnlicher
Kräfte, sowie durch die Lösung eines die höheren Wesen des Märchens
bindenden Schicksalschlusses, durch menschliche Unschuld und Beharrlichkeit.
3. Seinen Ursprung hat das Märchen im noch ungebildeten Zustand
der Menschheit, wo die Phantasie die Erscheinungen in der Natur zu erklären
strebt, sie personifiziert. (Beispiel: Grimms Märchen: Strohhalm, Kohle und
Bohne.)
Es giebt kein Volk, bei dem nicht nach Verdrängen der alten heiligen
Götter-Gestalten infolge des Eindringens eines neuen Glaubens diese Gestalten
in anderer Form wieder aufgetaucht wären: ─ zunächst in der Sage als Helden,
sodann aber in einer durch die Phantasie geschaffenen mythischen Märchenwelt,
welche die ganze Natur mit all ihren Kräften benutzt.
Wie der wirklichen Geschichte die Sage voraus geht, so steht allenthalben
vor der Sage der Mythus. Jm Mythus waltete ursprünglich die
Phantasie; dann in der Sage ─ die durch die Phantasie ergänzte oder alterierte
Erinnerung; endlich in der Geschichte die bestimmte sich nicht irrende Erinnerung.
(Diese in der Litteratur-Geschichte aller Nationen wiederkehrende Folge
hat Görres in der Einleitung zum „Heldenbuch von Jran“ [I. p. III. IV.]
anschaulich nachgewiesen.)
Der Rest und der Rückstand der sich allmählich verlierenden, entschwindenden
Mythen (Mythologie) ist eben das Märchen, das überall erst mit dem Erlöschen
der Mythen auftrat, nie aber, so lange die Mythen in lebendiger
Geltung sich befanden. Die Mythen eines bestimmten Volkes, seine Erzählungen
und Geschichten von der Gottheit (§ 107 d. Bds.), erhalten durch ihre Berührung
mit der nationalen Sage nationales Gepräge. Wo die Mythe nicht
mehr geglaubt wird und zusammenbricht, geht sie ─ wie erwähnt ─ in die
Sage über, um sodann als Helden- oder Riesensage fortzuleben, oder sie entäußert
sich unter Beibehaltung der allgemein menschlichen Anschauungsform alles
Nationalen und wird zum Märchen. Dies ist die Entstehungsgeschichte der
Märchen. Bei den Deutschen begann die Zeit der Märchen mit dem Eintritt
des Christentums. Daher bezeichnet auch die jüngere Edda für den Norden
den Wendepunkt in Glauben und Poesie. Die alten Götternamen mit dem ursprünglich
in der Mythologie germanisch gewesenen Sagenhaften verschwanden.
Aber das allgemein Menschliche blieb zurück und lebt noch heute als Rest
unserer altdeutschen Mythologie im Christentum als deutsches Kinder- und Volksmärchen
fort.
4. Dadurch zeigt sich das Märchen im entschiedenen Gegensatz zur nationalen
Sage, welche durchaus auf einer ─ wenn auch veränderten ─ Geschichte
(auf einer meist mündlich geschichtlichen, erfahrungsmäßigen Tradition)
beruht:
a. Die Sage giebt wenigstens immer noch Namen, Zeit und
Ort, wenn auch falsch oder entstellt.
Die Namen der Sage (z. B. Siegfried für einen früheren Gott) sollen
doch in der Sage historisch erscheinen. Die Berge, Flüsse, Höhlen, in denen
im Mythus die Götter wohnten, sollen in der Sage der Aufenthalt von
Riesen und Helden sein.
Das Märchen dagegen hat weder einen nationalen, noch einen historischen [256]
Hintergrund und Schein, und es hat somit mit der Nationalgeschichte gar nichts
zu thun. Seine Personen und seine Orte tragen meist gar keinen Namen,
oder einen phantastischen, unwahrscheinlichen, nicht glaubwürdigen, oder endlich
einen internationalen, an dem alle Nationen gleiches Anrecht haben. Es beruht
heutzutage auf der vollständigen Erdichtung des Stoffes.
b. Die Sage verdankt unter allen Umständen ─ auch wenn
die Phantasie Anteil an ihrer der Geschichte entstammenden Stoffbildung
hat ─ ihre Entstehung dem Gedächtnisse, während das Märchen
seinen Ursprung aus der Phantasie niemals verleugnet. Deshalb glaubt
niemand das Märchen, während man die Sage ganz oder einem Teile nach
für wahr halten möchte.
Bezüglich des Wesens der Sage und des Märchens sagt die Vorrede zu
den deutschen Sagen der Gebr. Grimm (S. V): „Es wird dem Menschen
von heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wenn er in's Leben
auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet; wer
nicht ahnt, was ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, wenn er
die Grenze des Vaterlands überschreitet, wo ihn jener verläßt. Diese wohlthätige
Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichten,
welche nebeneinander stehen und uns nacheinander die Vorzeit als
einen frischen und belebenden Geist nahe zu bringen streben. Jedes hat seinen
eigenen Kreis. Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer; jenes besteht
beinahe nur in sich selber fest, in seiner angeborenen Blüte und Vollendung;
die Sage, von einer geringeren Mannigfaltigkeit der Farbe, hat noch das Besondere,
daß sie an etwas Bekanntem und Bewußtem haftet, an einem Ort
oder einem durch die Geschichte gesicherten Namen. Aus dieser ihrer Gebundenheit
folgt, daß sie nicht, gleich dem Märchen, überall zu Hause sein könne,
sondern irgend eine Bedingung voraussetze, ohne welche sie bald gar nicht da,
bald nur unvollkommen vorhanden sein würde. Kaum ein Flecken wird sich
in Deutschland finden, wo es nicht ausführliche Märchen zu hören gäbe, manche,
an denen die Volkssagen bloß dünn und sparsam gesät zu sein pflegen....
Die Märchen sind also teils durch ihre äußere Verbreitung, teils durch ihr
inneres Wesen dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen Weltbetrachtung
zu fassen, sie nähren unmittelbar, wie die Milch, mild und lieblich,
oder der Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere; dahingegen die
Sagen schon zu einer stärkeren Speise dienen, eine einfachere, aber desto entschiedenere
Farbe tragen und mehr Ernst und Nachdenken fordern. Über den
Vorzug beider zu streiten wäre ungeschickt; auch soll durch diese Darlegung
ihrer Verschiedenheit weder ihr Gemeinschaftliches übersehen, noch geleugnet
werden, daß sie in unendlichen Mischungen und Wendungen ineinander greifen
und sich mehr oder weniger ähnlich werden.“
c. Der Geschichte stellen sich Märchen und Sage gegenüber,
insofern sie das Sinnlich-Natürliche und Begreifliche stets mit dem
Unbegreiflichen mischen, welches jene, wie sie unserer Bildung angemessen
scheint, auch in der Darstellung nicht mehr verträgt.
d. Auch vom Mythus unterscheidet sich das Märchen. Es hat
nichts mit den Göttern zu thun, es liebt vielmehr kleinere Figuren: Feen,
Nixen, Zwerge, Hexen, die übrigens dem Willen der Gottheit unterworfen sind.
Wackernagel (akad. Vorlesungen S. 55) hat das Verhältnis zwischen
Mythus und Märchen nachgewiesen und gezeigt, wie im Märchen die Überreste
des erloschenen Götterglaubens und der alten Göttersage fortbestehen.
Das 14. Märchen der Brüder Grimm von den drei Spinnerinnen zeigt z. B.,
wie die altgermanischen Parzen (die Nornen der skandinavischen Poesie, d. i.
die das Schicksal der Menschen spinnenden Schicksalsgöttinnen) verwertet sind.
─ Das Märchen vom Dornröschen, das Uhland im Märchen von der deutschen
Poesie nachgebildet hat, ist ein Nachklang der Erzählung in der Edda,
daß Odin die Schlachtengöttin Brunhild mit einem schlafanzaubernden Dorn
gestochen und die Entschlafene mit einem nur dem Sigurd (Siegfried) durchdringlichen
Flammenwall umgeben habe, welche Sage bekanntlich R. Wagner
in seinem Siegfried benutzt hat. „Die 2 Brüder“ (Nr. 60 bei Grimm) lehnen
sich an die alten Mythen von Siegfried in ihren Erzählungen vom bösen
Schmied, vom Golddrachen, vom Drachenberg, Drachenkampf und Befreiung
einer Jungfrau u. s. w.
Wegen ihres Ursprungs aus dem Mythus blieben die Märchen ein mit
dem Volke eng verwachsenes Gemeingut jeder Nation.
5. Durch die Kreuzzüge wurden Märchen auch in die nordischen Länder
eingebürgert, allwo durch Verschmelzung von Elfen und ähnlichen Wesen (Dryaden,
Najaden, Oreaden) das Feenmärchen entstand, von dem Herder sagt: „Keine
Dichtung vermag dem menschlichen Herzen so artige Dinge zu sagen, als ein
Feenmärchen. Jn ihm ist die ganze Welt und ihre innere Werkstätte, das Menschenherz,
als eine Zauberwelt ganz unser.“
Knüpft das Märchen sich an bestimmte Gegenden und Orte, so heißt es
Volksmärchen. Enthält es eine moralische Lehre im leichten, faßlichen,
romantischen Gewande, so heißt es Kinder- oder Ammenmärchen. Sonst
kennt man noch das Hausmärchen, das merkwürdiger Weise den Griechen
trotz vieler märchenhafter Züge ihrer Mythologie ganz fehlte. („Die Kindlichkeit,“
sagt Welcker in seiner griechischen Götterlehre I. 110, „welche das Wesen
des deutschen, slavischen, persischen Märchens ausmacht, war dem hellenischen
Geist fremd.“)
6. Die größte Bedeutung unter allen Formen des Märchens beansprucht
mit Recht das Kindermärchen, da es ein Bildungsmittel geworden ist. Die
Volksmärchen haben auf das reine Gemüt und die ungetrübte Phantasie der
jugendlichen Seele manchmal einen ebenso nachteiligen Einfluß, als leichtfertige
Romane auf die erwachsene Jugend, da sie nicht selten das Sinnliche oft auf
unsittliche Weise mit einem duftenden, aber verschleierten Zauber verdecken.
Man hat daher bei der Wahl der Märchen vorsichtig zu sein, und für Kinder
nur solche zu nehmen, welche mit reinem Herzen und poetischem Sinn gebildet
sind und in denen harmloser Humor mit herzerwärmender Jnnigkeit, Gemütlichkeit
mit sittlichem Wesen sich vereint.
Doch wünschen wir nicht etwa bloß Moralisches, Moralisierendes. Alles
Kindliche, alles Keusche, was vom reinen Hauch edler Poesie durchweht ist,
paßt auch für das reine Kinderherz. Das gut gebildete Kindermärchen zeichnet
sich durch Einfalt und Naivetät des kindlichen Sinnes aus; sein feiner Takt,
sein gesundes, sittliches Gefühl, seine ungeschminkte Natürlichkeit fesseln, wie
das naive Volkslied. Als Beispiele desselben erwähne ich unter anderen Rückerts
Kindermärchen, die bei kindlichem Jnhalt und schöner Form nie den Charakter
des Erdichteten verlieren, dabei aber auch nie das moralische Prinzip außer
acht lassen. Sie sind nicht läppisch und kindisch, sondern kindlich. Die beabsichtigte
Moral sieht das Kind nicht, sondern ahnt und fühlt sie unbewußt;
sie folgt, wie die Belohnung auf eine gute That. Außerdem sind es das dramatische
Element der Behandlung, die Gesprächsform und der, ich möchte sagen,
naive Rhythmus der Rückertschen Märchen, welche von vornherein das Jnteresse
des Kindes erwecken und auch die Moral dem kindlichen Gedächtnis auf's
tiefste einprägen.
7. Das Märchen kann die stoffliche Grundlage anderer Dichtungsformen sein,
z. B. der Novelle. (Man vgl. Chamissos Peter Schlemihl, oder Tiecks Der blonde
Eckbert und der getreue Eckart.) Zu dramatischer Form hat es sich öfters
aufgeschwungen, z. B. Rotkäppchen, der gestiefelte Kater und Blaubart, von
Tieck. Das beste in dieser Richtung ist wohl die Bearbeitung der Fouquéschen
Undine zur Oper, welche die Jdee trägt, daß Liebe die Natur beseelt, daß
dem bloß lebensfrohen, natürlichen Menschen erst die Liebe die Tiefen seines
Gemütes öffnet &c.
Tritt das Märchen als selbständige Dichtungsart auf, so kann es, wie
z. B. Rückerts Kindermärchen (Ges. Ausg. III. 3 ff.), L. Wieses Kindermärchen,
O. v. Redwitz' Märchen vom Waldbächlein und Tannenbaum, Chamissos
Abdallah, K. Stelters Märchen u. a. in metrischer Form, oder wie
Grimms Kinder- und Hausmärchen u. a. auch in ungebundener Rede verfaßt
sein.
Dadurch, daß eine bestimmte Jdee untergelegt ist, wird das Märchen
Kunstpoesie.
Beispiele des Märchens.
Der Wolf und die Nachtigall, von E. M. Arndt.
(Schwedisches Volksmärchen.)
Die Lilien im Mummelsee, von Aug. Schnezler.
Vgl. Mörikes Die Geister am Mummelsee. Für ein Beispiel eines Märchens
in Prosa verweisen wir auf die allbekannten Kinder- und Hausmärchen der
Gebr. Grimm.
Litteratur des Märchens.
Des Märchens Heimat ist der Orient, vor allem Jndien, Persien, Arabien.
Nach Europa kam es wahrscheinlich aus Arabien, als sich um 711 n. Chr. [261]
die Mauren in Spanien niederließen. Durch die Troubadours nach Frankreich
verpflanzt, ging es endlich nach Deutschland über.
Vor 200 Jahren schwärmte man bei uns geradezu für die zum Modeartikel
gewordenen Märchen. Längere Zeit hielt diese Geschmacksrichtung an,
und wir verdanken ihr die Verbreitung der Sammlungen novellistisch verarbeiteter
Märchen von Perrault aus Frankreich (Contes de ma mère l'Oye) und der
Gräfin d'Aulnoy, sowie der bald nachher erschienenen, wichtigen Sammlung
orientalischer Märchen „Tausend und eine Nacht“, die eine Berühmtheit erlangte,
wie einst Homers Gesänge. Diese Sammlung erschien zuerst 1704 durch den
Franzosen Galland in 12 Bänden (Les milles et une nuits) und veranlaßte
spätere Dichtungen, wie Chamissos Abdallah, Platens Abassiden &c. Jhre
Märchen befreunden mit den Wundern einer Geisterwelt, wie nur die kühne,
morgenländische Phantasie sie schaffen konnte. Allegorien, Gleichnisse, Parabeln &c.
sind als Staffage eingewebt, erzählende Menschen wechseln mit plaudernden
Tieren, oder mit Wahrnehmungen aus der Pflanzenwelt und dem unorganischen
Naturreiche, ferner mit Denksprüchen, Erfahrungssätzen, Lebensregeln, Rätseln.
Die schönsten Märchen dieser Sammlung stammen wahrscheinlich aus der uralten
Märchenheimat Jndien; in der Schilderung sinniger Liebe erkennt man
den persischen Dichter, in der Schlichtheit naturkräftiger Bilder den Araber.
Alles aber ist dem Leben des Arabers angepaßt. Die neuere Forschung läßt
sie aus Ägypten stammen, wo man die zahlreichsten Handschriften auffand.
Den Namen gab dieser Dichtung der im 9. Jahrh. alle Märchen sammelnde
Dshehestâvi (zur Bezeichnung ihrer Menge: tausend == sehr viele und darüber
noch eines), nicht aber, wie häufig behauptet, Scheherazade, von der selbst ein
Märchen erzählt, daß sie jede Nacht ein neues Märchen in Aussicht gestellt und
dadurch ihren Gemahl ─ den Kalifen ─ veranlaßt habe, ihren Tod von Tag
zu Tag hinauszuschieben.
Jn Deutschland sah es mit der eigenen, echt kindlichen, nationalen Märchenproduktion
bis anfangs unseres Jahrhunderts sehr dürftig aus. Man griff
von einer französischen Übersetzung zur anderen, legte diese aber wegen ihrer
die Sittlichkeit verletzenden Anspielungen wieder zur Seite, um eigene Erfindungen
an deren Stelle zu setzen. Aber diese ersten sog. Märchen sprachen durch
ihre Beimischung von geschichtlichen und andern Beziehungen weit weniger an,
als die französischen. Manche wimmelten von politischen und litterarischen Anspielungen,
oder sie waren hauptsächlich durch ihren gemischten Stoff und dessen
Ausbreitung abgeschmackt, häßlich, langweilig.
Da trat besonders durch Musäus (I. 55, der durch seine, Soldaten und
Klatschfrauen abgehorchten, in origineller Weise weitererzählten Volksmärchen
einen deutschen Litteraturzweig einleitete und veranlaßte), sowie durch die Gebrüder
Grimm eine Wendung ein. Letztere haben das Verdienst, daß sie die
im Munde des Volkes erhaltenen Märchen sammelten und uns sodann in ihren
„Kinder- und Hausmärchen“ als Kleinod hinterließen, das uns zeigt, wie die
Phantasie unseres Volkes ursprünglich produzierte. Diese Märchen sind wie
Fouques Undine und Chamissos Schlemihl in Prosa geschrieben.
Die besten Märchendichter unserer Litteratur sind: Tieck (der auch eine
große Anzahl Märchen übersetzte oder bearbeitete, z. B. Blaubart, die Haimonskinder,
der getreue Eckart, Rotkäppchen, der gestiefelte Kater, die Elfen,
Däumchen, von denen viele in seinem Phantasus gesammelt sind); Cl. Brentano
(† 1842; Gockel, Hinkel und Gackeleia, ein satirisches Märchen gegen die
Thorheiten seiner Zeit, Wickrams Goldfaden, eine alte Geschichte &c.); W. Hauff
(Märchenalmanach, Kalif Storch, Gespensterschiff, Der falsche Prinz &c.); Arnim;
Kletke; Müllenhof (Märchen aus Schleswig-Holstein &c.); Kühn (Nordd. Märchen
1848, Westfälische 1859); Wolf (Deutsche Hausmärchen 1852); Sommer
(Märchen aus Sachsen und Thüringen 1846); Haltreich (Volksmärchen aus
Siebenbürgen 1856 und 1877); Zingerle (Kinder- und Hausmärchen aus
Süddeutschland 1855; Märchen aus Tyrol 1858); Bechstein (Deutsches Märchenbuch
in mehr als 70,000 Exemplaren verbreitet); Simrock (Deutsche Märchen
1864); Eichendorff; Wieland; Wolfg. Müller; Schwab; Uhland; Zedlitz (Das
Waldfräulein, ein Märchen in 18 Abenteuern); Müller von Königswinter (Das
satirische Märchen „Germania“, sowie das humoristisch gehaltene „Prinz Minnewin“);
Böttger (Frühlingsmärchen, humoristisch sinnig); Otto Roquettes reizendes
Wein=, Rhein- und Wandermärchen: Waldmeisters Brautfahrt, worin der heitere
Lebensgenuß am Rhein geschildert ist); Grabbe (dramatisiertes Märchen Aschenbrödel);
Gustav zu Putlitz („Was sich der Wald erzählt,“ und das zartsinnige
Luana); Pröhle (Kinder- und Volksmärchen 1853); Bube; Hans Herrig
(Märchen und Geschichten 1878); Lang; Plönnies; Stolterfoth; Julius Rodenberg;
Kopisch; v. Sallet (Schön-Jrla); Kinkel (Ein Traum im Spessart);
Elise Polko (die singenden Blumen, Weihnachten im Walde &c.); Mörikes Märchen
vom sichern Mann, sowie „Schiffer- und Nixenmärchen“) &c. Als groß angelegte
und ausgeführte Märchen könnten Rückerts Hidimba, Sawitri, Nal und
Damajanti &c. aufgefaßt werden.
Von den Märchen fremder Nationen nennen wir aus Jndien das alte
Erzählungswerk Pantschatantra (übers. v. Benfey 1859) mit vielen Märchen
buddhistischen Ursprungs; die Märchensammlung des Somadeva (Sanskrit, deutsch
v. Brockhaus), aus Persien und Arabien: die bereits erwähnten Märchen
der 1001 Nacht (übers. v. Hagen, Schall, Habicht, G. Weil), Nechschebis Touti
Nameh (das Papageienbuch, übers. v. Jken, 1822); aus Wales und Jrland:
Mabinogion (übers. v. Lady Guest); San Marte, die Arthur-Sage; Jrische
Elfen-Märchen (übers. v. J. Grimm 1826); aus Serbien: Volksmärchen von
Wuk Stephanowitsch Karadschitsch. Kalmückisch sind die Märchen des Siddhi
Kür, von Jülg, 1866. Weitberühmt sind die Märchen der Dänen Öhlenschläger
und Andersen, (letztere mustergültig übersetzt durch Emil J. Jonas) u. a.
§ 109. Romanze und Ballade.
Wir behandeln in diesem Paragraphen das für die Begriffsbestimmung
charakteristische Allgemeine beider Formen. Sodann führen wir
2. das Besondere der Romanze und 3. das Eigenartige der Ballade vor.
1. Allgemeines, Gemeinsames und Unterscheidendes zur Begriffsbegrenzung von
Romanze und Ballade.
Romanze ist eine dem Süden entsprossene poetische Erzählung im
Sinn und Geist des romantischen ritterlichen Heldenlebens des Mittelalters,
weshalb sie südlich heiteren romantischen, oft pittoresken Charakter
und Jnhalt hat. (Beispiele: Schillers Taucher; Handschuh;
Kraniche des Jbykus.)
Ballade ist eine dem nordischen Sagenkreis entreifte poetische Erzählung,
eine Art nordischen, episch=lyrischen Volksliedes, weshalb sie
nördlich ernsten, oft dämonisch=mysteriösen, tragischen, düsteren, plastischen
Charakter trägt. Sie ist wie das nordische Volkslied für den Gesang
bestimmt. (Beispiele: Bürgers Lenore; Goethes Erlkönig.)
Romanze und Ballade sind kleinere erzählende Gedichte volkstümlicher Natur
und lyrischer Färbung. Man könnte sie erzählende, lyrisch=epische, oder auch
episch=lyrische Lieder nennen. Jhr Zweck ist Mitteilung eines epischen Stoffs,
einer Begebenheit, einer Sage ohne subjektive Äußerung des Gefühls des Dichters,
weshalb beide trotz ihres meist liedartigen strophischen Baues zu den epischen
Dichtungsgattungen gehören. Sie werden oft mit einander verwechselt; sogar bedeutende
Denker haben Romanze und Ballade nur für verschiedene Namen gehalten,
welche verschiedene Völker für eine und dieselbe Dichtungsgattung gebraucht
hätten. Diese Ansicht teilt selbst der sonst scharf sezierende Wackernagel. Ja,
einzelne Dichter haben solche Gedichte, die den Namen Romanze verdienen,
Balladen genannt und umgekehrt.
Goethe nannte beispielsweise seine lyrisch=epischen Dichtungen nur Balladen,
manche seiner Balladen und Romanzen jedoch Lieder. Auch Schiller nennt
seine lyrisch=epischen Dichtungen Balladen, während er doch den Kampf mit dem
Drachen und die Bürgschaft mit Recht als Romanzen bezeichnet. Uhland löst
den Zweifel nicht, sondern wählt die gemeinschaftliche Überschrift: Balladen und
Romanzen.
Beiden Gattungen ist gemeinsam, daß die eine wie die andere erzählendes
Volkslied sein kann. Der Unterschied zwischen ihnen aber (und dies soll hier
nachdrücklich betont werden, um der Verschwommenheit der Erklärungen entgegenzutreten)
liegt in der Natur ihres Ursprungs und dem damit verknüpften Unterschied
des Stoffes, zum Teil auch im Versmaße, indem die Romanzen meist
in spanischen assonierenden, viertaktigen Trochäen abgefaßt waren, die Balladen
hingegen in vierzeiligen Reimstrophen. Hiezu kommt die Charakterisierung der
auftretenden Personen und des Tones, der aus ihnen spricht. Die Romanze
ist der südlichen Natur entsprossen, die Ballade der nordischen,
und der Unterschied dieser Naturen, vorzüglich der früheren alten
Zeit, die an Mythus und Sage anstreift, giebt ein Hauptmerkmal
des Unterschieds bei diesen Dichtungs-Gattungen.
Durch unsere vorstehende bestimmte Auffassung werden beide Gattungen
im voraus streng begrenzt, und wenn es vorkommt, daß mancher Dichter einen [264]
Balladenstoff romanzenhaft behandelt, oder einen Romanzenstoff balladenhaft,
so ist eben ein Mangel des Dichterwerks vorhanden, welches bei aller übrigen
Schönheit mindestens nicht den gegebenen Namen verdient.
Aus dem Vorgeführten geht hervor, daß Uhlands Des Sängers Fluch
eine Romanze ist, wenn auch eine sangbare; in gleicher Weise sind Balladen Heines
Grenadiere und mehrere fälschlich sog. Romanzen seines Romancero. Ferner ist
Ritter Toggenburg von Schiller eine Ballade. Desgleichen Goethes herrlicher Erlkönig,
den der Dichter von „Elfenhöh“, der dänischen Ballade von Oluf, genommen.
(Erlkönig ist falsche Übersetzung des Wortes Ellerkonge == Elfenkönig.)
2. Die Romanze. Romaneska. Romancero.
1. Romanze (romance, spanisch romanza) war ursprünglich ein
in der lingua romana (oder lingua romanza == Volkssprache; Tochtersprache,
im Gegensatz zur Muttersprache == lingua latina) geschriebenes,
erzählendes Lied, weshalb sie bei uns heutzutage mehr eine Art
Erzählung südlichen, romantischen Charakters bildet, während die Ballade
ein episch=lyrisches, zum Singen bestimmtes mehr nordisches Lied ist.
2. Jene Romanze, welche zu religiösen Stoffen greift, wird zur
Legende.
3. Durch ihre lyrischen Zuthaten entfernt sich die Romanze wesentlich
von der poetischen Erzählung.
4. Man unterscheidet rein epische und lyrisch epische Romanzen.
5. Eine kleine Romanze heißt Romaneska. Eine Romanzensammlung
heißt Romancero. Unter Romanzencyklus versteht man eine
Sammlung zusammengehöriger Romanzen.
1. Nach Ebers' Wörterbuch der englischen Sprache ist Romanze eine Art
Dichtung in kurzen Versen, welche irgend eine alte Geschichte erzählt (a Spanish
Ballad, a sort of Poesy in short Verses, containing some ancient
story). Oder anderwärts ist nach ihm romance 1. eine erdichtete Liebes= oder
Heldengeschichte, eine kriegerische Begebenheit aus den mittleren Zeiten, 2. eine
Erdichtung (daher to romance == erdichten, lügen. Jn der Encyklopädie
heißt es: Romance, vieille historiette écrite en vers simples, faciles
et naturels. La naiveté est le caractère principal de la romance.
Ce poëme se chante et la musique française, lourde et niaise, est
très propre à la romance; la romance est divisée par stances etc.).
Nach Pla y Torres Diccionario de la l. castell. (Paris 1826) ist
Romance 1. Nuestro idioma ó lengua vulgar. 2. Cierta composicion
de poesia española.
Nach Booch-Arkossys Nuevo Diccionario (1868) ist Romance
1. span. Sprache, das Spanische 2. Romanze, heróico, ó real aus Elfsilblern
bestehend, llano aus achtsilbigen Versen bestehend. Die Grundbedeutung ist in
den romanischen Sprachen ein lyrisch=episches romanisches Gedicht, zunächst
aber das volkstümlich spanische. So wird schon 1678 Romantze == [265]
Heldengedicht gebraucht. (Vgl. Weigand Deutsch. W. B. II. 487). Es bleibt
sonach die romanische Sprache und der lyrisch=epische Ton und Gehalt das
Wesentliche.
Es sind die Momente des südlichen Lebens aus dem Mittelalter,
welche sich in unserer Romanze abspiegeln. Während der Norden etwas Dunkles,
Nebelhaftes, Ahnungsvolles hat in seinen schroffen Felsengebirgen, seinen Meerestiefen
und Strandgebirgen, seinen brausenden Sturmeswehen und seinen aus
diesen Natur-Elementen hervorgegangenen wunderbaren Gebilden von Göttern,
Walküren, Elfen und Nixen, trägt das südliche erzählende Volkslied ein leichtes,
helles, romantisches Gewand ─ dem blauen lichten südlichen Himmel, den
klingenden Spielen und Kämpfen der romanischen Völker mit all ihrem Apparat
des mittelalterlichen Rittertums, seiner Tapferkeit, Frömmigkeit und Liebe entnommen.
Durch die Vermischung der Sprachen germanischer Völker mit der römischen
Sprache war besonders nach der Völkerwanderung die lingua romanza ─
die Volkssprache ─ entstanden, und ein Lied in diesem Volksdialekt hieß anfänglich
Romanze. Jndem die Dichter späterer Zeit vorzüglich das Mittelalter
in seinem eigentümlichen Wesen von Andacht, Religion, Kunst (oft mit
seinem Aberglauben) wieder heraufbeschworen und doch in gleich schwärmerischer
Stimmung auch heidnische Kunstsagen, Kunstwerke und Natur behandelten, bezeichnete
man sie mit dem Namen Romantiker. (Vgl. I. 88. II. S. 6.) Diese
entlehnten besonders gern von den Spaniern und verpflanzten den Namen der
Romanze zugleich mit der ursprünglichen Form des assonierenden, trochäischen
Viertakters nach Deutschland.
2. Das Gebiet der Romanze wurde insoferne erweitert, als auch sagenhafter
Stoff aus dem griechischen Altertume, sowie besonders religiöse, legendenartige
Stoffe zu den Stoffen des Rittertums und seiner Feinde (der ungläubigen
Saracenen in Spanien) hinzukamen u. s. w.
3. Von der poetischen Erzählung unterscheidet sich die Romanze durch den
ihr eigentümlichen Geist romantischer Hingebung, christlichen Glaubenseifers,
glühender Vaterlandsliebe, ritterlichen Mutes, unbefleckter Ehre und treuer Liebe,
sowie dadurch, daß das eigentliche Jnteresse bei ihr nicht auf der Handlung selbst
beruht, sondern mehr auf den Beweggründen, aus welchen diese entstanden ist.
Der Dichter begnügt sich nicht damit, eine Begebenheit nur zu erzählen, sondern
er stellt in derselben ein Beispiel von der Macht des sittlichen Prinzips auf,
welches zum Sieg oder zur Vergeltung führt u. s. w.
4. Es giebt zwei Arten von Romanzen:
a. rein epische Lieder in der ältesten Weise, zuweilen mit einem, die
Thatsachen begleitenden, sie repräsentierenden Dialog (vgl. unten die Beispiele
aus dem Cid);
b. lyrisch=epische, ähnlich unsern Gedichten aus dem 12. Jahrhundert,
mit einer abgerissenen epischen Situation beginnend, worauf lyrische Zustände
dem Objekt der Dichtung an- und eingereiht werden. Beispiel: Uhlands
Sängers Fluch.
5. Größere Sammlungen von Romanzen (Romanceros), wurden bei uns
seit Ende des 16. Jahrhunderts veranstaltet. (Für unser Jahrhundert vgl. man
z. B. Romancero von Elisabeth Glück, Heinr. Heines Romancero u. a.)
Ein Romanzencyklus (auch Romanzenkranz) entsteht durch Aneinanderreihung
von Romanzen, welche die Thaten und Schicksale eines bestimmten Helden behandeln.
(Als Beispiel vgl. man Uhlands Romanzenkranz: Graf Eberhard
der Rauschebart, welcher enthält: 1. Überfall im Wildbad, 2. Die 3 Könige
zu Heimsen, 3. Die Schlacht bei Reutlingen, 4. Die Döffinger Schlacht.) Ein
weiteres Beispiel ist der Romanzencyklus „Cid“ von Herder, eine bald mehr,
bald weniger treue metrische Bearbeitung einer französischen Prosaübersetzung
der spanischen, aus dem 13. bis 15. Jahrhundert herstammenden Cidromanzen
mit manchem Originalen (z. B. das Zwiegespräch zwischen Cid und Ximene
in der 14. Romanze u. a.). Die Vereinigung dieser Cidromanzen bildet eine
Art romantisches Epos, welches die Geschichte des Cid erzählt, wie auch dessen
große Siege über die Mauren.
Beispiele der Romanze:
No. 1 und 14 aus dem Romanzencyklus „Der Cid“, von Herder.
1. (Herders Werke 14. Bd. S. 197.)
14. (Herders Werke 14. Bd. S. 221.)
Jn der stillen Mitternacht,
Wo nur Schmerz und Liebe wacht,
Nah' ich mich hier,
Weinende Ximene,
(Trockne deine Thräne!)
Zu dir.
Jn der dunkeln Mitternacht,
Wo mein tiefster Schmerz erwacht,
Wer nahet mir?
Vielleicht belauscht uns hier
Ein uns feindselig Ohr;
Eröffne mir ─
Dem Ungenannten,
Dem Unbekannten
Eröffnet sich zu Mitternacht
Kein Thor.
Enthülle dich;
Wer bist du, sprich!
Verwaisete Ximene,
Du kennest mich.
Rodrigo, ja ich kenne dich.
Du Stifter meiner Thränen,
Der meinem Stamm sein edles Haupt,
Der meinen Vater mir geraubt ─
Die Ehre that's, nicht ich, die Liebe will's versöhnen.
Entferne Dich! unheilbar ist mein Schmerz.
So schenk', o schenke mir dein Herz;
Jch will es heilen.
Wie? zwischen dir und meinem Vater, ihm!
Mein Herz zu teilen?
Unendlich ist der Liebe Macht.
Rodrigo, gute Nacht.
Als allbekannte Beispiele seien ferner genannt: Goethes Braut von
Korinth, Der Sänger; Schillers Kraniche des Jbykus &c.
Litteratur der Romanze.
Gute Romanzen finden sich außer den oben genannten bei: Stolberg
(Jn der Väter Hallen ruhte); Gotter (Röschen und Lukas); A. W. Schlegel
(Arion); Just. Kerner (Das treue Roß); Körner (Harras, der kühne Springer);
Graf v. Strachwitz (Das Herz von Douglas); Felix Dahn (Ralph Douglas);
H. v. Mühler (Die Schlacht bei Morgarten); Meinhold (Karl XII. und der
pommersche Bauer Müseback); Minding (Fehrbellin); Rückert (Johanna Stegen);
Goethe (Der König in Thule); Schiller (Der Gang nach dem Eisenhammer, sowie
die mustergültige Bürgschaft, welch letztere stofflich aus den Fabeln des Hyginus
entlehnt ist; vgl. auch Porphyrius Leben des Pythagoras 59. und Ciceros
Tusculanae 5. 22, sowie de finibus 2. 24, 79.); Uhland (Graf Eberhard
der Rauschebart, Sankt Georgs Ritter, Bertram de Born, Der blinde König);
L. Lesser (Die Schlacht bei Xerez, Julia, Die Liebesboten); Fontane (Archibald
Duglas); J. Mosen (Andreas Hofer, Der Trompeter an der Katzbach);
A. Möser; K. Stelter; K. Zettel und viele andere.
Die Heldenthaten des Cid (mit dem Beinamen Campeador, d. i. Kampfesheld,
† 1099 in Valencia) haben uns Herder, Duttenhofer, Regis u. a. in's
Deutsche übertragen. Andre spanische Romanzen vermittelte uns Geibel in:
Volkslieder und Romanzen der Spanier Berl., 1843; Johannes Fastenrath
in: Ein spanischer Romanzenstrauß. 1866; sowie die Wunder Sevillas. 1867. &c.
3. Die Ballade.
1. Der Name Ballade stammt ─ wie S. 269 unter 1 nachgewiesen
─ aus dem Keltischen und bedeutet ursprünglich Volkslied.
2. Zur Ergänzung des Begriffs Ballade (1 und 2 dieses §)
läßt sich aus der Geschichte der Ballade hinzufügen: 1. Die Ballade
wird gesungen: in der Vorzeit in Königspalästen und Schlössern, in [269]
den neueren Zeiten in Häusern und auf der Gasse; 2. Sie erzählt
irgend eine alte oder neuere Geschichte und ist somit der Bericht einer
geschichtlichen Begebenheit, entsprechend jenem Ton, wie er im nordischen
ernsten Volkslied herrscht.
3. Der dem Norden entnommene Stoff verleiht der Ballade im
Gegensatz zur südlichen Romanze ihren ernsteren Charakter.
4. Die Ballade liebt den Ton des Volkslieds.
5. Wie die Volkslieder, so haben auch die Volksballaden viel
gemeinsame Grundzüge, so entspringen sie wenigen einfachen Grundthematen.
6. Die Ballade liebt Reimverse und kurze volksmäßige Strophen.
1. Man hat mehrfach (vgl. Diez Etym. W. B. 3. p. 49) den Namen
Ballade vom italienischen ballata (ballare) hergeleitet, welches soviel als
Tanzlied bedeutet und entweder von balla == Ballspiel stammt, oder vielleicht
mit diesem vom griechischen βάλλω == werfen (Ballspiel), was beides in die
Bedeutung Tanzen überging. Aus diesem Grunde wurde der Begriff Ballade
allgemein als Lied entwickelt, welches so beschaffen sein müsse, daß man im
Absingen nach dem Rhythmus desselben tanzen könne. Nun ist aber diese Ableitung,
welche in bezug auf Entstehung keinen Unterschied zwischen Ballade
und Romanze zulassen würde, eine irrige. Vielmehr stammt das Wort nachweislich
von dem altbritischen, keltischen gwaelawd (sprich wallad) und bedeutet
Volkslied: also nordisches Volkslied, Gassenlied. Dieser
Ableitung begegnen wir auch bei Ebers, welcher Ballad als Gassenlied übersetzt.
To balled heißt nach ihm Lieder machen, Lieder singen und »balled
singer« ist ihm jemand, der Gassenlieder (Lieder auf der Straße) singt. Der
Vollständigkeit halber fügen wir noch einige andere Definitionen bei. Der alte
Mozin ─ Biber 1826 meint: ballade: espèce d'ancienne poésie française
[ungenau], qui était composé de 3 couplets par les mêmes rimes et
terminés par le même vers, avec un envoi. Nach Abbé Gattel (Nouveau
dictionnaire espagnol et français etc.) ist Ballade eine französische
Versart bestehend aus Couplets mit einem Refrain (composition de poesia
francesa, que se dividia en coplas con un mismo estribillo). Auch
andere erklären Ballade für eine Art altfranzösischer Verse etwa von 3 Strophen,
jede von 8 oder 10 Versen, deren letzter Vers allzeit einerlei sei (also Refrain)
und wobei immer einerlei Reimsilben von 2, 3 oder 4 Reimen bleiben u. s. w.
2. Alle Balladen, die bei uns populär wurden, erzählen nur alte Geschichten.
Dies war aber nicht immer so. Die heidnische Vorwelt des Nordens
hatte ─ wie das christliche Mittelalter ─ ihre Barden und Sänger, welche auch
die Thaten ihrer Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit in Liedern feierten.
Ganz ist diese Form der Ballade bei uns nicht ausgestorben; dies beweisen
die Proben aus dem Befreiungskriege und namentlich aus dem letzten Kriege
1870─71 (vgl. die S. 107 d. Bds. erwähnte Sammlung von Lipperheide).
Da Deutschland zwischen Süden und Norden in der Mitte liegt, so kann es
nicht fehlen, daß auch seine Volkslieder halb der Ballade halb der Romanze angehören, [270]
obwohl sie sich mehr der Ballade zuneigen, besonders die aus dem
letzten Kriege, die recht gut den Stoff zu einem großen Nationalepos abgeben
könnten. Manche Ballade könnte als ein kleines Epos angesehen werden,
wenigstens als Keim eines solchen.
3. Der Stoff unserer volkstümlichen Ballade ist jener nordischen Mythenzeit
entnommen, die im Halbdunkel und Zwielicht Götter und Menschen und
Naturkräfte beseelt, symbolisiert oder verwechselt: die Luft mit dem wilden
Heere, die Seen mit Elfen und das Meer mit boshaften Geistern belebt, welch
letztere das Schiff im Schaum der Brandung an den Klippen zerschellen lassen
oder keuchend im Sturm durch die Wogen jagen. Daher ist zum Unterschied
von der bloßen Sage und der Romanze in der Ballade immer etwas Schauerliches,
Nebelhaftes, Tragisches, Mysteriöses, dämonisch Unheimliches
vorherrschend, wozu sich ursprünglich noch ein düsterer, melancholischer, oft rauher
Charakter gesellt. Jn der Ballade spiegeln sich eben die Eindrücke der Natur,
des Glaubens und der Beschäftigung des nordischen Bewohners auf sein Gemüt
ab. Meist bezeichnet sie daher etwas Tragisches, Rätselhaftes, Ahnungsvolles.
Dieses Charakterisierende, das ihr die Abstammung aus den Elementen
der nordischen Natur und Anschauungsweise aufprägt, bedingt es, daß die
Ballade in ihrem musikalischen Wesen mehr als die Romanze Volkslied ist,
freilich ein episches Volkslied, bei welchem der Dichter viel Subjektives zum
Gegenstand giebt, im Gegensatz zur Romanze, die ihrem Zweck nach romantische
Erzählung ist. Das Sangbare der Ballade geht auch aus der Form des Liedes
mit gleichmäßigen der nordgermanischen Poesie eigentümlichen Strophen und
Reimen hervor, während bei der Romanze gerade die Freiheit in der Kunstform
(man vgl. die Proben aus dem Cid &c.) ein Charakteristikum bildet.
4. Die Anlage der Erzählung und die Sprache ist einfach, oft nicht klar
und fließend, sondern den weitern Zusammenhang nur erraten lassend. Dadurch
behält sie den volkstümlichen, volksliedartigen Charakter und geht leicht
in's Volk über. Bei der Tiefe und Bedeutsamkeit des Erzählten erhält die
ungekünstelte Darstellung erst den rechten Ausdruck durch den Gesang. Das
Wort deutet an, die Musik führt aus. Deswegen hat die Ballade so viel
Lyrisches, wie keine andre epische Dichtungsart, und bildet so recht das Verbindungsglied
zwischen Epik und Lyrik.
5. Die Volksballaden des nordischen Volkes zeigen viel Verwandtes. Alle
Volkspoesie ist sich nahe verwandt, sowohl die des einen Volks, wie auch die
aller germanischen Stämme. Wenige Grundzüge treten hervor. Wir finden
oft 2, 3, 4 Balladen, jede von besonderer Schönheit und hohem Jnteresse ─
und doch sind sie nur Variationen des Grundthemas. Ein Dichter hörte z. B.
des anderen Ballade von der Bezauberung des Knaben durch Elfenreize singen.
Jn seiner Erinnerung blieb das Wesentliche ─ und er sang dasselbe Lied
nach, nur mit veränderten Worten, vielleicht auch mit Hervorhebung anderer
Bilder, welche ihn besonders ergriffen hatten, oder welche ihm bedeutungsvoller
erschienen sind. Jn vielen Balladen treten immer die gleichen Grundthemata
hervor: Der Braut stirbt der Bräutigam; treue Liebende gehen unter durch [271]
die Macht des Schicksals; ein vermeintes Unglück löst sich auf in Lust und
Freude u. s. w. Was anders ist die poetische Erfindung unserer Halbdichter
und Romanmacher, als Variation in der Komposition? Die Farben ─ ja auch
die Formen ─ sind wie im Kaleidoskop schon vorhanden. Einst können freilich
auch die Variationen erschöpft werden, aber diese Erörterung liegt außerhalb
menschlicher Berechnung. Jemehr der Dichter darauf ausgeht, absonderliche Situationen
zu erfinden, umsomehr entfernt er sich von der Natur der ursprünglichen
Volkspoesie; pikante Situationen haben nur das Jnteresse der Neuheit.
Die Volksballaden, welche über die Zeit den Sieg davon getragen haben, beruhen
auf den allereinfachsten Verhältnissen.
6. Selbstverständlich muß der Balladendichter der deutschen Gegenwart
sangbare Verse und Strophen bilden, wodurch ein Versmaß wie das des Hexameters
von selbst ausgeschlossen ist. Am häufigsten findet man Jamben, mit
eingemischten, die Bewegung erleichternden Anapästen, ferner meist männliche
Endreime, wie Binnenreime neben Alitteration und Annomination. Außerdem
Tonmalerei zur Hervorbringung der großen Wirkung, was indes (vgl. die Bürgschaft
v. Schiller) auch für die Romanze gilt, welche nicht selten trochäische
Verse mit weiblichen Reimen hat. Jn der leichten dem Volksliede abgelauschten
Anwendung metrischer, sprachlicher Kunstmittel der Ballade liegt das Geheimnis
ihrer gewaltigen Wirkung (Beispiel: Lenore, von Bürger).
Beispiele der Ballade:
Der Wassermann (Herders Werke 16. Bd. S. 363).
Weitere bekannte Beispiele der Ballade sind:
Goethes Erlkönig,
Bürgers Lenore &c.
Litteratur der Ballade.
Volkstümlich war die Ballade schon im 11ten und 12ten Jahrhundert
in Nord-England, wo sie der Erzählung ritterlicher Abenteuer in einfacher
Sprache diente, welche von den sogenannten Minstrels mit Harfenbegleitung
vorgetragen wurden. Den Namen Ballade erhielt sie in Vorder-England und
Schottland im 14. Jahrhundert. Auf deutschen Boden wurde sie durch Herder
mit glänzendem Erfolg verpflanzt, so daß sie eine Zierde unserer Litteratur
bildete. Er übersetzte teilweise die durch Percy gesammelten schottischen Volkslieder:
Reliques of ancient english poetry 1765, in welcher Form sie
dem ersten Balladendichter Deutschlands, Bürger, vorlagen, dem auch das
Volkstümliche und eigenartig Geheimnisvolle, oft Schauerhafte jener Natur=
Poesien durch Übersetzung oder freie Nachbildung wiederzugeben gelungen ist.
Derselbe und die folgenden Kunstdichter haben häufig geeignete Stoffe in der
beschriebenen volkstümlichen Art behandelt. Sie haben aber auch oft in ihre
Darstellung eine tiefere Jdee gebracht. Dadurch ist die Ballade von ihnen zur
Kunstpoesie erhoben worden, den Gebildeten verständlich in ihrer Tiefe und in
ihrer andeutenden Sprache, den Ungebildeten wenigstens ahnen lassend, was
darin liegt, ohne ausgesprochen zu sein.
Weiße, Löwen († 1773), Gleim, Schiebeler haben schon vor Herder und
Bürger einzelne Nachahmungen fremder Balladen geliefert. Goethe drückte auch
einigen parabelartig gebildeten Balladen den Stempel des Echtdeutschen auf.
Jm Erlkönig hat er die deutsche Normal-Ballade geschaffen. Er zeigt weniger,
wie die deutsche Ballade ist, als wohin sie streben soll, indem sein Erlkönig
alle germanischen Elemente in der höchsten Kunst-Vollendung dieser
Volksdichtung umfaßt. Trefflich sind auch seine Balladen: Der untreue Knabe,
Der Totentanz, Die wandelnde Glocke, Der Fischer, Der Schatzgräber &c. [273]
Schiller verarbeitete meist fremde Stoffe. Sein Ring des Polykrates, der sich
der Romanze nähert, Der Taucher &c. sind nicht eigentliche Balladen. Diese
Gedichte könnten als eine besondere Erzählungsart mit subjektiver
Behandlung aufgefaßt werden, als eine Gattung, welche im Präsens erzählt.
Sein Ritter Toggenburg ist eine deutsche Ballade.
Krug von Nidda ist neben Schiller und Goethe Meister in der
Form der Ballade. Leider sind die von ihm gewählten Stoffe nicht sehr bedeutend.
Schwabs Dichtungen dieser Art nähern sich den Romanzen, wenn
sie auch die deutsche Vorzeit besingen; auszunehmen ist Der Reiter und der
Bodensee.
Uhland hat das Leben der englischen, altdeutschen, dänischen und spanischen
Völker durchstudiert und in seine Balladen aufgenommen. Doch ist sein Feld
mehr die spanische Romanze, in welcher er Treffliches geleistet hat (z. B. Don
Massias, der Verliebte). Mustergültig sind von ihm: König Karls Meerfahrt,
Das Glück von Edenhall, Junker Rechberger, Klein Roland, Der gute Kamerad,
Das Schloß am Meer. Des Sängers Fluch ist, wie erwähnt, nicht Ballade,
sondern Romanze.
Chamisso (Die Löwenbraut); Zedlitz (Die nächtliche Heerschau); A. Grün
(Deserteur); Lenau (Die 3 Zigeuner); Hölty (Adelstan und Röschen u. a.);
Platen (Das Grab im Busento); Heine (Die Loreley); Kerner (Zwei Särge);
Mörike (Die Geister am Mummelsee, ist auch als Märchen zu bezeichnen); Gust.
Pfizer (Ezzelin, Tartarenschlacht, Der stolze Feldherr, Das Bild aus Rom); Vogl
(† 1866, den man nicht mit Unrecht den Vater der österreichischen Ballade nannte);
Alexis Aar; Geibel; Frantz; Freiligrath; Karl Ebert (Der Sänger im Palast, Frau
Hitt); Luise von Plönnies (Herr Olof, Die Wette, Die Nonne); Bube; Simrock;
Hoffmann von Fallersleben; Brentano; Eichendorff; Theod. Fontane; Collin;
Tiedge; Herrig; Hertz; Lepel; Lingg; Ad. Grimminger (Des Meeres Geheimnis);
Alexander Kaufmann (Die Hexe von Staffelstein &c.); Amara George
(Klein Christel &c.); A. Meißner; Mosen; W. Müller; R. Prutz; E. Rittershaus;
Seidl; Jul. Sturm; M. Blanckarts; Alb. Träger; Lesser (Der Meermann
&c.) u. a. A. Mösers Balladen verdienen fast alle den Namen poetische
Erzählungen. Rückerts Balladen sind mehr durch moralische als epische Objektivität
eigentümlich. Nur wenige, mehr im Sinne und Geiste des Volksliedes, sind
ihm vollkommen gelungen, (z. B. die Sage vom Barbarossa, Die drei Gesellen,
Des Mohrenkönigs Günstling; in diesen hat er fast überall den rechten Ton
angeschlagen und stört nicht durch epische Breite und überlästige Malerei. Sein
Alpenjäger ist rednerisch bedeutend, und seiner Goldenen Hochzeit, welche den
von Hebel, Trinius, Pfizer u. a. gefeierten Bergknappen von Falun besingt,
ist nächst Hebels Dichtung unter den übrigen der Preis einzuräumen.) Über
Balladenpoesie vgl. Will. Alexis in Hermes 1824. ─ Eine größere Sammlung
von Romanzen und Balladen wurde von Jgnatz Hub mit kurzen Biographien
der einzelnen Dichter herausgegeben. Die Sammlung streift jedoch
das Gebiet alles dessen, was nur annähernd sich der Romanze und Ballade
nähert, (wie Sage, poetische Erzählung, Mythe, Episoden aus größeren epischen [274]
Dichtungen &c.) und macht auch in der Vorführung keinen äußerlichen Unterschied
zwischen diesen Dichtungsarten.
Noch erwähnen wir als freundliche Sammlung mit Jllustrationen: Balladenkranz
aus deutschen Dichtern gesammelt von Dr. G. Wendt, Berlin 1866 &c.
§ 110. Epos == Epopöe oder Heldenlied.
1. Man versteht unter Epos eine umfangreiche, großartige, auf
breitester Grundlage ausgeführte, erzählende Dichtung in metrischer
Form, die ein bedeutsames, umfassendes Ereignis, ein der Vergangenheit
angehöriges, möglichst vollständiges Zeit- oder Weltbild entrollt.
Oder man nennt Epos eine Reihe kunstvoll und einheitlich in einander
verarbeiteter Sagen, Mythen, Begebenheiten.
Nicht um eine einzelne Begebenheit, wie in den oben abgehandelten
kleineren epischen Dichtungsarten handelt es sich im Epos,
sondern um mehrere derselben, um ein ausgeführtes Schicksalsbild eines
bedeutenden Menschen. Da das Epos nicht im Werden begriffene
Thaten (wie das Drama) vorführt, sondern bereits geschehene Fakta
erzählt, so sind hier (im Gegensatz zum Drama) die Ereignisse die
Hauptsache und die Helden sind nur die Träger derselben.
Epos als Heldengedicht heißt auch Epopöe. Diese Bezeichnung
wenden Manche einseitig für Volksepos im Gegensatz zum Kunstepos an.
2. Den Mittelpunkt des Epos bildet ein Held. Er ist Träger
und Lenker der Handlung. Von ihm erhielt das Epos den deutschen
Namen Heldengedicht. Dem Helden untergeordnet sind die Nebenpersonen
des Epos: die sog. epischen Charaktere, die zum Teil als
Nebenhelden erscheinen.
3. Alles was sich mit der Person des Helden ereignet, bildet die
Haupthandlung. Diese liebt verweilenden Gang: die sogenannte epische
Breite.
4. Dadurch begünstigt sie Nebenhandlungen, Schilderungen, Episoden,
welche die Vereinigung verschiedener Sagen und die Herbeiziehung
des Wunderbaren gestatten.
5. Der Stil des Epos verlangt Ruhe und Würde.
6. Die äußere Form des Epos ist dem Belieben des Dichters
anheimgegeben.
7. Die Übersichtlichkeit bedingt Abschnitte.
8. Schmückende, mehr zufällige Bestandteile oder Eigentümlichkeiten
des Epos sind: Proposition, Jnvokation, Gleichnis.
1. Das Epos bringt durch umständliche Darlegung der bedeutungsvollen
Schicksale des Helden und der Charaktere für ein ganzes Volk oder für die
ganze Menschheit das Gefühl des Erhabenen zur lebendigen Anschauung und
zwar in der Form der höchsten, durch Sprache darzustellenden Schönheit.
2. Der Held kämpft gegen das feindliche Schicksal an, wobei er sich
selbstverständlich durch äußere Würde und Stärke des Charakters auszeichnen
muß, um eben als Hauptperson zu erscheinen. Andere ihm untergeordnete, ihn
unterstützende oder bekämpfende Personen (Nebenhelden) heißen auch die epischen
Charaktere. Es ist zulässig, daß zwei oder mehrere Hauptpersonen in demselben
Epos auftreten; aber dann müssen sie in enger Beziehung zur Schlußhandlung
(Katastrophe) stehen, diese hindernd oder fördernd. Auch darf durch sie nie die
Einheit (d. i. die Beziehung der Einzelbegebenheiten, Einzelhandlungen zur
Hauptperson) verletzt werden. Das Kunstepos hat meist nur eine Hauptperson,
das Volksepos mehrere. Schon in Homers Jlias finden wir neben Achill
mehrere Helden. Und in der Nibelungen Not fällt zwar die größte Bedeutung
auf Siegfried und Kriemhilde; aber auch die übrigen Personen (Dietrich, Hagen,
Rüdiger) sind nicht bloße, unwesentliche Nebenfiguren. Haupthelden kann man
hier eigentlich keine Charaktere nennen. Siegfried fällt, bevor das Epos zur
Hälfte vollendet ist. Dietrich tritt erst nach der Mitte desselben auf, seine volle
Bedeutung erst am Schluß erreichend; von den übrigen imponierenden Heldengestalten
(Kriemhilde, Hagen, Rüdiger) weiß keine einzige unsere Teilnahme
ausschließlich in Anspruch zu nehmen, keine vermag die übrigen Personen zu
bloßen Nebenfiguren herabzudrücken, oder sie in den Hintergrund zu
schieben. Vielmehr hat jede Figur ihren eigenartigen, berechtigten Platz, das
Jnteresse erstreckt sich auf alle gleichmäßig.
Jn den Charakteren des epischen Dichters muß sich der Charakter ganzer
Menschenklassen abspiegeln. Die Charaktere können daher nicht immer sittliche
Jdeale sein.
Da von dem Charakter des Helden (oder der Helden) die Begebenheit in
ihrem Ursprung und in ihren Folgen abhängt, so muß dieser Charakter wahr
sein und in seiner Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden, womit allerdings nicht
gesagt sein soll, daß sich der Dichter nicht direkter und indirekter Jdealisierung
bedienen könnte, um den Total-Eindruck zu mehren, das Jnteresse zu heben,
die Anschaulichkeit zu beleben, und die Wirkung zu steigern. (§ 27 d. Bds.)
Nicht eine Charakteristik darf der Epiker liefern, aber fertige Charaktere muß
er bieten, darstellen. Die alten Epiker haben zur Erreichung dieser Forderung
die fortschreitenden Ereignisse mit fortschreitender Rede ihrer Personen begleitet
und neben den Thatsachen den mit diesen verwobenen Dialog einhergehen
lassen, also eine Art dramatisches Element mit ihrem epischen Stoff zu vereinen
gewußt, wodurch sie (z. B. in den Schlachtenschilderungen der Jlias, oder in
der Nibelungen Not, in Hildebrand und Hadubrand &c.) den Charakter außerordentlich
plastisch wirksam erscheinen ließen.
3. Den leitenden Faden bildet im Epos ein Hauptmoment aus der
Lebensgeschichte des Helden: die Haupthandlung. Die Wichtigkeit dieser
Haupthandlung, welche Einfluß auf das Wohl und Wehe einer Welt haben
kann (z. B. in Stoffen wie Sündenfall, Sindflut, Kreuzzüge &c.), berechtigt
den Dichter bei allem mit ihr in Beziehung Stehenden zu verweilen, um die
einzelnen Ereignisse, Situationen und lokalen Verhältnisse, den Ort der Handlung, [276]
den Charakter, Zeit, Sitten und Gebräuche des Volks, Einrichtungen
des Staats, Familienbeziehungen, religiöse und sociale Anschauungen, Bekleidung,
Wohnung, Lebensweise &c. möglichst anschaulich und bis in's Detail zu malen
und einem Grundzug des Epos: der Breite der Anlage ─ gerecht zu
werden. Alles hat für die ruhige Schilderung des Gesamtbildes poetisches
Jnteresse.
Gruber hat richtig bemerkt, daß die Gangart des Epos keine Reise sei,
wo man ein vorgesetztes Ziel mit unruhiger Ungeduld zu erreichen bemüht ist,
sondern daß das Epos mehr einer zur Lust am schönen Tage auf dem ruhigen
See unternommenen Fahrt gleiche, wo man sich in behaglicher Gemütlichkeit den
Gegenständen hingiebt, und gern bei jedem verweilt, ohne ungeduldiges Weiterstreben,
wofern nur die Gegenstände nicht an sich unangenehmer Natur sind,
oder des Jnteresses ermangeln.
Mit Vorliebe verweilt der Epiker bei jedem Schritte seiner Bahn; er befleißigt
sich einer gewissen Umständlichkeit durch Einflechtung vieler retartierender
Motive, welche seinen Gang aufhalten, seinen Weg verlängern. Eile verträgt
das Epos nicht, sie widerstrebt seinem Wesen.
Der sogenannte rasche Gang gebührt dem Drama mit seiner werdenden,
allezeit gegenwärtigen Handlung, nicht aber dem Epos mit seiner vergangenen.
Nur dann schleicht die Handlung (nach Jean Paul), wenn sie sich wiederholt,
und sie stockt nur dann, wenn eine fremde statt ihrer geht; aber nicht dann, wenn
die in der Ferne große in immer kleinere in der Nähe, gleichsam der Tag in
Stunden auseinander rückt.
Die Umständlichkeit darf keine tote und keine pittoreske sein, sondern alles
muß entspringend und fortschreitend vorgestellt werden, wie es uns z. B. Homer
zeigt. Die ausführliche Schilderung, wie sie dieser Dichter bei der Bekanntgabe
einer Lanze, eines Schildes &c. giebt, ist jedoch wenigstens im modernen
Epos nicht nötig, ja, sie würde hier ermüden. Der moderne Dichter hat ein
verständigeres Publikum als Homer, der im Zeitalter der beginnenden Kultur
nur wenig voraussetzen durfte. Jmmerhin ist auch für uns die bereits Bd. I
S. 14 skizzirte malende Methode bei Homer beachtenswert, besonders für die
Veranschaulichung weniger nahe liegender Gegenstände. Hier darf auch das
moderne Epos im Homerischen Stil ausgeführte Schilderungen, eine gewisse Behaglichkeit
im Ausmalen &c., d. h. die sogenannte epische Breite in der Darstellung
anwenden und außerdem noch etwa durch die Einfachheit und Natürlichkeit
der im Epos vertretenen Personen motivieren. (S. 41 d. Bds.)
Hindernisse in der Laufbahn des Helden herbeischaffen, heißt (sinnbildlich)
den Knoten schürzen, sie beseitigen heißt ihn lösen. Der Ausgang der
Haupthandlung des Epos ist wie im Drama die Katastrophe. Diese muß
unsere sittliche Anschauung befriedigen. Wenn auch der Tugendhafte unterliegt,
so muß unser Gefühl und unsere Vernunft ihm doch einen gewissen Triumph
nicht versagen dürfen. Auch in seinem Untergang muß er größer erscheinen,
als der äußerlich siegende Bösewicht &c.
4. Die von dem Dichter zur Beförderung des Jnteresses und zur nähern [277]
Jllustration des Helden eingeschalteten Episoden (Zwischen- oder Nebenhandlungen),
wenn auch an und für sich nicht unbedeutend, müssen allezeit der
Haupthandlung untergeordnet sein. Sie dürfen nicht außerhalb des Kreises
liegen, den die Jdee beherrscht. Die Episoden im Epos sind wenig empfehlenswert
am Ende, wo der Fluß nicht mehr gehemmt werden sollte. Es ist gestattet,
in den Episoden Sagen aus verschiedenen Zeiträumen zu vereinen und
daher Personen verschiedener Zeiten zusammenzustellen (z. B. im Nibelungenepos
den Bischof von Passau mit den Nibelungen), wenn sie nur in kausalem Zusammenhang
stehen; ferner darf sogar Wunderbares, oft menschliche Verhältnisse
Übersteigendes herbeigezogen werden, um den oder die Helden groß und erhaben
darzustellen. Freilich muß der Dichter in der Wahl und Anwendung
solcher Mittel behutsam verfahren. Er darf sich wohl auf dem Gebiet einer
neuen und ungewohnten Darstellung bewegen, aber die Mittel, die er zur Vollendung
des Ganzen selbst zu erfinden oder wegen ihrer inneren Erheblichkeit
anzuwenden berechtigt ist, müssen natürlich gehandhabt werden.
5. Da die Darstellungsweise des Epos in Handlung und Gestalt eine
plastische zu sein hat, so muß sein Stil epische Ruhe und Würde beweisen.
(Homer hat diese unter Vermeidung der Jnterpunktion in den letzten Takten
des Hexameters dadurch erzielt, daß er das praesens historicum vermied
und die Reden mittelst stehender Wendungen abschloß und durch ausführliche
Gleichnisse und wiederkehrende Epitheta, wie endlich durch versus iterati
ausstattete.) Der Ton im Epos kann übrigens sehr verschieden sein (vgl. z. B.
Jlias I. 528. 599. XV. 15 ff. VI. 429 f. 476. ─ I. 325 und X. 15.),
sowie Laune und Spott in der Rede des Thersites. (B. II. 211─244.)
6. Die Wahl der Form im Epos steht dem Dichter frei, und es handelt
sich nur darum, daß diese Form im Einklang mit dem Jnhalt und den
Forderungen an die mündliche Mitteilbarkeit stehe. Das Metrum muß sich zum
poetischen Stoff verhalten, wie Einheit zur Mannigfaltigkeit. Es darf nicht zu
kunstlos sein, wenn es nicht den idealen Gehalt der Anschauung in zu große
Nähe zur prosaischen Wirklichkeit bringen will; andernteils sollte es nie zu
prätentiös künstlich sein, um nicht die Aufmerksamkeit des Hörers oder Sängers
von dem Wesen der Dichtung abzulenken.
Die alten Jnder bedienten sich für ihr Epos des Sloka (Bd. I. 596);
das antike Versmaß der Griechen war der Hexameter. Die Römer wandten
erst den sogenannten saturnischen Vers an, einen ursprünglich durch eine Cäsur
geteilten aus 6 Arsen bestehenden Vers, dessen erstes Hemistichium 3 ½
Jamben, das zweite 3 Trochäen hatte, z. B. Dabúnt malúm Metélli ‖ Nǽvió
poétae; sie vertauschten diesen Vers später gegen das Nationalmetrum der
Griechen, als an Stelle ihrer nationalen Poesie die gräcisierende trat.
Die ruhige Würde des klassischen Epos gestattete keinen Wechsel des
Verses, weshalb die Komposition eine monostichische ist, indem sich immer derselbe
Vers wiederholt, dem freilich durch Cäsuren, Diäresen und den Wechsel
von Daktylen, Spondeen &c. die Gleichförmigkeit und Monotonie genommen ist.
Die Germanen hatten erst allitterierende Reimpaare, oder eine vierzeilige [278]
Reimstrophe, worauf die Nibelungenstrophe folgte: also durchweg Accentverse
mit beliebigen Thesen. Wieland wandte im Oberon die von ihm frei bearbeitete
Oktave an. (Bd. I 552.) Auch Schiller empfahl die Oktave für ein
modernes Epos. (Bd. I S. 551.) Neuere Dichter wählen den Alexandriner
oder auch (Kastropp im Kain) den jambischen Fünftakter. W. Jordan hat
herrliche deutsche Accentverse mit 4 Hebungen angewandt (Bd. I S. 380) u. s. w.
Das Nationalmetrum der Serben ist der trochäische Fünftakter mit fester
Cäsur hinter dem 2. Trochäus. Die romanischen Völker bedienten sich des
Dekasyllabus und des Alexandriners. Tasso und Ariosto wandten die mehr
lyrisch verwertete Oktave (ottave rime) an.
7. Die extensive Ausdehnung des Epos macht Abschnitte nötig, welche
bei verschiedenen Dichtern verschieden benannt sind, z. B. bei den alten Griechen
Rhapsodien, im Mittelhochdeutschen Aventiuren, in der Neuzeit Gesänge.
Als Bestandteile, zugleich als Schmuck, sind in den Epen ersichtlich:
a. Das Proömium (προοίμιον == der Eingang), oder der Hinweis
auf Bedeutung und Charakter der Handlung gleich am Anfange. Als Beispiel
vgl. Homer (Jlias, übersetzt von W. Jordan):
Oder Torquato Tasso (Befreites Jerusalem, übersetzt von Gries):
Oder Klopstock (Messias):
b. Die Jnvokation, oder die Anrufung eines höheren Wesens oder
der Musen, die dem Dichter bei seinem schwierigen Beginnen helfen mögen;
z. B. Torquato Tasso (Befreites Jerusalem, I. Ges. 2. Strophe):
Oder Kastropp (Heinr. v. Ofterdingen):
c. Gleichnisse. Als Beispiele vgl. Jlias II. 455─483; Odyssee
V. 102─109; Vergilius Aeneis II. 341─346; Nibelungenlied Stro. 280
(in d. Ausg. von Bartsch Stro. 281), sowie die Bd. I. S. 156 verzeichneten
Proben.
§ 111. Einteilung des Epos und Geschichtliches.
1. Man unterscheidet im Hinblick auf geschichtliche Entstehung,
wie auf den Stoff: a. Volksepos (§ 112 d. Bds.) und b. Kunstepos
(§ 116 d. Bds.) mit ihren verschiedenen Unterarten und Namen.
Das Volksepos als das ursprüngliche, verhält sich historisch zum
Kunstepos, wie das Volkslied zum Kunstlied.
2. Unsere Gegenwart scheint wenig dazu angethan zu sein, ein
Volksepos erstehen zu lassen.
1. Als das Volk bei den Griechen sich nicht mehr mit den kurzen, epischen,
mit Saitenspiel begleiteten Liedern der Aöden begnügte, traten die Rhapsoden
auf. Diese ließen ziemlich spät auch die Musikbegleitung wegfallen und versuchten
nun anstatt des Gesanges die Recitation, wie es in neuerer Zeit der
Rhapsode Wilh. Jordan mit seinem Nibelunge in unzähligen Städten so erfolgreich
that. Die Rhapsoden der Griechen konnten selten ganz neue Dichtungen
bieten; sie verwebten aber meist mehrere Lieder über verschiedene Sagen
(oder auch über die gleiche Sage), wobei sie als Dichter mitdichtend bald kürzten,
bald ergänzten und nach Gutdünken änderten (woher ja auch ihr Name, vgl.
S. 140 d. Bds). Die Rhapsoden scheinen bei den Griechen eine bestimmte Zunft
gebildet zu haben, z. B. auf der Jnsel Chios die Homeriden, nach welchen
auch die Rhapsoden anderer Staaten als Homeriden bezeichnet wurden. Durch
die Wirksamkeit der Rhapsoden wuchs das stoffartige Jnteresse; einzelne Begebenheiten
und Personen gewannen hohe Bedeutung, weil sie mit der Anschauungsweise
und dem Charakter des Volks in enger Beziehung standen. So
wurde z. B. der trojanische Krieg Hauptgegenstand der griechischen Sage, in
welcher Achilleus und Odysseus als die Typen des griechischen Volkscharakters
und der griechischen Thatkraft allen Heroen dieses Krieges voranstanden. So
wurden ferner Karl (mit dem die französische Geschichte beginnt) und König
Artus (mit dem die britannische schließt), die Mittelpunkte aller französischen und
britannischen Sagen. So wurde der durch seine Kämpfe mit den Mauren berühmte
Cid (Herr) der Typus der Treue und des Trotzes des spanischen
Vasallentums. So wurde der arglos gemütliche, heldenmütige, dem deutschen [280]
Charakter entsprechende Siegfried der Liebling der Deutschen u. s. w. An die
Rhapsoden trat in späterer Zeit die Aufgabe heran, alle die soeben erwähnten,
zu den gleichen beliebten Sagenkreisen gehörigen Lieder oder Rhapsodien zu
größeren, umfassenden Epopöen zu vereinen, alles aufzuschreiben und zu recitieren,
was von einem Lieblingshelden überhaupt und allerorten mitgeteilt werden konnte.
Auf diese Weise entstanden in Griechenland die Jlias und die Odyssee, in
Spanien der Cid, in Frankreich die Roncevalschlacht, bei uns die Nibelungen
und Gudrun u. s. w. (Vgl. §. 114 d. Bds.)
Es gehörte schon ein bedeutender Dichter dazu, um all das, was in
vielen Sagen, Mythen, Gedichten über einen Helden gesungen wurde, zu einem
in Form, Anschauung, Jdee und Darstellung einheitlichen abgerundeten Epos
zu vereinigen. Daher wäre es z. B. gewagt, einen einzigen Dichter, den man
Homer nennt, als Verfasser von Jlias und Odyssee zwischen die Aöden und
Rhapsoden zu stellen, Homer war eben nur Umdichter. (Vgl. über ihn: »Prolegomena
de operum homericorum prisca et genuina forma« von Fr.
Aug. Wolf, welcher der Ansicht jener alten, zwei Verfasser annehmenden Chorizonten
(d. i. Trennenden) beitrat und behauptete, daß Jlias und Odyssee
mehrere Menschenalter hindurch von Rhapsoden fortgepflanzt und erst unter
Peisistratos zu einem kunstreichen Ganzen komponiert wurden.) Des Umdichters
Kunst war nicht gering. Er durfte die vorhandenen und entstehenden epischen
Lieder nicht ohne weiteres vereinen; er mußte vielmehr ausgleichen, weglassen,
zusetzen und namentlich durch „epische Breite“ eine anschauliche Betrachtung
ermöglichen, durch Einfügung von Episoden die unzusammenhängenden Sagen
in einen Guß, in Fluß und Verbindung bringen. Dies ist dem Umdichter der
Odyssee weit besser gelungen, als dem der mehr planlosen Jlias, deren Held
Achilleus zwar das Epos beginnt nnd schließt, aber doch nicht gerade den sog.
roten Faden des Ganzen bildet. Noch mehr hat der Umdichter der Nibelungen
(Kürenberger, nach Bartsch und Pfeiffer; oder wie Spaun und der im Schluß
von Frau Aventiure zweifelnd gewordene Scheffel will: Heinrich v. Ofterdingen)
sein Ziel erreicht. Dieses Epos, dessen Handlungen sich über zwei Menschenalter
erstrecken, während Jlias und Odyssee nur einen ganz kleinen Zeitraum
umspannen, überragt beide klassische Epen durch die Kühnheit seines Plans.
Alles ist hineingearbeitet: der Mythus von Siegfried, die Sagen von den
burgundischen Königen, von Theodorich, von Attila, ─ und überall zieht
sich durch die um Kriemhilde gruppierte einheitliche Darstellung der Gedanke,
daß der Welt Freuden mit bitterem Schmerz enden:
Für Entstehung des Nibelungenliedes vgl. „Über die ursprüngliche Gestalt
des Gedichtes von der Nibelungen-Not“ von Karl Lachmann, sowie dessen Untersuchungen
„Zu den Nibelungen und zur Klage“. 1836.
Die Arbeit des Kürenberger (oder der Zusammensteller), durch welchen
(oder durch welche) die alte, allitterierend behandelte Sage künstlerisch in der [281]
neu hinzugekommenen Nibelungenstrophe zusammengedichtet wurde, war nicht
gering, und man darf solche Umdichter nicht zu gewöhnlichen Redakteuren herabwürdigen,
vielmehr haben wir alle Ursache, diese Bearbeiter für ganz gewaltige
Dichter zu halten. Die Kunsthöhe dieser deutschen Dichter, die doch zweifelsohne
wie die der Erbauer großer Dome nur durch unendliche Übung und fortgesetzte
Kunst zu erreichen war, läßt unbedingt um jene Zeit das Vorhandensein
einer durch Jahrhunderte fortbestandenen Dichterschule vermuten. Auch
ein Homer ─ falls man einen einzigen dieses Namens für Zusammendichtung
der homerischen Epen annehmen will ─ hatte sicher viele Dichter vor sich,
die, sofern sie sich das Singen zum Beruf machten, bald eine Anzahl begieriger
Hörer und Schüler um sich zu vereinigen wußten.
Das Zeitalter des Volksepos mit seinen phantasie=geschaffenen Göttern ist
das Jugendalter eines Volks, also die Zeit, in welcher das Volksleben noch
natürlich einfach war; wo der einzelne die äußeren Eindrücke noch kindlich unbefangen
aufnahm, ohne durch Hervortreten seiner Subjektivität sich von der
Nation, deren kindlichen Glauben er teilt, loszuschälen. Nach der Zeit des
Volksepos bildete sich mehr und mehr das Kunstepos aus (§ 116 d. Bds.).
2. Jn der dramatisch hastenden Zeit der Gegenwart zählen gute Kunst=
Epen im Vergleich zum Roman zu den poetischen Raritäten. Zu einem Volksepos
scheint niemand den Versuch zu wagen. Dieses wird so lange auf Wiederbelebung
warten müssen, als der Begriff Volk schwankend ist. Unsere heutigen
Kunstepen sind nur für die Gebildeten vorhanden; und selbst unter diesen sind
der Abstufungen so viele, daß die untersten Klassen in der Regel nicht verstehen,
was für die Hochgebildeten gedichtet ist. Das heutige Volk und die Gelehrten
stehen in ihrer Bildung zu weit auseinander, als daß es ein Dichter
beiden Teilen recht machen könnte. Zudem beeinträchtigt das materielle Ringen
unserer Tage fast jedes Jnteresse an den historischen Erlebnissen. Wo aber der
Sinn für poetische Überlieferungen der Geschichte bei den Einzelklassen eines
Volkes schwindet, wo die große Menge in stumpfer, dumpfer Gleichgültigkeit
zusieht, wie die Geschichte von gelehrten Händen einregistriert wird, da kann
kein Volksepos mehr erblühen.
Jn solchen Zeiten des Jndifferentismus und der Vernachlässigung der
im Volksepos sprechenden Naturpoesie dichtet der Kunstdichter aus sich und aus
den schriftlichen Aufzeichnungen heraus; er bringt Kunstepen zusammen, aus
denen der Historiker nichts lernt, und die dem Volke völlig fremd bleiben. So
bleibt das Kunstepos der Neuzeit wohl für den Gebildeten von Jnteresse, nie
aber wird es jene berauschende Wirkung auf das Volk äußern, welche dereinst
Homers Gesänge auf die Hellenen ausübten, die in denselben die Geschichte
ihres Vaterlandes, die höchste Poesie und zugleich sich selbst verehrten, da ja
aus ihren Volksmythen und Sagen diese Gesänge hervorgegangen waren, und
jeder sie daher als sein Eigentum betrachten konnte.
Es ist gewiß wünschenswert, daß bei unserer neugeschaffenen Nationalität
eine neue Volkspoesie, ein neues gewaltiges Volksepos erstehe. Man erwartete
bereits ein solches, nachdem der große Befreiungskrieg den Begriff Volk wieder [282]
erweckt hatte, nachdem so ziemlich ein Geist und eine Ansicht im Entstehen
war und ein gleiches gemeinsames nationales Jnteresse Gebildete und Ungebildete
durchzogen und in einem erfreulichen Aufblühen der patriotischen Lyrik
bewegt hatte. Schon hörte man Volkslieder von den Großthaten des Marschall
Vorwärts, von den Fluchten der Franzosen, Spottlieder auf Napoleon und
seine Generale &c. auf den Straßen und in den Schenken singen, und mit dem
lyrischen Ton vermischte sich das epische Element. Aber es blieb bei den Elementen
zu einem Volksepos.
Jn noch höherem Maße waltete die phantasievolle Thätigkeit des Volksgeistes
im rasch aufblühenden Volksgesang nach den Großthaten unserer Nation
von 1870─71. Aber leider ist der Begriff des Volkes unter andern Spaltungen,
als denen zwischen Gebildeten und Ungebildeten verschwunden und die
Sänger sind mit ihren Liedern unter der Wucht materieller Strömungen von
den Straßen verschwunden. Dazu kommt, daß durch die Bühne und die
Schaulust des Volkes, welches in raschem Drängen nach Neuem bloß sehen
will, unsere Dichter wohl zu lohnenderen dramatischen Dichtungen aufgefordert,
aber von der Vereinigung nationalen Stoffes zu einem Volksepos ─
wie überhaupt von Dichtung eines Epos ─ zurückgescheucht werden. Möge die
Zukunft lohnendere Anregung bieten! Wir haben nunmehr große Geschichte durch
eigene deutsche Kraft zu Stande gebracht; wir haben Erfolge errungen, wie sie
keine Nation der Welt in ihren Annalen zu verzeichnen hat. Wir besitzen herrliche
volkstümliche Lieder aus dem letzten Kriege, welche die Grundlage zu einem
Volksepos bilden könnten! Auf, ihr Kunstdichter, vereinigt im stolzen Gefühl
deutscher Kraft die epischen Volksgesänge und die Sagen von unseren älteren
Lieblingen: vom Prinzen Eugen dem edlen Ritter, vom alten Dessauer, vom
alten Fritz, von Blücher ─ oder, wenn ihr's vermögt, vom geschichtlich gewordenen
Wilhelm dem Siegreichen mit dem jungen Fritz und den großen Gestalten
Moltke und Bismarck!
§ 112. Die Volksepen.
1. Das Volksepos (Nationalepos == Volksepopöe) ist jenes Epos,
welches das vom ganzen Volke gekannte, durch Tradition liebgewordene
Nationale aus des Volkes ältester sagenhafter Urgeschichte zum Gegenstand
nimmt und große, national wichtige Jnteressen und Ziele erstrebt.
2. Charakteristisch für dasselbe ist die Verwendung des Wunderbaren.
1. Die Helden des Volksepos mit ihren Thaten leben in dem Volke des
Sängers in alten Sagen, die als Balladen oder Romanzen in einer Zeit gemeinsamen
Handelns entstanden und gesungen wurden, bis sie durch die kunstgeübte
Hand eines Dichters mit andern ergänzenden und verwandten Sagen
zu einem großen Ganzen ─ einem Epos ─ zusammengefaßt, verarbeitet, umgedichtet
werden. Die Nation ergreift dieses volkstümliche Epos mit Begeisterung,
erkennt es als ihr Eigentum: es ist National-Eigentum, National-Epos, [283]
Volks-Epos. Von der Wichtigkeit und Bedeutung des Nibelungenliedes belehrt
uns schon der Anfang desselben:
2. Das Wunderbare in diesem Volksepos ist dadurch erklärlich, daß ihm die
Götter lebensvolle Gestalten sind, die in das Geschick der Menschen eingreifen,
das Schicksal bedingen. Die alten Volksepen gehörten ja einer Zeit an, wo
man sich die aus den personifizierten Naturkräften gedachten und selbstgebildeten
Gottheiten in unmittelbarer Beziehung zu den Menschen dachte, und das Eingreifen
in die Geschicke der Menschen voraussetzte. Dies ist in der Jlias und
in der Odyssee der Fall, beim Mahâbhârata und beim Râmâjana, in unseren
Nibelungen und in dem jungen Kalewala der Finnen &c.
Jn unsern Nibelungen zeigt sich Siegfried mit seinem göttlichen Attribute
der Unverletzlichkeit und mit der unsichtbar machenden Tarnkappe, ebenso wie
Brunhild in ihrer Unnahbarkeit und mit der göttlichen Kraft als göttliche
Wesen, als mythische Figuren. Das Wunderbare war selbstverständlich.
§ 113. Aufzählung sämtlicher Volksepen.
Wir besitzen folgende Volksepen:
1. Die klassischen Volksepen der Griechen: Jlias und Odyssee.
2. Die indischen Nationalepen: Mahâbhârata und Râmâjana.
3. Die deutschen Volksepen: Nibelungen, Gudrun &c.
4. Die Volksepen der Finnen, Esten, Lappen: Kalewala, Kalewipoeg,
Peiwasch Parnéh.
Als Volksepos wird von vielen Litterarhistorikern, welche die unter 4
verzeichneten Volksepen übersehen oder nicht kennen, noch der Herdersche Romanzencyklus
Cid erwähnt, den wir S. 266 d. Bds. unter Beigabe von Proben
sowie in der Litteratur des romantischen Epos § 120 d. Bds. seinen Platz
anweisen mußten.
§ 114. Analyse sämtlicher Volksepen nach Jnhalt, Konzeption,
Ausführung etc.
I. Die klassischen Volksepen der Griechen: Jlias und Odyssee.
Die Epen der Griechen, welche im Altertum wegen des ruhigen
Fortschreitens ihrer Handlung, wegen ihres heroischen Stoffs, wegen
ihrer gediegenen Form und Sprache als die vollendetsten Muster der
Poesie angesehen wurden, tragen den Namen klassische Epen und nehmen
unter den Volksepen einen hervorragenden Rang ein.
Jnhalt: a. Die Jlias besingt in 24 Gesängen oder Büchern (Rhapsodien)
einen Teil des Kampfes vor Troja und zwar von der Entzweiung Achills mit [284]
Agamemnon bis zur Leichenbestattung Hektors (51 Tage des letzten der 10 Kriegsjahre),
also einen ganz kurzen Zeitraum.
b. Die Odyssee dagegen behandelt ebenfalls in 24 Gesängen die Heimkehr
der Griechen, die zehnjährigen Jrrfahrten und Abenteuer des Odysseus
auf seiner Rückkehr von Troja nach Jthaka, sowie das Rachewerk in seinem
Hause.
Die Jlias, wie die Odyssee, malen zugleich das Leben und Weben,
Walten und Schalten der Götter. Sage und Mythe vereinen sich in wunderbarer
Harmonie zum großen klassischen Heldenepos. Der verderbliche Zorn des
Achilles wird besungen, der den Griechen das Jdeal der Kraft und Jugend
und (nach Hegel) das Vorbild des herrlichsten aber eines der letzten Hellenen
der edleren Zeit, Alexanders des Großen, gewesen ist. Die Götter nehmen Teil
am Kampfe der Menschen. Poseidon macht Meer und Erde erbeben, Hephästos
speit Feuer, und die Flußgötter umbrüllen, zwischen Blut und Leichen wütend,
zornglühende Menschen. Ares tritt in den Kampf ein, an dem sich selbst
Pallas Athene, Apollon und die Götterkönigin beteiligen. Pallas Athene schmettert
den Grenzstein dem Ares entgegen, daß er über sieben Hufen Landes dahinstürzt.
Droben lächelt der Vater der Götter und Menschen, der, wenn er die
Augenbrauen faltet oder die ambrosischen Locken vorwärts sinken läßt, den
Olymp erbeben macht.
Epische Konzeption und Ausführung. a. Jliade. Eine große
Zahl von Heldenthaten sind zu erzählen. Für die Einheit nimmt Homer den
Haupthelden Achilles, ohne die andern zu vergessen. Edles Maß wahrt den
einzelnen Teilen die Selbständigkeit. Achilles wird eingeführt, aber zürnend
geht er in's Zelt. Jnzwischen kann der Dichter Helden um Helden vorführen;
Achilles' Bedeutung zeigt sich aber darin, daß, so lang er fehlt, kein siegreicher
Fortgang im Kampfe ersichtlich ist. Patroklus' Tod läßt mit einemmale den
Gewaltigen wieder erscheinen; Hektor fällt, und wir ahnen den Fall des heiligen
Jlion. Ein Ruhepunkt tritt ein. Die Totenfeier des Patroklus giebt zur Äußerung
des Schönheitsgefühls der Griechen Gelegenheit: Ruhe, Friede, Schmuck.
Nun kommt noch Priamus zu Achill, wodurch der Dichter Gelegenheit findet,
den Helden von seiner menschlich erhabenen Seite zu schildern.
So wird das großartige Epos in seiner erhabenen Sprache Musterepos.
Sind auch an einigen Stellen die trefflichen Gleichnisse etwas gehäuft,
so treten doch Personen, Dinge und Ereignisse so klar und anschaulich hervor,
daß man meint, man könne sie mit Händen greifen. Jeder Dichter kann hier
lernen, wie ein Charakter zu schildern ist, wie derselbe aus seinen Handlungen,
Reden und aus den Beurteilungen anderer lebendig vor Augen zu treten hat &c.
Jn erhabener Schöne und zauberischer Größe steht die Jliade da, die
auf das Volksleben und die religiöse Anschauung von beispielloser, epochebildender
Bedeutung blieb.
b. Odyssee. Jn der Odyssee leitet uns der Dichter durch alle Wunder
der Phantasie zur schönen Wirklichkeit. Anknüpfend an den trojanischen Krieg
läßt diese Dichtung den Odysseus durch alle damals bekannten Meere und [285]
Länder irren, bis er zu Penelope heimkehrt. Mit dem großen Blutbade auf
Jthaka endigt das Epos überraschend schnell.
Die Odyssee stellt sich dem Heldenepos der Jliade wie ein Kulturepos
gegenüber. Odysseus, der Repräsentant des griechischen Volkscharakters ist der
Held, der in allen Fährlichkeiten zu Wasser und zu Land durch List, Mut
und Kraft hervorstrahlt. Das Volk, vom Könige bis zum Bettler, wird geschildert;
seine Neigungen, Schwächen und Vorzüge werden gezeigt. Von der
Kalypso und aus ihren göttlichen Armen kehrt Odysseus zur Heimat zurück, ─
ein Muster der Kraft und der echten Gesinnung.
(Zur näheren Kenntnis der klass. Epen der Griechen empfehlen wir die
Übersetzungen von Voß und Jordan. Außerdem ist aber auch das Wesen des
Homerischen Epos in vielen Hilfsschriften behandelt, vgl. z. B. von W. Nitzsch
Sagenpoesie, Geppert Die Homerischen Gesänge, Bergk Griechische Litteraturgeschichte,
Lachmann Vorlesungen, ferner Bonitz', Hennings, Nutzhorns, Jordans
u. a. Arbeiten.)
Proben aus der Voßischen Übersetzung der Jlias wie der Odyssee finden
sich Bd. I S. 156 und 190 &c.
II. Die indischen Nationalepen: Mahâbhârata und Râmâjana.
Die geschichtliche Unterlage des Mahâbhârata (== der große
Bhârata, König von Hastinapura) bildet die Eroberung der Gangesebene,
wie die des späteren Râmâjana die früher fallende Verbreitung
der Arier nach der südlichen Halbinsel.
Jnhalt: a. Mahâbhârata. Dhritarâschtra, der blinde Vater der Kuru,
hatte auf den Thron verzichtet, den nun sein jüngerer Bruder Pandu in Besitz
nahm, weshalb dessen 5 tugendreiche Söhne von den Söhnen Dhritarâschtras
hartnäckig bekriegt werden. Jn den Abenteuern treten die Götter handelnd ein.
Der schlaue Krischna (Jncarnation des Wischnu) verleitet die Pandusöhne, den
Eid zu brechen. Alle arischen Stämme werden in den entbrannten großen
Krieg mit den Kurus verwickelt. Die Kurus sind im Vorteil; aber Krischnas
List, der Ardschunas Wagen lenkt, macht die Pandus zu Siegern. Das Mahâ=
bhârata enthält viele Episoden, welche fast sämtlich dem 3. Abschnitt des
Gedichts eingefügt sind.
Zunächst wird die Erzählung des großen Kriegs durch das berühmte
Gespräch „Bhagavad Gita“ unterbrochen, worin Krischna mit Ardschuna angesichts
der Heere tiefsinnige Fragen der Religionsphilosophie behandelt. (I 597 ff.)
Zur Beruhigung, Tröstung oder um den Ausgang prophetisch anzudeuten,
finden sich weitere Episoden, wie Nal und Damajanti (I 598), Sawitri &c.,
wodurch das Mahâbhârata zu riesigem Umfange anschwoll, so daß es jetzt
18 Bücher mit 100,000 Slokas umfaßt. (I 596.) Diese Episoden haben
den Bau mit dem Riesenepos, dem sie eingefügt sind, gemein. (Vgl. die
Probe I 597, 598, 599.) Sogar die Götter greifen in ihnen ähnlich wie [286]
dort ein. Jn Nal und Damajanti beteiligen sie sich an der Gattenwahl der
Damajanti, und die ganze Fortführung des Epos wird durch die Ränke des
bösen Gottes Kali hervorgerufen; in Sawitri hat Sawitri gegen den Beschluß
der Götter wie gegen den Todesgott Jama zu kämpfen u. s. w.
Probe aus dem Mahâbhârata (Übersetzung von Adolf
Holtzmann).
Die Schlacht der Kuruinge und der Panduinge.
(NB. Der Übersetzer nennt die Pandus und Kurus nach Analogie der Bezeichnung altd. Heldengeschlechter
Panduinge und Kuruinge.)
Jnhalt: b. Râmâjana. Der Gegenstand des 24,000 Slokas umfassenden
Râmâjana, das dem Mahâbhârata in Absicht auf Wortvorrat, Ausdrücke
und Bilder, ja sogar im Versmaß gleicht, indem es den Wandel und
die Heldenthaten Ramas darstellt, ist der Sieg des Helden Râma über Ravana,
den Fürsten der bösen Genien, obwohl derselbe von den guten Göttern das
Versprechen der Unverletzlichkeit erhalten hatte. Râma ist kein göttlicher Held
wie z. B. Achilles bei Homer, sondern die durch Klagen über die Verwüstungen
des Riesenkönigs Ravanna veranlaßte siebente Jncarnation Wischnus. Er ist [289]
der Sohn Dasarathas und sollte als Liebling des Volks Regent werden. Aber
die zweite Frau Dasarathas weiß ihrem Sohn Bharata die Regierung zu verschaffen.
Nun zieht Rama mit seiner Gattin Sitâ in den Wald, wo er 14 Jahre
lang Wunderthaten verrichtet, bis er endlich vom Throne Besitz ergreift.
Probe aus dem Râmâjana. (Aus dem 1. Buch, nach der Übersetzung
Fr. Rückerts.)
(Vgl. auch die Probe I 598.)
III. Die deutschen Volksepen.
a. Nibelungenepos. Das von einem nordischen Volksstamme, den
Nibelungen, herrührende, durchaus objektiv gehaltene sog. Nibelungenlied stammt
aus der Blütezeit der deutschen Litteratur im 12. und 13. Jahrhundert.
Um jene Zeit blühte auch das höfische Epos, das wir unter Kunstepos
behandeln. Es sind vom Nibelungenepos drei von den Gelehrten mit A, B
und C bezeichnete Handschriften erhalten, die aus dem letzten Decennium des
12. Jahrhunderts stammen mögen.
Für den Jnhalt des Nibelungenepos s. Bd. I S. 44. Die einzelnen
Teile, aus denen es entstand, sind: 1. Siegfriedsage und Sage von Gunther,
2. Dietrichsage und Sage von Etzel, 3. Nibelungenklage aus dem Anfange
des 13. Jahrhunderts.
Hauptcharaktere sind: Siegfried, ein unvergleichlicher Held, arglos, liebreich,
vertrauensvoll; Hagen, furchtlos, treu gegen seine Gebieterin; Kriemhilde,
voll Liebe und Verehrung gegen ihren Gatten, rachedurstig, grausam;
Brunhilde, gewaltig, stark, ehrgeizig, voll Haß; Dietrich, gerecht, ohne Tadel.
Jn dem ganzen Nibelungen-Epos tritt das echt deutsche Element in seiner
Ursprünglichkeit hervor, unbeeinflußt vom Christentum und von der Bildung
der Ritterzeit. (Wagner hat es mit Recht als Unterlage für seine charakteristisch
deutsche Musik bearbeitet.)
Die Germanen waren so genial, ihre epischen Volksdichtungen zur Epopöe
zu gestalten, zu einem künstlerischen Epos, das vieles zum Teil aus Urzeiten
herüberklingende, zum Teil seit Jahrhunderten Gesungene in einen Guß
brachte und Sage wie Mythus zusammenfließen ließ (z. B. Siegfried ist wahrscheinlich
Baldur, Hagen von Tronje == Hödur, Dietrich von Bern == Odin &c.).
Mythus und Göttersage zerflossen vor dem Einfluß des Christentums. Während
Homer weit schönere Götterideale bilden durfte, mußte der Verfasser des Nibelungenlieds
heidnische und christliche Anschauungen versöhnen, mußte er wesentliche,
heidnische Bestandteile umwandeln oder weglassen. Trotz ihrer Schönheiten
bleiben die Nibelungen spröder als die Jlias. Hagen von Tronje steht
an Kühnheit und Gewalt keiner dichterischen Erscheinung nach, wohl aber Siegfried
dem Achilles.
Die Architektur des Epos ist mustergültig. Durch das Ganze zieht sich
die Schuld hindurch; diese drängt bis zum Morde Siegfrieds, aus dem neue
Schuld erwächst bis zum tragischen Ende, aus welchem nur Etzel, Hildebrand
und Dietrich übrig blieben.
Abgesehen von dem höfischen Beigeschmack, dem der Dichter sich nicht
ganz entziehen konnte, ist das Gedicht ein bleibendes Muster der Poesie,
namentlich was Gestaltung und Darstellung betrifft.
Als Sprachprobe aus dem durch Schulausgaben allbekannten Nibelungenlied
vgl. Bd. I S. 603.
b. Gudrunepos. Dem ernsten Nibelungen-Epos steht das weniger
vollendete heitere Heldengedicht Gudrun gegenüber, das an der Nordsee spielt,
und bei dem nicht das Edelweibliche durch Unglück in Rachedurst und Grausamkeit
umschlägt, vielmehr sich in echt weiblicher Weise durch gewaltiges Ertragen
des Geschickes bewährt. Es ist entstanden aus den Sagen: 1. von Siegeband
und Hagen, 2. von Hildes Entführung, 3. Gudruns Entführung und
Befreiung. Jnhalt: s. Bd. I S. 44.
Als Sprachprobe aus dem bekannten Gudrunepos vgl. Bd. I, S. 608.
c. Weitere deutsche Volksepen. Jn Bd. I § 18, S. 44 sind
unter Nr. 3─9 noch mehrere kleine Volksepen erwähnt, sowie Bd. I S. 43
das Bruchstück „Hildebrand“, welches zweifellos den Hauptteil eines gewaltigen
deutschen Volksepos bildete, dessen übrige Teile man bis heute nicht auffand.
Wie es bei den Griechen kein Dichter verstand, die bedeutungsvollen
Helden des Argonautenzugs durch einen Odysseus überragen zu lassen, so vermochte
auch bei den Deutschen noch keine dichterische Fähigkeit Hildebrand zum
großen Volksepos abzurunden. Beide gewaltige Stoffe blieben ─ so zu sagen ─
episch stecken.
Die Brüder Grimm haben zuerst das aus 61 Verszeilen bestehende
Bruchstück des Liedes von Hildebrand und Hadubrand in seinem urkundlichen [291]
Text, sowie mit wiederhergestelltem Text und Übersetzung, zugleich aber
auch mit jenem Volkslied herausgegeben, das nicht wie das obige Bruchstück
mitten in der Erzählung des Kampfes abbricht, sondern auch noch die
Erkennung, die rührende Sohnesliebe und die Heimkehr zur Mutter Ute besingt.
(Vgl. die Bearbeitung im kleinen Heldenbuch von Simrock 1844. S. 305 ff. &c.)
Als Sprachprobe aus dem Hildebrandliede vgl. Bd. I S. 402.
IV. Die Volksepen der Finnen, Esten und Lappen.
Durch Entstehung der Volksepen der Finnen, Esten und Lappen
in der neuesten Zeit ist der Beweis geliefert, daß noch heutigen Tags
die epischen Volkslieder durch geschickte Hand zu Volksepen vereinigt
werden können.
Das Epos
Kalewâla, das in der ersten Ausgabe (1835) 32 Gedichte mit
12,000 Versen enthielt, während die 2. Ausgabe (1849) 50 Runen
mit 22,796 Versen umfaßt, wurde durch Anton Schiefner 1852 in's
Deutsche übertragen. Es ist aus dem Munde von Greisen hervorgegangen
und nimmt als Nationalepos einen hervorragenden Rang ein.
Jnhalt: Jlmatar, die Tochter der Luft, gebiert nach 700jährigen Wehen
den Wäinämöinen, der sich bald durch Weisheit und Sangeskunst auszeichnet.
Der neidische Lappenjüngling Joukahainen bekämpft ihn, wird aber besiegt und
löst sich nur durch das Versprechen der Hand seiner Schwester Aino. Diese
stürzt sich in die Fluten, und wird in einen Fisch verwandelt. Der Gott der
Träume ist dem Wäinämöinen behilflich, daß er den Fisch erhascht. Dieser
entschlüpft und verhöhnt Wäinämöinen. Da erscheint ihm der Geist seiner
Mutter und fordert ihn auf, nach Pohjola (Nordland) zu gehen, wo es viel
schönere und weniger spröde Mädchen gebe. Aber Joukahainen lauert ihm mit
dem Bogen auf; der Pfeil trifft das Roß, und Wäinämöinen fällt ins Meer.
Ein Adler hilft ihm heraus. Jn Pohjola wird er von der Herrin von Pohjola,
der Mutter der schönen Maid, freundlich aufgenommen und von seinen Wunden
geheilt. Sie will ihn erst dann wieder entlassen, wenn er ihr den Sampo
(d. i. eine Mehl=, Salz- und Gold=mahlende Mühle) schmiede, wofür sie ihm
die Hand ihrer Tochter verspricht. Wäinämöinen bittet, den Jlmarinen senden
zu dürfen, den berühmten Meister der Schmiedekunst, der auch die Hand der
Tochter erwerben möge. Die Königin willigt ein. Auf dem Heimwege sieht
Wäinämöinen die schöne Maid selbst und entbrennt in Liebe zu ihr. Jlmarinen
baut den Sampo, wird aber vorerst von der Jungfrau verschmäht.
Noch ein Dritter wirbt um sie: Ahti Lemminkainen, ─ der seine schöne
Frau wegen Beteiligung an einem Tanze verstoßen hat. ─ Eben will dieser
die letzte der gestellten Aufgaben lösen, als ihn ein Hirte tötet. Seine Mutter
findet seinen zerstückten Leichnam mit Hilfe der Sonne; sie holt die Stücke mit
einer von Jlmarinen gefertigten Hacke aus dem Wasser, verbindet sie und
belebt die Leiche mit himmlischem Balsam. Jnzwischen nehmen Wäinämöinen [292]
und Jlmarinen die Werbung um die schöne Maid wieder auf. Wäinämöinen
sucht einen Riesen auf, um von diesem die zur Vollendung eines Schiffes nötige
Zauberformel zu holen, fällt aber in den Mund des schlafenden Riesen. Als
er die Formel erfahren, verläßt er den Leib des Riesen und verabredet mit
Jlmarinen, daß die Maid selbst zwischen ihnen entscheiden solle. Diese wählt
nunmehr den jüngeren Jlmarinen, der ihre drei Aufgaben gelöst hat. Nun
Hochzeit, Heimführung, Empfang in der Heimat Jlmarinens, was sitten= und
kulturgeschichtlich wertvoll ist.
Ahti Lemminkainen ist erzürnt, daß er nicht zur Hochzeit geladen wurde,
weshalb er den Herrn Nordlands tötet und nun auf eine Jnsel entfliehen muß.
Eine Episode handelt von Untamo, der seinen Bruder Kalerwo überfällt
und dessen Gemahlin in Gefangenschaft schleppt, wo diese den Sohn Kullerwo
bekommt, der, dem Schmied Jlmarinen übergeben, dessen Herde hüten muß.
Die Frau giebt diesem zur Zehrung einen in Brot gebackenen Stein. Da
führt er die Herde in Sümpfe, treibt Bären und Löwen zusammen, die Jlmarinens
Gattin zerreißen.
Jlmarinen formt sich nach dem Tode seiner löwenzerrissenen Gattin eine
Gattin aus Gold und Silber; aber ─ weniger glücklich als Pygmalion ─
vermag er ihr kein Leben einzuflößen. Er beschließt mit Wäinämöinen und
Ahti Lemminkainen nach Nordland zu reisen und den Sampo zu rauben,
durch den das Nordland zu Wohlstand gelangt war (also eine Art Argonautenzug).
Unterwegs töten sie einen Hecht, aus dessen Knochen Wäinömöinen eine
Kantele fertigt, auf der er so schön spielt, daß die Herrin Pohjolas und ihre
Krieger in Schlaf versinken. Nun entführt er mit den Seinen den Sampo.
Die Herrin verfolgt ihn; die Kalewahelden müssen kämpfen. Sie siegen. Aber
die Kantele geht dabei zu Grunde; ebenso der Sampo, der in's Meer fällt
und in Stücke bricht, den Reichtum des Meeres und des angrenzenden Kalewa=
Landes (Finnland) begründend, wohin einzelne Stücke getrieben werden.
Neidisch über das Aufblühen Finnlands sendet Pohjolas Herrin Seuchen
dahin, sowie einen Bären, den Wäinämöinen tötet. Nun spielt er wieder auf
einer neu gefertigten Kantele. Mond und Sonne steigen herab, um zu lauschen,
kommen aber dabei in die Gewalt der Herrin des Nordlands, die sie in einen
ehernen Berg sperrt, so daß Finsternis Kalewa umschließt. Wäinämöinen
kommt mit Jlmarinen angezogen, welch letzterer die Werkzeuge zur Sprengung
des ehernen Bergs schmieden soll. Als Pohjolas Herrin dies erfährt, läßt
sie Sonne und Mond frei. Wäinämöinen verläßt bald darauf für immer sein
Land. Er segelt auf kupfernem Boote an den Rand des Horizonts, wo sich
Himmel und Erde berühren. Dort weilt er noch.
Die Kantele und seinen Gesang hat er dem finnischen Volke zurückgelassen.
Freiherr von Tettau-Erfurt, der in seiner Schrift über das Epos Kalewâla
dieses Epos in wissenschaftlicher Weise eingehend betrachtet, nennt es mit Recht
ein großes Verdienst des Schöpfers Lönnrot, die Kalewâla, dieses charakteristischste,
wertvollste Denkmal der Volkslitteratur aller Zeiten vom Untergange gerettet [293]
zu haben. Aber er ist der Ansicht, daß z. B. die neu hinzugekommenen
10,000 Verse der 2. Ausgabe nicht ebensoviel Verbesserungen seien, und daß
Lönnrot überhaupt nur dasjenige hätte aufnehmen sollen, was den Sampo
betreffe, wodurch dem Epos seine geschlossene Einheit gesichert geblieben wäre.
Für deren Mangel macht er Lönnrot verantwortlich, der die Erzählung von
den Sampokämpfen, die Abenteuer Ahti Lemminkainens und die tragischen
Schicksale Kullerwos als 3 große Stränge neben einander unverbunden herlaufen
lasse und dadurch die Einheit preisgegeben habe.
Jedenfalls ist es berechtigt, die Kalewâla auch als Schilderung jener
Kämpfe bedeutungsvoll zu nennen, welche bei Verdrängung der letzten Reste
der Urbevölkerung Finnlands durch die aus dem Süden eingewanderten tschudischen
Volksstämme sich ereigneten.
Probe aus Kalewâla. (Übers. von A. Schiefner.)
Sechste Rune.
[294]
u. s. w.
Die Sagen
der Esten wurden auf Veranlassung der gelehrten Estnischen Gesellschaft
zu Dorpat aus Volksmunde gesammelt und von Dr. Kreuzwald in [295]
Verse gebracht, wobei die mitgesammelten lyrischen Gedichte und Sprüche
einfach eingereiht wurden. So ist das Ganze in's trochäische Metrum
gebrachte Prosa, und dürfte in gleicher Linie mit den Reim-Chroniken
des Mittelalters stehen. Jn demselben Metrum wie die Kalewâla
hat Kreuzwald das Ganze in 19,000 trochäischen Versen gegeben,
während er (nach von Tettau) besser gethan haben würde, die Sagen
zu erzählen, wie sie aus dem Munde des Volkes kamen, und die Lyriken
besonders zu geben. Jn der Ursprache erschien das Kalewipoeg (unter
Beifügung einer deutschen Übersetzung von Reinthal und Dr. Bertram)
zu Dorpat 1857─61.
Jnhalt: Der Held ─ Kalewipoeg ─ schwimmt ohne Ermüdung über
den finnischen Busen. Er will den Fingerring einer Jungfrau aus dem Brunnen
holen, bringt aber einen Mühlstein heraus. Mit einem Felsblocke wirft er nach
einem Wolf; seine Finger hinterlassen Spuren, daß ein Mann darin stehen kann.
Wiederholter Besuch in der Unterwelt und Reise zur Aufsuchung des
Endes der Welt u. s. w. Der Held geht unter durch sein eigenes Schwert,
trotz aller Heldenthaten und Verdienste, weil er in seiner Jugend im Rausch
einen Schuldlosen tötete. Jhm ist nun die Bewachung der Pforte der Unterwelt
anvertraut, und seine Schätze warten ─ wie der Nibelungenhort ─ dessen,
der sie heben wird &c.
Das Kalewipoeg ist wertvoll durch seine ethische Tendenz, als Beispiel,
daß kein Frevel unbestraft bleibt, wenn es auch als eigentliches Volksepos
geringeren Wert haben dürfte.
Probe aus dem Kalewipoeg. (Übers. von Kreuzwald.)
(Aus dem 1. Gesang S. 15.)
Schluß des Kalewipoeg. (S. 522.)
Noch freier als Kreuzwald
im Kalewipoeg ist Dr. Bertram in Bearbeitung der vom Pastor
Fjelder in Lappmarken 1850 aus Volksmund aufgezeichneten Sagen
der Lappen zu einem einheitlichen Volks-Epos verfahren, das den
Titel führt: Peivash Parnéh, die Sonnensöhne. (55 Seiten.)
Er bringt Sachen, von denen das Original absolut nichts bietet, wenn
er sich auch dem Ton desselben durch Verschmelzung von Allitteration, Assonanz [298]
und Reim anzuschließen strebt. Seine Arbeit ist als litterarische Erscheinung
immerhin von Wert, was auch der Ausspruch eines Kritikers beweist: „Es weht
uns aus diesem Gedichte die frische Harzluft der nordischen Wälder entgegen.
Es ist als hörten wir die frischen Wasser des inselreichen Enarasees unter den
Schatten ihrer düsteren Ufertannen rauschen, wie märchenhafte Stimmen der Edda.“
Bertram nennt seine Übersetzung deutsche Variationen über ein lappländisches
Thema. Sie erschien Helsingfors 1872.
Jnhalt: Der Sonnensohn Peiwar hört von der unvergleichlich schönen
Riesenjungfrau Kalla und segelt in seinem Goldschiff zu ihr. Er findet sie
am Strande und gewinnt ihre Liebe. Sie führt ihn zum blinden Riesenvater,
der zur Probe der Stärke Peiwars dessen gekrümmten Finger biegen will. Die
schlaue Kalla befestigt den Schiffsanker am Felsen, dem Vater vorspiegelnd,
dies sei der Finger. Als trotz riesenhafter Anstrengung dieser Finger nicht zu
biegen war, vermählte er die (mehrfach an die kolchische Medea erinnernde) Tochter
Kalla mit Peiwar. Dann trinkt er vom mitgebrachten Met soviel, daß er in
trunkener Lustigkeit singt:
Der nun scheidenden Kalla giebt er all' sein Gold, dazu die dreifach
geknotete Wunderschnur, welche nach Lösung der Knoten heftigen Wind zu erzeugen
vermag. Als Kallas Riesenbrüder heimkehrend das Geschehene erfahren,
beschließen sie, die Betrüger zu verfolgen. Der Vater will die Söhne zurückrufen,
wobei er vom Felsen stürzt und ertrinkt. Kalla gewahrt kaum das Boot
der racheschnaubenden Brüder, als sie den ersten Knoten der Wunderschnur
löst. Der Wind erhebt sich. Die Riesen verdoppeln ihre Kraft. Kalla löst
den zweiten Knoten, und zum Platzen prall werden die Segel. Die Riesen
rudern mit rasender Kraft, blutigen Schaum um den Mund. Da löst Kalla
den 3. Knoten. Entsetzlicher Sturm beginnt zu rasen, das Goldschiff bis auf
den Grund schleudernd, als Kalla die Truhe öffnet und Gold und Gabe
opfert. Hell wird's im Osten. Die Verfolger erklettern den Lofodenfelsen, um
nach dem Goldschiff zu spähen. Da steigt der Sonnengott siegreich empor und
zeigt ihnen das Goldschiff. Als sie dem Sonnensohn fluchen und dem Schiff
nachzueilen versuchen, verwandelt sie der zürnende Gott in Stein.
Peiwar wird mit seiner blühenden Gattin in seinem Reiche jubelnd
begrüßt. Seine 3 Sonnensöhne erweisen sich an Wuchs und Weisheit als
Riesen mit festem Blick, wie es Sonnensöhnen geziemt.
Proben aus dem Peivash Parnéh, die Sonnensöhne. (Übers.
von Dr. Bertram.)
Erster Gesang. S. 3.
Zweiter Gesang. S. 8.
S. 11.
Dritter Gesang. S. 15.
S. 33.
Schluß S. 42.
§ 115. Gemeinsame Ausgangspunkte oder Vergleichsmomente
sämtlicher Volksepen.
Genaue Kenntnis der Volksepen ermöglicht deren prüfende Betrachtung
hinsichtlich ihrer Verwandtschaft oder Ähnlichkeit. Diese ergiebt
sich hauptsächlich aus folgenden, in die Augen springenden, einer
skizzenhaften Andeutung nicht unwerten Momenten.
1. Die Helden sind mehr oder weniger mit göttlichen Attributen
ausgerüstet.
2. Die weiblichen glänzenden Charaktere spielen eine große Rolle
und tragen wesentlich zur Herbeiführung der Katastrophe bei.
3. Die Volksepen gleichen sich in Anlage und Ausführung.
4. Die Volksepen tragen der religiösen Anschauung des Volks
und ihrer Zeit Rechnung.
5. Die Volksepen gleichen sich hinsichtlich ihrer Mythologie.
1. (Die Helden sind mit göttlichen Attributen ausgerüstet.)
Die ihr Schicksal selbst entscheidenden Helden der Volksepen vertreten meist die
Stelle der Götter; sie sind Halbgötter, oder (wie Râma) Gottmenschen, die
gegen die unbestimmten Mächte ankämpfen und unmöglich Scheinendes leisten.
Jm Mahâbhârata ist es der junge Held Korna (in der Episode Nal
und Damajanti Nal, in Hidimba Bhima, in Sawitri Satiawan), im
Râmâjana Râma, im Homerschen Epos Achilles, bei den Nibelungen Siegfried,
im Kalewâla Wäinämöinen &c., die alle von wunderbarer Kraft und
Kühnheit sind. Korna erhält vom Sonnengott einen undurchdringlichen Panzer,
Achilles wird durch Eintauchen in den Styx bis auf die Ferse, Siegfried durch
das Blut des Drachen Fafnir bis auf eine Stelle zwischen den Schultern unverwundbar;
Nal kann den Flammen trotzen u. s. w. Achilles zeichnet sich durch
heroische Tapferkeit vor den Sterblichen aus, Odysseus durch geistige Fähigkeiten,
Siegfried durch Heldenhaftigkeit und Gemüt, Wäinämöinen durch himmlisches
Spiel &c.
Nur durch eigene Schuld konnten solche göttliche Helden der Volksepen
ihren Untergang einleiten: Achilles durch Verbindung mit Polyxena, Siegfried
mit Kriemhilde und den Nibelungen &c.
2. (Weibliche Charaktere von großem Glanze spielen in den
Volksepen eine große Rolle.)
Jn der Odyssee sichert Penelope demjenigen ihre Hand zu, der den
Bogen ihres Gemahls zu spannen und ein gewisses Ziel zu treffen vermöge.
Ähnlich handelt Draupadi im Mahâbhârata, die zur Bedingung die Handhabung
des Bogens ihres Vaters macht.
Jn den Episoden des Mahâbhârata sind es Damajanti, Hidimba, Sawitri,
welche die Konflikte herbeiführen. Jm Râmâjana ist es Sita, die,
vom Riesenkönig Ravana nach Ceylon entführt, von Râma zurückerobert wird.
Jn der Jlias ist es Helena, welche den Zug veranlaßt. Jm Kalewâla=Epos
ist es die Tochter der Pohjola-Herrin, welche die Helden herbeizieht. Jm Kalewipoeg
ist es eine Jungfrau, durch deren Fingerring sich der Held zur Handlung
bestimmen läßt. u. s. w.
3. (Die Volksepen gleichen sich in Anlage und Ausführung.)
Wenn auch das Homersche Epos in vieler Beziehung unerreicht dastehen dürfte,
so gleichen ihm doch die übrigen Volksepen durch ihre wunderbare Schönheit
der Darstellung, durch ihren Reichtum des Farbenwechsels, durch ihre mit dem
Großartigen verbundene Anmut, durch die Kühnheit der Charakterzeichnung,
durch ihre eigenartige Ausführung.
4. (Die Dichter der Volksepen tragen mehr oder weniger den
religiösen Anschauungen ihrer Zeit Rechnung.) Der Grieche und der
Jnder glaubten an den Verkehr mit den Göttern so fest, wie viele Leute in [302]
neuer Zeit noch ans Erscheinen der heiligen Jungfrau glauben, oder wie das
alte Testament den Glauben an den Verkehr Gottes und der Engel mit den
Menschen voraussetzt. Man fand es begreiflich, daß im Mahâbhârata, wie bei
Homer und in der Kalewâla, die Götter eingriffen und das außerhalb menschlicher
Kraft Liegende helfend besorgten.
5. (Verwandtschaft der Mythologie.) Die Mythologie der
Völker entspricht sich in vielen Stücken. Besonders ist dies bei der griechischen
und indischen in bezug auf innern Reichtum der Fall. Die ältere indische
Mythologie ist so üppig und prachtvoll als die griechische; die Wohnung des
Jndra ist sogar noch glänzender und reicher, als die des Zeus, wenn man
auch bei den indischen Göttern nicht jene Jdeale menschlicher Form suchen darf,
welche die griechische Mythologie bietet. Jch habe in meiner Arja (S. 494)
eine Vergleichung der altindischen Götter mit den griechischen herzustellen gesucht
und die Musen des Helikon mit denen des Berges Meru zusammengehalten.
Es muß den Laien in Erstaunen setzen, daß Venus wie Lackschmi aus dem
Schaume des Meeres hervorgingen, ja, daß diese beide Göttinnen, wie auch
Zeus und Jndra, Apollo und Krischna, Bacchus und Soma, Amor und
Kama &c. unendlich viel miteinander gemein haben u. s. w.
§ 116. Die Kunstepen.
1. Das Kunstepos ist nicht (wie das Volksepos) die That und
der naturgemäße, unmittelbare Ausdruck des dichterischen Volksbewußtseins,
sondern das nach einem bestimmten Plan ausgeführte, absichtsvolle
Werk eines einzelnen Dichters, das Produkt seiner Bildung, seiner
Subjektivität, seiner Phantasie
2. Das alte Kunstepos ist meist nur Bearbeitungs- oder Nachahmungs=Epos.
Der Dichter mußte auch hier seinen Stoff künstlerisch
durchdringen; er mußte Wesen und Erscheinung vereinen und die Anschauungsweise
seines Stoffes unverletzt bewahren.
3. Schiller definiert den Begriff des modernen Kunstepos nach dem
Muster der Jliade.
4. Nur wenige Kunstepen der Neuzeit entsprechen den Schillerschen
Anschauungen.
1. Die erste Blüte des Kunstepos fällt in die Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts,
also in dieselbe Zeit, in welcher unsere deutschen Nationalepen zur
Bedeutung gelangten. Da das älteste deutsche Kunstepos von den höfischen
Dichtern herrührt, so nannte man es nach diesen Verfassern das höfische
Epos. Jm Gegensatz zum romantischen Epos des 19. Jahrhunderts kann
man es wohl auch als das altromantische Epos bezeichnen. Der Stoff
desselben war nicht mehr der altdeutschen Heldensage entnommen, sondern er
war meistenteils dem romanischen Sagenkreise (Karls des Großen, ferner der
Gral- und der Artussage) entlehnt.
Das Kunstepos strebte nach künstlicherem Ausdruck und liebte an Stelle
der schönen Nibelungenstrophe kurze Reimpaare. Da ihm nach Jnhalt und
Form von vornherein die nationale Bedeutung des älteren objektiven Volksepos
der früheren Zeit mit seinem naiven Glauben an die Macht der
Götter mangelte, so stellte man es dem Volksepos als das künstlerische Epos
(Kunstepos) gegenüber. Diese Gegenüberstellung darf jedoch nicht etwa auf
den Gedanken bringen, daß das Kunstepos sich dem Werte nach zum Volksepos
verhalte, wie etwa Kunstpoesie zur Volkspoesie. Vielmehr überragt z. B.
das Nibelungenepos die sämtlichen altromantischen Kunstepen im verständnisvollen
vorbildlichen Aufbau.
2. Das Kunstepos als Bearbeitungs- oder Nachahmungs-Epos wurde
sofort fehlerhaft, wo der Dichter lediglich nachahmte, ohne seinen Stoff künstlerisch
so zu durchdringen, daß Wesen und Erscheinung sich deckten und die Anschauungsweise
des Stoffes unverletzt blieb. Vergil in seiner dem klassischen
Epos nachgeahmten Äneide fehlte, weil er eine Sage aus der heroischen Zeit
nahm und ihr eine der Anschauungsweise des Stoffes fremdartige kaiserlichrömische
Ausführung gab. Römisch moderne Figuren paßten eben nicht für
diesen Stoff. Die bewunderte Scene von Nisus und Euryalus, mit der
nächtlichen Spähe des Odysseus und Diomedes Homers verglichen, zeigt daher
eine falsche Nachahmung.
Klopstock mit seinen Schutzengeln hat ebenso gefehlt, als diejenigen, welche
nach Homers Vorgang die Leitung der Götter als zum Wesen des Kunstepos
gehörig betrachten wollten. Das Kunstepos der Neuzeit verlangt eine unseren
Anschauungen entsprechende Maschinerie.
Hätten Dichter wie Hartmann von der Aue, Gottfried von Straßburg,
Wolfram von Eschenbach weniger das Fremde nachgeahmt, so würden ihre
Kunstepen volkstümlicher geworden sein. So entstand nur das immerhin ansprechende
höfische Epos mit seinen paarweise vereinten Versen von 4 Hebungen;
es übersetzte fremde Stoffe, wobei durch die damalige Pflege des Minnesangs
meist die Minne das treibende Agens des Kunstepos wurde, oder in der Luft
schwebende lyrische Tiraden den reinen epischen Stil durchsetzten und die Verbindung
mit dem objektiven Volksepos erschwerten.
3. Schiller hatte die Absicht, für unsere Zeit ein großes Epos zu schaffen,
das, aus dem Geist dieser Zeit herausgeschrieben, diesen für alle Zukunft ebenso
wiederspiegelte, wie die Jlias und Odyssee den Geist ihrer Zeit, das also
ein modern künstlerisches Volksepos zu sein imstande wäre.
Schiller trug sich mit dem Gedanken, zum Helden eines solchen Epos Friedrich
den Großen zu nehmen, nur ─ meinte er ─ komme ihm die Jdee für sechs
bis acht Jahre zu früh. Sein Ausspruch ist bezeichnend für den Begriff des
modernen historischen Kunstepos. Er sagt: „Alle Schwierigkeiten, die von der
Modernität dieses Sujets entstehen, und die anscheinende Unverträglichkeit des
epischen Tons mit einem gleichzeitigen Gegenstande würden mich so sehr nicht
schrecken. Ein episches Gedicht im 18. Jahrhundert muß ein ganz anderes
Ding sein, als eines in der Kindheit der Welt. Und eben das ist's, was [304]
mich an dieser Jdee so anzieht. Unsere Sitten, der feinste Duft unserer Philosophien,
unsere Verfassungen, Häuslichkeit, Künste, kurz alles muß auf eine
ungezwungne Art darin niedergelegt werden und in einer schönen harmonischen
Freiheit leben, sowie in der Jliade alle Zweige der griechischen
Kultur u. s. w. anschaulich leben. Jch bin auch gar nicht abgeneigt, mir
eine Maschinerie dazu zu erfinden, denn ich möchte auch alle Forderungen, die
man an den epischen Dichter von Seiten der Form macht, haarscharf erfüllen.
Diese Maschinerie aber, die bei einem so modernen Stoff, in einem so prosaischen
Zeitalter die größte Schwierigkeit zu haben scheint, kann das Jnteresse
in einem hohen Grade erhöhen, wenn sie eben diesem modernen Geiste angepaßt
wird. Es rollen allerlei Jdeen darüber in meinem Kopfe trüb durcheinander,
aber es wird sich noch etwas helles daraus bilden.
Welches Metrum ich dazu wählen würde? Kein anderes, als ottave
rime. (Vgl. I S. 551.) Auch über die Epoche aus Friedrichs Leben, die
ich wählen würde, habe ich nachgedacht. Jch hätte gerne eine unglückliche Situation,
welche seinen Geist unendlich poetischer entwickeln läßt. Die Haupthandlung
müßte womöglich sehr einfach und wenig verwickelt sein, daß das
Ganze immer leicht zu übersehen bliebe, wenn auch die Episoden noch so reichhaltig
wären. Jch würde darum immer sein ganzes Leben und sein Jahrhundert
darin anschauen lassen. Es giebt hier kein besseres Muster als die
Jliade“ u. s. w.
4. Seit Begründung des höfischen Kunstepos entstanden nur wenig Kunstepen,
welche der Anforderung Schillers genügen. Jch nenne besonders Jordans
Nibelungen, ferner in gewissem Sinne Das Mädchen von Capri von J. Grosse,
Die Braut von Cypern von Paul Heyse, Die Völkerwanderung von H. Lingg,
Ahasver von Hamerling &c.
§ 117. Charakteristische Gruppen oder Arten des Kunstepos.
Wir führen nachstehend die sämtlichen Kunstepen bis in die Gegenwart
je nach den in ihnen vorherrschenden Elementen vor. Als charakteristische
Gruppen oder Gattungen des Kunstepos treten hervor:
1. das altromantische oder höfische Epos, 2. das neuromantische, 3. das
religiöse, 4. das idyllische, 5. das historische, 6. das komische und das
humoristische Epos, 7. das Tierepos.
§ 118. Altromantisches oder höfisches Epos.
1. Das altromantische oder höfische Epos ist das Vorbild des
neuromantischen. (§ 120 d. Bds.) Es wurde auf Ritterburgen und
an den Höfen kunstliebender Fürsten gepflegt.
2. Sein Stoff war den 3 Sagenkreisen von Karl dem Großen,
von Artus und vom h. Gral entlehnt (I S. 45). Daher war es [305]
auch vom Geist der Romantik erfüllt; daher blieb es bis in die Gegenwart
beliebt.
3. Seine Maschinerie unterschied sich von der im Volksepos dadurch,
daß mythische Mächte die Rolle der Götter vertreten.
4. Die Bezeichnung höfisches Epos (hövesch oder hovelich) sollte
einen Gegensatz zum dörflichen (dörpeclichen) Volksgesang ergeben.
Häufiger nannte man diese Epen im Gegensatz zu unseren Mären die
Aventüren und ihren Helden der aventure herre. Später ging man
weiter und bezeichnete auch die einzelnen Abschnitte eines altromantischen
Epos als Aventiuren; sogar die Quellen, aus welchen der Dichter
schöpfte, belegte man mit diesem Namen.
5. Vielfach wurde die Aventura personificiert.
1. Das höfische oder altromantische Epos hat mit dem neuromantischen
gemein, daß bei ihm ─ wie bei diesem ─ das Wunderbare, Feenartige,
Romantische vorherrscht (vgl. S. 6 d. Bds., sowie I. S. 58. 88), daß es
seinen Stoff aus der Rittergeschichte des Mittelalters, aus der sog. romantischen
Zeit nimmt, Abenteuerliches erzählt &c.
2. Kühne Begeisterung für romantisch ritterliche Thaten, schwärmerische
Liebe zu Gott, Christus und der Jungfrau Maria, also positiv christlicher
Hintergrund, ─ ferner warme Liebe zum Übersinnlichen, die das Romantische
in's Reich der Sinne zog, endlich innig sinnige Schwärmerei für das sinnlich
Schöne, für die Dame des Herzens: dies war Jnhalt, Grundzug und Geist
der altromantischen Epen.
Wie der heranwachsende Knabe das Ammenmärchen nicht mehr für bare
Münze hinnimmt, sich aber trotzdem an demselben labt, so erfreut man sich
auch heute noch an den Wundergebilden der Romantik und des Aberglaubens,
ohne sie für Thatsachen hinzunehmen. Das dem Gefühl sich überlassende,
den Verstand aber fliehende Zauberhafte hüllt sich gern in ein magisches Dunkel
und versetzt sich daher in möglichst fremde Gebiete. Jn die romantischen Epen
ragt daher das Morgenland hinein.
3. Die Maschinerie, welche beim Heldenepos durch die mitwirkenden Götter
der Heldenzeit gebildet wird, vertreten im romantischen Epos Engel und Teufel,
Zauberer, Feen, Elfen, Riesen und Zwerge u. s. w.
4. Man nennt altromantische Epen auch solche, welche ihrem Wesen und
Stoffe nach von den Jtalienern, Portugiesen und Franzosen (d. h. von den
romanischen Völkern) herrühren.
Die Bezeichnung Aventüre (ital. avventura, prov. aventura, franz.
aventure, mittelh. âventiure, mittellat. a-d-ventura == Ereignis, Bericht,
Geschichte, Gedicht) ist herzuleiten vom mittellat. advenire == klass. evenire
sich zutragen (vgl. das franz. Sprichwort: fais ce que tu dois, advienne
que pourra), daher Aventura == das Geschick, das sich Ereignende.
5. Jm Provençalischen galt die Aventura als Göttin (glücksgöttin, Fortuna).
Auch der mittelh. Dichter personificierte die Aventiure. Die Frau Aventiure, die
bei Hans Sachs Abenteuer bedeutet, wird zur schönen Jungfrau, welche einen [306]
Stab und einen unsichtbar machenden Ring trägt und durch die Welt reist,
deren Lauf zu erforschen. Bei jedem Dichter klopft sie Einlaß erbittend an,
sie unterhält sich mit ihm, bescheidet ihn, prüft und erleuchtet seine Begebenheiten
und wird so des Dichters Muse. (Vgl. J. Grimm, Frau Aventiure,
Kl. Schriften 1. 84.)
§ 119. Vorführung der altromantischen Epen.
Folgende Kunstepen werden als die höfischen oder altromantischen
bezeichnet: I. Parzival, von Wolfram von Eschenbach; II. Tristan und
Jsolde, von Gottfried von Straßburg; III. Jwein, von Hartmann von
Aue; IV. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad (aus dem Französischen
übersetzt); dazu kommt V. Der rasende Roland (Orlando furioso),
von Ariosto aus dem Jtalienischen übersetzt.
I. Parzival.
Diese großartige Dichtung des tiefsinnigsten, bedeutendsten
Dichters des Mittelalters Wolfram von Eschenbach, der
um 1200 in der Glanzperiode der Hohenstaufen auf der Wartburg
am Hofe Hermanns von Thüringen lebte, ist unstreitig sein Hauptwerk,
ja, das schönste romantische Epos, das wie kein anderes in eine ideale
Gemütswelt versetzt.
Jnhalt: Gahmuret, ein Abenteurer aus dem königlichen Geschlechte
Anschau (Anjou), will nicht Jngesinde seines erstgeborenen Bruders sein; er
wandert von Land zu Land, wird nach dem belagerten Patelamnut verschlagen,
das er entsetzt, worauf er die Mohrenkönigin Belakane heiratet. Er verläßt
sie unter Zurücklassung eines Geschlechtsregisters für den später geborenen,
gefleckten Sohn Feirefiß und gewinnt durch ein Turnier als Preis Titurels
Enkelin Herzeleide, die jungfräuliche Witwe. Bald fällt er in der Schlacht, und
Herzeleide erzieht ihren Sohn Parzival in der Wald-Einsamkeit. Als Parzival
erwachsen ist, beschließt er, auf Abenteuer auszuziehen, um Gott zu dienen und
den schwarzen Höllenwirt zu bekämpfen. Die Mutter legt ihm ein Narrengewand
an, um ihn lächerlich zu machen, und ihn so zurückzuhalten. Sie
sinkt tot zu Boden, nachdem er sie dennoch verlassen hat. Er gelangt an den
Hof des Königs Artus, besteht Abenteuer, bemächtigt sich der Rüstung eines
von ihm Erlegten, rettet die schöne Königin Kondwiramur von ihren Freiern
und vermählt sich mit ihr. Von Sehnsucht nach seiner Mutter erfaßt, verläßt
er die Gemahlin und gelangt zur Gralsburg auf dem Berg Montsalwäsche,
wo der alte König Titurel war.
Da er das Fragen unterläßt, ─ an welches die Heilung des kranken
Königs Anfortas, seines Oheims, wie sein eigenes Königtum gebunden war,
(denn niemand erlangt das Heil, der nicht nach demselben fragt) ─ verscherzt er
die Krone des heiligen Gral. Die Urenkelin Titurels, Sigune, sagt ihm, wo
er sich befindet und was er verscherzt habe. Gawan, der nach ihm gesandte
Ritter von Artus' Tafelrunde, reißt ihn aus seiner Verzweiflung. Als er von
Artus eben unter die Ritter der Tafelrunde aufgenommen werden soll, flucht [307]
ihm die grausenhafte, zauberische Gralsbotin Kondrie la Sorziere. Da entsagt
er der Tafelrunde und irrt umher, bis er zum Einsiedler Trevrezent, seinem
Onkel, gelangt, bei dem er Absolution erhält. Artus nimmt ihn in die Tafelrunde
auf. Er kämpft mit seinem Bruder Feirefiß, erkennt ihn und kommt
mit ihm zu Artus. Da verkündigt Kondrie, daß er zum König des Grals
ernannt worden sei. Seine Gemahlin Kondwiramur vereint sich wieder mit
ihm und er bestimmt seinen Sohn Loherangrin (Lohengrin) zum Nachfolger
im Königtum des Gral. Der Gang des Epos ist: „Parzival im Naturzustande;
sein Weltleben; Ahnung des Göttlichen; Zweifel und Kampf mit demselben;
Demütigung, Läuterung, Sieg durch Gottvertrauen und ritterliches Leben.“
Probe aus Parzival, von Wolfram von Eschenbach.
Aus der XVI. Aventiure.
Ausgabe von Karl Lachmann.
(Berlin 1833. S. 375.)
Alweinde Parzivâl dô sprach
‘saget mir wâ der grâl hie lige.
op diu gotes güete an mir gesige,
des wirt wol innen disiu schar.'
sin venje er viel des endes dar
drîstunt zêrn der Trinitât:
er warp daz müese werden rât
des trûrgen mannes herzesêr.
er riht sich ûf und sprach dô mêr
‘oheim, waz wirret dier?'
der durch sant Silvestern einen stier
Von tôde lebendec dan hiez gên,
unt der Lazarum bat ûf stên,
der selbe half daz Anfortas
wart gesunt unt wol genas.
swaz der Franzoys heizt flôrî,
der glast kom sinem velle bî.
Parzivâls schoen was nu ein wint,
und Absalôn Dâvides kint,
von Ascalûn Vergulaht,
und al den schoene was geslaht,
unt des man Gahmurete jach
dô mann în zogen sach
ze Kanvoleiz sô wünneclich,
ir decheins schoen was der gelîch,
die Anfortas ûz siecheit truoc.
got noch künste kan genuoc. da ergienc dô dehein ander wal,
wan die diu schrift ame grâl
hete ze hêrren in benant:
Parzivâl wart schiere bekant
ze künige unt ze hêrren dâ.
ich waene iemen anderswâ
funde zwêne als riche man,
ob ich rîcheit prüeven kan,
als Parzivâl unt Feirefîz.
man bôt vil dienstlîchen vlîz
dem wirte unt sîme gaste.
ine weiz wie mange raste
Condwîr âmûrs dô was geriten
gein Munsalvaesch mit freude siten.
Si hete die wârheit ê vernomen:
solch botschaft was nâh ir komen,
daz wendec waere ir klagendiu nôt.
der herzoge kyôt
und anders manec werder man
heten si gefüeret dan
Übersetzt von Simrock.
(Stuttgart 1876. S. 295.)
[308]
ze Terre de salvaesche in den walt,
dâ mit der tjoste wart gevalt
Segramors unt dâ der suê
mit bluote sich ir glîcht ê.
dâ solte Parzivâl si holn:
die reise er gerne mohte doln. disiu maer sagt im ein templeis,
‘manec rîter kurteis
die küngin hânt mit zühten brâht.'
Parzivâl was sô bedâht,
er nam ein teil des grâles schar
und reit für Trevrizenden dar.
des herze wart der maere vrô,
daz Anfortases dinc alsô
stuont daz er der tjost niht starp
unt im diu vrâge ruowe erwarp.
dô sprach er ‘got vil tougen hât.
wer gesaz ie an sînen rât,
ode wer weiz ende sîner kraft?
al die engel mit ir geselleschaft
bevindentz nimmer an den ort.
got ist mensch unt sîns vater wort,
got ist vater unde suon,
sin geist mac grôze helfe tuon.'
Trevrizent ze Parzivâle sprach
‘groezer wunder selten ie geschach,
sit ir ab got erzürnet hât
daz sîn endelôsin Trinitât
iwers willen werhaft worden ist.'
II. Tristan und Jsolt.
Dieses bedeutende Epos Gottfrieds
von Straßburg (um 1210 verfaßt), führt uns die Freuden der Sinnlichkeit
und des irdischen Lebens mit allen seinen Schwächen und Thorheiten
vor, ist also der diametrale Gegensatz des Parzival. Reinhold
Bechstein hat eine treffliche Ausgabe Tristans (Leipzig 1869) veranlaßt.
(Vgl. mein Buch „Nachgelassene Gedichte Fr. Rückerts“ S. 423. Wien,
Braumüller 1877, wo ich S. 372─383 auch das früher unbekannte Rückertsche
Bruchstück in der Neuen Titurel-Strophe bieten konnte.)
Jnhalt: Tristan, der Sohn eines Verführers, kennt seine frühzeitig
gestorbenen Eltern nicht. Er übt sich in allen ritterlichen Künsten und im Saitenspiel.
Von einem Kaufmann wird er seiner Schönheit wegen entführt, dann
an der Küste von Kornwallis ausgesetzt, wo sein Onkel Marke herrscht. Hier
wird er zum Ritter geschlagen. Er befreit das Land von einem Tribut an
Jrland, wird aber von einem vergifteten Pfeil getroffen. Nur die zauberkundige
Königin Jrlands kann ihn heilen. Da läßt er sich, als Spielmann verkleidet,
am Strand aussetzen, erlangt Zutritt bei ihr, wird geheilt und erteilt der
Königstochter Jsolde Unterricht. Sein Onkel Marke entbrennt in Liebe zu Jsolde.
Tristan macht den Brautwerber. Er erhält Jsolde, deren Mutter heimlich der
Nichte Brangäne einen die Kraft besitzenden Trank giebt, in Marke Liebe für
Jsolde zu erwecken. Unterwegs trinken aber Tristan und Jsolde unbewußt
den Trank und entbrennen nun in glühender Liebe zu einander. Jsolde
wird zwar Markes Gattin; aber sie täuscht den Gemahl, bis dieser sie mit
Tristan verstößt. Nach wiederholten Versicherungen der Treue ruft er Jsolde
zurück.
Tristan lernt auf seinen Jrrfahrten eine andere Jsolde kennen, Jsolde
Weißhand, die er liebt und die ihn die erste vergessen macht.
Hier bricht das Gedicht Gottfrieds ab. Die späteren Fortsetzer lassen
Tristan diese Jsolde heiraten, ohne daß er sie liebt, so daß beide ohne Annäherung
unglücklich neben einander gehen. Simrock führt diesen Schluß herbei: Tristan
und Jsoldens Tod durch der verschmähten Gattin Rache.
Probe aus Tristan und Jsolt. (Bearbeitung von W. Hertz.
Stuttg. 1877.)
Tristan am Hofe.
S. 85.
S. 88.
S. 90.
S. 93.
(Der Schluß dieses Gesangs lautet:)
III. Jwein.
Jwein oder der Ritter mit dem Löwen ist der Held
einer dem Artus-Sagenkreis angehörigen Erzählung, aus welcher
Chretiens de Troies Dichtung „Chevalier au lion“ vor 1190 hervorging,
welch' letzterer Hartmann von Aue den rohen Stoff zu seinem
frei bearbeiteten, jedenfalls schon vor 1205 bekannt gewesenen Epos
Jwein entlehnte, auf welches Wolfram von Eschenbach im Parzival
253, 10 und 583, 29 anspielt. Die Grundidee der Hartmannschen
Dichtung ist der Widerstreit von Minne und Heldentum und
deren endliche Versöhnung; die Moral und das Ziel derselben ist:
„Wer mit ganzer Kraft der Seele nach dem trachtet, was wahrhaftig
gut ist, dem folget Glück und Ehre.“
(Eine Ausgabe der Hartmannschen Dichtung erschien von Benecke und
Lachmann 1827, desgleichen mit Beneckes Wörterbuch 1833. 1843. 1868.
Neuhochdeutsche Übersetzungen mit Erläuterungen lieferten Graf Baudissin [1845]
und Fr. Koch [1848].)
Jnhalt: Bei einem von Artus veranstalteten Feste erzählt ein Ritter, wie
er vor Jahren von einem gewaltigen Kämpen bei einem Zauberbrunnen aus
dem Sattel geworfen und um sein Roß gebracht worden sei. Jwein beschließt
seinen Freund zu rächen. Heimlich schleicht er sich fort und erschlägt den Besitzer
des Brunnens, gerät aber zwischen zwei Fallthüren in Gefangenschaft,
aus welcher ihn die mitleidige Dienerin der Königin durch einen Zauberring
befreit. Jwein heiratet die Königin, geht sodann auf Abenteuer aus. Leider
vergißt er, die seiner Gattin versprochene Zeit der Rückkehr einzuhalten. Als
die Gattin dem Artus durch Lunete mitteilen läßt, daß Jwein als ein Treuloser
ihre Huld verscherzt habe, verliert Jwein den Verstand. Durch eine
Salbe geheilt, geht er auf neue Abenteuer aus, bei welchen ein von ihm aus
den Klauen eines Lindwurms befreiter Löwe sein Begleiter ist.
Er kämpft gegen Feinde, besiegt zwei Riesen, erlöst 300 Jungfrauen
und kehrt endlich zu seiner Gattin zurück.
Probe aus Jwein. (Übersetzt von Wolf Grafen von Baudissin
1845.)
S. 1.
S. 2.
S. 3.
S. 26.
S. 28.
S. 59.
S. 77.
S. 82.
S. 101.
S. 232.
S. 273.
S. 274.
S. 275.
(Schluß des Epos.)
IV. Rolandslied
(Cantilena Rolandi). Dieses älteste französische
Epos hat seinen Namen von Roland, einem der 12 Paladine
(Ritter) Karls des Großen, mit welchem Roland gegen die Araber
nach Spanien zieht. Der Pfaffe Konrad hatte es in Reimpaaren
geschrieben.
Um die unterworfenen Heiden zu prüfen, die das Christentum annehmen
wollen, schickt Karl den Ganelon, der sich durch diese Sendung dem Tod geweiht
glaubt, und der nun das Frankenheer aus Rache verrät. Karl zieht zurück
und läßt arglos Roland als König in Spanien. Dieser wird überfallen und
mit allen Franken getötet. Karl besiegt die Aufrührer, beklagt Roland und
straft den Verräter.
Das Epos kann als markantes litterarisches Denkmal für den Charakter
der Zeit der ersten Kreuzzüge aufgefaßt werden. Die Liebe findet in demselben
keinen Raum, ─ Roland erwähnt mit keiner Silbe seiner Geliebten, die doch
bei der Nachricht von seinem Untergang tot niedersinkt; die Helden sind eben
Gottesstreiter.
Wie kein anderes Epos trägt das Rolandslied seine Entstehung aus verschiedenen
Volksliedern, sowie die Entlehnung und Verschmelzung verschiedener
Zusammendichter an der Stirne, indem die Anfangsverse der einzelnen Strophen
(Tiraden) eine Art Exposition des Jnhalts dieser Strophen sind und im Epos
je die Stellen bezeichnen, wo die Sänger ihre Sagen begannen. Die Strophenform
(Tirade, altfranzösisch laisse) besteht aus einer beliebigen Anzahl akatalektischer,
jambischer Quinare mit Assonanz. Jede Tirade bildet ein aus Exposition,
anmutiger epischer Breite des Fortgangs und einer Art Refrain bestehendes
Teilganzes.
Der Pfaffe Konrad hat das Rolandslied (im 12. Jahrh.) für Heinrich
den Löwen in's Deutsche übertragen. Jhm folgte im 13. Jahrhundert der
Stricker. Jn der Neuzeit hat es Ad. v. Keller (Altfranzös. Sagen 1839) und
Wilh. Hertz (1861) in's Deutsche übersetzt. Eine gründlich erschöpfende Belehrung
über Sage und Dichtung verdanken wir Wilh. Grimm. (Vgl. Einleitung
zu seiner Ausgabe des Ruolandes liet 1838.)
Probe aus dem Rolandslied. (Übersetzt von W. Hertz, Stuttgart
1861.)
I. Rolands Tod.
Tirade 24.
„ 25.
„ 144.
„ 156.
„ 175.
II. Die Rache.
Tirade 293.
V. Der rasende Roland
von L. Ariosto († 1533) ist ein
romantisches Epos in 46 Gesängen, das für sein Jahrhundert so hoch
bedeutend war, wie sein glänzendes Vorbild: Ovids geistvolle „Metamorphosen“
für das ihrige.
Während Ovid in Bildern, die mit Verwandlungen endigen, von der
Urbildung der Welt an durch die mythische Zeit und alle Weltalter hindurch
bis zu Julius Cäsar führt, giebt Ariosto Episoden aus dem Sagenkreise Karls
des Großen und schildert in anmutigen Erzählungen das Rittertum nach seiner
glänzendsten Außenseite.
Wegen seiner schalkhaften, erheiternden Manier und Ausdrucksweise und
des sonst durch das Ganze waltenden Humors könnte man dieses altromantische
Epos auch zu den humoristischen Epen zählen.
Probe aus Ariost's Der rasende Roland. (Übers. von Herm.
Kurtz. 3 Bändchen. Stuttgart 1840─1841.)
Erster Gesang.
1.
2.
Vierundzwanzigster Gesang.
111.
115. (Letzte Strophe des 24. Gesangs.)
Sechsundvierzigster (letzter) Gesang.
138.
139.
140. (Letzte Strophe des ganzen Epos.)
§ 120. Das neuromantische Epos.
Das altromantische, höfische oder mittelalterliche Epos wurde in
der neuhochdeutschen Litteratur mit vielem Glück von verschiedenen
Dichtern nachgeahmt. Der Jnhalt des neuromantischen Epos ist ebenso
wundervoll und abenteuerlich, als der des höfischen. Das gewöhnliche
Versmaß ist die Stanze.
Wir führen nachstehend einige hervorragende oder beliebte neuromantische
Epen inhaltlich oder kritisch mit Proben vor: 1. Wielands Oberon; 2. Ernst
Schulzes Cäcilie; 3. Schulzes bezauberte Rose; 4. Kinkels Otto der Schütz;
5. Oskar von Redwitz' Amaranth; 6. K. Hofmanns von Nauborn Ritter Konrad
Beyer von Boppard.
I. Oberon von Wieland.
Oberon ist ein poesiereiches,
gehaltvolles, hochinteressantes romantisches Epos in 12 Gesängen. Es
trug dem Dichter Wieland den Namen des Dichters der Grazien ein.
Goethe urteilte darüber: „So lange Poesie Poesie, Gold Gold, und
Krystall Krystall bleiben wird, wird Oberon als ein Meisterstück
poetischer Kraft geliebt und bewundert werden.“
Jnhalt: Der Ritter Hüon fällt bei Karl dem Großen in Ungnade. Er
wird verbannt mit dem Befehle, nicht eher zurückzukehren, als bis er Zähne
vom Kalifen von Bagdad und Haare aus dessen Bart bringen werde. Hüon
reist nach Bagdad, und lediglich durch Oberons Unterstützung bringt er außer
dem Verlangten noch des Kalifen schöne Tochter als Gemahlin mit. Trotz
mancher Abenteuer trifft er gerade noch rechtzeitig zum Turnier ein, bei welchem
seine Güter als Preis ausgesetzt sind. Er erringt den Preis, giebt sich dann
zu erkennen und erhält seine Gemahlin zurück, worauf ihn auch Karl wieder
zu Gnaden annimmt und mit Ehren auszeichnet.
Probe aus Wielands Oberon, vgl. Bd. I. S. 553.
II. Ernst Schulzes Cäcilie.
Cäcilie in 20 Gesängen, der
Verherrlichung seiner als Braut gestorbenen Cäcilie gewidmet, schildert
in freien Wielandschen Stanzen die Bekehrung der heidnischen Dänen
zum Christentum durch deutsche Krieger.
Schluß des poetischen Nachworts von „Cäcilie“ in Oktaven (I. 550).
III. Ernst Schulzes Bezauberte Rose.
Noch trefflicher,
sinniger und poetischer als Cäcilie ist die infolge einer Preisausschreibung
von Brockhaus (1816) entstandene Bezauberte Rose in
3 Gesängen, welche die Verwandlung der Königstochter Clotilde in
eine Rose durch beschützende Feengewalt, sowie die Rückbildung durch
Alpins liebende Dichtergewalt schildert.
Probe aus der „Bezauberten Rose“ von E. Schulze.
IV. Kinkels Otto der Schütz.
Dieses Epos erzählt in
12 Abenteuern, wie Otto (der jüngere Sohn des Landgrafen Heinrich
von Thüringen) entflieht, weil er Mönch werden soll, wie er den
Meisterschuß bei einem Schützenfest am Rhein thut, wie er Dienste beim
Grafen Dietrich nimmt, und zuletzt dessen Tochter Elsbeth trotz Verrat
und Lebensgefahr gewinnt, sodann Landgraf von Thüringen und
Hessen wird.
Probe aus „Otto der Schütz“.
Erstes Abenteuer.
Die Rheinfahrt.
V. Redwitz' Amaranth.
Amaranth, eine minnigliche deutsche
Jungfrau, und der fromme, tapfere, deutsche Heldenjüngling Walther
sind die Helden.
Letzterer zieht nach Jtalien zu seiner vom Vater bestimmten, ihm noch
unbekannten Braut Ghismonde. Ein Unwetter nötigt ihn unterwegs zur Einkehr
in einem Waldhofe des Schwarzwalds, wo er die fromme Amaranth kennen
und lieben lernt. Er zieht zu seiner Braut und findet in ihr ein prunkliebendes
Weltkind. Er kann sie nicht bekehren; da ─ am Trauungstage stellt er die
Ungläubige bloß und eilt in die Arme der frommen Amaranth, diese in das
Schloß der Väter heimführend. Wenn auch die tendentiöse, schwärmerische
Richtung dem Gedicht strenge, nicht ganz ungerechtfertigte Verurteilung zugezogen
hat, so ist es doch in vieler Beziehung von hohem dichterischem Werte.
Es zeichnet sich besonders durch reiche lyrische Zuthaten, sowie durch seine
trefflichen Naturschilderungen aus.
Probe aus „Amaranth“.
An Amaranth.
VI. K. Hofmanns von Nauborn Ritter Konrad Beyer
von Boppard.
Dies in trefflichen Rhythmen geschriebene ergreifende
Epos erzählt, wie der Stammvater der Beyer (deren aktenmäßige Geschichte
Stramberg Bd. V. Abteilung II des Rheinischen Antiquarius
aufrollt) vom Kaiser Friedrich Barbarossa gleichzeitig mit Graf Gottfried
von Sponheim-Starkenburg zum Ritter geschlagen wird.
Maria von Sponheim legt ihm den goldenen Kranz aufs Haupt. Bei
einer Jagd mit Graf Gottfr. v. Sponheim gleitet Konrad aus und ist der
Wut eines von ihm verwundeten Ebers preisgegeben. Da lenkt unerwartet
Maria den Eber ab; Konrad erlegt ihn nun mit kräftiger Hand und erklärt
seine Liebe an Maria. Als sich hierauf Gottfr. v. Sponheim am Kreuzzug
beteiligt, stellt er sein Gut und den Schutz der Schwester in Konrads Hut.
Bald darauf kommt der von Maria verschmähte, rachsüchtige Wildgraf Gerhard
zu Besuch auf Konrads Burg nach Boppard. Er weiß dem jugendlichen Helden
einzureden, daß er sich in Sklavenfesseln befinde und die Zeit zu Ruhmesthaten
verstreichen lasse. Da giebt Konrad in seiner Bethörung Maria frei, um mit
dem Wildgrafen zur Fehde auszuziehen. Die verletzte Maria als Ritter verkleidet
fordert ihn zum Zweikampf heraus. Mit kühnem Schlag siegt Konrad.
Am Aufschrei merkt er, daß sein Streich die Braut getroffen. Er bricht in
namenlosem Schmerz zusammen. Maria segnet den geliebten Mann, der ihr
durch den Tod wohlgethan. Konrad flucht dem Wildgrafen und rast fort, um
im h. Krieg den namenlosen Schmerz zu betäuben. Maria wird im Kloster [321]
Boppard wunderbar gerettet. Als sie einst an der Stelle des Zweikampfs um
Konrads Glück betet, tritt ein Pilger herzu, der an derselben Stelle um der
getöteten Maria Seelenheil den Himmel anflehen will. Die Liebenden erkennen
sich. Der Bund fürs Leben wird geschlossen.
Probe aus Ritter Konrad Beyer von Boppard, von K. Hofmann
von Nauborn. (1874. S. 10.)
Litteratur des neuromantischen Epos.
Romantische Epen haben außer den Erwähnten geschrieben: Wieland
(Jdris und Zenide, in 5 Gesängen); Fouqué (Sigurd der Schlangentöter);
Heinr. von Nicolai († 1820, Reinhold und Angelika); Alxinger (Doolin von
Mainz); Jmmermann (Die vortreffliche Bearbeitung des Epos Tristan und
Jsolde); K. E. Ebert (Wlasta); Pope (Treuer Eckart); A. Müller (Richard
Löwenherz und Alfonso); Böttger (Habanna); Grötsch (Der Zug der Normannen
nach Jerusalem); Teuscher (Saladin); Grün (Der letzte Ritter); Platen (Die
Abassiden in 9 Gesängen, in welchem Gedichte die Abenteuer der Söhne des
Harun al Raschid geschildert werden, vgl. I. 329); Herder (Cid, ein nach
spanischen Romanzen bearbeiteter, ein romantisches Epos bildender Romanzencyklus); [322]
Ettmüller (Karl der Große und das Jungfrauenheer); Simrock (Amelungenlied);
Adolf Franckel (Der Tannhäuser); A. Becker (Jungfriedel); Ludwig
August Frankl (Don Juan d'Austria); Geibel (Sigurds Brautfahrt); Gottschall
(Maja); Hamerling (Ahasver); Julius Grosse (Mädchen von Capri, und Gundel
von Königsee); Waldau (Cordula); Hertz (Lanzelot und Ginevra &c.); P. Heyse
(Braut von Cypern); Jordan (Nibelunge, allitterirend, ein großartiges Kulturepos
auf romantischem Hintergrund); Scheffel (Trompeter von Säkkingen);
Weber (Rolands Gralfahrt); J. Wolff (Der Rattenfänger von Hameln, und
Tannhäuser); Kastropp (Kain); D. E. von Bassewitz (Undine); Ernst Harmening
(Mirjam, Ein Hohelied der Liebe mit eingefügten wertvollen Lyriken) u. a.
§ 121. Das religiöse Epos.
Es hat, wie der Name sagt, ein religiöses Ziel und Jnteresse,
wie es auch seinen Stoff aus der biblischen, aus der Kirchen= oder
Heiligengeschichte wählt. Es setzt ein gläubiges Gemüt voraus. Jedes
Epos mit religiösem Anhauch könnte in bestimmtem Sinne als religiöses
Epos bezeichnet werden, auch wenn es stofflich in eine andere
Rubrik zu setzen ist.
Redwitz' „Amaranth“ könnte einseitig z. B. ebenso ein religiöses Epos
wie ein romantisches heißen. Dagegen Rückerts „Leben Jesu“, in Alexandrinern
geschrieben, könnte man nur dem Stoff nach als religiöses Epos bezeichnen, da
ihm die einheitliche Handlung fehlt.
Die altklassische Litteratur hat kein streng religiöses Epos. Die althochdeutsche
Litteratur hat nur Evangelienharmonien, welche das vom Erlöser Erzählte,
Mannigfaltige in ein harmonisches Ganze zusammenzufassen streben
(z. B. die altsächsische Evangelienharmonie Heliand, Otfrieds Evangelienharmonie).
Klopstock (Messiade), Dante (Göttliche Komödie; ein Gang durch Hölle,
Fegfeuer und Paradies), sowie Milton (Verlorenes Paradies) haben das
religiöse Epos geschaffen, weshalb wir ihnen hier ein kurze Betrachtung zu
widmen haben.
I. Die Messiade von Klopstock.
Diese religiöse Epopöe in
20 Gesängen weist an der Person Jesu nach, wie ein göttliches Wesen
aus Liebe zu den Sterblichen sich opferte, seine Gottheit verleugnete,
menschlich litt und starb, um den Menschen das ewige Leben zu verschaffen.
Die 10 ersten Gesänge (zugleich die vorzüglicheren) behandeln das Leiden
und den Erlösungstod Christi; die übrigen die Geschichte Jesu bis zur Verklärung.
Klopstocks „Messias“ leitete die neueste Blüteperiode unserer deutschen
Litteratur ein. Jm Gegensatz zu Ariost und Tasso, die nur für einzelne [323]
Bevölkerungsschichten dichteten, richtet sich Klopstock an das ganze Volk. Wo
er auf der Erde keinen Stoff mehr findet, da wendet er sich wie Homer zu
einer jenseitigen Welt, was freilich oft wie ein Phantasieren empfunden wird,
indem er Teufel, Engel, die Seelen Gestorbener oder noch nicht Geborener,
desgleichen die beiden ersten Personen der christlichen Gottheit mit historischen
Personen des alten Testaments verbindet. Der Dichter hat zudem häufig die
epische Anschaulichkeit durch lyrisch=pathetische Ergüsse zu ersetzen gestrebt. Diese
ausgedehnten Gefühlsergießungen und seine rednerischen Darstellungen verleihen
einzelnen Teilen dieses ernsten religiösen Epos rhetorisch=lyrisches Gepräge.
Als Sprach-Probe aus der Messiade vgl. Bd. I. S. 356.
II. Die göttliche Komödie von Dante Alighieri.
Dante
Alighieris (geb. 1265 zu Florenz) Göttliche Komödie (divina commedia),
die in unserer Litteratur so große Verbreitung fand, umfaßt
drei Teile: die Hölle (l'inferno), das Fegfeuer (il purgatorio), das
Paradies (il paradiso).
Diese Dichtung ist nur der äußeren Form nach ein gelungenes
Epos; in Wirklichkeit ist sie eine mystisch sociale Allegorie, welche die
Handlung vermissen läßt. Jhre Grundidee ist die Darstellung der
welterlösenden Liebe. Sie ist in Terzinen geschrieben und von Kannegießer,
Streckfuß, Philalethes (== König Johann von Sachsen), Kopisch,
Bernd von Guseck u. a. ins Deutsche übertragen.
Jnhalt: Der Dichter sinkt in einem großen Wald in die Tiefe bis zur
Hölle. An der Hand des vom Christentum noch unerleuchteten Vergil durchwandert
er diese, um ins Fegfeuer zu gelangen, an dessen Eingang er dem
Vertreter der Freiheit, Cato von Utica, begegnet. Jmmer höher steigt er.
Da trifft er auf einer Blumenwolke die von ihm früher verehrte Beatrice als
Sinnbild der christlichen Wahrheit, welche ihn durch das Paradies geleitet.
Nun gesellt sich der heilige Bernhard als Typus der christlichen Frömmigkeit
zu ihm, der ihn zur Himmelskönigin und heiligen Dreieinigkeit führt. Geblendet
vom Glanz sinkt er ohnmächtig nieder, indem er einsieht, hier sei sein
irdisches Streben an der Grenze.
Als Sprach-Probe aus Dantes göttlicher Komödie vgl. Bd. I. S. 545.
III. Das verlorene Paradies von Milton.
Miltons (geb.
1608 zu London) verlorenes Paradies (the paradise lost) erschien
1667. Es steht durch seine wunderbare Sprache, durch seine ergreifenden
Schilderungen, durch seine edle Schönheit in der englischen Litteratur
einzig da.
Es enthält 12 Gesänge, welche den Sündenfall von Adam und Eva
behandeln, indem es seiner Darstellung die Jdee des tragischen Kampfes zwischen
Himmel und Hölle zu Grunde legt. Es ist von Bodmer, Zachariä, Kottenkamp,
Böttger, Schuhmann und Eitner (1867) ins Deutsche übersetzt. (Das sich [324]
anschließende Wiedergewonnene Paradies Miltons in demselben Metrum
umfaßt nur vier Gesänge.)
Probe aus dem verlorenen Paradies. (Übers. von Bernh. Schuhmann.
2. Aufl. 1877.)
S. 3.
Zur Litteratur des religiösen Epos.
Das hauptsächlichste religiöse Epos der Franzosen ist „Les Martyrs“
(Die Märtyrer) von Chateaubriand. (Deutsch von Haupt und Haßler.)
Von den Deutschen sind noch zu nennen: J. J. Bodmer († 1783, Die
Noachide); Lavater (Messias); Wieland (Der geprüfte Abraham); Hagenbach
(Luther); Stern (Jerusalem); Diterici (Joseph); Paul Heyse (Thekla); Weißbrodt
(Genovefa); K. Moritz (Christus); Kulemann (Judith); Rappaport
(Moses); Julius Mosen (Ahasver, mehr ein religiös=philosophisches Epos);
Seidel (Paulus); Plönnies (Ruth); Steger (Der Heiland); Ferd. Wirth
(Mariade) u. a.
§ 122. Das idyllische Epos (Eidyllion).
Das idyllische Epos, welches auch bürgerliches Epos genannt
wird (die Griechen nannten es εἰδύλλιον == Eidyllion), hat seinen
Schauplatz im bürgerlichen Leben und erzählt Begebenheiten aus demselben.
Es schließt daher das Wunderbare und die Maschinerie des
Heldenepos aus. Überhaupt verträgt es keine großen Verwicklungen.
Es ist ein reicheres Jdyll. (Vgl. S. 231 d. Bds.)
Seine Personen sind gemütvoll, natürlich, fromm, tugendhaft, zufrieden,
glücklich. Was der Handlung am Bedeutsamen mangelt, das hat die Kunst
des Dichters zu ersetzen. Das Silbenmaß des idyllischen Epos ist gewöhnlich
der Hexameter.
Bei den Römern nannte man die idyllischen Epen auch Bucolica, deren
einzelne Stücke Eclogae hießen, eine Benennung, die u. a. auch Kosegarten
in den einzelnen Teilen seiner idyllischen Epen (oder im engeren Sinn: Jdyllen)
beibehalten hat.
I. Luise, von Voß.
Jn diesem idyllischen Epos (oder ausgebreitetem
Jdyll) schildert der Dichter das idyllische Leben eines
Landpredigers, der sich in seinem abgeschlossenen Kreise beglückt fühlt.
Seine Tochter vermählt er an einen jungen Prediger.
Probe aus Luise, von Voß. (Sämtl. Ged. I 10. Ausg. 1802.)
II. Jukunde, von Theobul Kosegarten.
Dieses Epos ist die
Vereinigung von mehreren, freundlich abgerundeten Jdyllen, von einfachen,
naturwahren, dörflich=duftigen Genrebildchen, deren Heldin die
fromme Pfarrerstochter Jukunde ist.
1. Bildchen. Zusammentreffen Jukundes am Vorabende des Uferfestes mit
der nachbarlichen Freundin Thekla von Thurn, die Jukunde für ihren aus
dem Kriege erwarteten Bruder begeistern möchte, aber erfahren muß, daß
Jukundes Herz für den unbekannten Befreier ihrer Schwester von einer Schlange
schlägt. 2. Sonntagsmorgen im lauschigen Schloßgarten; Gespräch über Platos
Phädrus. 3. Die Uferfeier. 4. Nachfeier. 5. Ankunft von Theklas Bruder,
den Jukunde als Schlangentöter und Geliebten erkennt; Verlobung.
Probe aus Jukunde. (2. Ekloge. Der Sonntagsmorgen.)
III. Hannchen und die Küchlein, von Eberhard.
Hannchen
und die Küchlein von A. Gottl. Eberhard († 1845) ist eine Nachbildung
der Luise von Voß. 1822 erschien die erste, vor kurzem die
27. Auflage.
Heinr. Kurz weist diesem Gedicht den Platz neben Goethes Hermann und
Dorothea an und rühmte ebenso dessen vortreffliche Schilderung des einfach
Gemütlichen, wie des echt deutschen Familienlebens.
Probe aus Hannchen und die Küchlein. (VII. Gesang.)
IV. Hermann und Dorothea, von Goethe.
Hermann und
Dorothea (9 Gesänge in Hexametern) neigt sich zum großen Epos
hin. Es wurde von Goethe bürgerliches Epos genannt, da ihm die
Verhältnisse des bürgerlichen Lebens zur Grundlage dienen.
Jnhalt: Auf dem großen geschichtlichen Hintergrund der französischen Revolution
führt der Dichter die schnell sich entfaltende Liebe eines Bürgersohns
(Hermann) zu einem lieblichen Mädchen (Dorothea) vor, wobei er das gesunde
Bürgerleben in Freud und Leid, in allen möglichen Lagen, in Haus und Hof,
auf dem Felde und im Stalle &c. anschaulich malt und ein naturwahres Lebensbild
entrollt.
Hermann, zu scheu, seine Liebe an Dorothea zu gestehen, ladet sie am
Brunnen ein, Stütze seiner Mutter zu werden.
Hermanns Vater empfängt sie (zu ihrer Überraschung) als Braut des
Sohnes. Die Mutter vermittelt; der Pfarrer vollzieht die Verlobung.
Das Gedicht, ebenso ein reizendes Bild des Familienglückes, wie eine
Schilderung des Strebens und Grämens der ganzen Menschheit, wird zugleich
der Ausdruck des echt deutschen Sinnes. ─ Goethe sagt selbst in einem Briefe
an Schiller darüber: „Jch habe das rein Wesentliche der Existenz einer kleinen
deutschen Stadt in dem epischen Tiegel von seinen Schlacken abzuscheiden gesucht
und zugleich die großen Bewegungen und Veränderungen des Welttheaters
(die französische Revolution als historischer Hintergrund) aus einem kleinen
Spiegel zurückzuwerfen getrachtet.“
Wilhelm von Humboldt urteilt (Briefwechsel 1876. S. 39) über Hermann
und Dorothea: „Das Epos allein umfaßt die ganze Menschheit, vereinigt [328]
zugleich Flug des Geistes und Ruhe der Empfindung, und fügt alle Elemente
des menschlichen Daseins zu einem großen Ganzen zusammen.“
Probe aus Hermann und Dorothea.
Gesang VII. (Erato.)
Zur Litteratur des idyllischen Epos sind noch zu nennen: Ad. Tellkampf
(Jrmgard); Kosegarten (Die Jnselfahrt); Dill (Paul und Therese); Bäßler
(Wilfried); M. Hartmann (Adam und Eva); Gregorovius (Euphorion); Ebert
(Das Kloster); Häring (Die Treibjagd); F. Rhode (Heinrich und Leonore);
F. Boas u. a.
§ 123. Das historische Epos (Heldenepos).
Man nennt es auch gern und vorzugsweise das heroische Epos,
oder Heldengedicht, auch Epopöe, da es meist die Thaten eines geschichtlichen
Helden schildert, ohne Geschichtsschreibung sein zu wollen.
I. Das Schah-Nameh des Firdusi.
Das Schah-Nameh des
Firdusi ist seiner Absicht nach Königs- und Heldensage von der Zeit
des Darius Hystaspis bis zum Sturz der Sassaniden.
Mit dem Volksepos hat es das gemein, daß es seine Helden zu Halbgöttern
mit übermenschlicher Kraft ausrüstet. Es zeigt den Kampf des iranischen
Heldentums gegen die Mächte der Finsternis. Die verschiedenen Sagenkreise
der Könige und Herrscher ballen sich zu einem einzigen zusammen, in welchem
sich das ganze Leben von Jahrhunderten konzentriert.
Das Schah-Nameh ist Heldenepos und zugleich eine Art mythischer Geschichte.
Es fehlt im Schah-Nameh die Göttermaschinerie, die im Volksepos
nicht vermißt wird. Die Einwirkung der Götter ist hier sekundär. Der Dichter
hat sich dichterisch von seinem selbstlebenden Werk losgeschält und geht in ihm
auf. Durch seine Phantasie hat er 37 Sagen und mehr zur Einheit verbunden.
Probe aus dem Schah-Nameh des Firdusi. (Übersetzt von
Ad. Friedr. v. Schack. Vgl. Heldensagen des Firdusi. 3. Aufl. Stuttg. 1877.
I. 129.)
1.
Feridun verteilt das Reich an seine drei Söhne.
2.
Selms Neid auf Jredsch.
II. Rostem und Suhrab, von Rückert.
Rückerts Rostem
und Suhrab hat es mit der Geschichtschreibung nicht zu thun; der
Dichter bietet vielmehr einen dem Schah-Nameh des Firdusi entlehnten
heroischen Stoff mit Verwickelungen und dem tragischen Ende der
Helden, wodurch das Epos ein volles Recht erhält, zur Kategorie des
historischen oder Heldenepos gezählt zu werden.
Jnhalt: Der Perserheld Rostem, dem sein Leibroß gestohlen wird, findet
es im benachbarten Königreiche, wo er sich in der Nacht heimlich mit der Königstochter
Tehmina verbindet.
Beim Abschied reicht er ihr eine Goldspange, mit der sie ihm ─ falls
aus der Verbindung ein Sohn erblühen sollte ─ den Großgewordenen senden
möge. Tehmina erhält einen Sohn, den sie Suhrab nennt. Als der Großgewordene
durch seine Mutter das Geheimnis seiner Abstammung erfährt, erwacht
in ihm abenteuerlicher Thatendrang und Sehnsucht nach dem Heldenvater.
Er will den König von Jran besiegen, und den erledigten Thron
dem Vater geben. Die Mutter giebt ihm als Erkennungszeichen die goldene
Spange mit.
Mit seinem Heere alles vor sich niederwerfend, gelangt Suhrab bis an die
Grenzburg Jrans. Dort besiegt er im Zweikampf den tapferen Burgvogt und nimmt
nun auch den Kampf mit der als Ritter verkleideten waffengeübten Geliebten
dieses Burgvogts auf. Auf ihrem Rosse kommt sie mutig gegen ihn angesprengt.
Aber ihr wuchtiger Stoß vermag Suhrab nicht zu rühren. Da verliert sie die
Siegeszuversicht. Suhrab wirft ihr eine Fangschnur um den Hals; aber die
Geängstete weiß ihn durch Schmeichelworte zu bethören, daß er ihr dieselbe
wieder abnimmt. Sie entwischt nun in die Burg. Von der Zinne herab höhnt
sie und mahnt Suhrab zur Umkehr. Er erstürmt diese Burg, findet aber die
bereits daraus entflohene Geliebte nicht mehr. Dieselbe giebt dem Könige Nachricht,
daß nur Rostem für diesen Helden der Mann sei. Rostem rückt an.
Neugierig, seinen Gegner kennen zu lernen, schleicht er in der Dunkelheit in
Suhrabs Lager, wo sein Erscheinen von Send, dem Einzigen, der Rostem
kennt, bemerkt wird. Er will Rostem ans Licht ziehen. Aber Rostem schlägt
ihn so wuchtig auf die Stirn, daß er entseelt zu Boden stürzt. Dadurch verliert
Suhrab den letzten Anhaltepunkt zur Entdeckung seines Vaters. Suhrab
fordert den Mörder zum Zweikampf heraus, und steht nun, ohne es zu ahnen,
seinem Vater Rostem gegenüber. Wie Löwen ringen die beiden ebenbürtigen
Gegner.
Der Kampf bleibt unentschieden. Am zweiten Tage wirft Suhrab seinen
Gegner zu Boden. Schon will er ihm den Todesstoß geben, als dieser ihm [332]
vorspiegelt, die Landessitte verbiete, den im Zweikampf zum erstenmal Besiegten,
zu töten. Suhrab läßt sich bethören. Rostem nimmt alle Kraft zusammen und
überwindet nun den Suhrab, dem er ohne Zaudern den Todesdolch in die
vertrauensselige Heldenbrust stößt. Todeswund droht Suhrab, daß der Treulose
dereinst den Lohn für seine Untreue erhalten werde und zwar von seinem Vater,
dem unüberwindlichen Rostem, für den er eine goldene Spange auf der Brust
trage. Von Schrecken und Entsetzen erfaßt, bog sich Rostem in zitternder
Hast nieder:
Eine erschütternde Scene folgt. Suhrab verzeiht dem Vater und tröstet ihn,
und dieser, vom Schmerz überwältigt, sinkt zu Boden:
So stirbt der Held! ─ Stumm und starren Blickes steht Rostem da,
bis alle Ehrenbezeugungen für den gefallenen Helden und dessen Beisetzungsfeierlichkeiten
vorüber sind. Dann schwingt er sich, vom Wahnsinn erfaßt, auf
sein Schlachtroß, und fort irrt er in die Wüste, den Schmerz zu töten. Beim
Abschied ruft er mit hohler Stimme, blassen Antlitzes:
So endet dieses großartige Epos, dessen reckenhafter Heroismus, dessen
ruhige Schönheit, dessen Reichtum des Farbenwechsels, dessen Fluß der Darstellung,
dessen Kühnheit der Charakterzeichnung Rückert zu einem der bedeutendsten
Epiker seiner Zeit erhebt. (Vgl. I. S. 315.)
III. Vergils Äneis.
Vergils Äneis, die man als eine Nachahmung
der Odyssee bezeichnen muß, läßt die Römer von Äneas abstammen,
und besingt in 12 Gesängen des Helden Jrrfahrten nach der
Eroberung und dem Brand von Troja bis zu seiner Verheiratung mit
Lavinia, der Tochter des Königs Latinus.
Eben durch diese Verbindung wird aber Äneas der Stammvater von
Romulus und Remus. (Das in Hexametern geschriebene Epos ist von Voß
u. a. in's Deutsche übersetzt. Schiller hat in seiner Übersetzung des 2. und
4. Buchs der Äneide eine Vorarbeit zur Übersetzung des Dr. J. E. Nürnberger
(2. Aufl. 1841) geliefert, welch letzterer die Schillersche Arbeit einverleibt
wurde.)
Eine Probe aus Vergils Äneis findet sich Bd. I. S. 553.
[333]IV. Das befreite Jerusalem, von Torquato Tasso.
Das befreite Jerusalem, dessen Jnhalt die Eroberung des heiligen
Grabes im ersten Kreuzzuge bildet und das zum Helden Gottfried
v. Bouillon hat, kann ebenso als romantisches Epos, wie als historisches
genommen werden.
Gewinnend sind die Figuren Tankred und Rinaldo, sowie die Frauen
Armida, Clorinde, Herminia. Es ist in Stanzen geschrieben und wurde im
gleichen Versmaß von Gries, Streckfuß, Duttenhofer übertragen.
Probe aus dem befreiten Jerusalem. (Nach dem Versmaß
der Urschrift übersetzt von Duttenhofer. Stuttg. 1840.)
Gesang I. (Str. 1.)
Str. 6. (S. 10.)
Gesang VI. (Str. 97.)
(Str. 114.)
Gesang XVIII.|(Str. 85.)
Gesang XX.|(144 Schluß des|Epos.)
V. Die Lusiaden des Camoëns.
Man möchte dieses Epos,
in welchem Wahrheit und Dichtung zauberisch zusammenfließen, als
ein historisches Feenmärchen bezeichnen. Camoëns (1524─80) behandelt
in demselben die Fahrt des Vasco de Gama nach Jndien.
Jnhalt: Das Epos beginnt mit einer mythologischen Scene im Stile
der Äneide von Vergil. Jupiter verkündet den Göttern, daß die Lusitanen
nach dem Willen des Fatum nach Jndien ziehen. Bacchus ist dagegen. Venus
dafür. Der imponierende Mars vermittelt, daß der Himmel dröhnt. Die
Lusitanen segeln der Küste entlang und erklären den Mohren:
Durch ein Wunder der Venus mit ihrer Guarda divina wird Gama
den Anschlägen der Heiden entzogen. Er betet. Venus meldet dies dem Jupiter
und rührt diesen so, daß er den Gama durch Merkur im Traum warnen läßt.
Der 3. Gesang berichtet von Waffenthaten und erzählt die ergreifende Episode
von Don Pedro und seiner ihm heimlich angetrauten Jnez de Castro, die der
König Alfonso ermorden läßt. Andere Thaten folgen. Jm 5. Canto wird
über des Admirals Reise berichtet; wobei eine geographische Übersicht portugiesischer
Entdeckungen, ferner meisterhafte Beschreibung meteorologischer und
anderer Erscheinungen, z. B. einer Wasserhose, eines Seesturms &c. eingeflochten
werden. Endlich Landung in Jndien! (Canto VII.) Eine höchst sorgfältige
Beschreibung von Jndien schließt sich an. Vor der Heimreise läßt der Dichter
seine Lusitanen noch ein wonniges Dasein mit den Oceaniden feiern. Glücklich
läßt er sie wieder auf dem Tajo anlangen.
Der Leser fühlt sich durch dieses aus 10 Gesängen bestehende Epos in
südliche Regionen versetzt, namentlich im 8. Gesang unter Jndiens Himmel.
„Glühende Vaterlandsliebe, unermüdliches Kämpfen gegen die Mauren, löwenkühner
Mut zur See im Sturm und Schiffbruch und im fernen Jndien, lebhaftes
Mitempfinden der Majestät Gottes in der Natur, innige Verehrung alles
Schönen und darum auch der Frauenschönheit“ sind die Grundlagen dieses
portugiesischen historischen Heldenepos, das neben Booch-Arkossy (2. Aufl. 1857)
noch Eitner u. a. ins Deutsche übersetzten.
Probe aus den Lusiaden. (Übers. von R. Avé-Lallemant in der
Schrift Luiz de Camoëns. 1879.)
Str. 44.
Str. 51.
Str. 123.
Letzte Str.
VI. Scherenbergs historische Epen.
1. Waterloo (1849.
6. Aufl. 1869) ist ein Epos von origineller kräftiger Charakteristik
und bündiger Gedrungenheit der Ausführung. Markig erscheint der
alte Blücher und das preußische Heer in den volkstümlichen Farben
der damaligen Zeit, ebenso der „blasse heisere Kaiser“ (S. 65 ff.).
2. Ligny (1859. 4. Aufl. 1870). 3. Leuthen (1852. 3. Aufl. 1867).
4. Abukir, die Schlacht am Nil (2. Aufl. 1855). 5. Hohenfriedberg
(1869). Zur Charakteristik dieser Epen, die wohl hie und
da in chronikartige Reimerei ausarten, beschränken wir uns auf eine
Probe aus Abukir:
Zur Litteratur des historischen Epos.
Von deutschen historischen Epen sind zu nennen: Christoph Otto von
Schönaichs († 1807) Heldengedichte Hermann und Heinrich der Vogler;
von Boguslawskys († 1817) Xantippus in 10 Gesängen; Pyrkers Tunisias
und Rudolfias (die Tunisias besingt Kaiser Karls V. Zug nach Afrika zur
Befreiung der Christensklaven und läßt die Seelen Saladins, Attilas wie
Götter auftreten. Die Rudolfias besingt Rudolf von Habsburg); Arnold Schlönbachs
Der Stedinger Freiheitskampf und Die Hohenstaufen; Gottschalls Carlo [337]
Zeno und Sebastopol; A. Schults Ludwig XVI.; Überhorsts Derfflinger;
Pressels Sickingen; Alf. Meißners Ziska; Hamerlings König von Sion; Toblers
Winkelried; Roquettes St. Jakob; Gruppes Albion; Aug. Frankls Christophoro
Colombo; Rebenstocks Walhalla; Joh. Haupts klares, keusch gehaltenes Albungenlied;
G. Fischers Haspinger (Ulm, 1859); Herm. Daums Johs. Hus; Alfred
Meißners Ziska; Fed. Köppens Preußens Erhebung; Schlesingers Vindobona;
W. Osterwalds König Älfred, und besonders das (Barbarossas Liebesleben
behandelnde) ergreifende Epos Gela von dem formgewandten bayrischen Mitvertreter
(neben H. Lingg) der historischen Lyrik Karl Zettel u. a.
§ 124. Das komische, humoristische, satirische Epos.
Das komische Epos wird in der Regel als Gegensatz des klassischen
oder ernsten (erhabenen) Epos angesehen, da es häufig nur eine Parodie
desselben ist. Es erstrebt, durch Vorführung des Lächerlichen
(der menschlichen Beschränktheit) das ewig Gültige zur lebendigen Anschauung
zu bringen, zu unterhalten.
Das Gefühl des Lächerlichen wird erzeugt durch die eigenartige Charakterzeichnung
des zur drolligen Figur heruntergestimmten Helden und durch die
besonderen Verhältnisse, die der letztere zu bekämpfen hat, oder durch die
Wirkung des Kontrastes (I. 102). Der Dichter behält zuweilen den erhabenen
Stoff bei, den er in niederer Ausdrucksweise travestierend behandelt (z. B.
Blumauers Äneide). Oder er wählt den Stoff aus dem niedern Leben und
behandelt ihn parodierend pathetisch, so daß er selbst beim Unbedeutendsten
mit scheinbarem Ernst oder mit schwungvoller Rede, mit wichtig thuender Miene &c.
verfährt, wie es beispielsweise in folgenden Dichtungen geschah: Popes Haarlockenraub;
Butlers Hudibras; Zachariäs (der eigentlich das komische Heldengedicht
in unsere Litteratur einführte) Schnupftuch, Der Phaeton, Renommist,
Murner in der Hölle; Tassonis Geraubter Wassereimer u. s. w. Endlich kann
er aber auch niedern Stoff in niederer derb=volksmäßiger Form behandeln
(z. B. Jobsiade von Kortüm in Knüttelversen, ein Meisterstück witzigen, drolligen
Humors, dessen 2ter Teil, in welchem der Dichter den gestorbenen Helden
Jobs wieder aufleben, sich ändern und ein vernünftiges Leben führen läßt,
matter als der erste ist).
I. Die Eselsjagd, von Fritz Hofmann.
Dieses Epos mit
Bildern von Sundblad &c. ist bereits in 2. Auflage erschienen.
Jnhalt: Jm Weichbild der berühmten Weimarschen Töpferstadt Bürgel
hatte man vor Zeiten alle Hasen ausgerottet und noch nie einen Esel gesehen.
Einem wandernden Krämer entläuft nun einst dort sein Esel. Ein Jäger flieht
vor ihm und meldet die Anwesenheit dieses Untiers dem Rate der Stadt Bürgel,
der es für den Urhasen erklärt. Große Jagd. Der Esel wird durch einen
Schmied erlegt, der für seine Heldenthat die Tochter des Wirtes erhält. Zum [338]
Festschmaus erscheint der Krämer. Er fordert Ersatz und wird dafür gar übel
zugerichtet. Das Fell des Esels lag lange im Bürgler Rathaus. Dann
spannte man es auf eine Trommel und zog, auf demselben Wirbel schlagend,
nach Schleswig. 1870/71 leitete diese Bürgler Jagd-Trophäe die Deutschen
auch mit nach Paris.
Ein zweites „fröhliches Heldengedicht“ Fr. Hofmanns ist sein
glänzend ausgestatteter „Geisterspuk auf der Veste Koburg“.
(Reich illustriert vom Grafen A. Mensdorff-Pouilly und Sundblad.)
Dasselbe schildert in „15 Stücklein“ das lustige und patriotische Umgehen
der Geister auf der alten Frankenburg, wo neben einem englischen Lord,
seinem irischen Diener, einem spanischen Granden und einem verwunschenen
Mönch auch Kaiser Ferdinand II., Gustav Adolf, Wallenstein, Tilly, die Reformatoren,
Käthchen Luther, der Ritter Rauber, Herzog Joh. Casimir, Christian VIII.
von Dänemark, Fr. Rückert, viele Götter und Göttinnen der Mythologie, Knappen,
Volk und sogar drei französische Kanonenseelen bis zur großen versöhnenden
Reichsnacht der Geister mit umgehen.
Probe aus der Eselsjagd, von Fritz Hofmann.
4. Gsg.
Probe aus dem Geisterspuk, von Fritz Hofmann.
S. 86.
II. Nibelungen im Frack, von Anastasius Grün.
Dieses
komische Epos hat den leidenschaftlich für die Baßgeige schwärmenden
Herzog Moritz (1688─1733 Administrator von Merseburg), zum
Helden.
Seine Teile sind: Ein Stück Exposition, Jnvocation, nebst etlichen Episoden;
Von einer Feder, einem Schwerte und einer Axt, nebenbei etwas von
der Menschenhand; Jntermezzo als Arabeske; Wie der Merseburger Hofpoet
gesungen haben würde; Der Herzog bestellt sein Zeughaus und wirbt sein Heer;
Der Herzog meint die Harmonie zu finden; Der berühmte Chevalier von Pöllnitz
am Merseburger Hofe; Etwas von dem alten Riesen Einheer; Der Herzog
besiegt die Hydra der Revolution; Der Herzog bereist seine Staaten; Hier
wird Spielzeug verfertigt; Eine Vision; Die Saiten klingen aus.
Probe aus Nibelungen im Frack. (Ausg. 1877.)
S. 17.
S. 18.
S. 20.
(Vgl. hierher die Probe Bd. I. S. 605.)
S. 41.
S. 42.
III. Tulifäntchen, von Karl Jmmermann.
Dieses komische
Epos besteht aus 3 Gesängen, I. Tulifäntchen Fliegentöter, II. Die
Mauer von Brambambra, III. Balsamine.
Jnhalt: Das Zwerglein Tulifäntchen bewährt sich als Fliegentöter. Es
fordert den Riesen Schlagadodro zum Kampf heraus, den seine eiserne Mauer
mit seinen 50 Mohren erschlägt, wobei nur ein geschwärzter, die Nibelungen
lesender Professor davonkommt. Tulifäntchen vermählt sich sodann mit Balsamine,
die ihn in einen Käfig sperrt. Er sucht den Tod und wagt einen kühnen
Sprung. Aber anstatt zu zerschmettern fällt er in der Fee Libellens Schoß
und wurde nun nicht mehr auf Erden gesehn.
Probe aus Tulifäntchen. (Nr. 3 des II. Gesangs.)
Zur Litteratur des komischen Epos.
Bekannter gewordene, nennenswerte komische Epen sind noch: Der neue
Amadis in 18 Gesängen von Wieland; Wilhelmine, ein prosaisch=komisches Gedicht
von Thümmel (in demselben wirbt ein pedantischer Landprediger um
die Hand der schönen, jugendlichen Wilhelmine); Der Schoßhund, ─ Das Toppen,
─ Ardon und Themion von Joh. Jak. Dusch († 1787); Der Sieg des Liebesgottes
(eine Nachahmung von Popes Lockenraub) von Uz († 1769); Adam und
Eva, ─ Karfunkel, ─ Klingklingalmanach (worin der Dichter gegen die Romantiker
zu Felde zieht) von Jens Baggesen; Fortunat von Uhland. Mehr humoristisch
und satirisch sind folgende Epen: Heines Atta Troll (eine Parodie auf
die unkünstlerischen, schwerfälligen Gesinnungspoeten mit ihren mühsam angelernten
Künsten und dem Mangel an Genialität); Glaßbrenners Die verkehrte
Welt; Weidmanns Parochiade; Prätzels Feldherrnränke; Roffhacks Die Leiden
der jungen Lina; Hans Hopfens Pinsel Mings; Ecksteins Die Stumme von
Sevilla, Schach der Königin, Venus Urania; Rudolf v. Gottschalls König
Pharao; Julius Wolffs Till Eulenspiegel redivivus; Jul. Grosses Pesach [342]
Pardel; K. Schröders „Krethiplethiade, ein heroisch=komisch=romantisch=idyllisches
Epos“ u. a.
Als humoristische Epen in höherem Stil sind zu nennen: Wielands Oberon,
den wir schon unter den romantischen Epen anführten, sowie das bedeutende
Epos Don Juan von Lord Byron, das man einen Welt- und Lebensspiegel
nennen darf. Das bei uns bekannteste komische Epos der französischen Litteratur
ist „Das Lesepult“ (le lustrin) von Boileau, eine witzige, geistreiche,
in glatten Versen geschriebene Dichtung &c.
§ 125. Das Tierepos.
Es ist eine besondere Gattung oder Abart des komischen und
satirischen Epos, welches die Thorheiten und Verkehrtheiten des Lebens
geißelt, indem es Tiere als Menschencharaktere oder handelnde Personen
auftreten läßt. Es ist seinem Wesen nach allegorisch.
Oft bilden Tiere des Feldes und Waldes den Gegenstand der Erzählung,
deren Mittelpunkte der Löwe oder Bär (als König), der Wolf (Jsegrim), der
Fuchs (Reinhard, Reineke) &c. sind. Die Tiersage leitet ihren Ursprung aus Flandern
her, von wo sie bei den fränkischen Stämmen eine Pflegestätte fand. Anfänglich
sollte das Tierepos die Tiertypen und das Tierleben in lebendiger Anschaulichkeit
vorführen. Später erst bezog man es auf gesellschaftliche Zustände,
wodurch es eine didaktische Tendenz erhielt. Es läßt dem Humor freie Entfaltung
und wird nicht selten ironisch=sarkastisch. (Vgl. z. B. Glaßbrenners sarkastischen
Reineke.)
I. Reineke Fuchs, von Goethe.
Dieses satirisch=komische Tierepos
ist eine Nachbildung jener uralten Tiersage, die wir bereits unter
Fabel (S. 162 d. Bds.) erwähnten. Es zeichnet sich durch lebensvolle
Jndividualisierung und treffende Charakteristik aus und liefert den
Nachweis, daß die seinen Kern bildende alte Tiersage von Reineke
Vos in ihrer neuen, schöneren Form auch in unserem Jahrhunderte
große Wirkung zu üben vermag, daß auch unsere Zeit aus derselben
Belehrung schöpfen kann, ja, daß sie wie ein aus waldesduftiger Heimlichkeit
vorgehaltener Spiegel auch die Schwächen unseres Jahrhunderts
reflektiert.
Die Hauptfigur des in 12 Gesängen im hexametrischen Versmaß aufgebauten
Epos ist der Fuchs (Reinhard, Reineke, Reginhard, d. i. der Ratskundige,
Ratfeste, franz. renard).
Jnhalt: Allgemeiner Friede wird den Tieren verkündigt. Trotzdem beharrt
ein jedes in seiner Selbstsucht. Besonders der Fuchs ist es, welcher alle
Tiere auf's Arglistigste und Liebloseste behandelt, sich gegen jegliche Ordnung
auflehnt und gegen Religion und Sittlichkeit auf's Gröblichste verstößt. Nobel,
der Löwe, Regent des Tierreichs, ist sein Protektor. Jsegrim der Wolf, Lampe
der Hase, Braun der Bär, Hinze der Kater, Henning der Hahn &c. verklagen [343]
den Fuchs bei Nobel wegen seiner hinterlistigen Betrügereien. Reineke weiß
sich herauszulügen, so daß er zuletzt sogar noch von Nobel mit Ehren überhäuft
wird.
Grundgedanke: List und Ränke gewinnen im Leben die Oberhand über
Gutmütigkeit und Ehrlichkeit; Schlauheit und Selbstsucht regieren die Welt.
Die neue Ausgabe der klassischen Übersetzung unseres Goethe mit Kaulbachs
Jllustrationen hat den Vorzug der Anschaulichkeit durch das Bild, indem
es Kaulbach wie kein zweiter verstand, tierische Gestalten und Physiognomien
zur typischen Darstellung menschlicher Bestrebungen und Leidenschaften in den
richtigen Situationen aufzufassen und zu verwerten.
Beispiel aus Reineke Fuchs, von Goethe.
Siebenter Gesang.
II. Rollenhagens Frosch-Meuseler.
Rollenhagens „Frosch=
Meuseler“ (1595) oder „Der Frösche und Mäuse wunderbare Hofhaltungen“
ist eine Neubearbeitung der „Batrachomyomachie“ und eine
Parodie des homerischen Stils.
Das Epos ist wertvoll als Versuch, eine ganze Epopöe didaktisch auszuführen.
Es zeigt im 1. Buche, wie alles seine Feinde habe, wobei es die
bürgerlichen Stände durch Tiere vorstellt. Jm 2. Buch folgen Erörterungen
des Froschkönigs Bausback mit dem Mäusekronprinz Bröseldieb über die beste
Staatsverfassung. Jm 3. und letzten Buch beginnt der Krieg zwischen Fröschen
und Mäusen, welch' letztere trotz tapferster Gegenwehr doch ihren Feinden weichen
müssen, da jene sich durch die gepanzerten Krebse verstärken. Das Gedicht ist
reizend in den Einzelheiten und gewinnend durch anmutige, behagliche epische
Breite; aber in der innern Komposition ist es nicht eng genug gefügt und zusammengeschlossen.
Probe aus dem Froschmeuseler, von Rollenhagen. (Ausg.
von K. Goedeke. 1876. S. 64. Die Orthographie ist verändert.)
Das Epos schließt mit folgender
Moral:
S. 288.
III. Der Muckenkrieg.
Dieses heroisch=komische Gedicht wurde
von H. C. Fuchs verfaßt. F. W. Genthe hat es 1833 nach der
Ausgabe von 1600 mit den Varianten der Schnurrschen Bearbeitung
von 1612 neu herausgegeben.
Jnhalt: Die Mucken und ihre Verbündeten ziehen zu Feld gegen die Ameisen
und deren Verbündete. Die Gegner treffen in großer Zahl auf einander und
liefern sich eine greuliche Schlacht.
Probe des Muckenkriegs.
Das erste Buch. (Jnhalt:)
Das andere Buch. (Jnhalt:)
Das dritte Buch. (Jnhalt:)
Zur Litteratur des Tierepos.
Schon das Altertum in Jndien, Persien und Griechenland kennt die
poetische Auffassung der Tierwelt. Diese hat sich im germanischen Mittelalter
ausgebildet und größere Gedichte erzeugt. Fuchs und Wolf treten zuerst als
handelnde Personen auf. Jm 12ten und 13ten Jahrhundert treten zuerst
in Flandern die Dichter der Fuchs- und Wolfsage auf, um unter diesen
Figuren über den Papst, die Geistlichen &c. die satirische Geißel zu schwingen.
(Für Näheres vgl. J. Grimms Einleitung zur Ausgabe von Reinhart Fuchs.
Berlin 1834.)
Es entstanden u. a. Reineke Vos. Des Hundes Not. Die Wolfsklag.
Ratsversammlung der Tiere. Flohhatz, von Fischart. Der Froschmäusler. Der
Muckenkrieg. Der Ganskönig, von Spangenberg u. a.
Drei nennenswerte Tierepen aus der neueren Zeit sind: 1. Bäßler:
Ameisen- und Jmmenkrieg (eine Nachbildung des Muckenkriegs), 2. Heinrich [347]
Ernst Pöschl: Geranopygmaiomachie (ein komisches Tierepos in 5 Gesängen,
welches 1837 in Pesth erschien. Es wurde durch Goldsmiths Gulliver veranlaßt
und behandelt den Kampf der Kraniche mit den Pygmäen). 3. Kynalopekomachia,
oder der Hunde Fuchsenstreit, von Frh. v. Rumohr.
III. Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildete prosaische Gattungen.
Roman und Novelle.
§ 126. Begriff, Verbreitung und Bedeutung des Romans.
1. Der Roman ist das Prosaepos der Gegenwart. Man versteht
darunter im allgemeinen jene umfangreiche Prosa=Erzählung,
welche Entwickelungsgang und Geschick eines Helden vom ersten Ahnen
oder Beginnen seines Strebens bis zu einem gewissen Abschluß einer
Reihe von Begebenheiten, (bis zur Erreichung eines Zieles oder bis
zur Sichtbarwerdung der poetischen Gerechtigkeit, d. i. der Vollendung
der poetischen Jdee § 130) in abgerundeter Form und poetischer, das
wirkliche Leben und den jeweiligen Charakter der Zeit wiederspiegelnder
Weise darstellt. Mit andern Worten: der Roman bietet die poetische
Gestaltung eines individuellen, einheitlich bestimmten bedeutenden Lebens
in der Form geschichtlicher Erscheinung; die Spiegelung dieses Lebens
mit seinen sittlichen Höhen und Tiefen; das Bild dieses durch
Erfahrung gereiften, durch Gefahren erprobten, zuletzt zu einem sicheren
Standpunkt gelangten Lebens, wie es beispielsweise schon bei der homerischen
Erzählung der Jrrfahrten des Odysseus entgegentritt.
2. Der Roman der Gegenwart hat eine außerordentliche Verbreitung
erlangt; er ist allen Schichten der Bevölkerung und der ganzen
Nation geradezu zum Bedürfnis geworden.
3. Er hat daher einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf den
Charakter und die kulturelle Signatur des Jahrhunderts.
4. Dadurch erblüht dem Romandichter die hohe Aufgabe, Lehrer
und Bildner seines Volks zu werden, und sein Jahrhundert in eine
höhere Sphäre geistigen Seins zu heben.
1. Das Wort Roman (romant) stammt aus dem Romanischen. Romanisch
ist aber dem Wortsinn nach zunächst alles, was seinen Ursprung der
lateinischen (== romanischen) Sprache verdankt: also das Jtalienische, Französische,
Portugiesische und dasjenige Romanische, welches sich bis auf unsere
Tage in einem kleinen Teile Graubündens erhalten hat. Eine Erzählung in
der romanischen Sprache hieß ursprünglich ein Romant (z. B. der berühmte
abenteuerreiche, phantastische Romant Amadis, das Urbild der späteren Ritterromane,
dessen Verfasser wahrscheinlich der Portugiese Vasco de Lobeira um
1400 war, und der im 16. Jahrhundert aus Frankreich nach Deutschland
kam, als die erste größere Erzählung, welche man „romanisch“ nannte. Der [348]
musterhafte ritterliche Held dieses Romans, der eine ganze Reihe sog. Amadisromane
hervorrief, ist nach einer abenteuerreichen Fahrt nach Schottland verschlagen
worden; dort verliebte er sich in die Königstochter Oriana. Dieser
breit ausgeführten Liebesgeschichte reiht sich noch die Geschichte des Sohnes der
beiden und der Nachkommen an u. s. w. Erst nach diesem Romant nannte
man jede abenteuerliche Rittererzählung einen Roman, z. B. das satirische
Muster der Ritterromane: den um 1650 erschienenen Don Quixote von Cervantes).
Einige leiten den Namen Roman von Gesta Romanorum (Thaten der
Römer) her, einer alten Sammlung ursprünglich in lateinischer Sprache geschriebener
Liebesgeschichten, die Ende des 15. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt
wurde u. s. w.
2. (Verbreitung der Romane.) Heutzutage hat der Roman deshalb
eine so weitgehende Bedeutung, weil er unserem Lesepublikum diejenige
Gattung geworden ist, durch welche es mit allem, was die geistige Welt in
Bewegung setzt, in lebendiger Verbindung sich erhalten sehen will; durch welche es
über alle wichtigen Fragen, selbst über die Vorschriften des gesellschaftlichen
Anstands und Verkehrs sich unterrichten zu können glaubt. Es sucht im Roman
sich selbst mit seinen Gefühlen, Sorgen, Kämpfen, Freuden; es verlangt
von ihm Raisonnements über Kunst, Politik, Religion, Sozialismus; es wünscht
im Roman allen Gesellschafts- und Bildungskreisen zu begegnen u. s. w. Jn
der That ist der Roman für manche Menschen das Medium und die Quelle
ihrer Weiterbildung, ihrer Anschauungen, ihrer Stimmungen geworden, das
Spiegelbild ihrer Liebe und ihres Hasses. Seit Freytags „Soll und Haben“
(1855) gehört es zum guten Ton, die bedeutendsten Romane gelesen zu haben.
Ein neuer Roman Freytags, Spielhagens, Auerbachs, Ebers', Kellers ist seitdem
dem Lesepublikum ein Ereignis. Das Romanlesen hat die ganze Gesellschaft ergriffen.
Romane liest der Fürst und die Fürstin, der Kammerdiener und die
Kammerjungfer, der Staatsmann und der Lieutenant, der Student und der
Gymnasiast, die Pensionärin und die Matrone, der Kaufmann und das Höckerweib.
Das Romanlesen ist nicht Modesache: nein, es ist Leidenschaft, Passion
geworden, Bedürfnis für geistige Unterhaltung oder Ernährung.
3. Dadurch hat der Roman eine gewaltige Bedeutung für den Charakter
und für die Kultur unserer Zeit erlangt. Die Engländer und Franzosen haben
seine moralische Macht nie unterschätzt. Die schlechten Romane und das Lesen
derselben sind geeignet ein Volk zu demoralisieren, es gesinnungslos, herzensmatt
zu machen; und man hat daher nicht ganz mit Unrecht einen Zusammenhang
der Niederlagen bei Austerlitz und Jena mit den weitverbreiteten sentimentalen
Romanen jener Zeit erkennen wollen. Spanier, Engländer, Franzosen
hatten um jene Zeit nicht so viele schlechte, sog. empfindsame Romane als wir
Deutsche. Vielleicht ist ein Teil ihres eigenartigen häuslichen, gesellschaftlichen
und öffentlichen Lebens der Form, der Tendenz, dem Gehalt ihrer Romane
zuzuschreiben. (Oder umgekehrt?)
4. Daraus geht hervor, daß, wie jeder Dichter, so besonders der Dichter [349]
von Romanen berufen ist, Bildner und Lehrer der Nation zu sein; er hat die
Aufgabe sein Volk zu begeistern, zu veredeln.
Sein Herz muß an allem, was Menschenbrust erhebt, sich erwärmen, die
Schicksale und die Entwickelungsstadien seiner Nation müssen ihn begeistern, die
Bedürfnisse seines Jahrhunderts müssen ihm klar vor der Seele stehen und
ihn in seinem Schaffen leiten. Ohne in Tendenz und Lehre überzugehen, muß
der Roman reflektieren, was der Dichter als Repräsentant des Jahrhunderts
fühlt, ja, der gute Roman muß den vollen Jnhalt der Zeit auf anmutige Weise
mit der Empfindung und dem Bewußtsein der Nation vermitteln: eine grandiose
Forderung, durch deren Ausführung der Roman ─ Reales und Jdeales
verschmelzend ─ ebenbürtig neben das Drama tritt, ja als Prosa-Epos für
unsere Zeit dieselbe hohe Mission erreicht, welche das poetische Volksepos für
eine frühere Epoche hatte.
§ 127. Verhältnis des Romans zum Epos.
1. Der Roman ist aus dem Epos hervorgegangen und später an
seine Stelle getreten, obwohl er sich von dessen Anforderungen an Wohllaut
und poetischen Rhythmus emanzipiert hat.
2. Er unterscheidet sich vom Epos in wesentlichen Stücken, vor
allem durch seine Prosa-Form, durch seine Stoffe und seine Helden.
1. Der Roman, den man eine Zwitterart zwischen poetischer und prosaischer
Darstellung nennen könnte (die Grenzgattung zwischen Poesie und Prosa),
war ursprünglich weiter nichts, als das in Prosa aufgelöste Epos, die Analyse,
Übersetzung, Nacherzählung, Umbildung des metrischen Epos: das Prosa-Epos
(§ 142. XII). Das Aufblühen des Romans fällt mit dem Niedergang des
Epos zusammen.
2. Beweist nun auch der Ursprung des Romans dessen enge Verwandtschaft
mit dem Epos, mit dem er mindestens Jnhalt und Zweck gemeinschaftlich
hat, so unterschied er sich doch in der Folge von ihm:
a. Durch seine für ihn passende Prosaform: für ihn passend,
weil der Rhythmus alles in Gold verwandelt, im Roman aber auch taubes
Gestein nötig ist und die kleinen und kleinsten Züge in der Physiognomie des
Menschen nicht darum unentbehrlich sind, weil sie klein und unbedeutend sind,
sondern weil unsere realistische Anschauung sie verlangt, und weil die volksmäßigen
Helden des prosaischen Kulturepos des Romans den künstlerischen
Rahmen des Heldenepos mit seinen auch in der Sprachweise vornehmen Helden
nicht brauchen können, vielmehr die gewöhnliche Sprache des Lebens verlangen,
dem sie angehören. (Nur ganz ausnahmsweise hat der Roman metrische Form.
Vgl. Fr. v. Schacks Ebenbürtig, und Karl Becks makamenartigen Janko.
I 593, Sprachprobe: I 596.)
b. Durch seinen weniger wichtigen Gegenstand. Das Kulturgemälde
des Epos hat es mit großen Volksinteressen, Völkerkampf &c. zu thun.
Es rollt Weltschicksale auf, während der Roman Privatgeschichten mitteilt.
c. Durch die mehr zufällige Wiedergabe des Geistes einer
bestimmten Zeit und die dadurch bedingte geringere Bedeutung
seines Helden.
Der Dichter des Volksepos giebt dem Jahrhundert seinen Ab- und Ausdruck;
er dichtet als Organ seines Volks aus dem Geiste des Jahrhunderts
heraus; der Dichter des Romans malt zwar auch sein Jahrhundert, aber dieses
reflektiert nur nebenbei aus der Beleuchtung seines der Phantasie entstammten
oder geschichtlich zugestutzten Helden, der ─ wenn auch von ihm Weltbewegendes
erzählt wird ─ doch nimmermehr das Überzeugende, Grandiose jener göttergleichen,
sagenhaften oder geschichtlichen Helden des heroischen Epos haben kann.
d. Durch den Ausschluß des Wunderbaren. Die Wunderthaten
des Volksepos erhalten durch das Eingreifen der Götter (Göttermaschinerie)
lebensvolle Wirklichkeit, während Wunderthaten moderner menschlicher Romanhelden
höchstens die Bedeutung von Romantik, von Abenteuern &c. erlangen.
e. Durch seine frei erfundenen Stoffe. Das Epos beansprucht
einen in der Sage vorhandenen oder einen historischen Stoff. Nur die aus
älteren Epopöen hervorgegangenen Romane, sowie einzelne ihrem Einfluß zuzuschreibende
Originalromane früherer Zeit hatten sagenhaften Stoff. Der spätere
Roman verließ das Stoffgebiet der Sage und des Wunderbaren und entlehnte
seine Stoffe meist der Wirklichkeit und der Erfindung, welche sich an die Geschichte
anlehnte, aus ihr schöpfte. Er nähert sich dem Epos, indem seine Personen
und Begebenheiten die Lokalfärbung eines bestimmten Landes und einer
gewissen Zeit an sich trugen (z. B. die der Kreuzzüge, des Faustrechts), oder
indem die wesentlichen von der Phantasie erdachten Personen mit wirklichen
geschichtlichen Personen verflochten wurden, wie dies in den halbhistorischen
Romanen von Walter Scott und seiner Nachahmer der Fall ist. Je mehr der
Roman stofflich den Lokalton seines Jahrhunderts zum Ausdruck bringt, je mehr
er in seinen Figuren das Leben eines Volkes oder einzelner Klassen einer bestimmten
Zeit malt, je mehr er zum Zeit- und Kulturbild wird, desto näher
stellt er sich dem Epos, desto mehr wird er im edlen Sinn das Prosa-Epos
unserer Zeit genannt zu werden verdienen.
§ 128. Verhältnis des Romans zum Drama.
1. Der Roman ist wie das Drama ein Kunstwerk; wenn auch
in der Regel kein metrisches. Jm Hinblick auf seine Disposition und
seine poetischen Formgesetze, auf seinen künstlerischen Auf- und Ausbau,
auf seine berechnete Motivierung, auf seine verständnisvolle Jneinanderfügung
der Begebenheiten, auf Schürzung und Entwickelung des Knotens
und anderes ist er dem Drama eng verwandt. (Vgl. § 130.)
2. Der Roman muß wie das Drama ein bestimmtes Maß in
der Ausdehnung einhalten.
3. Einen Unterschied bedingt seine größere Ausbreitung der Scenerie
und der Gedankenwelt.
1. Man hat vielfach die Kunst des Romanbaus unterschätzt. Jeder halbweg
gebildete Schreiber glaubte einen Roman herstellen zu können. Ein Aktenstoff
aus dem Staatsanwalts-Archiv, eine Lebensbeschreibung ─ und der Roman
in möglichst breiter Ausführung war fertig. Geistvolle Schreiber brachten ein
Gewirr von Causerie zusammen, daß man sich bis zur Erhitzung abmühen
mußte, durch ihr Geistreichthun hindurch zu gelangen. Und doch muß der gute
Roman ebenso kunstvoll angelegt und aufgebaut sein, als das Drama; doch
muß er dieselbe lichtvolle Gruppierung, dieselbe Disposition haben. Dieser Umstand
müßte von vornherein der Willkür, der Maßlosigkeit, ─ der Verwilderung
vorbeugen. Er sollte dem planlosen Darauflosschreiben entgegen treten,
den Mißbrauch der Episoden beseitigen, die ellenlangen Beschreibungen einengen,
den übergelehrten Kram unmöglich machen, den symmetrischen Verlauf garantieren,
und ─ indem die Weitschweifigkeit der knappen Form des Kunstwerks
aufgeopfert wird, ─ vor langatmigen, vielbändigen Romanvermächtnissen schützen.
2. Ein guter Roman sollte (wie ein gutes Drama) nur ausnahmsweise
die Grenzen eines Bandes überschreiten. Skudery in Clälie giebt uns
10 Bände zu je 600 Seiten; Richardson in Clarissa bietet 4634 Seiten!
Und er erzählt doch nur von Entführung, Entehrung und Tod der Clarissa.
Manzonis Erzählung: Die Verlobten widmet dem Pater und der Edelnonne,
welche beide für den Ausgang des Konflikts nur von episodischer Bedeutung
sind, eine sogar die gleichgültige Vergangenheit dieser Personen in
Betracht ziehende unnötige Breite. L. Sterne verweilt bei Nebensächlichem in
seinem neunbändigen Tristram Shandy. Ebenso Waldau in Nach der
Natur, wo man den 2. Band weglassen kann, ohne irgend eine Lücke zu
empfinden. Luise Mühlbach versündigt sich am Alten Fritz in einem zehn
Bände umfassenden Roman. Von den langatmigen Schilderungen, den endlosen
Zwiegesprächen über Politik, Religion und Gesellschaft, die man uns meist
für Romane ausgiebt, gehören die einen zu Theophrast und La Bruyère,
die anderen zur Leitartikel-Litteratur. Anstatt durch die Größe der Jdee und
deren Wahrheit zu fesseln (§ 130), anstatt zu unterhalten und die Phantasie
angenehm zu beschäftigen, glaubt so mancher Romanschreiber durch Fabulieren
zu wirken, und er artet daher durch seine Stickerei in Übertreibungen aus, die
jede Ähnlichkeit mit dem Drama verwischen.
3. Eine berechtigte Verschiedenheit des Romans von dem Drama mit
seinem eigenartigen Abschluß durch die That liegt darin, daß der Romandichter
durch ruhigen, episch fließenden Fortgang seiner Erzählung beschaulichen Einblick
in den Gang und die Entwickelung der nach allen Seiten hin beleuchteten
Begebenheiten gewähren muß, daß er durch die epische Schilderung den Gesetzen
der Wahrscheinlichkeit besser, anschaulicher zu genügen hat, als der Dramatiker,
daß er bis in's Detail die Scene auszumalen gezwungen ist, welche
im Drama durch Coulissen und Gardinen repräsentiert wird u. s. w.
§ 129. Stoff des Romans.
1. Der Stoff des Romans muß im Erlebnis, in der Wirklichkeit
wurzeln.
2. Er muß die Herausschälung einer ethischen Pointe ermöglichen.
3. Die mündliche Tradition ist als Stoff nur bedingungsweise
zulässig, sofern sie nämlich durch Jdealisieren &c. den Schein der Wirklichkeit
erhalten kann.
1. Um mit den Anschauungen und Bedürfnissen der Zeit möglichst im
Einklang zu bleiben, um das große Gebiet menschlichen Seins und Strebens
zu umschließen, muß der Stoff des Romans dem Leben der Wirklichkeit entlehnt
sein. Der Romanschriftsteller muß hinausziehen auf die Höhen des wirklichen
Lebens, die einen Weltblick in den Reichtum menschlichen Waltens gewähren,
wie es Gutzkow, Spielhagen, Ebers, Freytag, Keller u. a. thaten;
auf diesen Höhen entspringen ihm die dichterischen Quellen des Reichtums
lebensvoller Erfindung.
Privatleben, Familie, Stand, Staat, Volksleben, Kulturwelt, Verkehr,
Religion, Liebe, Arbeit, Politik, Kunst: ─ dies alles wird sich unter den
Händen des fähigen Dichters in gesunden Romanstoff umwandeln lassen. „Jedes
Menschenherz“ ─ sagt Erwin Schlieben in seiner Preisschrift ─ „aus dem
Gott noch nicht herausreflektiert ist, jeder Herd, dessen Feuer noch glückliche
Menschen bestrahlt, jede Werkstatt, in der noch redliche Arbeit zusammenkommt,
jeder Kampfplatz, auf dem noch wertvolles Leben eingesetzt wird, ist wertvolles
Gut, ist eine Stoffquelle, ein Heiligtum der Poesie, von welchem erwärmende
Strahlen in das Prosaische und Profane hinausleuchten.“
2. Von diesem Standpunkte aus, nach welchem der Roman das wirkliche
Leben wiederspiegeln muß, ließe sich eigentlich jeder Stoff verteidigen. Aber
es sollten doch nur Stoffe gewählt werden, die für Herauskehrung eines ethischen
Grundgedankens verwertbar sind, wie es z. B. Leithner in „Denn jede
Schuld rächt sich auf Erden“ oder Kurtz im Sonnenwirt that, dessen verworfenen
Helden er durch Jdealisierung in tragische Beleuchtung stellt. Oder
wie es Auerbach im Landhaus am Rhein und noch mehr im Landolin
von Reutershofen thut, dessen Held wegen eines Mordes freigesprochen
wird, aber erst durch reuevolles Leben und durch seinen Tod der verletzten
Gerechtigkeit Sühne giebt. Oder wie wir es bei dem Vertreter des Seeromans
Rosenthal-Bonin in Das Gold des Orion (1882), besonders aber im Diamantschleifer
finden, in welchem das unverschuldete Unglück des Helden durch den
dramatisch wirkenden Eintritt der poetischen Gerechtigkeit (Wiederfinden der Mutter,
Freisprechung, Liebe) anschaulich genug gemalt ist.
Kriminalfälle und Ehestandsverbrechen (wie die ersteren von Temme, die
letzteren durch den maßvolleren Engländer Richardson (1761) bei uns eingeführt
und von Wezel, Laroche u. a. eingebürgert wurden) können unserem
ethischen Jdeal nicht gerecht werden. Ebensowenig Stoffe, die den Schelmen= [353]
und Räuberkreisen entlehnt sind. Am allerwenigsten die trüben Stoffquellen
gewisser sensationeller Kolportageromane, z. B. Eugenie; Strousberg; Amerikanisches
Duell; oder Stoffe wie diese: Krakauer Klostergeheimnisse (Berthold);
Barbara Ubryk (Born); Schandthaten (Clarkson); Die Mörder aus Wollust
(Dauer); Jungfernblut; Nonne und Maitresse (Haffner); Der große Krach;
Maitressenwirtschaft (Th. Griesinger); Wollust und Verbrechen auf dem Thron
(Reynolds); Die Banditen des Salons, oder der Roman einer Kunstreiterin
(Bernhardi) &c.
3. Die mündliche Überlieferung kann nur insoweit zur Stoffquelle werden,
als der Dichter durch künstliches Jdealisieren und Motivieren (§. 134) einem
Stoffe den Charakter des Erlebnisses und der Wirklichkeit zu verleihen vermag,
wie es z. B. Gutzkow in seinem satirischen Roman Blasedow und seine Söhne
und in Die Söhne Pestalozzis that. Dies gilt auch für die geschichtlichen
Stoffe. (Vgl. z. B. Karl van der Velde: Die Eroberung von Mexiko; Robianos
Anna Boleyn; A. Schraders Radetzky; Baudissins Philippine Welser &c.)
§ 130. Jdee des Romans.
1. Der Stoff in seiner rohen Form giebt keinen Roman, welcher
die Bezeichnung eines Kunstwerks verdiente. Der gute Roman entsteht
erst durch planvolle Ausbreitung einer nach bestimmtem Ziel
hinleitenden Jdee, durch Verkörperung eines Geistigen in sinnlich anschaulichem
Gewande.
2. Eine Jdee ist bedeutend, wenn sie den Blick über die Erbärmlichkeit
der Wirklichkeit hinweg in das Gebiet des Großen, Sittlichen,
Menschheitveredelnden, Erhabenen zu lenken vermag.
3. Eine bedeutende Jdee muß für alle Zeiten gültig bleiben.
Darin beruht ihre kulturhistorische Mission.
4. Die Jdee tritt vor allem durch den Helden in sichtbare Erscheinung.
5. Die Jdee muß schließlich durch den Sieg des Guten ihre
Symbolisierung erhalten.
1. Wie beim Drama breitet der Dichter auch im Roman diejenige Jdee
aus, auf welche mehr oder weniger ein Stoff, ein Ausspruch, eine Erwägung,
eine Wahrnehmung hinleitet. So nahm Spielhagen die Jdee zu seinen Problematischen
Naturen aus einer bekannten Sentenz Goethes; Gutzkow zu
seinem Zauberer von Rom aus der Erwägung von der Lebenskraft des
Katholizismus; Freytag zu seinem Soll und Haben aus der Erkenntnis
vom Glück des Volks in der Arbeit; Änni Albert zu Harte Gesetze aus der
Jnkonsequenz in der bürgerlichen Gesetzgebung; Wilhelmine v. Hillern zu Ein
Arzt der Seele aus der Anschauung von der Aufgabe der Frau &c.
Viele Romane sind weiter nichts, als lose verbundene Abenteuer eines [354]
Helden ohne leitende Jdee. (Man vgl. den bekannten Gil Blas von Lesage,
oder den noch bekannteren Simplicissimus von Grimmelshausen.) Gutzkow
bietet in den Rittern vom Geiste zwar keine losen Abenteuer, aber drei neben
einander herlaufende Jdeen. Dies schadet der Geschlossenheit und Übersichtlichkeit
des Romans und dehnt ihn unnötigerweise aus. Richardson war der erste,
der einen Helden mit nur einer bestimmten Jdee einführte.
Die ursprünglich abstrakte Jdee wird im Lauf des Romans in eine reale
verwandelt (z. B. die abstrakte Jdee des Gottesbewußtseins in die reale des
religiösen Bedürfnisses u. s. w.).
2. Die reale Jdee muß in das Reich des Schönen, Guten, Wahren
einführen. Dadurch wird sie bedeutungsvoll. Bedeutend ist beispielsweise die
Jdee der allgemeinen Bildung (z. B. in Goethes Wilhelm Meister), ferner
die Jdee der Sittlichkeit (Spittas Reine Herzen), der materiellen
Arbeit (Freytags Soll und Haben; Schwartz' Arbeit adelt den Mann); der
geistigen Arbeit (Freytags Die verlorene Handschrift); der Ausbildung
des Charakters (Dincklages Tolle Geschichten, und Reuters Ut mine Stromtid);
des Volkswohls (Spielhagens Jn Reih und Glied); der Humanität
(Auerbachs Landhaus am Rhein); der Religion des Geistes (Heyses
Kinder der Welt); des Katholizismus (Gutzkows Zauberer von Rom); der
Heiligkeit der Ehe (Auerbachs Auf der Höhe); der Macht der Liebe
(Brachvogels Falstaff); der Begeisterung für Selbstbefreiung der
Frau von Eitelkeit, Trägheit und Seelenschwelgerei (L. v. Fran=
çois Die letzte Reckenburgerin) &c.
Alle Romane, denen die bedeutende Jdee fehlt, sind in ihrer Grundbedingung
verfehlt. Sofern z. B. der humoristische Roman eine bedeutende Jdee
vermissen läßt, erscheint der Autor lediglich als Spaßmacher, Witzbold, aber
nicht als planvoller Humorist.
Beim guten Roman muß der Leser die Jdee erkennen, er muß sich aus
der Ausbreitung derselben das Facit ziehen können, wie es z. B. in Gottw.
Müllers Siegfried von Lindenberg recht wohl möglich ist, wo ein
halbgebildeter Schulmeister der Jgnoranz seines ignoranten Landedelmanns
gegenüber wie ein großer Gelehrter erscheint und so die Vortrefflichkeit und
Wichtigkeit der Jdee der Bildung symbolisiert.
3. Die bedeutende Jdee wird immerfort ihre Gültigkeit behalten; sie wird
in jedem Jahrhundert die Berechtigung des Verlangens zeigen, den Genius
der Zeit in einer bleibenden Wahrheit zu erfassen und wiederzuspiegeln, weshalb
z. B. dasjenige Historische, das keinen Nerv unserer Zeit zu erregen vermag,
ebensowenig zu ihrem Träger werden kann, als das bloße Parteigetriebe.
Letzteres giebt einer vorübergehenden Jdee Ausdruck, z. B. derjenigen, welche
die Gesetzgebung umstürzen will, wie es Heinse in seinem sonst gut geschriebenen
„Ardinghello“ thut, wo er Güter- und Weibergemeinschaft vorführt; oder welche
(vgl. Schlegels bekannte Lucinde) der schrankenlosen Sinnlichkeit das Wort redet,
also einer Anschauung huldigt, die niemals als allgemein wahr anerkannt
werden wird.
Die bedeutende Jdee des modernen Romans muß auch ein kulturhistorisches
Ziel haben. Dies ist beispielsweise bei der Jdee der Liebe der Fall,
die alle Seiten des Menschenlebens umfaßt, die ihre Stätte im Palast, wie
in der Hütte, bei allen Ständen und Bildungsgraden hat, und die uns imponiert,
weil wir hier das Rein- und Edelmenschlich-Jdeale symbolisch im edlen
Weibe anschauen.
Dies ist auch bei der Jdee der Bildung der Fall, da die Bildung den
Wunderbau der modernen Kultur ausführt. Dies ist ferner bei allen religiösen,
philosophischen Jdeen der Fall.
4. Der Träger der Jdee ist der Held (§ 132). So ist Georg Hartwig
in Spielhagens Hammer und Ambos der Träger der Jdee der materiellen
Arbeit; der Professor in Freytags Verlorene Handschrift Träger der
Jdee der geistigen Arbeit; Erich im Landhaus am Rhein Träger der
Jdee des Humanismus u. s. w.
Jm sogenannten Entwickelungsroman, der in streng stufenweiser
Folge das Keimen und Erwachen der Jdee bis zum Kampf
um dieselbe und bis zu ihrem endlichen Sieg darstellt, wird
die Jdee dem Helden zum Jdeal. Leo Gutmann (in Reih und Glied)
ersehnt schon als Kind das Wohl seiner Nebenmenschen und entschließt sich
deshalb, als Missionär zu den Wilden zu gehen. ─ Anton Wohlfahrt (in
Soll und Haben) schwärmt bereits als Knabe für die weltumschließenden
Erfolge eines großen Kaufmanns und läßt schon im Keime die Jdee erkennen,
die später sein Jdeal wird.
5. Die Jdee muß sich lediglich in ihrer Ausbreitung und in ihrem Sieg
als bedeutend erweisen, nicht aber darf der Dichter die Jdee als bedeutend
dadurch hinstellen, daß er sie als die allein gültige und richtige rühmt, wenn
sein Kunstwerk nicht den Charakter des Prätentiösen, spezifisch Tendentiösen erhalten
soll. Jn dieser Beziehung fehlt Sacher-Masoch in Die Jdeale
unserer Zeit, indem er schwächliche Figuren als Repräsentanten unseres
modernen Deutschland hinstellt; ebenso Laicus, der alle Freimaurer bekämpft,
ohne nur einen einzigen derselben zu kennen u. s. w. Der objektive Spielhagen
fehlt nicht. Seine Romane scheinen gegen verschiedene Typen der Gesellschaft
gerichtet zu sein, und sie werden doch zuletzt allen gerecht.
Eine bedeutende Jdee wird immer Freunde und Gegner haben müssen.
Es ist dies ja erklärlich. Darum ist aber auch der endliche Sieg der Jdee von
Bedeutung. Erst bei vollendetem Triumph derselben ist es dem Dichter möglich,
das Ende des Romans zu einer Symbolisierung der Jdee zu gestalten.
(Vgl. Auerbachs Landhaus am Rhein, wo die Jdee der
Humanität einen glänzenden Ausdruck im Kriege der amerikanischen Nordstaaten
gegen den Süden als den Verteidiger der Sklaverei findet.) Diese Symbolisierung
der Jdee ist eine der bedeutendsten Aufgaben des Romans,
der auf den Gebieten des Geistes seine Schlachten schlägt.
§ 131. Bau des Romans.
Der künstlerisch aufgebaute Roman hat mit dem Drama gleiche
Teile.
Somit unterscheiden wir im Bau des Romans: Exposition, Versetzung
in die Sache, Aneinanderstoßen der Begebenheiten, erregendes
Moment, Bewegung, steigerndes Moment, Mitte, Höhepunkt, Schürzung
des Knotens (Verwickelung), Konflikt, entscheidendes Moment,
fallende Handlung, letzte Spannung, Katastrophe, Schluß.
Wo dieser Gang nicht beachtet ist, wo die Steigerung zur Mitte und
der Abfall zum Schluß fehlt &c., ─ ist der Roman kein Kunstwerk. Es ist
das Ganze vielleicht eine Mitteilung der Lebensreise des Helden, eine Beschreibung
und Schilderung seiner Erlebnisse, eine langatmige Erzählung, aber
es ist keine künstlerische That. Nicht in der labyrinthisch fortgesponnenen, verwickelten
Handlung besteht die Kunst des Romans, sondern im künstlerisch angeordneten
Verlauf, im organischen Wachstum, in der ursachlichen Verbindung seiner
symmetrisch aufgeführten Teile. Mit Recht sagt Mähly (Der Roman des 19.
Jahrhunderts S. 8), daß die Strenge der Form das einzige Mittel sei, dem
Roman zur Ebenbürtigkeit mit den übrigen Produkten der Phantasie zu verhelfen.
An diesem Fels müsse der bloße Dilettant, der handwerksmäßige
Pfuscher Schiffbruch leiden.
§ 132. Der Held des Romans.
1. Jeder Roman muß (wie das Drama) eine Hauptperson haben,
auf welche sich, wie auf ein Centrum, alle Ereignisse mittelbar oder
unmittelbar beziehen, ja, um die sich die übrigen Charaktere des Romans
(vgl. § 133) gruppieren. Dieser Held ist nicht starr, feststehend,
stereotyp, wie der Held im Drama, sondern er ist bildsam, entwickelungsfähig,
er ist wie alle übrigen Charaktere des Romans im Werden begriffen.
2. Der Held muß eine imponierende, großer Thaten fähige Figur
sein.
3. Er muß Eigenschaften besitzen, welche ihn unseres Jnteresses
wert erscheinen lassen.
4. Er darf keine erbärmliche Rolle spielen, auch dann nicht, wenn
er der vom Schicksal geschaukelte passive Held ist.
5. Die Schilderung des Helden, die nicht mit seiner Geburt zu
beginnen braucht, muß naturgemäß, lückenlos fortschreiten.
6. Die Liebe ist im Entwickelungsgang des Helden meist ein
wichtiges Moment; am wichtigsten ist sie im Liebesroman.
1. Am besten eignen sich zum Helden des Romans kräftige, zu großen
Unternehmungen fähige Personen, Menschen, die (nach W. v. Humboldt) mit
allem, was nur überall das Menschlichste und Natürlichste ist, in vollkommenstem
Einklang stehen, nicht aber krankhafte, wunderliche Naturen, die wir vergeblich
im Kreise der Mitlebenden suchen, wie uns Wilbrandt in seiner ausgebreiteten
Novelle „Fridolins heimliche Ehe“ den Helden Severin vorführt,
der sich von der Geliebten mißhandeln läßt.
2. Der Held muß die Fertigkeit behalten, seine Leidenschaft und seine
Kraft heldenhaft bethätigen zu können, damit er ─ der verachtete Romanheld
─ nicht allzusehr vom geachteteren Helden des Drama, wie vom Helden der
Geschichte unserer Tage absticht. Sein Kampf gegen Lüge, Heuchelei, Vorurteil,
wie gegen sich selbst muß etwas Jmponierendes haben. Wenn ihm
auch hie und da der Wille zum Kampf fehlen mag, so darf ihm doch das
Können nicht mangeln. Vorbildliche Helden sind in dieser Beziehung Freytags
Anton und Spielhagens Georg. Man merkt bei ihnen nichts von jenem
beliebten sprühenden Geistreichthun, womit neuere Romanschriftsteller ihre Helden
zu wahren Halbgöttern künstlich herausputzen. Wie frisch aus dem Leben
greift Freytag seinen Anton heraus. Die Aufläder haben ihn gern, er wird
Karls und des ganzen Komptoirs Liebling; selbst die adeligen Roués erklären
ihn für einen verdammt guten Jungen. Jn der Tanzstunde fliegen ihm der
Mädchen Herzen entgegen; auch die stolze Leonore ist gegen ihn nicht spröde.
Sabine und die Tante lieben ihn ─ und wir lieben ihn auch. ─ ─
3. Seinem inneren Gehalte und Charakter nach paßt für den Helden
weder ein menschenunwürdiger, noch ein blasierter unsittlicher Charakter, wenn
es der Dichter nicht eben beabsichtigt, diesen mit Eigenschaften auszustatten,
durch welche er unserem menschlichen Mitempfinden näher gerückt wird. So
erhebt Richardson den Verführer Clarissas zum geistreichen, energisch handelnden
Mann von großer Noblesse; so stattet Auerbach den finsteren Sonnenkamp (im
Landhaus am Rhein) mit Liebe zu seinen Kindern aus, sowie mit weltmännischem
Takt, mit Mut &c.
4. Jn manchen Fällen muß der Held, ─ wenn er nicht mit den allgemein
anerkannten Welt- und Sittengesetzen in Widerspruch treten will ─ passiv
erscheinen und sich von fremden Einwirkungen, über die er trotz aller moralischen
Kraft nicht gebieten kann, oft längere Zeit forttreiben lassen. Dann ist
er der unselbständige, zu verarbeitende Mittelpunkt und kann nur im ironischen
Sinne Held genannt werden. Jm Leben üben ja die Verhältnisse und das
sog. Schicksal eine zwingende Macht, warum nicht im Roman, der doch die
poetische Zeichnung des Lebens ist?
5. Bei der Schilderung des Helden liefern sehr viele Romanschriftsteller
bloße Lebensbeschreibungen, welche (nach Jean Paul) ohne Einheit und Notwendigkeit
der Natur und ohne die romantische, epische Freiheit, gleichwohl von
jener die Enge entlehnend, von dieser die Willkür, einen gemeinen Welt= und
Lebenslauf mit allem Wechsel von Zeiten und Orten solange vor sich hertreiben,
als Papier da liegt. Diese Lebensbeschreibungen beginnen meist schon [358]
mit der Geburt. Der Leser will aber den Helden nicht in den Windeln sehen,
sondern er will ihn schon einige Fuß hoch haben; er wird dann gern zugeben,
daß einige durch den Helden erst bedeutend gemachte Reliquien aus der Kinderstube
nachgeholt werden.
Aufgabe des Dichters ist es, in den Entwickelungsstadien des Helden
keine Sprünge zu machen und den Zufall, das Abenteuer nicht in dem großen
Maßstab spielen zu lassen, als es z. B. Cervantes thut. Auch ist die Einführung
des Schicksals (dieses „tragischen Gesetzes des Universums“, wie es
Vischer nennt) heutzutage nicht mehr nötig. Man liebt in unserer realen Zeit
natürlichen Verlauf und einen die Gesetze der Menschlichkeit beachtenden Abschluß.
Die romantischen Romane (z. B. Spiridion, von George Sand, wo
der Geist des Abtes fortgesetzt spukt) würden wegen ihrer sprungartigen, lächerlichen
Unwahrscheinlichkeit bei uns kein Lesepublikum mehr finden.
Unter allen Romanschriftstellern haben Goethe, Freytag, Spielhagen, Luise
von François, Reuter, Gottfr. Keller die lückenloseste Entwickelung bewiesen.
So zeigt Goethe in Wilhelm Meister, wie der Held schon frühzeitig von
großen Gedanken bewegt ist, wie er sich von der Schauspielkunst angezogen
fühlt, wie er alle Stadien der Enttäuschung durchmacht, um endlich durch
Shakespeares Dichtungen zum Enthusiasmus entflammt zu werden. Das ist
lückenlose Entfaltung!
Ähnlich schildert Luise von François in Die letzte Reckenburgerin die
Entwickelung eines jungen Mädchens. (Vgl. als Beleg für lückenlosen Fortschritt
auch Spielhagens Jn Reih und Glied, Freytags Soll und Haben,
Kellers Der grüne Heinrich u. s. w.)
6. Jm Entwickelungsgang des Romanhelden bildet die Liebe meist nur
ein bedeutungsreiches Stadium. Auf dasselbe folgt die Zeit des Ringens für
die Jdee; das Jdeal selbst ist dem Helden unerreichbar (Beispiel: Wilhelm
Meister, der für die Erhebung der Menschheit erglüht ist, aber dann doch nur
einfacher Landwirt wird).
Jm Liebesroman bildet die Liebe den ganzen Jnhalt. Der Held, welcher
für seine individuelle Liebesidee eintritt, erreicht endlich was er will: Die
Geliebte. Mag seine Wanderung noch so viele Krümmungen machen, so ist
sie doch die Reise zur Hochzeit (Beispiel: Dincklages Tolle Geschichten, wo Moritz
doch seine Lolo erhält &c.). Jm Liebesroman hängt das Jnteresse nur am
endlichen Besitz. Jm kulturhistorischen, im Zeitromane würde die Liebesbesitz=
Beschränkung des für eine allgemeine, ewig wahre, bedeutende Jdee kämpfenden
Helden nur das Jnteresse für die allgemeine Jdee abschwächen.
Ebenso im sog. Umwandlungsromane! Dem in blinder Leidenschaft
kämpfenden Helden öffnen hier die Schicksalsschläge allmählich die Augen
und zwingen ihn zur Umschau und zur Umwandlung. Das Ende ist eben
diese Wandlung, oder der Tod (Untergang). Die Liebe führt nur in einzelnen
Fällen den Entschluß der Umwandlung herbei. (Jn Ut mine Stromtid
zerfällt der junge Herr von Rambow mit der ganzen Welt, um endlich umzukehren;
im neuen Falstaff von Brachvogel wendet sich ein genialer, in [359]
verkehrte Bahnen gelenkter Maler plötzlich zum Bessern; im Sonnenwirt
von Kurtz, in Auf der Höhe von Auerbach tritt die Umwandlung dadurch
ein, daß die Heldin zur Büßerin wird u. s. w.)
§ 133. Die übrigen Charaktere des Romans.
1. Die Personen, welche sich um den Helden gruppieren, nennt
man die epischen Charaktere des Romans.
2. Diese brauchen nicht niedriger zu stehen, als der Held; doch
beruht ihre Bedeutung in der handelnden Hauptfigur, indem sie im
Verein mit ihr wirken, oder ihr entgegenstreben.
3. Der Held des Romans ist vom Dichter früher zu bilden, als
die Charaktere.
1. Die Zahl der epischen Charaktere ist bei den verschiedenen Dichtern
verschieden. Sie richtet sich nach der Ausbreitung der Handlung, nach der Bedeutung
des Helden, nach dem Bedürfnis zu Episoden u. s. w. Manche
Dichter sind in der Bildung epischer Charaktere sehr schablonenhaft und wählen
in ihren Romanen immer wieder die gleichen Typen. Wolfgang Menzel
reduziert die große Anzahl Jean Paulscher epischer Charaktere auf folgende
sechs stereotyp wiederkehrende Figuren: 1. Der hohe Mensch; 2. ein diesem entsprechendes
Mädchen; 3. ein capriziöser Freund des hohen Menschen; 4. ein
schwindsüchtiges Mädchen; 5. ein ditto Jüngling, und endlich 6. ein cynischer
Arzt. Nach Keiter hat Bolanden 5 Klassen von Figuren: ritterliche Jünglinge,
minnigliche Jungfrauen, biedere Väter (seltsamerweise sämtlich Witwer), tapfere
Verteidiger des Glaubens und deren nichtswürdige Gegner. Die Lieblingsfiguren
der E. Marlitt (Eugenie John) sind schurkenhafte Aristokraten, ein beschränkter
Fürst und frömmelnde Heuchler. Dazu kommt (nach Rob. König, Litt.=Gesch.
S. 633) die an Aschenbrödel erinnernde Heldin, nach der englischen Jane=
Eyre modernisiert und germanisiert, die sehr edel, tugendhaft und stolz den
Sieg über die Jntriguen ihrer schändlichen Gegner davon trägt; endlich der
ideale Mann, wie ihn Frauen so gerne zeichnen, den die Heldin zu ihren
Füßen zwingt u. s. w.
2. Da die Bedeutung des Romans in der Hauptperson gipfelt und die
Nebenpersonen diese lediglich zu unterstützen oder zu bekämpfen haben, so ist
es jedenfalls unnötig, die Nebenpersonen auf Kosten der übrigen herunterzusetzen,
wie z. B. in Sacher Masochs sonst gutgeschriebenem tendentiösen Romane
Die Jdeale unserer Zeit alle Nationalliberalen und Patrioten ─ Erbärmliche
sind.
3. Auf die Frage, ob der Romandichter zuerst den Helden oder die
Charaktere oder die Geschichte zu bilden habe, ist zu antworten, daß zuerst der
Charakter des Helden zu schaffen sein dürfte, da dieser den Geist des Romans
zu verkörpern hat, gewissermaßen also die Seele der Geschichte ist.
Durch den Helden ist die Geschichte bedingt und gegeben; mit dieser erstehen
erst die epischen Charaktere.
§ 134. Das Jdealisieren im Roman.
1. Um den Charakteren des Romans Entschiedenheit zu verleihen,
muß das von ihnen Darzustellende, ─ Tugend wie Laster, ─ in
erhöhtem Maße gezeichnet werden. Man nennt dies ─ wie im Drama
─ Jdealisieren. (Vgl. § 27 d. Bds., der auch für den Roman gewisse
Anwendung findet.)
2. Die durch Jdealisierung bedingten sog. Übertreibungen setzen
beim Leser die Befähigung voraus, zwischen Jdeal und Wirklichkeit zu
unterscheiden, ohne welche sittliche, ja auch praktische Nachteile fürs
Leben leicht eintreten können.
1. Wie im Drama, so müssen auch im Roman die Charaktere idealer
aufgefaßt und gezeichnet werden, als man ihnen im gewöhnlichen Leben täglich
begegnet, denn der Roman soll die poetische Zeichnung des wirklichen Lebens
sein. Die Jdealisierung verlangt ferner, daß die durch die Charaktere repräsentierte
Handlung im Romane eine gedrängtere, raschere Folge habe, als
dies im gewöhnlichen Leben der Fall ist. Diese Jdealisierung verstärkt die
Charakteristik. Jn den geschichtlichen Romanen ist dem Dichter die Charakteristik
durch die geschichtliche Überlieferung erleichtert, während in den erfundenen Romanen
die berechnetste Jdealisierung zu Hülfe kommen muß, um die Personen in
ihren Worten und Handlungen entsprechend zu charakterisieren. Jede Jdealisierung
muß in einer Weise geschehen, die nicht gegen die Wahrscheinlichkeitsgesetze verstößt.
Eine Übertreibung in der Jdealisierung zwingt zur Ansicht, daß ein solcher
Charakter eine Unmöglichkeit sei. (Vgl. Gerstäckers Mississippibilder.) Ein guter
Roman darf in seiner Jdealisierung auch nicht gegen die Gesetze der Ästhetik oder
gegen die der Moral verstoßen. (Die betrunkene Grete Lobkins in Paul Clifford
von Bulwer z. B. ist mit ihren Gemeinheiten und schlechten Bildern,
keine eines Kunstwerks würdige Figur.) Demnach muß die Jdealisierung
im Roman, (wie im Drama, vgl. S. 38. 1. d. Bds.) dem Schönen,
Guten und Wahren entsprechen.
2. Mancher Roman wirkt infolge seiner Jdealisierung erhitzend auf die
Phantasie. Er schafft übermächtige, unerreichbare Hoffnungen und malt Situationen,
die nie im Leben, oder nur sehr ausnahmsweise vorkommen. Dadurch
begründet er aber falsche Lebensansichten, verschrobene Anschauungen
und phantastisch überspannte Begriffe, und verleiht nicht selten dem Phantasieleben
eine Herrschaft, die für die harmonische Geistesentwickelung störend
wirken kann. Wie häufig finden sich schwärmerische Naturen getäuscht, die das
im Roman entwickelte Sein zum Maßstab des wirklichen Lebens nehmen und
z. B. ein romanhaftes Traum- und Liebesleben erhoffen, wie es die Wirklichkeit
nimmermehr zu bieten vermag. Hierbei sei daran erinnert, wie Schlechtigkeit,
Roheit und Gemeinheit in so vielen zweifelhaften, nach ihren Stoffquellen [361]
im § 129, 2 S. 353 erwähnten Romanen mit bestechenden, und doch das
Herz vergiftenden Farben gemalt werden u. s. w.
§ 135. Charakteristisches in der Technik unseres Romans.
Charakteristisch in der Technik des Romans ist der Gang der
Handlung, die Episode und die Schürzung des Knotens.
(Gang der Handlung.) Durch die feinste psychologische Motivierung
und die planvollste fast mikroskopische Ausführung der Begebenheit darf der
Romandichter den Nachweis liefern, wie eine höhere Hand in die Schicksale
des Helden und der übrigen Charaktere eingreift, wie das Verdienst und das
Gute belohnt, das Verbrechen und das Menschenunwürdige bestraft wird. Man
nennt diese Belohnung oder Bestrafung die poetische Gerechtigkeit. Die
Handlung des Romans läßt diese poetische Gerechtigkeit rascher eintreten, als
dies im wirklichen Leben der Fall wäre. Jn ihrer Entwickelung legt die
Handlung den Charakteren keine Beschränkung des Wirkungskreises auf. Dies
wäre sogar ein Fehler. (Ein Künstlerroman, der sich lediglich auf Künstler beschränken
würde, müßte den Gegensatz des unkünstlerischen Lebens vermissen
lassen und dadurch einseitig werden u. s. w.)
Daraus folgt, daß die Handlung Raisonnement und Reflexion bieten darf,
indem sie interessante Gegenstände des höheren geistigen und geselligen Lebens
in ihren Kreis zieht &c.
(Episoden.) Die Episoden, welche im Epos mit seiner großartigen, gewaltigen
welterschütternden Handlung eine sehr bevorzugte Stelle haben, sind
im Roman nicht unbedingt zulässig. Sie sind verwerflich, wo sie abschwächen,
wo sie Nebensächliches, gänzlich Wertloses für die Charakteristik des Helden herbeiziehen,
wo sie unnötigerweise den Gang der Handlung aufhalten. Sie sind
zulässig, wo sie Aufschluß über die Vergangenheit des Helden bieten oder
frühere Begebenheiten zur besseren Klarlegung der Haupthandlung nachholen
(vgl. Walter Scotts Das schöne Mädchen von Perth, wo man die Episoden
ihrer geschickten Verwendung wegen nicht missen möchte). Sie sind aber
wesentlich, charakteristisch im philosophischen Roman, wo sie zur Ausbreitung
der Jdee, zur Ausschmückung der Situation und zur psychologischen
Motivierung einen wichtigen Beitrag liefern. Doch müssen sie in enger Beziehung
zur Haupthandlung bleiben und stets zu ihr zurückleiten, wie es z. B.
in mustergültiger Weise Lev. Schücking in Schloß Dornegge (in der Liebesepisode
Ludwigs und Helenes) thut.
(Schürzung des Knotens.) Jede Entwickelung muß in gewissem
Sinn zur neuen Verwickelung führen, jede Gegenwart muß Keime der Zukunft
enthalten. Der Roman erfaßt am besten in seinem Beginne eine bestimmte
Begebenheit, die es ihm möglich macht, nach der Zukunft hin weiter
gehen zu können, um zugleich Licht über die Vergangenheit zu verbreiten. Durch [362]
das Fortschreiten der Handlung entstehen die Verwickelungen, die in enger Beziehung
bleiben müssen, um zweckmäßig zu erscheinen und zu spannen. Diese
Verwickelungen steigern sich bis zu einer gewissen Lösung, die aber nicht sofort
eintritt. Der Dichter bricht plötzlich ab, um an einer andern Stelle anzuknüpfen,
so daß er wie ein Feldherr erscheint, der bald bei diesem, bald bei
jenem Truppenteil sich aufhält, bald diesen, bald jenen fördernd, bis
er sie sämtlich genügend vorgeschoben hat, um sie nun für eine unerwartete
Totalwirkung zu vereinigen. Nicht selten führt im Roman die Liebe eine Verwickelung
herbei. Alle Hemmnisse bekämpft sie für Erreichung ihres Ziels, nämlich
des gegenseitigen Besitzes. Jedoch nicht immer besiegt die Liebe alle Hindernisse;
Unglück und Zufall spielen öfters eine wesentliche Rolle; aber Wunder
dürfen im Roman nie vorkommen. Alles muß den Schein des Naturgemäßen
und der Wahrheit für sich haben.
Ein Hauptmittel der Verwickelung bildet das Wiedererkennen (ἀναγνώρισις);
ein Mittel das z. B. im Epos „Rostem und Suhrab“, im alten Hildebrandlied
(vgl. B. I. S. 43) wie neuerdings von Rosenthal-Bonin in seinem Diamantschleifer
mit Erfolg angewandt ist, und das man mit Vorliebe im antiken Drama
benutzte (vgl. S. 38 d. Bds.), weil man dort bekanntlich die Liebe als
leitende Jdee nicht zu verwerten verstand.
§ 136. Stilgesetze des Romans.
Der gute Roman verlangt: 1. logische Anordnung, 2. Objectivität,
3. Einfachheit und 4. interessante Darstellung (Spannung).
1. Logische Anordnung. Die logische Anordnung erfordert strenge
Beachtung der Wesens- und Formgesetze des Romans (§ 131 d. B.), sowie
eine fein berechnete, verständnisvolle Verteilung des Stoffs. Hiegegen verstößt
beispielsweise Jmmermann. Solche Hinhaltung („Hänselung“) des Lesers,
wie er sich dieselbe in seinem Münchhausen erlaubt, wo er erst in den späteren
Kapiteln den Anfang nachholt, ist mindestens ungehörig und verstößt gegen den
bekannten englischen Spruch: Let us begin with the beginning! (Laßt uns
mit dem Anfang beginnen!)
2. Objektivität. Der Roman muß wie jede epische Dichtung für sich
allein verständlich sein, ohne daß der Dichter zur Unzeit aus ihm hervorblickt
und das einzelne erklärt oder Bemerkungen giebt, wie dies oder jenes zu
nehmen sei u. s. w. Der Roman muß einem schönen Gemälde gleichen, das
jeder ohne Kommentar versteht und bewundert. Wir wollen es gar nicht
hören, wie der Dichter über eine Sache denkt, der Dichter darf sich nicht sehen
lassen, mindestens soll er seinen Parteien gegenüber unparteiisch, objektiv erscheinen;
er soll seine Gefühle den Personen unterlegen, die er schildert. Es verstößt
nicht gegen die Objektivität, wenn der Dichter das Gefühlsleben der Helden
nach Nationalität, Geschlecht, Alter, Bildung, Stand zum Ausdruck bringt, wie [363]
es im mecklenburgischen „Ut mine Stromtid“, und im rheinischen „Landhaus
am Rhein“ geschieht. Aber es verstößt gegen dieselbe, wenn der Dichter sagt:
„Der Leser möge mir verzeihen“ (Bulwer, Eugene Aram II. 1); oder: „Man erzählte,
was wir bereits wissen“; oder: „Der Leser folge uns nach“ u. s. f.
Weiter ist es gegen die Objektivität, wenn gewisse weibliche Federn die Männertypen
zu stark idealisieren, die Frauengestalten zu real lassen u. s. w. Es verstößt
ferner gegen die Objektivität in bezug auf Zeichnung des Alters, wenn
unreife Figuren zu Handlungsweisen benützt werden, die dem reifen Alter
angehören, wenn jungen bartlosen Burschen Raisonnements in den Mund gelegt
werden, deren nur das Alter und die Erfahrung fähig ist u. s. w.
Auch der Stand muß in seinen berechtigten Eigentümlichkeiten gewahrt
werden. Es dürfen beispielsweise Untergeordneten, Subalternen keine Reden
in den Mund gelegt werden, die sich im Leben kein Vorgesetzter bieten lassen
würde. Bei Schilderung der Zeit und des Zeitalters muß Objektivität insofern
herrschen, als das Zeitgemälde sich aus Handlung und Verlauf des Romans
ergiebt. Ein Roman soll keine historische Abhandlung sein, wie sie z. B. Rousseau
lieferte, der in einem 260 Seiten starken Bande den Pariser Zuständen
nicht weniger als 200 Seiten widmete. Nicht belehren soll der Roman, sondern
objektive, plastisch anschauliche Unterhaltung soll er bieten. Muster objektiver
Zeitschilderung bieten Spielhagens Die von Hohenstein (eine Schilderung
der Erhebung von 1848), Bolandens Canossa (wo die Zeit
Heinrichs IV. geschildert ist), Freytags Jngo und Jngraban, Sacher-Masochs
Die Jdeale unserer Zeit, Bachers Friedrichs I. letzte Lebenstage,
v. Seeburgs Die Fugger und ihre Zeit.
3. Einfachheit. Die Einfachheit verlangt, daß der Dichter in der Darstellung
ein äußeres Motiv (z. B. Glanz einer idealen Frauenerscheinung) neben
dem innern Motiv (z. B. geistige Übereinstimmung) durchsichtig wirken lasse;
daß er ferner bei der Darstellung der Leidenschaft weder übertreibe noch hinter
der Wirklichkeit zurückbleibe; daß er die Charaktere ohne Überladung wahrheitsgetreu
zeichne, nicht eine Figur witzig und geistreich nenne, die sich hinterher
als das Gegenteil erweist; daß er den Charakter nur aus seinen Äußerungen
sich selbst entfalten lasse; daß er alle ermüdenden, vereitelnden, den Gang hemmenden
Beschreibungen vermeide (z. B. die kleinlichen Beschreibungen einer Stickerei,
einer Verzierung, einer Säule, eines Hundehauses, die doch nicht zur Handlung
nötig sind); daß er somit weder die Entfernungen nach Fußen abmißt,
noch die Lokalitäten mit pedantischer Genauigkeit aufnimmt, als gälte es einen
Bauriß zu entwerfen. Der Dichter darf wohl wie im Vorbeigehen eine Lokalität
zeichnen, er darf ein in die Handlung eingreifendes Gewitter schildern
(vgl. Freytag in der Verlorenen Handschrift); er darf die Natur als
Reflex der Stimmung nebenbei charakterisieren (vgl. Gottfr. Kellers Der grüne
Heinrich I. Kap. 20. oder III. Kap. 1); er darf eine Staffage malen, auf
der sich die Handlung vollzogen hat, oder zu vollziehen im Begriff ist; aber
er darf nicht minutiöse, ellenlange Beschreibungen von allen möglichen, uninteressanten
Gegenständen geben, an denen der Held zufällig einmal vorüberschreitet. [364]
Gegen die Einfachheit verstößt es auch, jeden epischen Charakter gleich
dem Helden ein Liebesverhältnis anknüpfen zu lassen u. s. w. Jean Paul
sagt: „Die Liebe sieht sich ungern vervielfältigt angeführt, bloß weil sie
nur in ihrem höchsten Grad ideal ergreift, dieser aber wenige Wiederholungen
erlaubt. Die Freundschaft hingegen verlangt Genossenschaft und achtet sie; ein
Gärtchen mit zwei Liebenden und deren Kinder in den Blumen und ein Schlachtfeld
voll engverbunden kämpfender Freunde erheben gleich hoch.“
4. Jnteressante Darstellung. Um spannend, anziehend, interessant
zu wirken, darf der Dichter zuweilen in Kreise führen, wo man hinter den Koulissen
spielt, wo man hinter den Gardinen Geschichte macht; darf er Zustände des
Hoflebens entrollen; darf er in Gegenden führen, wo die Freiheit der Bewegung
noch unbeschränkt ist; in Gefahren, deren Ausgang für den Helden jeden Augenblick
Vernichtung zu bringen scheint; in ferne Weltteile mit ungekannten Völkern,
Tieren, Pflanzen (vgl. Robinsonaden, Retcliffes Nena Sahib, Rosenthals
Seeromane, Armands Fährtensucher, Coopers Der letzte Mohikan, Gerstäckers
Flatbootmann, Mützelburgs Schloß an der Ostsee, Wachenhusens Die Wüstenjäger
u. a.); darf er gewaltige Konflikte des Seelenlebens entfalten; darf
er ─ nach dem Vorbilde Gottfr. Kellers, der Marlitt, Spielhagens ─ Geheimnisse
des Seelenlebens ahnen lassen, ohne diese freilich auszuplaudern,
wie es Auerbach im Landhaus am Rhein thut, wo Fräulein Milch leise
flüsternd der Professorin ohne Nötigung aus Sonnenkamps Leben berichtet und
die Spannung des Lesers beeinträchtigt. Leicht kann die Forderung einer anziehenden,
interessanten Gestaltung dazu verleiten, dem Geschmack des wandelbaren
Publikums zu große Rücksicht in der Wahl pikanter Stoffe und deren
Verarbeitung zu widmen, ohne zu bedenken, daß der Dichter über diesem
vom Vorurteil geleiteten Publikum stehen und es erziehen soll. Dem gediegenen
Romanschriftsteller, welcher der wahren Kunst zu dienen sucht, sollte in erster
Reihe nicht am Beifall der Menge liegen, für ihn müßte vielmehr das Wort
Rückerts (Ges.=Ausg. VIII. 305) maßgebend sein:
§ 137. Ästhetische Anforderungen an den Roman.
Alle ästhetischen Anforderungen an das Epos gelten auch dem
Romane.
Hierzu kommen noch einige besondere Vorschriften in Hinsicht
a. der Sprache und Darstellung, b. der Schilderung körperlicher Vorzüge,
c. der Benennungen von Charakteren und Orten, wie der Romane
selbst.
a. Sprache und Darstellung. Die Prosa des Romans muß ästhetisch
anmutig, gefällig, anschaulich, klar sein. Sie soll alles Schmutzige, Schamlose
ausschließen, so daß man sich stets in guter Gesellschaft fühlt. Sie soll
ferner weder lyrisch erhaben noch poetisch süßlich und ebenso wenig schwülstig
rhetorisch sich gestalten. Sie soll vollendet schöne Prosa sein und bleiben (vgl.
Bd. I. S. 16). Als solche soll sie der Prosa ihrer bestimmten Zeit entsprechen,
ohne doch die Prosa derselben nachzuahmen, wie es der glücklicherweise geschichtlich
überwundene, neuerdings von Gottfr. Flammberg (Pseud. für Ebrard) wieder
versuchte sog. chronikalische Roman that, der die Ereignisse in der nämlichen
Sprache erzählt, welche zu der bestimmten Zeit gesprochen wurde.
Was die Darstellung des Romans betrifft, so kann diese langer Monologe
um so mehr entbehren, als es dem Dichter ja frei steht, beschauliche Selbstgespräche
durch die Schilderung zu ersetzen. Man vgl. als Muster Freytag,
Goethe (Wilhelm Meister I. Buch Kap. 17), Spielhagen (Problematische Naturen),
Gottfr. Keller.
Auch der Dialog gehört in seiner Ausbreitung nicht eigentlich oder wesentlich
in den Roman, der ja kein dramatisches Kunstwerk sein will. Er ist
jedoch am Platze, wo durch ihn die Belebung erfolgreich wird, wo die Gespräche
die Handlung fortleiten und mit ihr in kausalen Zusammenhang bringen.
b. Schilderung körperlicher Vorzüge. Besonderes Geschick erfordert
die gelegentliche Schilderung körperlicher Vorzüge. Körperliche Schönheit sollte
man nach Lessing nur in ihrer Wirkung schildern. „Malet uns, ihr Dichter,
das Wohlgefallen, die Zuneigung, die Liebe, das Entzücken, welches die Schönheit
verursacht, und ihr habt die Schönheit selbst gemalt!“ Hiefür ist nötig,
daß der Dichter die Personen schildere, indem er sie handeln läßt. Er gebe
z. B. eine oder einige Eigenschaften der Heldin an, erzähle, wie sie ihr lockenumrahmtes
Haupt erhob, wie der tiefe, wehmütige Blick aus dem dunkeln
Auge ins Herz drang und male so den Totaleindruck durch ihr eigenes Thun &c.
Die Schilderung Philinens von Goethe in Wilhelm Meister ist ganz der Weise
Homers entsprechend &c.
c. Benennungen von Charakteren, Orten. Nicht ganz unwesentlich
ist im Roman die Wahl der Namen. Eine großartig angelegte Heldennatur
möchte Eckstein nicht Knöpfle nennen. Wir auch nicht, da Namen und
Charakter sich möglichst decken sollen. Freilich darf der Name nicht schon die
Firma für die ganze Geschichte ergeben, wie z. B. Spürnase für einen Spion,
der Heldenthaten verübt; oder Leichtfuß für einen Verschwender. Der Name
sollte weder banal, noch allzu sezierend scharf sein.
Eine abgeschmackte Manier ist die farblose Bezeichnung der Personen
durch Buchstaben (z. B. Major P. in N. Oder: Er lebte seit einigen Jahren
in K. &c.). Solche lächerliche Diskretion ist ebenso verwerflich, als wenn der
Dichter durch Angabe des Alters jeder Schönen den Verdacht erweckt, es sei
ihm um eine Biographie zu thun.
Ebenso lächerlich ist es beim Roman, der in seinem Jnhalt ein Bild der
Sitten, Zustände und der Zeit entrollt, schon auf den Titel zu setzen: Kulturhistorischer [366]
Roman, oder Sittengemälde, oder socialer Roman &c. Es ist dies
mindestens ein Verstoß gegen die Objektivität (§ 136), welche nicht schon im
Voraus den Gehalt ausplaudern will.
§ 138. Grundlage des guten deutschen Romans der Neuzeit.
1. Die Grundlage eines gesunden Romans muß Sittlichkeit sein,
da nur diese das Volks- und Familienleben zu weihen vermag.
2. Ein treibendes Motiv darf die echte deutsche Liebe bilden, wie
sie Rückert, Chamisso, Redwitz, Kaufmann u. a. gemalt haben.
3. Auch die materiellen Jnteressen der Gegenwart dürfen sich als
Motive geltend machen, sofern sie sich mit dem Jdealismus versöhnen
lassen.
1. Jrren wir nicht, so stehen wir seit Gustav Freytags Soll und Haben
und Gottfried Kellers Musterroman an der Schwelle einer besseren Periode
der Romanlitteratur. Die Talente schämen sich mehr und mehr, unsittliches
Zeug zu Tage zu fördern, und nur einzelne verkommene Lohnknechte elender
Bücherfabriken geben sich noch dazu her, frivole, schmutzige Waare zu fabrizieren,
oder französische Machwerke zu übersetzen. Für die Folge wird die Grundlage
eines jeden guten Romans ein sittliches Motiv und ein sittliches Ziel sein müssen,
da ja ohne grundsatzvolle Sittlichkeit kein edles Leben, kein reines Glück gedacht
werden kann.
2. Ein solch sittlich erhabenes Motiv ist die Liebe, die echte und treue
Liebe. Sie kann uns entschädigen für die Erkennungsscenen und für all die
verlorene Poesie der heroisch=epischen Weltanschauung. Mehr noch: sie kann
all jene unsaubere Sinnlichkeit und Frivolität verhüten, mit welcher namentlich
die Übersetzungsromane aus dem Französischen ihre leichtfertigen, sittenschädigenden
Figuren umkleiden (vgl. z. B. den sogar gerichtlich verfolgten Roman Flauberts
Madame Bovary, 1857) und den Geschmack verderben.
3. Jm Roman der Zukunft darf die materielle Seite der Gegenwart
recht wohl berücksichtigt werden, da unser Leben eben kein phantastischer Traum
mehr ist, vielmehr Hunger und Liebe, Genuß und Vergnügen sich mächtig
geltend machen. Aber nimmer sollte im Roman der Zukunft der Egoismus
als einziger Beweggrund aller unserer Handlungen hingestellt werden. Der
Glanz des Jdealismus d. i. der ästhetischen Schönheit und der Freiheit bewahrt
vor dem Versinken ins Genußleben. Der Roman mag immerhin furchtlos
beleuchten, was um uns geschieht, aber er behalte stets ein ideales, ethisches,
menschenwürdiges Ziel; er suche den Realismus mit dem in diesem wurzelnden
lebensfähigen Jdealismus zu versöhnen.
Arten des Romans.
§ 139. Einteilung der Romane nach Jean Paul.
Jean Paul geht bei der Rubrizierung der Romane von der Ansicht
aus, daß jeder Roman einen allgemeinen Geist beherbergen müsse,
der das historische Ganze ohne Abbruch der freien Bewegung heimlich
zu einem Ziele verknüpfe. Er teilt daher unsere gesamte Romanlitteratur
in drei Schulen ein: die italienische, die niederländische, und
die deutsche.
1. Die italienische Schule. Der höhere Ton der Romane dieser
Schule fordert ein Emporschwingen über die gemeinen Lebenstiefen, ferner größere
Freiheit der höheren Stände, hohe Frauen und große Leidenschaften, natur=
oder historisch=ideale, gewissermaßen italienische Gegenden u. s. w.
Beispiele: Schillers Geisterseher, Goethes Werther, Heinses den persönlichen
Genuß predigender Ardinghello, Wielands Geschichte des Agathon, in
welcher der Dichter in fremder Umhüllung sich selbst und seine Entwickelung
schildert; der Gräfin Jda Hahn-Hahn: Gräfin Faustine &c. (vgl. I. 69 Salonroman).
2. Die niederländische Schule. Hier ist das niedere komische,
gleichsam von einem Niederländer Maler detaillirte Genre vorwaltend; der Held
kann sich durch romantische Färbung in romantischer Beleuchtung zeigen. Beispiele:
Jean Pauls „Blumen=, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod
und Hochzeit des Armenadvokaten Siebenkäs im Marktflecken Kuhschnappel“
(3. Aufl. 1846), Karl Stöbers Der Kuchenmichel, Gustav Nieritz' Seppel,
Bachmanns Kerkerwonne, Herbsts Moje und Fritze, Edm. Höfers Die Bettelprinzeß
u. a.
3. Die deutsche Schule. Sie liegt in der Mitte zwischen der italienischen
und der niederländischen Schule und hat es mehr auf den mittleren Bürgerstand
abgesehen. Beispiele: Engels Lorenz Stark; H. v. Kleists Michael Kohlhaas;
Jean Pauls Flegeljahre; L. Aug. Kählers Hermann von Löbeneck; Heyses
Kinder der Welt; v. Loëns Verloren und nie besessen; Hans Blums Dunkle
Geschichten; George-Kaufmanns Auf deutschem Boden; Faust Pachlers schön
geschriebener, in Jdee und Ausführung beachtenswerter kulturhistorischer Roman
Die erste Frau; Anna Löhns Zwei alte Apotheker; Detlefs Unlösliche Bande;
Herm. Oelschlägers Wunderliche Leute u. a. Nicht selten gehen die einzelnen
Schulen in einander über.
§ 140. Einteilung nach Form und Jnhalt.
Je nach dem in den Romanen herrschenden Gefühlsausdruck,
nach ihrer äußeren Form und nach ihrem Stoff und Jnhalt unterscheidet
man folgende Romane:
1. Epische (erzählende), lyrische, didaktische und dramatische (dialogische);
2. tragische, komische, humoristische, satirische, sentimentale (empfindsame);
3. Romane in Brief- oder in Tagebuchform;
4. bürgerliche oder Familienromane, Schäferromane, Räuberromane,
Künstlerromane, Salon- und Hofromane, ausländische, Reise=
und Seeromane, Familien- und Kulturromane u. s. w.
1. Es ist wohl selbstverständlich, daß sich in jedem Romane lyrische und
dramatische Stellen oder Partieen finden. Je nachdem jedoch eines oder das
andere Element vorherrschend ist, hat der Roman bestimmte Benennungen.
Episch oder erzählend wird er genannt, wenn der Dichter im Hintergrunde
bleibt und seine Romanerzählung objektiv mitteilt. Seinem Wesen nach
muß überhaupt jeder Roman episch sein, da er ja den Helden und seine
Welt wiederzuspiegeln hat. Goethes Wilhelm Meister und aus der neuesten
Zeit Gottfried Kellers Der grüne Heinrich sind Muster und Vorbilder des
epischen Romans. Vgl. noch Paalzows St. Roche, Ebers' Die ägyptische Königstochter
u. a.
Lyrisch nennt man einen Roman, welcher vorzugsweise Gefühle schildert.
Beispiele: Goethe, Werthers Leiden; Pasqué, Roman eines Mutterherzens;
Lohde, Herzenskämpfe; Gallwitz, Zwei Frauenherzen; Spielberg, Verliebte
Herzen &c.
Didaktisch (philosophisch) heißt er, sofern er es sich zur Aufgabe macht,
Wahrheiten anschaulich zu machen, Belehrung zu bieten. Beispiele: Wielands Lieblingswerk
Agathon (S. 377 d. Bds.); Achards Jagd nach dem Jdeal; Ernestis Gold
und Talent; Schiffs Der Geisterseher und Damenphilosophie; Charles Realisten
und Jdealisten; Habichts Jdeal und Welt; Spielhagens Hammer und Ambos (belehrt
über das Verhältnis der dominierenden und unterdrückten Kunst); Gutzkows Der
Zauberer von Rom (belehrt über einen von Rom unabhängigen Katholizismus) u. a.
Der dramatische Roman, welcher eine strenge, an das Drama erinnernde
dialogische Form verlangt, bietet weniger der sich ausbreitenden Geschichte
Spielraum, als er Gelegenheit giebt, die Vergangenheit in der Gegenwart
vorzuführen.
Der dramatische Roman heißt wohl auch der dialogische. Er steht dem
Drama so nahe, daß es ein leichtes ist, ihn zu einem solchen umzugestalten.
(Zschokke hat z. B. seinen Roman Abällino ohne Schwierigkeit in ein Drama
verwandelt.) Vertreter des dramatischen Romans sind: Richardson, Wieland,
Jakobi, Engel, Jean Paul, Brachvogel, Fr. Friedrich u. a.
Einzelne Romane sind teils lyrisch, teils episch, wie z. B. Schillers Geisterseher
2. Band.
2. Endigt der Held des Romans unglücklich, weil er gegen die gesetzlichen
Verhältnisse der Gesellschaft ankämpft, so wird der Roman tragisch genannt.
Jn den Leiden des jungen Werther von Goethe machen die von den
Gesetzen der Natur und der Wirklichkeit abweichenden Gefühle und Wünsche des [369]
Helden den letzteren unglücklich. Dasselbe ist in den Wahlverwandtschaften
von Goethe der Fall, wo die Überschreitung allgemein gültiger Schranken Unglück
bringt. Dem in der Wirklichkeit ruhenden Roman steht im Gegensatz
zu dem in der Sage wurzelnden Epos das ganze Gebiet des Komischen offen.
Die für uns abgethanen Schelmen- und Gaunerromane waren ihrem Wesen
nach komisch. Der Verstand kann sich beim Aufbau solcher Romane ebenso
bethätigen, wie das Gefühl, weshalb sich Verstand und Gefühl in den Widersprüchen
─ in Laune und Spott, in Jronie und Humor ─ begegnen und
den Roman a. zum humoristischen gestalten, (Beispiele: Paul de Kocks humoristische
Romane; Jean Pauls Romane; Jmmermanns Münchhausen; v. Winterfelds
Onkel Sündenbock; v. Grabowskis Die fidele Säbeltasche; Hackländers
Romane; Ernst Ecksteins Die Gespenster von Varzin; ferner Reuter, Piening
u. a.) oder b. zum satirischen (Beispiele: Cervantes' Don Quijote, Eduard
Maria Öttingers Onkel Zebra; Walesrodes Unterthänige Reden; Voltaires
satirische Romane); ─ oder c. zum sentimentalen (Beispiele: Goethes
Werthers Leiden, Richardsons Clarissa, sowie I. 55).
3. Der Roman in Tagbuchform oder in Briefen, welch letztere meist
längere Dialoge oder Monologe sind, ist seinem Äußern nach dramatisch.
Er läßt sich rechtfertigen, wenn wenige Personen vorkommen, wie im genannten
Goetheschen Roman Werthers Leiden oder in Jakobis Eduard Alwill
oder in Richardsons Pamela und Clarissa Harlowe oder in den Romanen
der Niederländerinnen Wolf und Deken oder dem 1881 erschienenen Aus
Jtalien von Graf Adelmann u. s. w.
Jeder Brief ist gewissermaßen die Hälfte eines Dialogs, dessen andere
Hälfte der Antwortsbrief bildet. Es dominiert das individuelle, lyrische Moment,
weshalb derartige Romane immer auch sentimentale oder empfindsame
genannt werden können. Da dem Schreibenden nur in den Mund gelegt
werden kann, was er selbst erlebt, so sehen wir in der Briefform immer nur,
wie die Welt dem Schreibenden erscheint, nicht aber, wie sie sich in den Augen
der andern ausnimmt. So eignet sich die Briefform zur Zeichnung eines
Seelenlebens, wie es besonders Goethe im Werther mit allem psychologischen
Detail in ruhiger Weise entrollte; nicht aber eignet sich die Briefform für lebhafte
Handlung, für rasch sich abwickelnde Ereignisse und für dramatisches Hasten.
Als bekanntere Beispiele des Romans in Briefen oder in Tagebuchform sind
noch erwähnenswert: Hölderlins Hyperion, Roman in Briefen; sowie Nathusius'
Tagebuch eines armen Fräuleins u. a.
4. Jm Allgemeinen ist es nicht so leicht, den Roman auf eine bestimmte
Stufe einzuschränken. Da er das ganze menschliche Dasein in allen Kreisen
und Lebensverhältnissen umfaßt, so hat man in Hinblick auf seinen Stoff und
Jnhalt unterschieden:
a. Schäferromane, welche ähnliche Kreise wie die Jdylle umschlossen. Der
Begründer ist der Franzose Honoré d'Urfé durch den Schäferroman Asträa
1612. Beispiele: I 52 b und 54, ferner Neumarks Filamon und Belliflora
u. a. Vgl. auch den bekannten Schäferroman Galatea von Cervántes &c.
b. Räuberromane (vgl. den bekanntesten Rinaldo Rinaldini von
Vulpius; Spieß' Die Löwenritter; v. Levitschnigg Der Diebsfänger; Sondermanns
Die Räuber; Berthets Räuber von Ogères &c.).
c. Künstlerromane (vgl. Cramers Herrmann von Nordenschild; Weises
Guido, Lehrling Albrecht Dürers; Gundlings Henriette Sonntag; Hackländers
Künstlerroman; Vacanos Der Roman der Adelina Patti; Steffens' Künstlerstreben;
Pasqués 7 Tage aus dem Leben eines Sängers; Saars Die Geigerin;
R. Springers Devrient und Hoffmann &c.).
d. Salon- und Hofromane, welche die feineren Stände mit ihren
gewählteren Formen, ihrer besseren Bildung und ihrem gesteigerten Lebensgenusse,
sowie den Hof mit seiner eigenartigen Sitte umschließen (vgl. die
Proben I. 69, sowie von Göhrens Aus dem Salonleben; J. Mühlfelds Die
alte Durchlaucht; F. v. Stengels Aristokraten; Zetters Gräfin von Kery; Wartenburgs
Eine vornehme Frau; Giltersbergs Die beiden Comtessen u. a.).
e. Ausländische, Reise=, Seeromane, welche ein Bild fremdländischer
Sitten und Kultur bieten und an oder auf der See, oder auf der Reise in
fremden Ländern spielen. (Beispiele: Otto Ruppius' Der Prärieteufel; ferner Rosenthal=Bonins
Bernsteinsucher; Coopers Romane; Galens Jnsulaner; Jwanows
Die Russen in Turkistan; Whikys Aus dem Londoner Zigeunerleben; Mützelburgs
Das Schloß an der Ostsee; Schmelings Ein Ostseepirat; Spielhagens Auf
der Düne; Wachenhusens Die Wüstenjäger; Cobbs Des Seesturms Geheimnis &c.,
vgl. auch I. 69).
f. Bürgerliche Romane. Da die Familie, das Bürgertum, die Arbeit
den Mittelpunkt bilden, in welchen sich die ganze Fülle des Volkslebens ergießt,
so muß der bürgerliche Roman, der den Familienroman und den Kulturroman
der Arbeit umschließt, das gesamte Volksleben wiederspiegeln. 1. Familienromane
(Muster: Goethes Wilhelm Meister; Hackländers Eugen Stillfried; Th.
Mügges Täuschung und Wahrheit; Gustav Jahns Frau Schwertlein; Henriette
Hankes Ehen werden im Himmel geschlossen; E. Höfers Zwei Familien; Schirmers
Ein Familiendrama; Thalhaus' Eine alte Jungfer; F. Henkels Die Stiefschwestern;
E. Fels' Eine Konvenienzehe; Mannsfelds Ein Geheimnis in der Ehe; A. Niemanns
Eine Emancipierte; v. Wieses Familie Friedmann; Wickedes Eine deutsche
Bürgerfamilie u. a.). 2. Kulturromane. (Beispiele: Grimmelshausens Simplicissimus;
Levin Schückings Eine Aktiengesellschast, ferner Die Ritterbürtigen;
Heinr. Zschokkes Die Branntweinpest; Fanny Lewalds Eine Lebensfrage, freie
geistige Bildung der Frau fordernd; Wicherts Die Arbeiter; A. Schraders Börse
und Leben; Petersens Pariser Leben; Luise Ottos Schloß und Fabrik; Nemmersdorfs
Ritter unserer Zeit; Kretschmars Tochter des Arbeiters; Hohenhausens
Roman des Lebens u. a.)
§ 141. Einteilung in Tendenzromane und Stoffromane.
Eine bequeme Einteilung scheidet das ganze Gebiet der Romane
in zwei Gruppen, nämlich in:
a. Tendenzromane, b. Stoffromane.
a. Tendenzroman. Als Tendenzroman bezeichnet man den Roman,
in welchem der Dichter einen besonderen Standpunkt, oder eine besondere Ansicht,
eine höhere Jdee zur Geltung und zur allgemeinen Anerkennung zu bringen
sucht, indem er an seinem Helden und dessen Lebensgängen z. B. eine noch
nicht als allgemein erkannte Wahrheit in moralischer, wissenschaftlich=künstlerischer
Beziehung zum Ausdruck bringt, oder ihn zum Vorwand nimmt, um sich über
gewisse wissenschaftliche, sociale, politische, künstlerische Fragen und Jdeen auszusprechen,
sie zu bekämpfen, oder zu verteidigen. (Z. B. Luise Ottos Jesuiten
und Pietisten; Rodenbergs Die neue Sündflut; E. v. Waldows Blaues Blut;
v. Dedenroths Jesuitenränke; B. M. Kapris Uradelig; Klapps Zweierlei Juden;
Klaußmanns Ultramontan; Lobedanz' Ein neuer Glaube; Spielhagens Sturmflut,
welche die sociale Sturmflut und die durch die französischen Milliarden
veranlaßte Bewegung beleuchtet; ferner Gustav Kühnes Die Freimaurer.) Eine
gewisse Tendenz (Jdee) muß jeder Roman haben, auch ohne deshalb Tendenzroman
zu heißen. Sie liegt in der in ihm zur Geltung kommenden allgemeinen
Wahrheit, welche auch von der Gesellschaft als solche betrachtet wird.
Der Roman Werthers Leiden von Goethe verfolgt z. B. die Tendenz, nachzuweisen,
daß die Vernunft die Gefühle zu mäßigen und zu leiten habe, wenn
nicht die ungezügelte Naturkraft zerstörend wirken soll. Wilhelmine v. Hillern
verfolgt in ihrem Roman: Ein Arzt der Seele, die Tendenz, den Nachweis zu
führen, daß der Frauen Aufgabe sich auf Haus und Familie zu beschränken
habe und jedes Überschreiten dieser Schranke zum Unheil führe.
Verwerflich ist der Tendenzroman, wenn er ─ um mit Eichendorff zu sprechen
─ „die Jetztzeit antedatiert und der Vergangenheit das Kuckucksei moderner
Weisheit unterlegt“, wie es z. B. Heinrich König in den Clubbisten in Mainz
(1847. 1875) im Sinn der Aufklärung, ferner der pfälzische Pfarrer Bischoff
(pseud. Konrad von Bolanden) im Jnteresse des Ultramontanismus in seinen
Romanen Urdeutsch, Franz von Sickingen, Friedrich II. thut, indem er sein
Volk beschimpft, um die römische Kirche zu glorifizieren.
Man unterscheidet bei den Tendenzromanen streng philosophische Romane
(z. B. Auerbachs Spinoza), politische (z. B. Willkomms Die Europamüden),
sociale (Gutzkows Engelchen), moralische (Spittas Reine Herzen), pädagogische
(Gutzkows Blasedow und seine Söhne, sowie besonders des idealen Leop. Komperts
Franzi und Heini. 1881), theologische (Lubojatzkys Die Neukatholischen),
ästhetische (Ad. Sterns Ohne Jdeale) &c. Jedenfalls thut man am besten ─
wie wir das weiter unten einhalten wollen ─ den Tendenzroman als philosophischen
Roman im weitesten Sinne aufzufassen.
b. Dem Tendenzroman setzt man den Stoffroman entgegen und versteht
darunter den Roman, der lediglich durch seinen Stoff, d. i. durch die [372]
Erzählung zu interessieren sucht. Jn dieser Hinsicht können alle Gattungen
von Romanen als Unterordnungen des Stoffromanes bezeichnet werden. Es
würde also z. B. der historische Roman ein auf historischer Basis ruhender
sog. historischer Stoffroman sein u. s. w. (Beispiele I. 68.)
§ 142. Unsere Einteilung der Romane.
Als übersichtlich, charakteristisch und erschöpfend dürfte sich die
Einteilung in 1. historische, 2. philosophische, 3. moderne (Zeitromane)
und 4. volksmäßige Romane (Dorfgeschichten) empfehlen.
(Die in den §§ 139─142 aufgeführten Arten des Romans lassen
sich leicht diesen 4 Kategorien ein- oder unterordnen.)
Man nennt ihn so, weil sein Stoff irgend
eine historische, poetisch zu schildernde Begebenheit ist. Einige haben ihn aus
dem Gebiet der dichterischen Gattungen ausschließen wollen, da er romanhafte
Anschauung für Geschichte ausgebe und somit den historischen Sinn des Lesers
schädige. Allein wenn die Gegenwart Gegenstand des Romans sein darf, warum
nicht auch die Vergangenheit? Die Prosa, welche den Roman an die Wirklichkeit
des Lebens anschließt, verleiht ihm die Wahrscheinlichkeit der Wirklichkeit,
wodurch Konflikte viel leichter sich ergeben als im Drama, welches durch gebundene
Sprache sich der gemeinen Wirklichkeit enthebt.
Es kommt im historischen Roman alles auf die echt poetische, ideale Auffassung
an und auf die künstlerisch=schöpferische Wiedergeburt. Die Geschichte
muß im Roman aufhören, für sich zu bestehen, sie muß in die Dichtung
übergehen. Verbürgte Geschichte darf man daher nicht aus dem Roman
lernen wollen. Der Roman muß eben nicht Geschichte sein wollen, als vielmehr
eine phantasievolle Umbildung der Geschichte zu einem bestimmten Lebensbilde.
(Vgl. z. B. Das Jahr 1812 von Rellstab.) Der Dichter verfährt
so, daß er zur Geschichte zudichtet oder von derselben wegläßt, daß er da, wo
es für das Jnteresse der Geschichte nötig erscheint, eine Steigerung oder eine
Jndividualisierung des Charakters eintreten läßt u. s. w. Bringt der Dichter
endlich noch den Charakter einer gewissen Zeit zum Ausdruck, ohne seinen
Roman zum Sittengemälde oder zum trocknen Zeitbilde werden zu lassen,
ja, läßt er eben alles um des Helden willen geschehen und thut er der inneren
Notwendigkeit keinen Eintrag (vgl. z. B. Eugens Der Held des Bauernkriegs),
so hat der historische Roman seine Berechtigung. Er ist nach Walter Scotts
Vorgang (der seine Laufbahn mit der Übersetzung von Goethes Faust begonnen
hatte) in Deutschland sehr gepflegt worden. Viele mittelmäßige Romanschreiber
sind geradezu die Affen Walter Scotts geworden. Willibald Alexis, der deutsche
Walter Scott, der in Die Hosen des Herrn von Bredow, Der Roland von
Berlin, Der falsche Waldemar &c. die Entwickelung Preußens schildert, liefert
treffliche historische Romane. Auch haben Laube (Der deutsche Krieg), Luise
Mühlbach, Heinrich König, Otto Müller (Die Mediatisierten), Rehfues (Scipio [373]
Cikala), Freytag, Scheffel, Hesekiel (Vor Jena), Hiltl, Ludwig Rellstab, Wilhelm
Hauff (Lichtenstein), Franz Karl van der Velde (Die Eroberung von Mexiko),
Johs. Scherr (Der Prophet von Florenz), Th. Mügge, Burow (Die Preußen
in Prag), Conard (Der 7tägige Krieg), W. Ewald (Die Schweden auf Kronberg),
Kaiser (Unter dem alten Fritz und Kaiser Joseph), Waldmüller (Napoleon),
Adolf Palm (Die Gräfin von Görlitz), Gottschall (Jm Banne des
schwarzen Adlers, aus der Zeit der Thronbesteigung Friedrich II. von Preußen),
Ebers, Harmening (Matthias Overstolz 1881) &c., anerkennenswertes geleistet,
was zum Teil den historischen Romanen Walter Scotts ebenbürtig an die Seite
zu stellen ist.
Zu den bedeutendsten Erscheinungen auf dem Gebiete des historischen Romans
der Neuzeit zählen Ebers, Scheffel und Freytag. Sie haben den zur
Hälfte wissenschaftlich=historischen Roman geboten, also eine besondere Gattung
historischer Romane begründet, welche ebenso unterrichten als unterhalten. Mit
großem Ernst schöpfen sie aus der geschichtlichen Vergangenheit: Ebers aus
der Geschichte des Pharaonenlandes (Uarda: Glanz der Pharaonen; ägyptische
Königstochter: Heimfall Ägyptens an Persien; Die Schwestern: das
Hellenentum unter den Lagiden; Der Kaiser: das Römertum &c.); Scheffel
(Ekkehard) und Freytag (Die Ahnen) aus der deutschen Vergangenheit. (Der
1. Band der Ahnen „Jngo und Jngraban“ spielt um 357 und 724, der 2.
„Das Nest der Zaunkönige“ um 1003. Der Held Jmmo führt die Braut
in die von den Feinden spottweise Nest der Zaunkönige genannte Burg. Der 3.
spielt in der Zeit der Hohenstaufen; der 4. „Markus König“ zur Zeit Luthers.
Der Sohn des Markus entflieht mit der Braut und wird auf der Veste Koburg
getraut; Luther versöhnt den Vater. Der 6. und letzte Band zeigt,
daß der jüngste Sproß von Jngo und Jngraban niemand anders ist als
Gust. Freytag selbst.) Ebers, Scheffel und Freytag haben mit einander gemein,
daß sie uns nicht nur rühren mit dem, was sie ganz und wahr erfüllt, sondern
auch mit dem, was sie besser als andere der Geschichte nachzuerzählen wissen.
(Über Freytag ist merkwürdigerweise Herr J. Bourdeau in der Revue des
deux Mondes XLVIII., 1 vom Novbr. 1881: (»Le roman d'éducation
nationale en Allemagne«) p. 135 ff. der Ansicht, daß er eigentlich ein
Nachahmer von Walter Scott, sodann (laut Réville, 1. Dez. 1874) auch
des Eugène Sue sei!! Ivo, Die Ahnen. »A vrai dire, ce n'est point
ici un roman historique, c'est plutôt de la philosophie de l'histoire
en action: éveil de l'idée nationale en Allemagne, premières velléités
de réforme et d'indépendance du joug ultramontain, point de départ
de la civilisation de la Prusse, toutes idées abstraites, accrochées
à des épisodes historiques et expliquées par des incidens et des
personnages de pure fantaisie. Ces sortes d'ouvrages exigeraient
un long commentaire.« Am Schluß seiner Besprechung S. 153 sagt Bourdeau:
Le genre du roman historique et politique adopté par M.
Freytag, est, sinon faux, du moins un genre de transition: justement
abandonné en France et en Angleterre, il n'est plus guère cultivé [374]
qu'en Allemagne. En cela les Allemands retardent de trente années.
Ils négligent trop, encore aujourd'hui, le roman psychologique, l'étude
des sentimens et des caractères etc.)
nimmt Veranlassung, gewisse Ansichten
über wissenschaftliche und künstlerische Gegenstände durch seine Charaktere aussprechen
zu lassen, oder aber das Leben der gegenwärtigen Zeit mit Rücksicht
auf die Zukunft zu malen. Dieses Raisonnement wird mehr oder weniger
im philosophischen Roman Hauptsache, da dieser Roman weniger des Helden
als des Raisonnements wegen geschrieben ist. Der philosophische Roman vereinigt
alle Formen, die wir als Tendenzromane betrachtet haben. (§ 141.)
Bald sucht der philosophische Roman in religiösen Dingen Belehrung zu
geben (Spinoza von Auerbach), bald Fragen der spekulativen Philosophie zu
erörtern (Spinoza von Auerbach, sowie Fr. Fries' Julius und Evagoras);
bald behandelt er die bessere Sitte (Jakobis Waldemar, ferner Al. v. Ungern=
Sternbergs Paul); bald liefert er ein großes Kulturgemälde des Jahrhunderts
(Gutzkows Die Ritter vom Geist); bald hat er ein pädagogisches Jnteresse
(Gutzkows die Söhne Pestalozzis); bald dient er einer bestimmten Kunst, welch
letztere Gattung des philosophischen Romans auch als Künstlerroman bezeichnet
wird. Das Raisonnement desselben kann ins Bereich der dramatischen Kunst
fallen (Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, ferner Aug. Lewalds Theaterroman),
ins Bereich der Malerei (Tiecks Sternbalds Wanderungen, Heinses
Ardinghello), in das der Musik (Heinses Hildegard von Hohenthal, Brachvogels
Friedemann Bach), u. s. w.
(Zeitroman). Der moderne Roman ist der
Roman der Gegenwart und heißt auch Zeitroman, sofern er das Bild der
Zeit und ihrer Sitten giebt. Der Zeitroman wurzelt im Erlebten, das er
nicht gerade ideal darzustellen braucht. Er liebt freierfundene Stoffe, die er
dem Geist und Jnhalt der gegenwärtigen Kulturperiode entsprechend wählt.
So schildert z. B. Samarow in Scepter und Kronen die Begebenheiten
von 1866, neben welchen er zwei Liebesgeschichten giebt. Er weiß seinen
Stoff (z. B. selbst durch Einführung in die Kabinette der Staatsmänner, durch
Belauschung Napoleons und Eugeniens, durch Entrollung von Verschwörungen,
Erzeugung dämonischen Schauders &c.) lebenswahr und anziehend zu gestalten.
Spielhagens Jn Reih und Glied schildert die Lassallesche Arbeiterbewegung
(Gutmann ist Lassalle, der romantische König ist Friedrich Wilhelm
IV. &c.), Auerbachs Auf der Höh' spiegelt bayerische Zustände unter Ludwig I.
Brachvogels sämtliche Romane kann man als Zeitromane bezeichnen. Sein
erster Roman war Friedemann Bach, von dem er sagt: „Jch habe in
Narziß zu schildern versucht, wie ein solcher Charakter ist, im Friedemann
Bach dagegen, wie jeder unter ähnlichen Verhältnissen ein ähnlicher Charakter
werden kann.“ Jm Trödler zeigt er mit Geschick und Kunst, wie nur
drei Dinge ewig bestehen und uns sicher zu Gottes Thron führen: treue
Liebe, bescheidener Sinn und gute Thaten. Sein bedeutendster Roman
Ein neuer Falstaff führt aus, wie ein edler Charakter und großer Künstler [375]
durch den Hohn und den Spott, den die Häßlichkeit seiner Erscheinung
hervorruft, zur Verachtung und Haß gegen die Menschheit sich hinreißen läßt,
wie er den Adel seiner selbst preisgiebt und in den Strudel des Gemeinen versinkt,
aber doch durch allen Zweifel und alle Verirrung sich hindurchringt zur
Reinheit und Klarheit der Anschauung, weil er die leidenschaftliche, lebendige
Liebe zu einem schönen liebenswürdigen und edlen Wesen nicht aufgeben kann.
Er findet den Ausgang aus dem Labyrinth der falschen Grundsätze, in die er
sich hineingepredigt, ─ und den Zugang zum Herzen der Geliebten. Beliebte
moderne Romane (zum Teil im Stil des Zeitromans ausgeführte Novellen)
aus den letzten 20 Jahren sind: E. Werner, Gesprengte Fesseln; Stahl, Ein
weiblicher Arzt; Wilcken, Am Hof; Vict. Sales, Eine Bekanntschaft auf der
Straße; Ohorn, Der Klosterzögling; Hiltl, Eine Kabinetsintrigue; Müldener,
Aus der Verbrecherwelt; Hermann, Jud und Christ; v. Gottschall, Welke Blätter;
Ludolf, Die Tochter des Spielers; Gaboriau, 12 Millionen; J. Krüger, Der
Jesuit und sein Zögling; Dewall, Eine Mesalliance; S. Kohn, Ein Spiegel
der Gegenwart; H. Hopfen, Arge Sitten; R. Byr, Eine geheime Depesche;
Höcker, Geld und Frauen; Hirschfeld, Carriere.) Für weitere Beispiele vgl.
I. 68 unter Zeitroman.
Er ist
der Jdylle verwandt und beschränkt sich auf Stoffe aus dem Volksleben und
aus den volkstümlichen Anschauungskreisen. Somit könnte man ihn auch den
Roman des Volkslebens nennen. Die Neubegründer dieser zu allen Zeiten gepflegten
Gattung sind Heinrich Zschokke († 1848) und Berth. Auerbach († 1882).
Bekannte Beispiele des volkstümlichen Romans oder der Dorfgeschichte aus der
allerletzten Zeit (etwa von 1860─1882) sind: Beuthien, Sleswig-Hollsteener
Buerngeschichten; Eötvös, Ungarische Dorfgeschichten; Hans Hopfen, Bayerische
Dorfgeschichten, und dessen Böswirt; H. Kletke, Der Savoyardenknabe; Molitor,
Dorfgeschichten; Gust. Nieritz, Seppel; Raimund, Bauernleben; Rosen, Der
Buchenhof; Rosegger, Die Schriften des Waldschulmeisters; Schall, Oberösterreichische
Bauerngeschichten; Schaumberger, Fritz Reinhardt &c.; Scheitlin, Der
Segen der Bibel; Schöpf, Dorfgeschichten; Snieders, Der Großknecht; Vacano,
Dorfbilder; Herm. Schmid, Der Bauernrebell, Das Schwalberl; A. Brook (Pseud.
für Antonie Brökel in Kiel) Schutzlos aber nicht hülflos (2. Aufl. 1874.)
u. a. Für weitere Beispiele vgl. I. 73.
§ 143. Beispiele lesenswerter Romane und geschichtlich charakteristische
Stilproben.
1. Als instruktive Beispiele, welche den historischen Fortschritt des
Romans charakterisieren (und die für erschöpfende Kenntnis dieses Kunstgenres
ein jeder kennen sollte), erwähnen wir:
1. Grimmelshausens Simplicissimus (Ausg. v. Keller 1862).
2. Wielands Geschichte des Agathon, und dessen Abderiden.
3. Gottwerth Müllers Siegfried von Lindenberg.
[376]4. Jean Pauls Siebenkäs.
5. Schillers Geisterseher.
6. Gustav Freytags Soll und Haben.
7. Luise von François Die letzte Reckenburgerin.
8. Scheffels Ekkehard.
9. Ebers Ägyptische Königstochter.
10. R. Hamerlings Aspasia.
11. Gottfried Kellers Der grüne Heinrich.
2. Für Kenntnis des Stil-Fortschritts beschränken wir uns auf
nachstehende drei charakteristische Stilproben epochebildender Werke auf
dem Gebiete der Romanlitteratur:
1. aus dem humorreichen Romane Simplicissimus, dem hervorragendsten
litterarischen Erzeugnisse des 17. Jahrhunderts (Analyse s. I 52.)
2. aus dem bedeutungsvollen, die Erziehung der Menschheit zur Tugend
darstellenden philosophischen Roman Agathon, dem Lieblingswerke Wielands,
dem Vorbild aller Ritterromane und späteren Romane aus der letzten Hälfte
des 18. Jahrhunderts. (I 54).
3. aus dem vortrefflichen Roman Der grüne Heinrich von Gottfried Keller
aus der letzten Hälfte unseres Jahrhunderts. (Neue Ausgabe 1880.)
Stilproben aus drei Jahrhunderten.
1. (17. Jahrhundert.) Stilprobe aus Hans Jakob Christoffel von
Grimmelshausens Simplicissimus, das ist: Beschreibung des Lebens eines
seltsamen Vaganten, genannt Melchior Sternfels von Fuchsheim. (Jn der Neuzeit
herausgeg. durch Brockhaus, Reclam und Meyer.) Neunzehntes Kapitel.
Wie Hanau von Simplicio
und Simplicius von Hanau eingenommen wird.
Da es tagte, fütterte ich mich wieder mit Weizen, begab mich zum nächsten
auf Gelnhausen und fand daselbst die Thore offen, welche zum Teil verbrannt
und jedoch noch halber verschanzt waren. Jch ging hinein, konnte aber keines
lebendigen Menschen gewahr werden; hingegen lagen die Gassen hin und her
mit Toten überstreut. Meine Einfalt konnte nicht ersinnen, was vor ein Unglück
das Ort in einen solchen Stand gesetzt haben müßte. Jch erfuhr aber
ohnlängst hernach, daß die Kaiserische Völker etliche Weimarische daselbst überrumpelt.
Kaum zween Steinwürfe weit kam ich in die Stadt. Als ich mich
derselben schon satt gesehen hatte, kehrte ich wieder umb, ging durch die Aue
nebenhin und kam auf eine gänge Landstraße, die mich vor die herrliche Festung
Hanau trug. Sobald ich deren erste Wacht ersahe, wollte ich durchgehen;
aber mir kamen gleich zween Musketiere auf den Leib, die mich anpackten und
in ihre Corps de Garde (Hauptwache) führten. Jch muß dem Leser nur auch
zuvor meinen dermaligen visierlichen Aufzug erzählen, ehe daß ich ihm sage,
wie mir's weiter ging; denn meine Kleidung und Gebärden waren durchaus
seltsam, verwunderlich und widerwärtig, so daß mich auch der Gouverneur hat
abmalen lassen. Erstlich waren meine Haare in dritthalb Jahren weder auf [377]
Griechisch, Deutsch, noch Französisch abgeschnitten, gekrempelt, noch gekräuselt,
noch gelüfft worden; sondern sie stunden in ihrer natürlichen Verwirrung noch
mit mehr als jährigem Staub anstatt des Haar-Plunders, Puders, oder Pulvers
durchstreut, so zierlich auf meinem Kopf, daß ich darunter herfürsahe mit
meinem bleichen Angesicht wie eine Schleier-Eule, die knappen will, oder sonst
auf eine Maus spannt. Der übrige Habit stimmte mit der Hauptzier überein;
denn ich hatte meines Einsiedlers Rock an, wann ich denselben anders noch
einen Rock nennen darf, dieweil das erste Gewand, daraus er geschnitten worden,
gänzlich verschwunden und nichts mehr davon übrig gewesen, als die bloße
Form, welche mehr als tausend Stücklein allerhand färbiges, zusammengesetztes,
oder durch vielfältiges Sticken an einander genähtes Tuch noch vor Augen
stellte. Meine Schuhe waren aus Holz geschnitten und die Schuhbändel aus
Rinden von Lindenbäumen gewebt; die Füße selbst sahen so krebsrot aus,
als wann ich ein Paar Strümpfe von Spanisch Leibfarbe angehabt, oder sonst
die Haut mit Fernambuc gefärbt hätte. Jch glaube, wenn mich damals ein
Gaukler, Marktschreier oder Landfahrer gehabt und vor einen Samojeden oder
Grönländer ausgegeben, daß er manchen Narren angetroffen, der einen Kreuzer
an mir versehen hätte u. s. w.
2. (18. Jahrhundert.) Stilprobe aus Wielands Geschichte des
Agathon. (Göschensche Ausg. 1853 IV. 40 ff.)
Wie ähnlich ist alles dies einem Fiebertraume, wo die schwärmende Phantasie
ohne Ordnung, ohne Wahrscheinlichkeit, ohne Zeit oder Ort in Betrachtung
zu ziehen, die betäubte Seele von einem Abenteuer zu dem andern, von der
Krone zum Bettlermantel, von der Wonne zur Verzweiflung, vom Tartaros
ins Elysium fortreißt! Und ist denn das Leben ein Traum, ein bloßer Traum,
so eitel, so unwesentlich, so unbedeutend als ein Traum? Ein unbeständiges
Spiel des blinden Zufalls, oder unsichtbarer Geister, die eine grausame Belustigung
darin finden, uns zum Scherze bald glücklich, bald unglücklich zu machen?
Oder ist es diese allgemeine Seele der Welt, deren Dasein die geheimnisvolle
Majestät der Natur ankündiget, ist es dieser alles belebende Geist, der die menschlichen
Sachen anordnet: warum herrschet in der moralischen Welt nicht eben
diese unveränderliche Ordnung und Zusammenstimmung, wodurch die Elemente,
die Jahres- und Tageszeiten, die Gestirne und die Kreise des Himmels: in
ihrem gleichförmigen Lauf erhalten werden? Warum leidet der Unschuldige? Warum
sieget der Betrüger? Warum verfolgt ein unerbittliches Schicksal die Tugendhaften?
Sind unsere Seelen den Unsterblichen verwandt, sind sie Kinder des
Himmels: warum verkennt der Himmel sein Geschlecht, und tritt auf die Seite
seiner Feinde? Oder, hat er uns die Sorge für uns selbst gänzlich überlassen:
warum sind wir keinen Augenblick unsers Zustandes Meister? Warum vernichtet
bald Notwendigkeit, bald Zufall die weisesten Entwürfe?
Hier hielt Agathon eine Zeit lang ein. Sein in Zweifeln verwickelter
Geist arbeitete, sich los zu winden, bis ein neuer Blick auf die majestätische Natur,
die ihn umgab, eine andere Reihe von Vorstellungen in ihm entwickelte.
─ „Was sind, fuhr er mit sich selbst fort, meine Zweifel anders, als Eingebungen [378]
der eigennützigen Leidenschaft? Wer war diesen Morgen glücklicher als
ich? Alles war Wollust und Wonne um mich her. Hat sich die Natur binnen
dieser Zeit verändert, oder ist sie minder der Schauplatz einer grenzenlosen Vollkommenheit,
weil Agathon ein Sklave, und von Psyche getrennt ist? Schäme
dich, Kleinmütiger, deiner trübsinnigen Zweifel, und deiner unmännlichen Klagen!
Wie kannst du Verlust nennen, dessen Besitz kein Gut war? Jst es ein Übel,
deines Ansehens, deines Vermögens, deines Vaterlandes beraubt zu sein? Alles
dessen beraubt, warst du in Delphi glücklich, und vermißtest es nicht. Und
warum nennst du Dinge dein, die nicht zu dir selbst gehören, die der Zufall
giebt und nimmt, ohne daß es in deiner Willkür steht, sie zu erlangen oder
zu erhalten? ─ Wie ruhig, wie heiter und glücklich floß mein Leben in Delphi
hin, eh' ich die Welt, ihre Geschäfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechslungen
kannte; eh' ich genötigt war, mit den Leidenschaften anderer Menschen,
oder mit meinen eigenen zu kämpfen, mich selbst und den Genuß meines Daseins
einem undankbaren Volk aufzuopfern, und unter der vergeblichen Bemühung,
Thoren oder Lasterhafte glücklich zu machen, selbst unglücklich zu sein!
Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten Zweifel des Mißvergnügens
am besten. Es gab Augenblicke, Tage, lange Reihen von Tagen, da ich
glücklich war; glücklich in den frohen Stunden, wenn meine Seele, vom Anblick
der Natur begeistert, in tiefsinnigen Betrachtungen und süßen Ahnungen,
wie in den bezauberten Gärten der Hesperiden, irrte; glücklich, wenn mein
befriedigtes Herz in den Armen der Liebe aller Bedürfnisse, aller Wünsche vergaß,
und nun zu verstehen glaubte, was die Wonne der Götter sei; glücklicher,
wenn in Augenblicken, deren Erinnerung den bittersten Schmerz zu versüßen
genug ist, mein Geist in der großen Betrachtung des Ewigen und Unbegrenzten
sich verlor. ─ Ja, du bist's, alles beseelende, alles regierende Güte ─ ich
sah, ich fühlte dich! Jch empfand die Schönheit der Tugend, die dir ähnlich
macht; ich genoß die Glückseligkeit, welche Tagen die Schnelligkeit von Augenblicken
und Augenblicken den Wert von Jahrhunderten giebt. Die Macht der
Empfindung zerstreut meine Zweifel; die Erinnerung der genossenen Glückseligkeit
heilet den gegenwärtigen Schmerz und verspricht eine bessere Zukunft. ─
Diese allgemeinen Quellen der Freude, woraus alle Wesen schöpfen, fließen wie
ehemals um mich her; meine Seele ist noch eben dieselbe, wie die Natur, die
mich umgiebt. ─ O Ruhe meines delphischen Lebens, und du, meine Psyche!
euch allein, von allem was außer mir ist, nenne ich mein! u. s. w.
3. (19. Jahrhundert.) Stilprobe aus Gottfried Kellers Der
grüne Heinrich. 3. Band, S. 1. Erstes Kapitel.
Arbeit und Beschaulichkeit.
Jch schlief fest und traumlos bis zum Mittag; als ich erwachte, wehte
noch immer der warme Südwind und es regnete fort. Jch sah aus dem Fenster
und erblickte das Thal auf und nieder, wie Hunderte von Männern am
Wasser arbeiteten, um die Wehren und Dämme herzustellen, da in den Bergen
aller Schnee schmelzen mußte und eine große Flut zu erwarten war. Das [379]
Flüßchen rauschte schon stark und graugelblich daher; für unser Haus war gar
keine Gefahr, da es an einem sicher abgedämmten Seitenarme lag, der die
Mühle trieb; doch waren alle Mannspersonen fort, um die Wiesen zu schützen,
und ich saß mit den Frauensleuten allein zu Tische. Nachher ging ich auch
hinaus und sah die Männer ebenso rüstig und entschlossen bei der Arbeit, als
sie gestern die Freude angefaßt hatten. Sie schafften in Erde, Holz und Steinen,
standen bis über die Kniee in Schlamm und Wasser, schwangen Äxte und
trugen Faschinen und Balken umher, und wenn so acht Mann unter einem
schweren langen Baume einher gingen, hielten die Witzbolde unter ihnen keinen
Einfall zurück; nur der Unterschied war gegen gestern, daß man keine Tabakspfeifen
sah. Jch konnte nicht viel helfen und war den Leuten eher im Wege;
nachdem ich daher eine Strecke weit das Wasser hinaufgeschlendert, kehrte ich
oben durch das Dorf zurück und sah auf diesem Gange die Thätigkeit auf allen
ihren gewohnten Wegen. Wer nicht am Wasser beschäftigt war, der fuhr ins
Holz, um die dortige Arbeit noch schnell abzuthun, und auf einem Acker sah
ich einen Mann so ruhig und aufmerksam pflügen, als ob es weder der Nachtag
eines Festes, noch eine Gefahr im Lande wäre. Jch schämte mich, allein
so müßig und zwecklos umherzugehen, und um nur etwas Entschiedenes zu thun,
entschloß ich mich, sogleich nach der Stadt zurückzukehren. Zwar hatte ich leider
nicht viel zu versäumen und meine ungeleitete haltlose Arbeit bot mir in diesem
Augenblicke gar keine lockende Zuflucht, ja, sie kam mir schal und nichtig vor;
da aber der Nachmittag schon vorgerückt war und ich durch Kot und Regen
in die Nacht hineinwandern mußte, so ließ eine ascetische Laune mir diesen
Gang als eine Wohlthat erscheinen, und ich machte mich trotz aller Einreden
meiner Verwandten ungesäumt auf den Weg.
So stürmisch und mühevoll dieser war, legte ich doch die bedeutende
Strecke zurück wie einen sonnigen Gartenpfad; denn in meinem Jnnern erwachten
alle Gedanken und spielten fort und fort mit dem Rätsel des Lebens,
wie mit einer goldenen Kugel, und ich war nicht wenig überrascht, mich unversehens
vor der Stadt zu befinden. Als ich vor unser Haus kam, merkte
ich an den dunkeln Fenstern, daß meine Mutter schon schlief; mit einem heimkehrenden
Hausgenossen schlüpfte ich ins Haus und auf meine Kammer, und
am Morgen that meine Mutter die Augen weit auf, als sie mich unerwartet
zum Frühstück erscheinen sah.
Jch bemerkte sogleich, daß in unserer Stube eine kleine Veränderung vorgegangen
war. Ein Lotterbettchen stand an der Wand, welches die Mutter
aus Gefälligkeit von einem Bekannten gekauft, der dasselbe nicht mehr unterzubringen
wußte; es war von der größten Einfachheit, leicht gebaut und nur
mit weiß und grünem Stroh überflochten und doch ein ganz artiges Möbel.
Aber auf demselben lag ein ansehnlicher Stoß Bücher, an die fünfzig Bändchen,
alle gleich gebunden, mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf dem Rücken
versehen und durch eine starke vielfache Schnur zusammengehalten. Es waren
Goethes sämtliche Werke, welche ein Trödler, der mich mit alten Büchern
und vergilbten Kupferblättern in ein vorzeitiges gelindes Schuldentum zu verlocken [380]
wußte, hergebracht hatte, um sie mir zur Ansicht und zum Verkauf anzubieten.
Vor einigen Jahren hatte ein deutscher Schreinergeselle, welcher in
unserer Stube etwas zurechthämmerte, dabei von ungefähr gesagt: „Der große
Goethe ist gestorben“, und dies Wort klang mir immer wieder nach. „Der
unbekannte Tote schritt fast durch alle Beschäftigungen und Anregungen und
überall zog er angeknüpfte Fäden an sich, deren Enden in seiner unsichtbaren
Hand verschwanden. Als ob ich jetzt alle diese Fäden in dem ungeschlachten
Knoten der Schnur, welche die Bücher umwand, beisammen hätte, fiel ich über
denselben her und begann hastig ihn aufzulösen, und als er endlich aufging,
da fielen die goldenen Früchte des achtzigjährigen Lebens auf das Schönste
auseinander, verbreiteten sich über das Ruhebett und fielen über dessen Rand
auf den Boden, daß ich alle Hände voll zu thun hatte, den Reichtum zusammenzuhalten.
Jch entfernte mich von selber Stunde an nicht mehr vom
Lotterbettchen und las dreißig Tage lang, indessen es noch einmal Winter und
wieder Frühling wurde; aber der weiße Schnee ging mir wie ein Traum vorüber,
den ich unbeachtet von der Seite glänzen sah. Jch griff zuerst nach
allem, was sich durch den Druck als dramatisch zeigte, dann las ich alles
Gereimte, dann die Romane, dann die italienische Reise, und als sich der Strom
hierauf in die prosaischen Gefilde des täglichen Fleißes, der Einzelmühe verlief,
ließ ich das Weitere liegen und fing von vorn an und entdeckte diesmal die
ganzen Sternbilder in ihren schönen Stellungen zu einander und dazwischen
einzelne seltsam glänzende Sterne, wie den Reineke Fuchs oder den Benvenuto
Cellini. So hatte ich noch einmal diesen Himmel durchschweift und vieles
wieder doppelt gelesen und entdeckte zuletzt noch einen ganz neuen hellen Stern:
Dichtung und Wahrheit. Jch war eben mit diesem zu Ende, als der Trödler
hereintrat und sich erkundigte, ob ich die Werke behalten wolle, da sich sonst
ein anderweitiger Käufer gezeigt habe. Unter diesen Umständen mußte der
Schatz bar bezahlt werden, was jetzt über meine Kräfte ging; die Mutter
sah wohl, daß er mir etwas Wichtiges war, aber mein dreißigtägiges Liegen
und Lesen machte sie unentschlossen und darüber ergriff der Mann wieder seine
Schnur, band die Bücher zusammen, schwang den Pack auf den Rücken und
empfahl sich.
Es war, als ob eine Schar glänzender und singender Geister die Stube
verließen, so daß diese auf einmal still und leer schien; ich sprang auf, sah
mich um, und würde mich wie in einem Grabe gedünkt haben, wenn nicht
die Stricknadeln meiner Mutter ein freundliches Geräusch verursacht hätten.
Jch machte mich ins Freie; die alte Bergstadt, Felsen, Wald, Fluß und See
und das formenreiche Gebirge lagen im milden Schein der Märzsonne, und
indem meine Blicke alles umfaßten, empfand ich ein reines und nachhaltiges
Vergnügen, das ich früher nicht gekannt. Es war die hingebende Liebe an
alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen
Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet. Diese
Liebe steht höher als das künstlerische Herausstehlen des Einzelnen zu eigennützigem
Zwecke, welches zuletzt immer zu Kleinlichkeit und Laune führt; sie [381]
steht auch höher als das Genießen und Absondern nach Stimmungen und
romantischen Liebhabereien, und nur sie allein vermag eine gleichmäßige und
dauernde Glut zu geben. Es kam mir nun alles und immer neu, schön
und merkwürdig vor und ich begann, nicht nur die Form, sondern auch den
Jnhalt, das Wesen und die Geschichte der Dinge zu sehen und zu lieben.
Obgleich ich nicht stracks mit einem solchen fix und fertigen Bewußtsein herumlief,
so entsprang das nach und nach Erwachende doch durchaus aus jenen
dreißig Tagen, sowie deren Gesamteindrucke noch folgende Ergebnisse ursprünglich
zuzuschreiben sind. u. s. w.
§ 144. Zur Geschichte und Litteratur des Romans.
Da der Roman ein Bild des wirklichen Lebens ist, so müssen
selbstredend diejenigen Völker, welche das bewegteste Leben führen, die
meisten interessanten Romane aufzuweisen haben; also Engländer, Franzosen,
Amerikaner, Deutsche &c.
Wir streifen kurz die fremden Litteraturen, um sodann die Geschichte
der deutschen Romanlitteratur in ihren wesentlichen Vertretern
aufzurollen, soweit dieselben nicht bereits Bd. I § 18, sowie § 126
bis 144 d. Bds. erwähnt sind.
I. Griechen. Der Roman in unserem Sinne konnte bei den Griechen
selbst in ihrer Blütezeit nicht gedeihen.
Man hatte dort zu jener Zeit noch kein häusliches Leben; alles war
öffentlich, die Geschäfte wie das Vergnügen, die Staatsangelegenheiten wie die
olympischen Spiele und das Theater. Daher kannte man auch nicht eine verborgene
Liebe mit ihren Leiden und Freuden, wie eine solche eine Hauptrolle
in unseren Romanen spielt.
Erst als in Griechenland das öffentliche Leben aufhörte und ein jeder
sich auf seine Familie beschränkte ─ als die Blüte der Litteratur vorüber
war, begann der griechische Roman im besseren Sinne unter dem Namen: „milesische
Märchen“.
Diese sind von Aristides verfaßt und enthalten Scenen aus dem Leben
Milets, der Vaterstadt der Hetären. Als die ersten griech. Romandichter sind
zu nennen: 1. Antonius Diogenes (2. Jahrh. n. Chr.; er schrieb: Die
Wunder jenseit Thule). 2. Lucius aus Paträ, und Jamblichus, beide
im 2. Jahrh. n. Chr. 3. 200 Jahre später Heliodorus, Achilles Tatius,
Longus, Xenophon aus Ephesus. 4. Um 600 n. Chr. Chariton. Endlich
5. aus dem 11.─13. Jahrh. Eumathius, Theodorus, Prodromus und Nikotas
Eugenianus, welch letztere wegen ihrer erotischen Stoffe den Beinamen Erotiker
trugen. (Eine Geschichte des griech. Romans schrieb Erwin Rohde.)
II. Jtaliener. Diesen genügte die Novelle und das Epos, weshalb ihnen
der Roman ─ mit Ausnahme einer Art Ritterroman ─ fast bis in die
Neuzeit fehlte. Da war es denn Alessandro Manzoni, welcher in Verehrung
Walter Scotts 1825 in seinen klassischen I promessi sposi (Die Verlobten) [382]
den historischen Roman begründete. (Jnhalt: Don Rodrigo, ein vornehmer
Wollüstling, welcher sein Auge auf die Braut eines Seidenwebers gerichtet
hat, hintertreibt deren Trauung; doch kann er nicht Erhörung finden. Die poetische
Gerechtigkeit läßt ihn durch die Pest hinwegraffen, worauf die Verfolgte den
Geliebten heiratet. Goethe urteilt über diesen Roman, „man werde von der
Bewunderung zur Rührung, von der Rührung zur Bewunderung hingerissen“.)
Die bedeutendsten Nachfolger Manzonis, zu denen fast alle berühmten Staatsmänner
zählen, sind: Giov. Rosini aus Pisa; Ces. Cantù (Margherita Pusterla,
Mail. 1837); Lucrezia Marinella (L'Enrico Mail. 1844); Massimo d'Azeglio;
Domenico Guerazzi, dessen letztes Werk Beatrice Cenci berechtigtes Aufsehen
erregte u. a.
III. Spanien. Die Romane (novela) erblühten hier aus der romanischen
Dichtung. Ursprünglich waren es gehaltlose Ritterromane. Don Miguel de
Cervantes de Saavedra († 1616) in seinem humoristischen Don Quijote, d. i.
Leben und Thaten des sinnreichen Junkers Don Quijote aus der Mancha,
parodierte dieselben. Übersetzt wurde derselbe u. a. von E. Zoller.
(Jnhalt des Don Quijote: Ein durch die Lektüre von Ritterromanen
überspannt gewordener Landedelmann, der Alles glaubt, was die Romane erzählen,
faßt den Entschluß, fahrender Ritter zu werden. Zur Rüstung wählt
er Waffenstücke verschiedener Zeiten und zum Knappen den Bauern Sancho
Pansa, einen gutmütigen, einfältigen, täppischen, zuweilen schalkhaften Menschen,
der gern lügt und besonders das Essen liebt. Windmühlen sieht er für Riesen
an, Wirtshäuser für Ritterburgen, Stalldirnen für Ritterfräulein. Man erklärt
ihn endlich für toll und bringt ihn in die Heimat zurück, wo er in eine
Krankheit verfällt, nach welcher er seine vernünftige Anschauung wieder erlangt.
Der Roman wurde vielfach nachgeahmt, z. B. vom Engländer Butler im
Hudibras; von Wieland im Don Sylvio von Rosalva u. a.) Cervantes wurde
Begründer des Liebesromans. Ende des 16. Jahrh. entstanden auch die
komischen (Schelmen=) und die Schäfer-Romane. Die Bewunderung für Walter
Scott schuf den historischen Roman Gomez Arias von Telesforo de Trueba y
Cosio. Man übersetzte die englischen Romane. Beliebte Originalromane enthält
die Coleccion de novelas históricas 1832─35. Gefeierte Romandichter
sind: Espronceda, Soler, Mariano José de Larra, Jorge Montgomery,
Fernan Caballero (begr. d. span. Sittenroman), Perez Galdos, Juan Valera,
Fernandez y Gonzales u. a.
IV. Frankreich. Jn Frankreich gab es zuerst prosaische Ritterromane.
Diese wurden sodann im 16. Jahrh. verdrängt durch den weltberühmten phantastischen,
witzsprudelnden, aber auch unflätigen satirischen Roman des François
Rabelais: Pantagruel und Gargantua &c. (Jnhalt: Der Riese Gargantua nimmt
aus der Notre-Dame=Kirche in Paris die Kirchenglocken weg und hängt sie
seinem Riesenroß als Schellen an. Er schlichtet den Krieg der Bäcker und
Weinbauern und stillt seinen Durst mit Lattichsalat, wobei er sechs im Salat
versteckte Pilger beinahe mit verschluckt hätte u. s. w. Der Roman verhöhnt
die politischen Jnstitutionen seiner Zeit und bietet vortreffliche Gedanken über [383]
Erziehung, Litteratur, Philosophie &c.) Nachgeahmt wurde der Roman von
Fischart in der „Affenteuerlichen und Naupengeheuerlichen Geschichtklitterung.
Von Thaten und Rahten der vor kurzen, langen weilen Vollenwolbeschreiten
Helden und Herren Grandgusier, Gargantua und Pantagruel, Königen in Utopien
und Nienenreich. Etwan von M. Rabelais französisch entworfen, nun aber oberschrecklich
lustig in ein deutsches Modell vergossen durch Huldrich Elloposkleron 1575
(von ἔλλοψ == ellops Fisch und σκληρός == skleros == hart: Fischhart).
Nach Rabelais machte sich der galante Schäferroman nach spanischen und
italienischen Mustern geltend. (Den bedeutendsten Astrée von Honoré d'Urfé
haben wir bereits S. 369 erwähnt.) Dann brach sich der historische Roman
Bahn, sowie der die bürgerlichen Verhältnisse von Paris behandelnde Roman.
Scarron führte das komische Element der italienisch=spanischen Romantik in die
französische Litteratur durch seinen Roman comique ein. Fénélon schrieb 1698
den besten Roman des Jahrhunderts: Les aventures de Télémaque. Nun
begründete Alain René Lesage durch seinen Diable boiteux 1707 eine neue
Art satirischer Romane, die zur Schule hindrängten, welche zwischen Klassizismus
und Romantizismus in der Mitte steht und Moral, Natur und Gemütsleben
in ihre Kreise zogen. ─ Bedeutendes Aufsehen erregte Voltaire (Candide &c.),
Rousseau (Heloise), u. a. Charles Antoine Pigault Lebrun († 1835), der
den komischen Roman pflegte, und Paul de Kock (1794─1871) wählten
häufig Stoffe aus den Sphären des Gewöhnlichen, Niedrigen. Jhnen stellten
sich durch zarte würdevolle Auffassung Frau Sophie Gay und Frau Cottin
entgegen.
Die Romantiker Vict. Hugo, Alfr. de Vigny, Alex. Dumas, Lacroix,
Mérimée verhalfen dem Roman zur unbestrittenen Herrschaft. Den historischen
Roman pflegte Barginet, Paul de Musset u. a., den Sittenroman Balzac,
Frau Mazure, Frau Foa, Hortense Allart u. a. Außerdem ist erwähnenswert
der Begründer des Seeromans Eugène Sue, der über Voltaire und Lesage zu
stellen ist. Voltaire liefert Karikaturen, Lesage schlechte Charaktere, Eugène
Sue stellt den Schurken herrliche tugendhafte Charaktere (die bedenklichen Les
mystères du peuple ausgenommen) gegenüber. Muster des guten Romans
ist sein von Theod. Hell deutsch übersetzter Ewiger Jude, sowie seine Geheimnisse
von Paris. Dieselben sind vom Geist der Wahrheit und der christlichen
Humanität durchzogen. Beide Romane sind Zeitbücher, weshalb sie vom Lesepublikum
aller Länder förmlich verschlungen wurden. Von den Seeromanen,
die Sues Ruf begründeten, erwähne ich nur: Kernock le pirate, sowie La
Salamandre.
Jm Liebesroman hat sich die auch für Frauen-Emancipation wirkende
George Sand hervorgethan, die wie Eugène Sue dem Roman sociale Jdeen
vermählte. Jol pflegte den Abenteuerroman, Blaze den Soldatenroman,
Nodier den phantastischen. Poetisch bedeutend sind die Romane der Sophie
Gay und in der Neuzeit des Alphonse Daudet, dessen 1874 von der Akademie
gekrönter Sittenroman Fromont jeune et Risler ainé ins Deutsche übertragen
wurde und 1876 schon drei Auflagen erlebt hatte. Vielgelesen sind [384]
noch: Staël=Holstein, Xavier de Maistre, Jony, About, Flaubert (dessen karthag.
Roman Salammbô 1862 und L'éducation sentimentale Aufsehen erregten),
V. Cherbuliez, in neuester Zeit der zweifelhafte Emile Zola u. a.
V. England. Der englische Roman ist aus den Prosabearbeitungen
der Metrical romances entstanden und erreichte bereits Anfangs des 18. Jahrh.
eine nennenswerte Verbreitung. Der Begründer des neueren englischen Romans
ist Daniel Defoe (1661─1731), dessen Robinson Crusoe durch Campes
berühmte Nachbildung auch in Deutschland ungemein populär wurde. Samuel
Richardson († 1761) schuf durch seine Romane Pamela, Grandison, Clarissa
Harlowe den von Hermes nach Deutschland verpflanzten Familienroman. Fielding
(† 1754 mit Tom Jones), Sterne († 1768 mit Tristram Shandy),
Smollet († 1771 mit Peregrine Pickle) begründeten den humoristischen Familienroman.
Jn unserem Jahrhundert drängte sich der Sensationsroman in
den Vordergrund, sowie der durch Walter Scotts († 1832) Waverley-Novels
begründete historische Roman, der von epochebildender Bedeutung für die Romanlitteratur
aller Nationen wurde. Beliebt wurden auch die in Deutschland vielfach
verbreiteten Gesellschaftsromane Bulwer-Lyttons. Charles Dickens (geb.
1812) und Thackeray, der Begründer des Sittenromans, pflegten in der Neuzeit
den alten humoristischen Familienroman. Vielgelesene Romane schrieben
noch Marryat, Trollope, Collins, Kingsley, Mrs. Wood. Der allergrößten
Beliebtheit unter allen Romanschriftstellern Englands erfreut sich unstreitig Mary
Evans, die unter dem Pseudonym George Eliot die weltberühmten Romane
The Mill on the floss, Felix Holt, Adam Bede, Middlemarch und
Daniel Deronda &c. veröffentlicht hat &c.
VI. Niederlande. Erst Ende des vorigen und Anfangs dieses Jahrhunderts
begann die niederländische Romanlitteratur sich zu entfalten. Die
Schriftstellerinnen Wolff und Deken liebten den Roman in Briefform. Breno
Daalberg schrieb Sensationsromane. Den historischen Roman pflegte Jac. van Lennep
(† 1868), der seine Stoffe der vaterländischen Geschichte entlehnte. Neben
ihm Frau Bosboom Toussaint, ferner Schimmel u. a. Der niederländische
Auerbach ist Cremer. Der populärste Romanschriftsteller aber ist neben Snieders
der in alle Sprachen übersetzte Hendrik (== Heinrich) Conscience. Seinen
Ruf begründete der flämische Roman „Der Löwe von Flandern“, ein historischer
Roman höheren Stils, dessen Handlung den Kampf sämtlicher flandrischer Städte
gegen französische Usurpation umschließt. Ebenso bekannt wurde bei uns seine
von Zoller u. a. übertragene Dorfgeschichte Der Rekrut u. a.
VII. Schweden und Norwegen. Erwähnenswert ist der Romantiker
Almqvist, sowie durch seine Pflege des historischen Romans Crusenstolpe; ferner
die vielgelesene Frederike Bremer, Frau Flygare-Carlen, Frau Knorring, Palmblad,
Ridderstad, Mellin, Schwarz, Topelius (schwedisch schreibender Finne) und
von den Neueren besonders Rydberg, u. a. Von den Norwegern ist zu nennen:
Björnson, Lie, Thoresen (Dorfgesch.), Colban, Glöersen und der nur deutsch
schreibende Henrich Steffens († 1845. Vgl. dessen Romane Malkolm und Die
vier Norweger &c.).
VIII. Dänen. Jhre bedeutendsten Romanschriftsteller sind Jngemann
(schrieb Ritterromane), Frau Gyllemburg, Blicher, Carl Bernhard, Goldschmidt,
Ewald, Rumohr, Thisted, Drachmann, Jacobsen, Schandorph, Carit Etlar, Hauch
und Andersen. Obwohl die Beliebtheit des Romans um die Mitte unseres
Jahrhunderts sich steigerte, so ist doch nur der Name Bergsöe und seit 1870
G. Brandes von Bedeutung.
IX. Russen. Jn Rußland wurde die Novelle mehr gepflegt als der
Roman. Die bedeutendsten Romanschriftsteller und zugleich Novellisten sind: Turgenjew;
Bulgarin, der historische Romane schrieb; und besonders der Meister des
Romans: Gogol. Außer diesen sind in unserer Zeit gelesen: Dostojewskij, Pissemski,
Tschernischewski (Verf. des berühmten Tendenzromans: Was ist zu thun?), Frau
Pawlow, Helene Weltmann (die historische Romane schrieb) und viele andere.
X. Ungarn. Der Roman wurde besonders durch den Piaristen Andreas
Dugonics in die ungarische Litteratur eingeführt, sowie durch Könyi. Bedeutender
als diese waren Jósika, Eötvös († 1871), Kemeny, der historische
Zustände trefflich malte, besonders aber der durch Humor und Phantasie glänzende,
unübertroffene Moriz Jókai. (Die größte Berühmtheit erlangte dessen
Névleten vár, Das namenlose Schloß, dessen Motiv der französischen Geschichte
entlehnt ist, während der wesentliche Teil der Geschichte in Ungarn spielt. Ein
französischer Legitimist rettet die 11jährige Tochter Maria Antoinettens und
flüchtet mit ihr nach Ungarn, wo er am Neusiedler See ein Schloß ─ das
keinen Namen hat ─ ankauft. Zum Schluß acclimatisiert und nationalisiert
sich der Retter und Ritter, wird Ungar &c.)
XI. Nordamerika. Die hervorragendsten nordamerikanischen Romanschriftsteller
sind Cooper und Washington Jrving. An sie reiht sich Hawthorne u. a.
XII. Deutschland. Beim Abscheiden des Mittelalters ─ also mit dem
Erlöschen der deutschen Heldensage ─ entstand bei uns zunächst eine Art Prosaepos,
Prosaerzählungen, Übersetzungen von Ritterromanen &c. als Nachklänge
der Rittersage: z. B. a. Eine Bearbeitung der Sage vom hörnernen
Siegfried. (Jnhalt: Siegfried von Santen kommt im Wald zum Schmiede
Minner, wo er mit einem Schlag den Amboß spaltet. Der erschreckte Meister
schickt ihn in den Wald mit dem Auftrag, den furchtbaren Lindwurm zu töten;
in Wirklichkeit will er ihm den Untergang bereiten. Siegfried erlegt den Drachen,
badet sich im Blute dieses Ungeheuers, wodurch seine Haut bis auf eine durch
ein Lindenblatt verdeckte Stelle hörnern wird. Nun erschlägt er den treulosen
Schmied &c.) b. Weißkunig (Jnhalt: Lebensgeschichte des Kaisers Maximilians,
der den von ihm entworfenen Plan durch seinen Geheimschreiber Max
Treitzsauerwein ausführen ließ.) c. Übersetzungen aus dem Französischen: Die
Haimonskinder (I. 45); Die schöne Magelone; Melusina; Genofeva &c. &c.
Das Aufkommen der italienischen Renaissancedichtung erzeugte die arkadischen
Schäferromane und phantastische, romanartige Erzählungen, z. B. Das Buch der
Liebe; Fortunatus mit seinem Seckel und Wunschhütlein; Wickrams Goldfaden
(1557, neu durch Cl. Brentano 1809 herausgeg.), sowie das I. 49 A. a.
Aufgeführte.
Als Gegensatz zur Hof- und Volksdichtung entstand im 17. Jahrhundert
der gelehrte, höfische Roman, sowie der Abenteuer- und Schelmenroman. (Aufzählung
s. I 52 A. a.) Anfangs des 18. Jahrh. gewannen die Robinsonaden
eine außerordentliche Verbreitung; es erschienen über 40 verschiedene
Robinsone, ein geistlicher, ein jüdischer, ein medicinischer, ein westfälischer u. s. w.
Das sich emporhebende Bürgertum ermöglichte im 18. Jahrh. den Familienroman,
sowie ─ nach Walter Scotts Vorgang ─ den historischen Roman.
Nach dem Romanversuche Gellerts (Die schwedische Gräfin) haben Wieland
und neben ihm Musäus und Hermes die ersten vollkommenen deutschen Originalromane
geschrieben. (I 54 l. und 55 m.) Durch Schillers großartige Bühnenerfolge
(I 56) wurde für die Folge die deutsche Litteratur in neue Bahnen
gelenkt; man verließ das Gebiet des Romans und der Novelle und suchte Erfolge
im Drama. Da war es Goethe (I 57), der die alten Versuche wieder
aufnahm und den deutschen Roman auf die neue Stufe echt künstlerischer Darstellung
emporhob. Er schrieb (seit 1807) die für die Wanderjahre bestimmten
Novellen, zu denen auch die Wahlverwandtschaften gehören sollten, die jedoch
während der Arbeit äußerlich wie innerlich zum Roman sich gestalteten. Der
Vater des humoristischen Romans (der den Prometheusfunken des Romans
─ den Humor ─ von den Engländern Sterne, Swift, Fielding entlehnte)
wurde Jean Paul (vgl. I. 58 auch seine Nachfolger).
Eine eigenartige Färbung erhielt der Roman der Romantiker. Er leitete
auf das christlich mystische Gebiet hinüber und trug mehr oder weniger eine
gewisse Voreingenommenheit für Weichlichkeit, Sentimentalität, Abenteuerlichkeit,
Farbenpracht &c. zur Schau (Aufzählung I 60).
Auf Goethe blickend hatten es sich die Vertreter des jungen Deutschlands
(I 61) zur Aufgabe gemacht, eine geistvolle Prosa zu bieten und das geistreiche
Element, die geistreiche Unterhaltung in den Roman einzuführen. Die
charakteristischen Reden der Romanhelden benützten sie, das jedesmalige Handeln
zu motivieren, zu erklären, ohne doch der dramatischen Lebendigkeit und der
bunten Färbung zu entbehren. Der Leser sollte die behagliche Freude des
Dichters am geistreichen Gespräch jedoch nicht merken. Da nun aber beim jeweiligen
Begegnen der Charaktere des Romans deren Gespräch häufig in pointierte,
der Befriedigung und Selbstbespiegelung der Sprechenden gewidmete
Phrasen auslief, so mußte es den Anschein gewinnen, als ob manche Unterredung
nur den glänzenden Phrasen zuliebe geschrieben sei; ja, es mußte sich
fragen, ob durch die Spielereien des Scharfsinns, des Geistreichthuns und Geistreichtums
nicht die schönen Bilder und Empfindungen der produzierenden Phantasie
in den Hintergrund gedrängt wurden.
So wurde es denn mit Jubel begrüßt, als sich allmählich ─ wie von selbst
─ eine neue gesunde Epoche in der Romanlitteratur vollzog durch Freytag, Keller,
Reuter, L. v. François, Ebers, Gutzkow, Scheffel u. a.: durch Freytag, der das
Volk bei seiner Arbeit aufsucht und indem er die Arbeit verherrlicht, den modernen
socialen, aus dem vollen Menschenleben schöpfenden Roman bot; durch Keller,
der durch seine objektive Darstellung, wie durch seine sonnigklare Erzählungsweise [387]
den epischen, volkstümlichen Roman ausbaute; durch Reuter, der neue
Muster des humoristischen Romans und in „Ut mine Stromtid“ vielleicht den
besten Roman der Gegenwart lieferte, dessen volle Anerkennung leider das Jdiom
beschränkt; durch Luise v. François, die in anmutender Weise zeigte, wie
ein moderner Roman philosophisch oder enger gefaßt pädagogisch sein kann, ohne
abstoßend zu wirken; durch Ebers, der seine Historie und sein wissenschaftliches
Material in der Form eines historischen Romans darbietet u. s. w.
Diese Schriftsteller stellten sich auf den Boden eines gesunden Realismus,
auf welchem in den letzten Decennien manche gute Pflanze emporgeblüht ist.
Der deutsche Roman ist durch sie mindestens gesunder, naturgemäßer, der
Wirklichkeit des Lebens entsprechender geworden.
Zum Schluß dieser Zeichnung im großen Umriß haben wir im Anschluß
an I S. 72 noch jene Romandichter zu nennen, welche innerhalb der letzten
Periode von 1870 bis in die Gegenwart (eventuell auch noch von 1860─70)
durch irgend eine nennenswerte oder berühmt gewordene Leistung sich bemerklich
machten, ohne in Bd. I § 18 oder in den §§ 126─143 irgendwo genannt
zu sein (wir erwähnen dabei auch einige Fremde, sofern deren ins
Deutsche übersetzten Romane bei uns Einfluß übten):
a. Historischer Roman: Außer den I S. 68 und 72 und 372 II ff.
genannten Romanschriftstellern sind zu erwähnen: Adami, Breier, Brog,
Busch, F. Dahn, Diez, Egan, Frenzel, Gayette-Georgens, Grant, Hamerling,
Ernst Harmening, M. Hartmann, L. Herbert, Th. Hemsen, Ed. Jost, Kirchbach,
Landsteiner, Langer, A. v. Liliencron (Giovanna 1881, behandelt die französische
Revolution), Lippert, v. Maltitz, Konr. Ferd. Meyer (Georg Jenatsch,
aus dem 30jähr. Krieg), Otfried Mylius, Neumann-Strehla, Norden, Philippson,
Reichenbach, Rüffer, F. L. Schubert, Levin Schücking (ein Meister des historischen
Sittenromans), H. J. Schwarz, F. Sonnenburg, P. Stein, v. Veltheim,
Zistler u. a.
b. Philosophischer Roman: Außer den I 72 und II 374 ff. Genannten:
v. Auer, Belot, Brommer, Büchner, Erlburg, A. Fuchs, Pfarrius,
C. M. Sauer, Stifft u. a.
c. Moderner Roman (Zeitroman): Außer den I 68 und II 374
Genannten: Adolay, Aimars, v. Amyntor, Anthony, Auersberg, Avé=Lallemant,
Belani, Berger, Berkow, Beta, v. Bibra, Billig, M. Bormann, G. F.
Born, v. Brackel, T. S. Braun, G. v. Brühl, Collins, Dehnike, Dominikus,
Dungern, Ebeling, Egan, K. Elmar, Fastenau, Ferry, Feuillet, Fr.
Friedrich, Fritze, Gensichen, Gerstenberg, Grimard, W. Grothe, Baronin
v. Grotthus, R. E. Hahn, Haidheim, Ed. Hammer, Heimburg, F. Helm, Henry,
Herzog, Heßlein, v. Hillern, Hirschfeld, Höcker, O. Horn, J. P. Jakobsen,
Jensen, Katsch, v. Keller, E. Kellner, Kettnacker, v. Kessel, Kittl, Klee, G.
Knöpfer, E. Kronau, Kohlenegg, Krane, Krabbe, C. Kraus, Krause, Theod. und
Anni Küster, L'Arronge, Mahler, H. Martin, Mels, Mitzlaff, O. Moser, L. Mühlfeld,
Müller v. Königswinter, Nentwig, Olivier, Pflug, O. Pollak, Gust. zu
Putlitz, Rafael, Reid, Reinfels, v. Roskowska, Rothenfels, El. Schack von Jgar, [388]
Max von Schlägel, H. Seidel, Smidt, Steen, Streckfuß, Tarnow, Vely, Verena,
F. Th. Vischer, Vollmer, Walther, Weller, Widdern, Ziemssen u. a.
d. Volkstümlicher Roman und Dorfgeschichte: Außer den
I 73 und II 375 ff. Genannten: Alarçon, Allwey, Anzengruber, A. Becker,
A. Beneke, Biursten, Brandrupp, Ernst, E. Höfer, Holtei, Hans Hopfen,
Kleinsteuber, Lenzen, B. Lohmann, Neumeister, Scheibe, Schweichel, Silberstein,
Steltzig, Weber, J. Westphal, Wichert u. a.
Einzelne Romanschriftsteller, die von uns weder I § 18 noch II § 126 bis
143 genannt wurden, ließen ihre z. T. recht gediegenen Romane im Feuilleton
von Zeitungen oder in periodisch erscheinenden Journalen erscheinen. Gediegene
Romane finden sich aber auch noch in folgenden Publikationen: Album, Bibliothek
deutscher Originalromane; Album, eine Unterhaltungsbilbliothek; Bibliothek klassischer
Romane; Museum, Bibliothek der besten Romane; Originalbibliothek deutscher
Volksromane; Jllustrierte Romanbibliothek; Transatlantische R.B.; Neue R.B.;
Günthers deutsche R.B.; Romanmagazin des Auslands; Roman- und Novellenbibliothek;
Roman- und Novellenmappe; Wiener Romane; Deutsche Romanzeitung;
Deutsche Romanbibl. zu Über Land und Meer; Jllustrierte Romane aller
Nationen; Schäfers Romanblätter &c. (Vgl. auch S. 402 d. Bds.)
Über die Geschichte des Romans haben geschrieben Wolff (Allg. Gesch.
des Romans. Jena 1841. 1850); Eichendorff (Der deutsche Roman im 18. Jahrh.
Leipzig 1851); Cholevius (Die bedeutendsten deutschen Romane des 17. Jahrh.
1866); Fr. Kreyßig (Vorlesungen über den deutschen Roman der Gegenwart.
Berl. 1877. 2. Aufl.); Felix Bobertag (Gesch. des Romans und der ihm verwandten
Dichtungsgattungen in Deutschland. Bis jetzt 2 Bände erschienen) &c.
§ 145. Novelle.
1. Novelle ist eine künstlerisch ausgeführte, anmutige, frische,
oft kühne Darstellung einer pikanten, interessanten Begebenheit: eine
ansprechende, fesselnde Kunst-Erzählung, welche dem Bedürfnis einer
erfahrenen, reifen, gebildeten Konversation entspricht. (Durch diese
scharfe Begrenzung ist wohl ihre Verschiedenheit von der einfachen
Erzählung, ferner von der kunst- und planlosen, unveredelten Erzählung
des gewöhnlichen Lebens, sowie auch von der als Anekdote
bezeichneten kurzen Erzählung einzelner interessanter Äußerungen, Züge
oder Handlungen zur Genüge präzisiert. Näheres bringt die Ausführung
sub 1 und 3.)
2. Wie von der einfachen Erzählung nach unten, so unterscheidet
sich die Novelle auch nach oben von dem meist größeren, in den
Situationen verwickelteren Roman, zu dem sie sich verhält, wie eine
Episode aus dem Leben des Helden zu dessen völliger Entwickelung,
oder wie ein Abschnitt aus der Weltgeschichte zur Weltgeschichte selbst.
3. Das Wort Novelle stammt von dem ital. novella oder dem
französischen nouvelle und bedeutet soviel als Neuigkeit, kleine Neuig= [389]
keit, Anekdote. Boccaccio (im Decamerone) verlieh der Novelle kunstvollere
Ausbildung.
4. Goethe faßte die Novelle wie Boccaccio auf. Die freie Form
der Gegenwart verlieh ihr aber erst Tieck. Eine kleine Novelle heißt
Novellette. (Beispiele der Novellette lieferte Rosenthal-Bonin im
Heiratsdamm, sowie Wickede u. a.)
1. Jn der Theorie wie in der Praxis unterscheidet man zwischen Novelle
und Erzählung folgendermaßen: Eine ruhig vorwärts schreitende Geschichte, welche
die Begebenheiten der Reihe nach vom Anfang an vorführt und auf künstlerische
Tüchtigkeit hinsichtlich der Erfindung und Ausführung verzichtet, heißt in der Regel
nur Erzählung. Zur Novelle wird die Erzählung, wenn sie einen mehr dramatisch
bewegten Ausdruck annimmt und bei den wichtigeren Momenten und Situationen
verharrt, wenn sie ferner ihrem Helden a priori Bedeutung verleiht und durch
dessen Schicksal volles Jnteresse erzeugt, wenn sie endlich nach der Hauptsache
sofort abschließt, das Minderbedeutende der Ergänzung des Lesers überlassend. ─
Um ein Beispiel anzugeben, so läßt die Erzählung den Helden vom Vaterhause
weggehen, begleitet ihn nach Hause und schildert in ungekünstelter Weise
noch das erlebte, häusliche Glück; die Novelle dagegen beginnt außen, greift
zurück in kunstvollen Jntermezzo's und bricht nach der Heimkehr des Helden ab,
nachdem sie seine Zukunft hat ahnen lassen. (Vgl. den Schluß der Novelle
Heyses S. 396 d. Bds.)
2. Während der Roman die Einheit in einer Reihe von Handlungen
bietet, ist die Novelle eine einzelne Geschichte in möglichst einfacher durchsichtiger
Weise. Sie verhält sich zum Roman, mit dem sie die Einteilung gemein hat,
wie die poetische Erzählung zum Epos, wie der Kreisausschnitt zum Kreis.
Während der Roman das gesamte Leben und somit alle Verhältnisse und Beziehungen
des Helden umfaßt, hat die Novelle, die sich mit einem Lebensabschnitt begnügt,
nur ein specielles, ein individuelles Jnteresse; während ferner der Roman den
Charakter sich erst entwickeln läßt, genügt der Novelle ein bereits fertiger
Charakter, den sie in eine Situation versetzt, in welcher er sich bewähren soll.
Es ist daher die Novelle, als Episode aus dem Leben des Helden, in der
Regel kürzer, als der Roman, obwohl die Kürze kein notwendiges Erfordernis
der Novelle ist. Gar mancher ostensibel angezeigte Roman ist nur eine Novelle.
Goethes Wahlverwandtschaften stehen zwischen Novelle und Roman.
(Jn romanhafter Breite ist hier die Geschichte der unglücklichen Liebe beider
Paare behandelt; aber die Beschränkung auf ein Liebesverhältnis engt diesen
Roman fast zur Novelle ein.) Steffens' Roman Die Familie Walseth
und Leith (1827) und Die vier Norweger sind zusammengefügte Novellen.
Steffens hat ihnen den Namen Novellencyklus gegeben. Der berühmte Norweger
hat das Verhältnis der Novelle zum Roman ähnlich genommen, wie das
der epischen Rhapsodie zur Epopöe aufzufassen ist.
Jm Roman muß sich alles aus den gegebenen Verhältnissen entwickeln
und gewissermaßen als Folie einer höheren Weltordnung erscheinen, in der
Novelle darf auch der Zufall walten.
Jm allgemeinen muß man zugeben, daß der Roman, im Gegensatz zur
Novelle, eine bestimmte Richtung auf die Sitte und das Historische nimmt, was
bei der Novelle durchaus nicht nötig ist. Der Roman mit seinen vielen Personen
repräsentiert die Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit und wird dadurch lokal,
ja national ─ historisch. Jn diesem Sinne könnte man sagen, daß jeder
Roman national, historisch sei, wenn nicht für die Mitwelt, so doch für die Zukunft.
(Wilhelm Meister und Der Titan sind für uns bereits eben solche
geschichtliche Denkmale geworden, wie der Simplicissimus.) Die Novelle stellt
ihre Figur und deren Geschick von der Gesellschaft abgesondert dar und bezweckt
nur allgemein menschliches Jnteresse, wobei allerdings zuzugeben ist, daß eine
Vereinigung von Novellen dem Ganzen ein historisches Gepräge zu verleihen
im Stande ist.
3. Man bezeichnete ursprünglich jede eng begrenzte Erzählung oder Geschichte
in Prosa als Novelle. So enthält z. B. die älteste, italienische Novellensammlung
aus dem 13. Jahrhundert (die Cento novelle antiche) viele Novellen, die wir
eben historische Anekdoten nennen würden. Erst durch den Decamerone des
Boccaccio († 1375), der keine einzige seiner an die Sage oder Geschichte sich
anlehnenden hundert Novellen erfunden hat, erhielt die italienische Novelle kunstmäßigere
Form und Ausbildung. Durch ihn wurde sie eine interessante,
lebhaftere Erzählung, wie eine solche den Anforderungen der Gebildeten
entspricht.
4. Goethe war der erste Dichter, der die Novelle in diesem Sinne auffaßte
(in Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, diesen kleinen humoristisch
sprudelnden Novellen im geistreichen Konversationston). Er nennt als sein Vorbild
den Decamerone, während der gelehrte Julian Schmidt meint, Diderots
Jacques le fataliste habe größeren Einfluß auf ihn geübt.
Jn neuester Zeit hat die Novelle die größte Verbreitung in Zeitschriften
gefunden. Tieck war es, welcher der Novelle eine unserer Zeit entsprechende
freiere Form verlieh, indem er sich ihrer bediente, um interessante, wichtige
Fragen und Jdeen klarzulegen. Er gab ihr auf diese Weise das Raisonnement
des philosophischen Romans, wodurch sie natürlicherweise auch an
Ausdehnung gewinnen mußte.
Die gute Novelle, welche mit der flachen, banalen Feuilletonnovelle gewisser
Vielschreiber nichts gemein hat, bietet nunmehr durch die Aussprüche ihrer
Personen ein Bild der Zeit, und vermittelt auch die Resultate aus
den Gebieten der Wissenschaft, der Moral und der Kunst &c.
Die Novelle in Versen pflegte besonders auch Paul Heyse. (Vgl. Ges.
Novellen in Versen 1863. 1870 &c.)
§ 146. Anforderungen an die Novelle, wie an den Novellisten.
1. Die Novelle verlangt einen fesselnden Grundgedanken, rasche
Handlung, anziehende Gestalten, leichte, geistreiche, quellsprudelnde
Darstellung, versöhnenden Schluß.
2. Daher muß sie die Prüfung eines geistreichen, gebildeten,
erfahrenen Erzählers zu bestehen vermögen.
1. Jm Gegensatz zum Roman mit seiner bewußten, klaren, künstlerischen
Komposition, seiner passenden Einleitung, Charakteristik der Figuren, Verwickelung,
Katastrophe u. s. w. verlangt die Novelle die allereinfachste Anlage und Ausführung.
Jhr Reiz liegt in der leichten, flüchtigen Zeichnung, nicht in der
Bezugnahme auf Grundsätze, auf Sitte und Zeit. Sie muß sich durch Geist
und Neuheit ihres Grundgedankens auszeichnen, wie durch poetisch=künstlerische
Abrundung, und infolge der geringeren Verwickelungen durch rasch fortschreitende
Handlung. Jhre Gestalten müssen anziehend und bedeutend sein, die Verwickelung
einfach, leicht, effektvoll und geistvoll, die Darstellung, wie der ganze Plan klar,
natürlich. Die sog. Breite des Epos, Episoden und lange Schilderungen sind
dem Begriff der Novelle durchaus zuwider. Ebenso ist das Wunderbare in der
Novelle, wie jedes nebensächliche, dem Begriff widersprechende Moment nicht
am Platze. Auch darf die Katastrophe nicht eine drückende, unbehagliche Wirkung
auf's Gemüt üben. Nur auf diese Weise wird die Novelle die Stelle einer geistvollen,
pikanten Unterhaltung im gesellschaftlichen Leben zu vertreten vermögen.
2. Die Anforderungen an den Novellisten sind selbstredend keine geringen.
Als in den Salons der Berliner Frauen, einer Bettina, einer Rahel u. a.
die bedeutendsten Geister verkehrten, war die Blütezeit der deutschen Novelle.
Berlin als Hauptort des Salons war auch das günstigste Terrain
für die Novelle. Berlin ist auch heute noch die beste Schule für den Novellendichter,
von dem man mehr als je die Fähigkeit einer leichten, angenehmen
Unterhaltung, große Weltkenntnis, gründliches Wissen, Geist, Humor, Phantasie,
besonders Fluß, Einfachheit und Klarheit der Erzählung fordern muß. Nur
wer das menschliche Leben und Streben kennt und es mit universellem Sinn
zu beurteilen versteht, wird seine Leser in die einzelnen Episoden desselben
blicken lassen können. Er wird verstehen, oft mitten in unaufgeklärte Begebenheiten
hinein zu versetzen, um zur rechten Zeit Aufklärung über Veranlassung
und Beginn der Begebenheit zu geben. Vor allem wird er neue Gedanken
zu bieten vermögen, die auch den Gebildeten interessieren und ihm zu der Überzeugung
verhelfen, daß er sich in guter Gesellschaft befinde.
Nicht immer leistet der Novellendichter zugleich auch Bedeutendes auf dem
Gebiete des Romans. So hat sich z. B. Tieck, einer der besten Novellisten,
mehrfach im Roman versucht. Aber die besten seiner Romane (selbst der
1840 erschienene Vittoria Accorombona nicht ausgenommen) machen lediglich
den Eindruck weit ausgeführter Novellen.
§ 147. Beispiele lesenswerter Novellen und charakteristische
Stilproben.
I. Als instruktive Beispiele, welche die verschiedenartige Behandlung
der Novelle ersehen lassen, erwähnen wir: [392]
- 1. Tiecks Zauberschloß.
- 2. Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehe.
- 3. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.
- 4. Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag.
- 5. W. Hauffs Die Bettlerin vom Pont des arts, sowie Phantasien
im Bremer Ratskeller. - 6. Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts.
- 7. Leopold Schefers Die Überschwemmung.
- 8. Ebers Eine Frage.
- 9. Ludwig Foglars Glaubensselig.
- 10. Prinz Emil zu Schönaich-Carolaths Tauwasser.
- 11. Paul Heyses Novellen in Versen, ferner Marion, und L'Arrabbiata.
- 12. Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla, Züricher Novellen und
Das Sinngedicht.
II. Für Jllustration des Stilfortschritts und der Stileigenheit
beschränken wir uns auf drei charakteristische Proben:
- 1. aus Tiecks Zauberschloß, einer jener ersten Novellen, durch welche
eine freiere Form der Novelle eingeleitet wurde; - 2. aus L'Arrabbiata von Paul Heyse, einer der vorzüglichsten
Novellen der Gegenwart; - 3. aus einer dramatisch gehaltenen Frauennovelle (Durch Leid zu
Freud) von der gern gelesenen Novellistin L. A. Weinzierl.
1. Aus Das Zauberschloß von Tieck.
„Nur nicht auf diese Art raisonniert!“ rief der alte Freimund aus;
„das Leben läßt sich nun einmal nicht so betrachten und noch weniger nach
einigen Maximen einrichten. Hast du nicht die Fähigkeit, jeden einzelnen Fall
recht als einen einzelnen, aus seinen fernen und nächsten Bedingnissen herausgestalteten
zu erwägen, ihn mit Geschicklichkeit nach seinen Umständen zu lenken,
und ihn so seiner Bestimmung entgegenzuschicken, so wirst du niemals ein
brauchbarer Geschäftsmann werden, ja, auch als Privat immer nur an Zufälligkeit
laborieren, ohne deines Lebens froh zu werden!“
„Zufälligkeit, Zufälle!“ antwortete ihm Schwieger: „diese sind es ja
eben, die uns allenthalben zu thun machen. Und vollends, wenn nun gar,
indem noch obenein, wenn etwa ─ ─“
„Donnerwetter!“ rief Freimund, indem ihm der Wachsstock aus der Hand
fiel, mit welchem er mühsam in einen Wandschrank hineinleuchtete; „Sebastian!
Angezündet!“
Der Diener kam, hob die Wachsschere vom Boden auf und Freimund
legte tiefatmend das lange thönerne Rohr, an welchem er geraucht hatte, auf
den Tisch. Mit einem Seufzer setzte er sich auf den Sopha, in tiefen Gedanken
verloren. Der Diener brachte das Licht, Freimund nahm es in die Linke, die
Pfeife in die Rechte, und ging wieder an den Schrank, mühsam und ängstlich
in Papieren suchend, indem ihm große Schweißtropfen von der Stirne rannen.
Es war in den heißesten Tagen des Julius und dem Kramenden war es sehr [393]
mühsam, das Licht zu lenken, mit der rechten Hand die Akten zu sondern, sie
anders zu packen und schnell einzusehen, und wieder, auf Augenblicke mindestens,
die Pfeife festzuhalten, die immer dem umklammernden Munde zu entfallen
drohte. „Wenn es heller Sommertag ist“, fing Schwieger bescheidenen Tones
an, „indem die Sonne scheint, dazu auch der Schrank dem Fenster gegenüber
steht, und man das Rauchen nicht lassen will, so könnte unmaßgeblich das
Licht und die ganze Qual, die es macht, als überflüssig erscheinen.“
Freimund drehte sich mit einem verwunderten Gesichte herum, sah dem
alten Freunde mit aufgerissenem Auge ins Antlitz, setzte das brennende Licht
verdrießlich auf den Tisch und sagte halb lachend, halb zornig: „Dummer Mensch!
Konntest du mir denn das nicht früher sagen?“
„Einem Salomo“, antwortete jener, „der alles so genau kalkulieren und
im weisheitsvollen Leben sich durch nichts will stören lassen, sagen wollen, er
brauche am hellen Tage keine Kerze, hieße sich doch zu viel herausnehmen.“ &c.
2. Aus L'Arrabbiata von Paul Heyse. (5. Aufl. S. 44.)
Es war keiner außer ihm (Antonio) in den zwei Kammern, durch die er
nun hin und her ging. Zu den offenen Fensterchen, die nur mit hölzernen
Läden verschlossen werden, strich die Luft etwas erfrischender herein, als über
das ruhige Meer, und in der Einsamkeit war ihm wohl. Er stand auch lange
vor dem kleinen Bilde der Mutter Gottes und sah die aus Silberpapier daraufgeklebte
Sternenglorie andächtig an. Doch zu beten fiel ihm nicht ein. Um
was hätte er bitten sollen, da er nichts mehr hoffte?
Und der Tag schien heute still zu stehn. Er sehnte sich nach der Dunkelheit,
denn er war müde, und der Blutverlust hatte ihn auch mehr angegriffen,
als er sich gestand. Er fühlte heftige Schmerzen an der Hand, setzte sich auf
einen Schemel und löste den Verband. Das zurückgedrängte Blut schoß wieder
hervor, und die Hand war stark um die Wunde angeschwollen. Er wusch sie
sorgfältig und kühlte sie lange. Als er sie wieder vorzog, unterschied er deutlich
die Spur von Laurellas Zähnen. Sie hatte recht, sagte er. Eine Bestie
war ich und verdien' es nicht besser. Jch will ihr morgen das Tuch durch
den Giuseppe zurückschicken. Denn mich soll sie nicht wiedersehen. ─ Und nun
wusch er das Tuch sorgfältig und breitete es in der Sonne aus, nachdem er sich
die Hand wieder verbunden hatte, so gut er's mit der Linken und den Zähnen
konnte. Dann warf er sich auf sein Bett und schloß die Augen.
Der helle Mond weckte ihn aus einem halben Schlaf, zugleich der Schmerz
in der Hand. Er sprang eben wieder auf, um die pochenden Schläge des
Bluts in Wasser zu beruhigen, als er ein Geräusch an seiner Thür hörte.
Wer ist das? rief er und öffnete. Laurella stand vor ihm.
Ohne viel zu fragen, trat sie ein. Sie warf das Tuch ab, das sie über
den Kopf geschlungen hatte, und stellte ein Körbchen auf den Tisch. Dann
schöpfte sie tief Atem.
Du kommst dein Tuch zu holen, sagte er; du hättest dir die Mühe sparen
können, denn morgen in der Frühe hätte ich Giuseppe gebeten, es dir zu bringen.
Es ist nicht um das Tuch, erwiderte sie rasch. Jch bin auf dem Berg [394]
gewesen, um dir Kräuter zu holen, die gegen das Bluten sind. Da! Und sie
hob den Deckel vom Körbchen.
Zu viel Mühe, sagte er und ohne alle Herbigkeit, zu viel Mühe. Es
geht schon besser, viel besser; und wenn es schlimmer ginge, ging es auch nach
Verdienst. Was willst du hier um die Zeit? Wenn dich einer hier träfe! Du
weißt, wie sie schwatzen, obwohl sie nicht wissen, was sie sagen.
Jch kümmere mich um keinen, sprach sie heftig. Aber die Hand will ich
sehen und die Kräuter darauf thun, denn mit der Linken bringst du es nicht
zustande.
Jch sage dir, daß es unnötig ist.
So laß es mich sehen, damit ich's glaube.
Sie ergriff ohne weiteres die Hand, die sich nicht wehren konnte und
band die Lappen ab. Als sie die starke Geschwulst sah, fuhr sie zusammen und
schrie auf: Jesus Maria!
Es ist ein bischen aufgelaufen, sagte er, das geht weg in einem Tag
und einer Nacht.
Sie schüttelte den Kopf: So kannst du eine Woche lang nicht auf's Meer.
Jch denk' schon übermorgen. Was thut's auch?
Jndessen hatte sie ein Becken geholt und die Wunde von neuem gewaschen,
was er litt wie ein Kind. Dann legte sie die heilsamen Blätter des Krautes
darauf, die ihm das Brennen sogleich linderten, und verband die Hand mit
Streifen Leinwand, die sie auch mitgebracht hatte.
Als es gethan war, sagte er: Jch danke dir. Und höre, wenn du mir
noch einen Gefallen thun willst, vergieb mir, daß mir heut so eine Tollheit
über den Kopf wuchs, und vergiß das alles, was ich gesagt und gethan habe.
Jch weiß selbst nicht wie es kam. Du hast mir nie Veranlassung dazu gegeben,
du wahrhaftig nicht. Und du sollst schon nichts wieder von mir hören, was
dich kränken könnte.
Jch habe dir abzubitten, fiel sie ein. Jch hätte dir alles anders und
besser vorstellen sollen und dich nicht aufbringen durch meine stumme Art. Und
nun gar die Wunde. ─
Es war Notwehr, und die höchste Zeit, daß ich meiner Sinne wieder
mächtig wurde. Und wie gesagt, es hat nichts zu bedeuten. Sprich nicht von
Vergeben. Du hast mir wohlgethan, und das danke ich dir. Und nun geh
schlafen, und da ─ da ist auch dein Tuch, daß du's gleich mitnehmen kannst.
Er reichte es ihr, aber sie stand noch immer und schien mit sich zu kämpfen.
Endlich sagte sie: Du hast auch deine Jacke eingebüßt um meinetwegen, und
ich weiß, daß das Geld für die Orangen darin steckte. Es fiel mir alles erst
unterwegs ein. Jch kann dir's nicht so wieder ersetzen, denn wir haben es
nicht, und wenn wir's hätten, gehört' es der Mutter. Aber da hab' ich das
silberne Kreuz, das mir der Maler auf den Tisch legte, als er das letztemal
bei uns war. Jch hab' es seitdem nicht angesehen und mag es nicht länger
im Kasten haben. Wenn du es verkaufst ─ es ist wohl ein paar Piaster
wert, sagte damals die Mutter ─, so wäre dir dein Schaden ersetzt, und was [395]
fehlen sollte, will ich suchen mit Spinnen zu verdienen, Nachts, wenn die
Mutter schläft.
Jch nehme nichts, sagte er kurz und schob das blanke Kreuzchen zurück,
das sie aus der Tasche geholt hatte.
Du mußt's nehmen, sagte sie. Wer weiß, wie lang du mit dieser Hand nichts
verdienen kannst. Da liegt's und ich will's nie wieder sehen mit meinen Augen.
So wirf es ins Meer.
Es ist ja kein Geschenk, das ich dir mache; es ist nicht mehr als dein
gutes Recht, und was dir zukommt.
Recht? Jch habe kein Recht auf irgend was von dir. Wenn du mir
später einmal begegnen solltest, thu mir den Gefallen und sieh mich nicht an,
daß ich nicht denke, du erinnerst mich an das, was ich dir schuldig bin. Und
nun gute Nacht, und laß es das Letzte sein.
Er legte ihr das Tuch in den Korb und das Kreuz dazu und schloß den
Deckel darauf. Als er dann aufsah und ihr ins Gesicht, erschrak er. Große
schwere Tropfen stürzten ihr über die Wangen. Sie ließ ihnen ihren Lauf.
Maria Santissima! rief er, bist du krank? Du zitterst von Kopf bis zu Fuß.
Es ist nichts, sagte sie. Jch will heim! und wankte nach der Thür, das
Weinen übermannte sie, daß sie die Stirn gegen den Pfosten drückte und nun
laut und heftig schluchzte. Aber ehe er ihr nachkonnte, um sie zurück zu halten,
wandte sie sich plötzlich um und stürzte ihm an den Hals.
Jch kann's nicht ertragen, schrie sie und preßte ihn an sich, wie sich ein
Sterbender ans Leben klammert, ich kann's nicht hören, daß du mir gute
Worte giebst, und mich von dir gehen heißest mit all der Schuld auf dem
Gewissen. Schlage mich, tritt mich mit Füßen, verwünsche mich! ─ oder wenn
es wahr ist, daß du mich lieb hast, noch, nach all dem Bösen, das ich dir
gethan habe, da nimm mich und behalte mich und mach mit mir, was du
willst. Aber schick mich nicht so fort von dir! ─ Neues, heftiges Schluchzen
unterbrach sie.
Er hielt sie eine Weile sprachlos in den Armen. Ob ich dich noch liebe?
rief er endlich. Heilige Mutter Gottes! meinst du, es sei all mein Herzblut
aus der kleinen Wunde von mir gewichen? Fühlst du's nicht da in meiner
Brust hämmern, als wollt' es heraus und zu dir? Wenn du's nur sagst, um mich
zu versuchen oder weil du Mitleiden mit mir hast, so geh, und ich will auch
das noch vergessen. Du sollst nicht denken, daß du mir's schuldig bist, weil
du weißt, was ich um dich leide.
Nein, sagte sie fest und sah von seiner Schulter auf und ihm mit den
nassen Augen heftig ins Gesicht, ich liebe dich, und daß ich's nur sage, ich
hab es lange gefürchtet und dagegen getrotzt. Und nun will ich anders werden,
denn ich kann es nicht mehr aushalten, dich nicht anzusehen, wenn du mir auf
der Gasse vorüberkommst. Nun will ich dich auch küssen, sagte sie, daß du
dir sagen kannst, wenn du wieder in Zweifel sein solltest: Sie hat mich geküßt,
und Laurella küßt keinen, als den sie zum Manne will.
Sie küßte ihn dreimal, und dann machte sie sich los und sagte: Gute [396]
Nacht, mein Liebster! Geh nun schlafen und heile deine Hand, und geh nicht
mit mir, denn ich fürchte mich nicht, vor keinem als nur vor dir.
Damit huschte sie durch die Thür und verschwand in den Schatten der
Mauer. Er aber sah noch lange durchs Fenster, aufs Meer hinaus, über dem
alle Sterne zu schwanken schienen.
Als der kleine Padre Curato das nächste Mal aus dem Beichtstuhl kam,
in dem Laurella lange gekniet hatte, lächelte er still in sich hinein. Wer
hätte gedacht, sagte er bei sich selbst, daß Gott sich so schnell dieses wunderlichen
Herzens erbarmen würde? Und ich machte mir noch Vorwürfe, daß ich
den Dämon Eigensinn nicht härter bedräut hatte. Aber unsere Augen sind
kurzsichtig für die Wege des Himmels. Nun so segne sie der Herr und lasse
mich's erleben, daß mich Laurellas ältester Bube einmal an seines Vaters Statt
übers Meer fährt! Ei ei ei! L'Arrabbiata!“ (Schluß der Novelle.)
3. Aus Durch Leid zu Freud von L. A. Weinzierl. (Frauennovelle.)
Ortmann, welcher fortan an jedem Abend einige Viertelstunden mit
Hildegarde zu verplaudern pflegte, brachte auch die Bücher, welche ihr vorgelesen
wurden.
„Jch müßte mich arg irren,“ sagte er, als er drei Bände von verschiedener
Größe, doch alle von mäßiger Dicke nur, aus den Taschen seines
Rockes zum Vorschein brachte, „wenn Sie mir nicht warmen Dank zollen
würden für diese Bücher. Dies kleine Büchlein hier schließt eine Fülle köstlichen
Humors in sich; unter seinem Einfluß wird man geneigt, Welt und
Leben als lustige Komödie ─ wohlgemerkt nicht als Farce! ─ anzusehen. Es
ist Scheffels Liederbuch Gaudeamus. Jn dem zweiten Bande, in Hebbels
Nibelungen-Trilogie, finden Sie als Gegensatz markerschütternde Tragik.“
„Jch kenne das Werk,“ sagte Hildegarde, „und ich teile Jhre Bewunderung
dafür, ja, vielleicht werden Sie finden, daß ich zu weit darin gehe. Oft
schon bin ich meines ketzerischen Geschmacks wegen gescholten worden, aber
doch muß ich bekennen, daß mir die Nibelungen erst in dem Hebbelschen Ausschnitt
Genuß bereiten ...“
„Nun, wenn auch nicht reumütig, sehen Sie bei diesem Geständnis doch
gehörig zerknirscht aus. Das ist immer etwas! Übrigens finde ich diese Jhre
Ansicht nicht unbegreiflich.“
„Etwas vor allem macht mir die Hebbelsche Tragödie ─ wie soll ich
nur sagen? ─ „angenehm“ ist da kein richtiges Wort, und doch muß ich es
gebrauchen, ─ daß der Dichter trotz des grausen Schlusses uns versöhnt entläßt,
denn wir empfangen den Eindruck der Notwendigkeit eines solchen: die
alte Zeit, das alte Geschlecht, welches nicht zu verzeihen vermochte, mußte
untergehen, damit das neue, dessen Hauptgesetz nicht mehr die Rache war, sich
geltend machen konnte. Jn den Schlußworten Dietrichs von Bern: „Jm Namen
Dessen, der am Kreuz erblich!“ mit denen er die zu schwer gewordene Krone
von König Etzels Haupte nimmt ─ bringt der Dichter zum Ausdruck, daß
die Liebe fortan und nicht mehr der Haß herrschen sollte.“
„Herrscht sie etwa jetzt im neunzehnten Jahrhundert?“
[397]„Jn jedem edeln und guten Herzen!“
„Da herrschte sie auch vorher, oder meinen Sie, daß das, was man
christliche Tugend nennt, nicht auch früher gekannt und geübt worden wäre?“
„Gott bewahre mich vor dieser Ansicht! Eine Hölle war die Welt, denke
ich, zu keiner Zeit, aber: „Verzeihe denen, die dich beleidigen,“ ─ „Thue,
wie du willst, daß man dir thue,“ ─ „Vergiß deiner selbst, um deines
Nächsten willen“ ─ und daß dieser Nächste nicht nur Weib und Kind, Familie,
Freunde, Vaterlandsangehörige, und im ausgedehntesten Falle ein Fremder, der
durch seine Jndividualität imponierte, sei, sondern alle Menschen, die ärmsten
und elendesten inbegriffen, hat doch nur wohl mit Christi Lehre Eingang gefunden.
Was früher nur Neigung, war dann Pflicht.“
„Man wird es Jhnen auch bestreiten, ─ nicht ich, denn auch ich glaube
an die civilisatorische Macht, die das Christentum hatte.“
„Nicht mehr hat?“ fragte Hildegarde sanft, „ist die Verheißung zu Ende?“
Ortmann sah vor sich hin. „Nein,“ sagte er nach einer Pause in herzlichem
Tone, „fern sei es von mir, Jhnen gegenüber dies andeuten zu wollen.
Wo noch Glaube ist, ist auch die Kraft.“ ─
Einmal brachte Ortmann einen Strauß dunkelroter Nelken mit. Hildegarde
empfing ihn voll Freude. „Eben diese Gattung Nelken“ ─ sagte sie,
den Duft einziehend ─ „ist die verbreitetste in Venedig; wie viele derselben
steckten mir die Blumenmädchen auf dem Marcusplatze zu!“
„Blumenmädchen! wie schön das dem Fremden klang und ward man
dieser Truden ansichtig ...“
„Urahne, Großmutter, Mutter und Kind,“ recitierte Hildegarde.
„Nun,“ sagte Ortmann lachend, „Kind war keine mehr, es waren sehr reife
Schönheiten. Jch muß gestehen, daß, als ich später hörte, eine der ersten
Maßregeln der neuen Regierung in Venedig sei gewesen, die Blumenmädchen
zu pensionieren und durch frischen Nachwuchs zu ersetzen, ich meinen Beifall
nicht versagte. ─ Sie kennen also Venedig, Fräulein Müller?“
„Es war die glücklichste Zeit meines Lebens, die ich dort verlebte! Jch
fühlte mich anfänglich wie geblendet, und dann stieg mir, glaube ich, all die
Schönheit zu Kopfe. Jch war nie so ausgelassen heiter, weder vorher, noch
später, als in jenen Tagen.“
„Und doch nennen viele Venedig düster und traurig.“
„Jch weiß nicht, inwiefern ich geneigt wäre, während der Regen= und
Sturmzeit in dieses Urteil einzustimmen. Jm Frühling fühlte ich mich entzückt
von allem, was mich umgab: blauer Äther, goldene Sonne, Meeresspiegel ...
doch ich will Sie mit meiner Rhapsodie verschonen, genug, daß ich in Venedig
zum erstenmale zu der Überzeugung gelangte, das Leben sei doch sehr schön!“
„Jch denke, wir wechseln den Gesprächsgegenstand, Fräulein Müller, Sie
werden mir zu aufgeregt! Der Schönheitsrausch ─ ich bitte um Verzeihung, aber
Sie selbst brauchten den Vergleich ─ scheint noch nicht ganz verflogen zu sein.“
„Ach, und wie lange mußte ich von diesen Erinnerungen zehren! Duft=
und farblos wurden sie aber trotzdem nicht.“
„Jhr Gedächtnis ist also sehr gut? Sie vergessen nicht leicht?“
„Jch vergesse gar nicht.“
„Nie und niemals?“
Hildegarde schüttelte ernsthaft den Kopf.
„Gott behüte Sie! Das ist ungesund.“
„Was soll ich thun? Es ist einmal so.“
Ortmann zog die Augenbraunen in die Höhe und meinte, es sei ein
bedenklicher Fall, wüßte er, wie ihn zu behandeln, er thäte es gleich, aber
Äskulap selbst konnte nicht Lethe verschreiben, ─ wie sollte er es versuchen!
„Sie hingegen, Herr Doktor, vergessen oft,“ sagte Hildegarde schelmisch lächelnd.
„Jch!“ rief Ortmann, seine Promenade durchs Zimmer plötzlich zu Ende
bringend und vor Hildegarde stehen bleibend. „Was hätte ich vergessen?“
„Zum Beispiel: Den Dank einzufordern für die Wahl des dritten Buches,
welches Sie mir damals brachten. Und mein Dank ist warm in der That!“
„Aha! Dachte ich's doch, daß es Jhnen lieb sein würde, das Buch
kennen zu lernen. Nun, geschieht Jhrem Heroworship, Jhrer Rückertverehrung
in dieser Biographie Genüge?“
„Doktor Beyer, der Verfasser, nennt sein Buch ein Denkmal ─ und mit
treuer Sorgfalt hat er die Steine für den Bau zusammengetragen und sinnreich ineinander
gefügt; so ist denn ein Ganzes entstanden, an dem gewiß jeder, der das Buch
zur Hand nimmt, Freude haben kann, brächte er sogar nicht von vorne herein das
gleiche Jnteresse für den Gegenstand mit, wie es bei mir der Fall gewesen.“
„Also: er lobt Rückert nicht nur, er zeigt vor allem, daß er allen Lobes
würdig sei ─ so meinen Sie? Eine Biographie soll auch in dieser Art
geschrieben sein. ─ Nun wünschte ich aber weitere Vergeßlichkeiten nachgewiesen
zu haben! Zum Beispiel?“
Ortmann zog einen Stuhl heran und saß rittlings darauf nieder, Hildegarde
voll in das Gesicht sehend.
„Meine Augen müssen in der That um vieles besser sein, ich sehe sehr
wohl, wie entrüstet Sie mich anblicken,“ bemerkte Hildegarde lächelnd. „Meine
Frage betrifft auch meine Augen, Sie sagten mir seit lange nichts mehr darüber?“
„Sind Sie Jhrer Gefangenschaft so sehr müde schon? Leicht begreiflich ...“
Er wartete, Hildegarde jedoch sagte nichts.
„Nun,“ fuhr er aufstehend fort, „da müssen wir wohl dem Vöglein den
Käfig öffnen. Jch gedachte Sie morgen aus meiner Behandlung zu entlassen,
kann Jhnen aber auch heute ankündigen: Sie sind geheilt.“
„Geheilt!“ Hildegarde schlug die Hände entzückt zusammen, die Augen
blitzten, die Züge belebten sich wunderbar. „Ah, ich bin frei, ich kann wieder
thun und beschließen, was und wie ich will? ...“
Jn eben dem Maße, als die ihrigen sich erhellten, hatten des Arztes
Züge sich verdüstert. „Ja, ja,“ sagte er, „gehen Sie und reisen Sie nach
dem Süden; was sollte Sie auch nur in den deutschen Landen festhalten?“
„Eine kleine Weile jedoch muß ich Sie bitten, diese Eile noch zu mäßigen.
Hören Sie mich an! u. s. w.“
§ 148. Litteratur der Novelle.
Die große Zahl der Novellisten gebietet um so mehr eine Beschränkung
auf die wichtigsten Namen, als die meisten der in I § 18
sowie in den §§ 126─145 genannten Romanschriftsteller auch Novellen
geschrieben haben.
Von den italienischen Novellisten stehen am höchsten G. Boccaccio
(Decamerone, eine Novellensammlung, die von W. Soltau u. a. ins Deutsche
übertragen wurde); ferner Sacchetti; Bandello; Casti; Soave.
Von den spanischen sind zu nennen: Cervantes; Montalvan; Juan
Manuel; Juan Puiz. Von den Franzosen: Lafayette; Scarron;
Florian; Rabelais; Marmontel; Voltaire; Eugène Sue; Viktor
Hugo; Alexander Dumas u. a. Von den Engländern: Thackeray;
Walter Scott; Dickens; Bulwer; Defoe u. a. Die Romanschriftsteller
der Russen, Dänen (s. S. 385) haben zugleich Novellen geschrieben.
Jn Deutschland sind (bis zu Tieck) als Novellendichter zu erwähnen:
Georg Wickram (Das Rollwagenbüchlein 1555, neu herausgeg. durch H. Kurz
1865), ferner Ende des vorigen und anfangs dieses Jahrhunderts: Wieland;
Engel; Musäus; Klinger; Thümmel; Schiller; Goethe; E. Wagner; Heinse;
Jakobi; Jung-Stilling; Fouqué; Eichendorff; Spindler; E. Th. A. Hoffmann;
H. v. Kleist; Lafontaine; Jean Paul; Müllner; Houwald; Novalis; Hippel;
Benzel-Sternau; Langbein; Tromlitz u. a.
Da seit Tieck die Novellendichtung die gewaltigste Ausdehnung erhalten
hat, so war es kein Leichtes, die ganze bezügl. Litteratur zu vereinigen und
zu rubrizieren. Die von mir mit Sorgfalt und Umsicht getroffene Anordnung
ergiebt viele Gruppen, von denen ich hier unter Nennung der Vertreter Folgendes
zur Orientierung gebe, ohne für die Qualität des einzelnen überall einzutreten.
(Jch erwähne hierbei auch einzelne jener fremden Novellisten, deren Novellen
in guten deutschen Übersetzungen Eigentum unserer Nation wurden und ─
wie dies bei Novellen Cremers, Etlers, Bergsöes, Bret-Hartes &c. nachweislich
ist ─ einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf einzelne deutsche Dichter
übten): 1. Historische Novellen (v. Bolanden: über Friedrich II &c.; Brachvogel;
Godin; Gottwald; Hiltl; H. Hirschfeld; L. Mühlbach; Proschko; Stern &c.);
2. Kulturhistorische (K. Braun-Wiesbaden; Mindermann; W. H. Riehl
und von Bolanden: Fortschrittlich); 3. Sociale (Sacher-Masoch; G. Möser;
Krüger; Th. Küster &c.); 4. Kriminalnovellen (Engelberg; Habicht; Rogans
deutsche Kriminalbibliothek; Fr. Friedrich; Temme &c.); 5. Moralische (Zschokke;
O. Glaubrecht; A. Wildenhahn; L. A. Weinzierl &c.); 6. Psychologische
(Freyburger, Aus dem Seelenleben &c.; Luise Otto-Peters &c.); 7. Humoristische
(Ernst Eckstein; Hackländer; H. König; Gerstäcker; Anna Löhn; Willis Ölckers;
R. Schmidt-Cabanis &c.); 8. Liebesnovellen (Goldschmidt; Reichenau; Mahlke;
v. Münchhausen; Brentano); 9. Künstlernovellen (v. Sternberg; Hagen;
v. Stavenow; Ottfried, Schubert-Novellen; Leop. Schefer); 10. Musikernovellen
(Scheurlin; Collins); 11. Theaternovellen (Müldener; Smidt, [400]
Devrientnovellen; Hopf, Theaterhumoresken); 12. Soldatennovellen
(P. Lenz, militär. Humoresken; v. Winterfeld); 13. Seenovellen (Lothar;
J. Prölß; R. Lindau; Rosenthal-Bonin &c.); 14. Bauernnovellen (Auerbach;
Blanche; Rosegger; Herm. Schmid; M. Tenger); 15. Elsässische (Alex. Weill;
Flaxland); 16. Frankfurter (Pfeiffer); 17. Weichselnovellen (Almar);
18. Wiener Novellen (Blechner; Mügge); 19. Holländische (Glaser);
20. Niederländische (Glaser); 21. Belgische (Graviere); 22. Venetianische
(v. Gaudy); 23. Dänische (C. Etlar); 24. Schweizer Novellen (A. Hartmann;
Zschokke); 25. Züricher Novellen (Gottfr. Keller); 26. Lübecker (W. Jensen);
27. Amerikanische Novelletten (v. Wickede); 28. Kalifornische (Bret Harte);
29. Jtalienische (Homberger); 30. Hochlands Novellen (v. Dyherrn; A.
Silberstein); 31. Ostsee=Novellen (Rethwisch); 32. Gespenster=Novellen (Bergsöe);
33. Charakter=Novellen (Alfr. Meißner); 34. Zeit=Novellen (Trebitz,
Aus der Zeit für die Zeit; Feodor v. Wehl); 35. Kosmopolitische Novellen
(Rosenthal-Bonin, Unterirdisch Feuer. Mehrfach übersetzt, neuerdings von Alfred
Jpsen; ferner Feod. Wehl, Allerweltsgeschichten) u. s. w.
Unter dem Titel „Novellenbuch“ haben Novellen veröffentlicht: L. Foglar;
Philippson; Mützelberg; Johannes Scherr; L. Schücking; F. v. Stengel; Feod.
Wehl; Wilbrandt &c.
Weitere, zum Teil vortreffliche, vielgelesene Novellen haben geliefert:
Alarcon; Anzengruber; Bettina v. Arnim; Luise Astow; v. Auer; Avé=Lallemant;
J. Bach; Gräfin Ballestrem; A. Becker; M. Berger; M. Bern; Bernardin;
Bibra; Birch-Pfeiffer; Blumenhagen; Blüthgen; Bodenstedt; Brandt; Bresler; A.
Broock; Brunner; E. v. Brunow; A. Büchner; E. v. Bülow; Julie Burow;
Dahn; Detlef; Diefenbach; K. Dilthen; Dincklage; Dingelstedt; Duller; Dünheim;
Jda v. Düringsfeld; Ebers; Elfried v. Taura; Ernst; Luise Esche;
Marie von Ebner-Eschenbach; G. Flammberg; v. François; Agnes Franz;
Franzos; Frenzel; Frey; Freytag; Fuchs; Füllborn; Galen; Luise v. Gall;
E. Gehe; M. Giese; Girndt; Glaßbrenner; Gödeke; Rud. v. Gottschall; Grabowski;
Gregorovius; Griepenkerl; Th. Griesinger; H. Grimm; J. Grosse;
Groß; Klaus Groth; Grothe; Baronin v. Grotthus; Gubitz; B. v. Guseck;
Gutzkow; Gustav vom See; Haffner; Gräfin Hahn-Hahn; Luise Haidheim;
Hainau; Halm; Henr. Hanke; E. Harmening; M. Hartmann; W. Hauff; K.
Heigel; Heinrichs; Hensler; Hermann; Herchenbach; Herloßsohn; Heusinger;
P. Heyse; Wilhelmine v. Hillern; G. Höcker; Edm. Hoefer; Hoffmann; K.
v. Holtei; Hans Hopfen; M. Horn; O. v. Horn; H. v. Hülsen; Hutterus;
Wilh. Jensen; Juncker; Jmmermann; Kempner; Kessel; Johanna Kinkel;
Gottfr. Kinkel; Kletke; E. Koch; W. Koch; Kohlenegg; L. Kompert; Th. König;
Kossak; L. Kruse; Kugler; Kuh; G. Kühne; Kürnberger; H. Kurtz; E. Laddey;
Lehmann; Leixner; Fanny Lewald; F. Lexow; R. Lindau; Lindendorf; Lohmann;
H. Lorm; Ludwig; Sophie Mai; Marbach; H. Marggraff; Martin; Mauthner;
L. Maurice; E. Marlitt; K. F. Meyer; M. Meyr; Mosen; W. Müller;
O. Müller; Mühlfeld; B. Möllhausen; Th. Mundt; Otfr. Mylius; Marie Nathusius;
Benedikte Naubert; Emma Niendorf; Noë; Olfers; Luise Otto-Peters; [401]
Henr. v. Paalzow; L. Parisius; Perl; G. Pfarrius; Karoline Pichler; Piening;
Polko; H. Presber; H. Pröhl; R. Prutz; G. zu Putlitz; W. Raabe; Raimund;
Joh. Rank; G. Rau; Math. Raven; Reichenau; Reinow; Reinwald; Rellstab;
Reuter; M. Ring; Riotte; J. Rodenberg; O. Roquette; L. Rosen; Rosenthal=
Bonin; Rothenburg; O. Ruppius; Rutenberg; F. v. Saar; L. Salomon; Salzbrunn;
G. Sand; J. Satori; C. M. Sauer; V. v. Scheffel; Th. Scheibe;
M. v. Schlägel; Schlencker; Schlieben; A. Schlönbach; A. Schmidt; Adele und
Johanna Schopenhauer; Amalie Schoppe; A. Schreiber; Schütze; Schwartz;
Schwarz; J. Gräfin Schwerin; Seidel; Senoa; Solitaire; F. Spielhagen;
Stahl; Stein; A. v. Sternberg; L. Steub; Ad. Stifter; F. Stolle; Stoltze;
L. Storch; Th. Storm; V. v. Strauß; Streckfuß; Stuhlmann; Fanny Tarnow;
M. Tenger; Telmann; Tharau; v. d. Traun; v. Tschabuschnigg; v. Üchtritz;
Vacano; Wachenhusen; v. Wachsmann; Waiblinger; M. Waldau; Waldmüller;
E. v. Waldow; F. J. v. Wangenheim; Feod. v. Wehl; Ottilie
Wildermuth; Willkomm; Amalie Winter; Wittmann; Wolf; Caroline v. Wolzogen;
Ziegler; Ziemssen u. a.
Zu den populärsten, bedeutendsten Vertretern künstlerisch vollendeter Novellen
der Gegenwart zählen Paul Heyse und Gottfr. Keller. Heyse,
der mit Novellen in Versen begann (Die Brüder; Die Braut von Cypern;
Urica) und von dem einige Novellen in der leichten graziösen Sphäre des fein
sinnlichen Abenteuers sich bewegen, hat doch ─ wie kaum ein anderer ─
wahre Kabinetsstücke von psychologischer Tiefe, von fesselnder Anmut und gewinnendem
Humor geschrieben (z. B. Die Blinden, L'Arrabbiata, Marion &c.).
Und Keller, der gottbegnadete Erzähler, durchläuft in seinen Züricher Novellen,
den Leuten von Seldwyla &c. (wie ja auch in seinem jüngst erschienenen
Novellencyklus: Das Sinngedicht) die ganze Skala vom graziös Lächelnden bis
zum kräftig Komischen, ohne je den Boden einer gesunden Wirklichkeit zu verlassen.
Jn letzter Zeit haben auch die Novellen Konr. Ferd. Meyers (z. B.
Der Heilige) berechtigtes Aufsehen erregt.
Unter den Frauen haben sich einen hervorragenden Platz erobert: Wilhelmine
v. Hillern durch die gesunde Jdee ihrer Novellen; Fanny Lewald
durch ihren Universalismus, wie durch reflektierende Verständigkeit und Freimut;
Marie von Ebner-Eschenbach durch ihre volkstümliche Erzählungsweise; Gräfin
Ballestrem durch ihre glänzende, espritreiche Diktion; Gräfin Keyserling; Luise
Otto; Emma Laddey; die geistreiche Wiener Schriftstellerin Antonie Weinzierl
durch psychologische Schärfe und bestrickende Anmut eines edlen, dramatisch
belebten Stils u. a.
Jndem wir noch auf die Namen der von uns I § 18 sowie II § 126─145
unter den Romanschriftstellern bereits genannten Novellisten verweisen, führen wir
noch jene periodisch erscheinenden Schriften an, in welchen beachtenswerte Novellen
jener Schriftsteller sich finden, die hier nicht genannt werden konnten, oder die
meist nur für Journale und Feuilletons größerer Zeitungen geschrieben haben.
Es sind: Belletristische Hausbibliothek; Neues belletristisches Lesecabinet; Kriminalgeschichten,
herausgeg. von Vollert; Leipziger Lesecabinet; Hamburger Novellenzeitg.; [402]
Preußische N.=Z.; Novellen-Almanach; Jllustrierter Nov.=Almanach; Nov.=
Bibliothek; Nov.=Sammlung; Nov.=Album; Nov. aus der Theaterwelt; Neue
belletristische Originalbibliothek; Transatlantische Novellen; Christliche Nov.=Bibliothek;
Deutsche Nov.=Flora; Nov.=Magazin; Deutscher Novellenschatz (herausgegeben
von P. Heyse und Hermann Kurtz 1870─76. 24 Bände; enthält
86 Novellen unserer besten zeitgenössischen Novellisten); Novellenschatz des Auslandes
(herausgegeben von Heyse und Kurtz 1870─76. 14 Bände; enthält
57 Novellen aller europäischen Sprachen in guten Übersetzungen); Jtalienische
Novellisten (herausgegeben von P. Heyse); Jtalienischer Novellenschatz (herausgegeben
von Adelbert v. Keller); Amerikanische Novellisten; Salonbibliothek;
Roman- und Novellenbibliothek; Sauerländers Unterhaltungsbibliothek; Sensationsnovellen;
Eisenbahn- und Unterhaltungsbibliothek; Deutsches Novellenbuch;
Gartenlaube; Daheim; Über Land und Meer; Jllustr. Welt; Buch für
Alle; Jllustriertes Familienjournal; Jllustr. (Webersche) Zeitung; Neue Jllustr.
Zeitung &c.
Fünftes Hauptstück.
Die dramatischen Dichtungen. ──────
§ 149. Einteilung der dramatischen Poesie.
Wir unterscheiden auf dem weiten Gebiete der dramatischen Poesie:
I. Dichtungen, welche nur der Form nach dramatisch, ihrem Wesen
nach aber lyrisch oder episch sind, welche also ein Gefühl oder eine
Erzählung durch die Form des Gesprächs der Gegenwart vermitteln;
II. eigentliche Dramen, welche für die Aufführung auf der Bühne
geschaffen sind;
III. musikalisch=dramatische Formen, welche zur Aufführung entweder
auf der Bühne oder in der Kirche bestimmt sind.
Somit erhalten wir folgendes Einteilungsschema:
I. Formell dramatische
Gedichte.
1. Monolog.
2. Dialog.
3. Dramatisierte Begebenheit.
II. Eigentliche
Dramen.
1. Dramatisches
Gedicht.
2. Tragödie.
3. Schauspiel.
4. Komödie.
a. Lustspiel.
b. Posse.
III. Musikalisch-dramatische weltliche
und kirchlich-musikalische Formen.
1. Musikalischdramatische
weltliche
Formen.
a. Das Melodrama.
b. Das Vaudeville u.
das Sing= oder
Liederspiel.
c. Das Schauspiel
mit Musik.
d. Die Oper.
α. Ernste Oper.
β. Komische Oper.
γ. Operette.
δ. Jntermezzo.
2. Kirchlich=musikalische
Formen.
a. Choral.
b. Motette.
c. Psalm.
d. Kantate.
e. Passion.
f. Messe und Requiem.
g. Oratorium. [404]
I. Formell dramatische Gedichte.
§ 150. Monolog.
1. Wenn der gedanklich bewegte Mensch zu sich selbst spricht, um
über sich zur Klarheit zu gelangen; wenn das überquellende, aus allen
Tiefen nach außen drängende und flutende Gemüt sich objektiviert, um
vor sich selber als dem eigenen Vertrauten sich zu erschließen; wenn
der Held sich unbelauscht glaubt und laut denkt, so entsteht ein Selbstgespräch
oder ein Monolog.
2. Man unterscheidet zwei Arten von Monologen:
a. Monologe, die selbständige, für sich bestehende, vollständig
abgerundete Gedichte bilden;
b. Monologe, welche integrierende Bestandteile von Dramen
oder auch von Epen sind. (S. 52 und 54 d. Bds.)
1. Beim Nachdenken über irgend einen Gegenstand oder bei Einwirkung
irgend einer äußeren Begebenheit, bei lebhafter Erregung irgend einer Leidenschaft
sucht das aufgeregte Gefühl sich auch in der Einsamkeit in Worten auszusprechen,
sucht es das Chaos der in ihm wogenden Jdeen, Betrachtungen und
Leidenschaften in's Klare zu bringen. Dadurch wird jedes lyrische Gedicht,
wenn es keine epischen Bestandteile in sich trägt, zum Monolog. Wir geben
demselben aber nur dann den Namen „Monolog“, wenn das Gesangartige fehlt
und das Gedicht lediglich eine Rede ist; also nicht gesungen, sondern nur gesprochen
sein will.
2. a. Jener Monolog, welcher ein selbständiges Gedicht bildet, stellt
eine Person in irgend einer Situation mehr oder weniger dramatisch dar, oder
führt sie sprechend ein. (Beispiel: Die Verlassene von Geibel S. 3 a d. Bds.)
b. Diejenigen Monologe, welche eigentlichen Dramen eingereiht sind, dienen
dazu, einer handelnden Person Gelegenheit zu geben, sich zu sammeln, einen
Entschluß zu fassen, die Beweggründe des eigenen Handelns darzulegen &c. (S. 52
a d. Bds.)
Der eigentlich dramatische Monolog entkeimt dem Bedürfnis des Helden,
sich vor sich selbst klar zu werden, das Facit aus den seitherigen Erfahrungen
und Handlungen zu ziehen und Entschlüsse ahnen zu lassen. Daher sind die
Monologe im Drama Ruhe- und Entwickelungspunkte, durch welche ein Einblick
in Motive und Zielpunkte ermöglicht, das Selbstbesinnen und Entscheiden bezeichnet,
das Vergangene entschleiert, das Zukünftige prophezeit und der Seelenzustand
des Redenden enthüllt wird.
Prolog und Epilog im Drama sind Monologe, von denen ersterer eine
historische Einleitung in das Drama, letzterer ein Schlußwort am Ende desselben
bietet. (S. 46 d. Bds.) Auch in den Epen finden sich Monologe,
welche dazu dienen, die inneren Gedanken und Gefühle des Helden lautbar
zu machen.
Beispiele der Monologe.
a. Der Monolog ein selbständiges Gedicht.
Beispiel: Die Verlassene von Geibel S. 3 d. Bds. Weiteres Beispiel:
Serenade von Friedr. Halm.
b. Monolog aus einem Drama.
Aus Macbeth von Shakespeare. (1. Aufzug 7. [letzte] Scene.)
Macbeth:
c. Monolog aus dem Epos Rostem und Suhrab von Rückert.
(Ges. Ausg. XII. 158.)
(Gesdehem schilt im Selbstgespräch über seine Tochter, welche Suhrab entgegen
gezogen ist:)
Weitere Beispiele von guten dramatischen Monologen sind:
Der Monolog Goethes in Jphigenia auf Tauris (1. Aufz. 1. Auftr.:
Heraus in eure Schatten &c.); der Monolog Tells in Schillers Tell (4. Aufz.
3. Scene: Durch diese hohle Gasse &c.); die Monologe Solimans und Zrinys
in Körners Zriny; Wallensteins Monolog in Schillers Wallenstein (1. Aufz.
4. Auftr.: Wär's möglich &c.; ferner: Du hasts erreicht Oktavio &c.) u. s. w.
Lyrisch gefärbt ist der bekannte Monolog Johannas in der Jungfrau von
Orleans (4. Auftr. des Prologs:
ferner ebenda: 4. Akt 1. Auftr.: Die Waffen ruhn &c.); ebenso der Monolog
in Torquato Tasso (4. Akt 5. Auftr.: Ja gehe nur und gehe sicher
weg &c.) u. s. w. Man vgl. auch die Monologe in Grandjeans Lorenz Schlaumeier,
ferner Saphirs Das Sololustspiel; Pauls Er kommt; Görners Er kommt
zu spät; Blondels Der höhere Bummler; Haffners Jsaias Luchs; Görners
Theatralische Studien; Leiden eines Choristen von Levassor; Blochs komische
Soloscenen; Kühlings Album für Soloscenen &c. &c.
§ 151. Dialog.
1. Dialog ist eine Unterredung: im engeren Sinn zwischen zwei,
im weiteren zwischen mehreren Personen. (S. 54 d. Bds.)
2. Man unterscheidet lyrische, didaktische, epische und dramatische
Dialoge.
Wie der Monolog so vergegenwärtigt auch der Dialog die Stimmung
eines Menschen oder einer bestimmten symbolisch aufgefaßten Zeit.
Man nennt ihn der äußeren Form nach lyrisch, wenn die einzelnen
Personen ihre subjektiven Gefühle aussprechen; didaktisch, wenn durch ihn
einer bestimmten Lehre Ausdruck gegeben werden soll; episch, wenn er der
Mitteilung eines Ereignisses dient, also erzählender Natur ist. Jm dramatischen
Dialog muß Handlung sein, d. h. durch denselben muß sich mehr oder weniger
deutlich irgend ein bestimmter Wille entwickeln, der auf den Gang der Begebenheit
einwirkt. (Vgl. S. 52.) Der dramatische Dialog muß somit auf
ein bestimmtes Ziel, auf Entfaltung der Handlung gerichtet sein und den Bedingungen [407]
dienen, an welche Entwickelung und Verwickelung des Dramas geknüpft
sind.
Jm Singspiel (s. letztes Hauptstück) bezeichnet Dialog die Redepartie im
Gegensatz zu den Gesangspartieen, im alten Drama die Redepartie der Schauspieler
im Gegensatz zu den gesungenen Chorpartieen.
Beispiele des Dialogs.
Lyrischer Dialog.
Lebensmelodien, von A. W. Schlegel. (Abgekürzt.)
Der Schwan.
Der Adler.
Der Schwan.
Der Adler.
Der Schwan.
Der Adler.
Der Schwan.
Der Adler.
Weiteres Beispiel: Die Wallfahrt nach Kevlaar von H. Heine.
Didaktischer Dialog.
Der grüne Zweig, von Fr. Rückert.
Deutscher General.
Deutscher Grenadier.
Der Franzos.
Deutscher General.
Deutscher Grenadier.
Der Franzos.
Deutscher Grenadier.
Deutscher General.
Tambour.
Die Soldaten.
Weiteres Beispiel: „Begegnung“ von H. Heine.
Epischer Dialog. (Aus Rückerts Nal und Damajanti.)
(Damajanti sendet ihre Dienerin Kesini in den Palasthof, damit diese erforsche,
wer der Wagenlenker sei. Sie ahnt, es sei ihr Gemahl, der nur eine andere Gestalt
angenommen habe.)
Kesini.
Wahuka.
Kesini.
Wahuka.
Weiteres Beispiel des epischen Dialogs: Der Wanderer von Goethe;
Das Kind im Walde und ich von Aug. Kuhn; ferner Das Licht im
Thale von Friedr. Kind u. a.
Dramatischer Dialog.
Als Beispiele des dramatischen Dialogs erwähnen wir: Die Probe des
folgenden Paragraphen S. 409: Der Tod Napoleons von Chamisso; ferner Shakespeare's
König Lear (1. Akt 1 Sc.); Lessings Nathan der Weise (3. Aufz.
7. Auftr. Saladin: So ist das Feld hier rein &c.); Schillers Wallensteins
Tod (2. Akt 5. Auftr. Jsolani: Hier bin ich &c.); Schillers Wilhelm Tell
(1. Akt 2. Auftr. Gertrud: So ernst mein Freund &c.); Hebbels Nibelungen
(1. Akt 8. Sc. Kriemhild: Seid mir willkommen &c.); v. Gottschalls Mazeppa
(3. Aufz. 5. Auftr. Jfflant: Ein Abgesandter &c.). Ferner vgl. das deklamat.
Zwiegespräch Frauenfreundschaft von Mart. Böhm; sowie Komm her!
von Elsholtz &c.
§ 152. Dramatisierte Begebenheit (Dramolet).
1. Die dramatisierte Begebenheit ist nicht bloß Gespräch, sondern
sie enthält eine abgeschlossene Begebenheit.
2. Sie ist ein kleines Drama, ein Dramolet.
(Vgl. die Dramolete Eingeregnet, von Fritzsche; Poly Henrions [Pseud.
für Kohlenegg] Jn der Bastille; R. Hahns Künstlerdramolet Ein Sechziger. &c.)
1. Die dramatisierte Begebenheit nähert sich in ihrem Bau und nach
ihrem Dialog dem Drama, von dem sie sich unterscheidet: a. durch den Mangel
eines tiefer eingreifenden Kampfes sich entgegenstehender Gefühle und Situationen,
b. durch das Fehlen einer lebendigen Handlung.
2. Es giebt genug sogenannte einaktige Dramen, die nichts weiter sind,
als dramatisierte Begebenheiten (ich erwähne nur „Das Attentat auf Bismarck“).
Der Stoff der dramatisierten Begebenheit ist meist deskriptiv episch in
äußerlich dramatischer Form. Nicht selten ist sie eine Allegorie oder die Symbolisierung
einer Jdee (vgl. des Verfassers „Kaiserjubelfeier“, Leipzig, Hirschfeld
1877). &c.
Beispiel der dramatisierten Begebenheit.
Der Tod Napoleons, von Chamisso. (Nach Alessandro Manzoni.)
(Napoleon. Montholon. Antomarchi, der Arzt. Europa, Geschichte und Poesie,
Erscheinungen. Stumme Umgebung: Bertrand, seine Frau und vier Kinder; der Abt Vignali,
Marchand und sechs Bedienten. Zwei englische Offiziere. Longwood, am 5. Mai 1821.)
Des Fiebers Glut hat ausgetobt, er scheint zu ruhn.
Mein Heer!
Er träumt ─
Dem Adler folgt und mir; hinan!
Von Schlachten, lenkt im Geiste noch die Völker.
Sieg!
O scharfer Mißlaut dieses Wortes hier und jetzt!
Wer bin ich?
Herr und Kaiser.
Wo?
[411]Du bist, o Herr,
Jnmitten deiner Treuen.
Wo?
Ein Felsensitz ......
Sankt Helena?!
Du sprichst es aus.
Die Zeit ist um,
Abtrünnig werd' ich selber mir, so wie die Welt. ─
Die mein annoch sich nennen ruft herbei; ich will
Abrechnen mit dem Leben.
Tretet alle her!
Daß ich geliebt bin worden, legt ihr Zeugnis ab.
Habt Dank! Jch aber scheide hin. Bald haben sie,
Mit deren Kronen ich gespielt, den Haß gekühlt.
Sie ließen uns nur unsrer Thaten Ruhm zurück.
Jhr werdet bald, aus selbst erkorner Haft erlöst,
Mein stolz durch mich gewesnes Frankreich wiedersehn,
Und trauern an dem vielgeliebten Seinestrand.
O grüßt mein Frankreich, grüßet mir mein heimisch Land!
Wär' Frankreich dieser nackte sturmgeschlagne Fels,
Jch wollt' ihn lieben.
Frankreich finden wir, o Herr,
Nur immerdar, wo dein geweihtes Haupt verweilt.
Nicht also, nein, ─ mein Frankreich grüßt und meinen Sohn.
Entfernet euch; nicht sollet ihr mich weinen sehn, ─
Grüßt meinen Sohn, den grausam mir entfremdeten; ─
Mein Sohn, mein Sohn!
Gehorcht dem Kaiser, tretet ab!
der unverwandt den Kranken betrachtet. Sie entfernen sich zögernd.)
Vordergrunde und verhüllt sein Antlitz.)
Lösch' aus, du Stern der Herrlichkeit!
Napoleon!
Weltherrscher einst, in Fesseln nun Verschmachtender;
Zurück von dir nicht fordernd das vergossne Blut, [412]
Das teure meiner Kinder, nein, den hohen Preis,
Um welchen fließen es gesollt, erschein' ich dir.
Es rangen zwei Weltalter um die Herrschaft; du
Stiegst auf, du Schicksalsmächtiger, da ward es still;
Nicht Friede; schweigsam lagen sie zu Füßen dir;
Du Franklin nicht, nicht Washington, du hast gebaut
Vergänglich für die trunkne Lust des Augenblicks.
Du sankst, du stirbst ─ ich frage bang: wem beug' ich nun
Den jochgewohnten Nacken? Weh!
Mein Sohn, mein Sohn!
O hättest Freiheit du geschafft nach deiner Macht,
Noch ständen aufrecht deine Bilder, unentweiht
Von Händen, die zu heben unvermögend sind
Das dir entsunk'ne, dein gewicht'ges Herrscherschwert.
Standbilder eines Mannes stürzen Knaben um,
Umsonst bemüht, zu tilgen meines Griffes Spur
Zukünft'gem Alter, schwerem Urteil aufbewahrt.
Zu schmäh'n, zu schmeicheln haben Knechte nur vermocht;
Jungfräulich deines Namens ist annoch mein Mund,
Hinfort geweiht zu ewigem Gesang, mein Held!
Jhr Griffel, ihre Lyra, meine Thränen, die
Der eig'nen Schmach ich weine; rückgewendet dies
Hienieden. ─ Jenseits ...? Kaiser auf! Der Schleier reißt!
Antomarchi schnell und tritt zu dem Toten, den er lange betrachtet; er geht sodann nach der
Thür. ─ Montholon und das Gefolge kommen ihm entgegen.)
Der Kaiser?
Weint! Das war er! Länger zügelt nicht
Die bleiche Furcht, von diesem Kerker aus, die Welt.
Verbeugt vor dem euch, der ihn schlug; ─ zerstreuet euch,
Das Liebesopfer eures Lebens ist erfüllt!
gelegt; alle weinen. Zwei englische Offiziere dringen ein. Der Vorhang fällt.)
Weitere Beispiele der dramatisierten Begebenheit sind: 1. Faust. Ein
Versuch von Ad. v. Chamisso; 2. Normannscher Brauch von Uhland; 3. Die
Blumen von Kerner; 4. H. Neumanns Die Auferstehung; 5. Kohleneggs Für
nervöse Frauen; 6. Schlesingers Die Gustel von Blasewitz; 7. Feod. Wehls
Ein Pionier der Liebe; 8. Semele von Schiller; 9. Raupachs Der Platzregen
als Eheprokurator; 10. Drei Kämpfer von Fr. Hofmann; 11. F. Zells Seit
Gravelotte; 12. Ludw. Eckardts Savoyen=schweizerisch; 13. Das Lied der süßen
Liebe und die wilde Jagd von Fr. Storck; 14. Vor Belfort von Ludw. Egler;
15. Vom Rhein zur Elbe von Jul. Rodenberg u. s. w.
II. Eigentliche Dramen.
§ 153. Einteilung und Benennung der eigentlichen Dramen.
Wir teilen die eigentlichen Dramen ein in solche, welche sich
zur Aufführung vor unserem heutigen Durchschnittspublikum nicht eignen,
(dramatische Gedichte, Buchdramen &c.), sowie in aufführbare, durch
ihre lebensvolle Handlung theatralisch wirksame Dramen. Wir handeln
demgemäß die eigentlichen Dramen in nachstehender Folge ab:
1. Dramatisches Gedicht,
2. Tragödie,
3. Schauspiel,
4. Lustspiel,
5. Posse.
Aristoteles (II. Kap. seiner Poetik) nennt als Charaktere der handelnden
Personen entweder bessere, als zu unserer Zeit, oder eben solche, oder schlechtere:
also außergewöhnliche, gewöhnliche und niedere Personen. Die höheren Personen
verlangen ernste Darstellung, die gewöhnlichen und die niederen Personen dagegen
können erfolgreich nur durch Komik eingeführt werden. Aristoteles unterscheidet
somit zwischen Tragödie und Komödie. Der Unterschied zwischen Komödie und
Tragödie liegt ihm darin, daß die Komödie niedrigere, dagegen die Tragödie
(oder das Schauspiel höheren Stils) vorzüglichere Personen darzustellen bezweckt.
Für unsere Einteilung und Benennung der verschiedenen Arten des Drama
ist die Art und Weise, wie dasselbe schließt, maßgebend. Die höchste Form
des Drama, die Tragödie oder das tragische Drama, hat unglücklichen Ausgang
(Untergang, Tod des Helden). Die Uhr ist bei dem Helden abgelaufen,
und bleibt stehen.
Dem tragischen Drama steht das Drama mit glücklichem Ausgang gegenüber,
sowie das edle Lustspiel (Komödie) mit seiner Unterart, der Posse &c.
Ein Drama, welches trotz seines ernsten Gehalts glücklichen Ausgang
nimmt, ohne dabei die Heiterkeit des Lustspiels zu teilen, heißt Schauspiel.
Das Schauspiel liegt also zwischen Tragödie und Komödie in der Mitte.
Eine eigene Art von Drama bildet das sogenannte dramatische Gedicht.
Es ist wegen Mangels an Handlung wenig für die Aufführung geeignet
und kann daher als Buchdrama bezeichnet werden. Wir führen es zuerst vor.
§ 154. Das dramatische Gedicht.
1. Dramatisches Gedicht nennt man jenes Drama, welches seine
Darstellung mehr erzählend als handelnd ausbreitet, welches mehr
innere Empfindungen und bereits geschehene Fakta schildert und im
Dialog mitteilt, als wahrhafte Thaten in unmittelbarer Präsenz vor [414]
den Augen des Zuschauers entrollt und geschehen läßt, welchem daher
leidenschaftsvolle Konflikte und große Kämpfe in der Entwickelung der
Handlung mangeln.
2. Es ist kein eigentlich theatralisches Stück und eignet sich nur
bedingungsweise für die Aufführung.
3. Dagegen ist es als Buchdrama mehr als alle übrigen Dramen
namentlich der Jugend als Lektüre zu empfehlen.
1. Das dramatische Gedicht, welches man wegen seiner gemütlichen, erzählend
fortschreitenden Handlung die Tragödie des Gemüts nennen könnte,
ist in seinem ernsten Stoff wie in seinem Aufbau oft nicht von der Tragödie
zu unterscheiden. Jn Anordnung, Form und Ausführung erreicht es den eigentlichen
Kunstzweck der Tragödie; auch geht ihm keineswegs das dramatische Leben
ganz ab. Nur der Goetheschen Forderung: „Vor allem laßt recht viel geschehen“
entspricht es nicht.
2. Tieck charakterisiert das dramatische Gedicht, wenn er im Phantasus
(1. Abtheilung) sagt: „Häufig, wenn wir vom Dramatischen sprechen, verwechseln
wir dieses mit dem Theatralischen, und wiederum ein mögliches besseres
Theater mit unserem gegenwärtigen und seiner ungeschickten Form; und in dieser
Verwirrung verwerfen wir viele Gegenstände und Gedichte als unschicklich, weil
sie sich freilich auf unserer Bühne nicht gut ausnehmen würden. Sehen wir also
ein, daß ein neues Element erst das dramatische Werk als ein solches beurkundet,
so ist wohl ohne Zweifel eine Art der Poesie erlaubt, welche auch das
beste Theater nicht brauchen kann, sondern in der Phantasie eine Bühne für
die Phantasie erbaut und Kompositionen versucht, die vielleicht zugleich lyrisch,
episch und dramatisch sind, die einen Umfang gewinnen, welcher gewissermaßen
dem Roman untersagt ist, und sich Kühnheiten aneignen, die keiner andern
dramatischen Dichtung ziemen. Diese Bühne der Phantasie eröffnet der romantischen
Dichtkunst ein großes Feld.“
Es ist klar, daß solche Stücke auf unser heutiges Durchschnittspublikum
bei Aufführungen auf der Bühne keine oder nur geringe Wirkung üben. Das
Publikum langweilt sich, wenn ihm innere Kämpfe gemalt oder erzählt werden.
Es verlangt die sogenannten theatralischen Dramen mit rascher, wahrnehmbarer,
anschaulicher Handlung. Ein theatralisches Drama übt durch seine lebhafte
Handlung immer seine Wirkung auf die Menge aus, während ein nur dramatisches
Stück höchstens die feinfühlige Elite des Geistes befriedigt, den sogenannten
Bildungspöbel aber, der im Theater die besten Plätze einnimmt, kalt läßt.
Das zur Aufführung bestimmte sogenannte theatralische Drama verlangt,
wie A. W. Schlegel gesagt hat, „jenen entschiedenen Rhythmus, der den Pulsschlag
beschleunigt und das sinnliche Leben in rascheren Schwung bringt“. Diese
die Handlung beherrschende und beschleunigende Schwungkraft, die für das
Drama als solches wirklich noch wesentlicher wird, als die lebendige Gestaltung
der handelnden Personen, diese Schwungkraft ist Sache des unmittelbaren dramatischen
Jnstinktes, ─ aber diesen haben weder Goethe noch Uhland, noch
Rückert gehabt, ja, Rückert von diesen Dreien sicher am allerwenigsten.
3. Jmmerhin wird sich der Gebildete beim Lesen des dramatischen Gedichts
erquicken. Er wird sich in eine höhere Sphäre des Seins gerückt fühlen, indem
er seinen eigenen Charakter vergleicht, den Blick an den Seelengemälden
labt und mit dem vorgeführten Helden Teilnahme empfindet.
So geringschätzig man sich über die dramatischen Gedichte einzelner Dichter
ausgesprochen hat, denen Mangel an künstlerischer Architektonik, an dramatischer
Pointierung, an einer Gestalten schaffenden Charakteristik und an dichterischem
Schwung vorgeworfen wurde, so verdienen sie doch gewiß gelesen zu werden,
ehe man sie bloß mit ihren Titeln in die Rumpelkammer der Litteraturgeschichte
wirft. Wir wenigstens haben uns an einzelnen dramatischen Gedichten auch
hinsichtlich der Technik der Scene und der charakteristischen Momente in der
Entwickelung nur erfreuen können, wo uns bei unserer Betrachtung die ganze
Persönlichkeit der betreffenden Dichter zur Seite stand. Viele dramatische Gedichte
sind immerhin dramatische Kunstwerke, wenn auch keine theatralischen, sie
sind schön und beredt in den lyrischen Stellen, interessant und lehrreich in den
mehr didaktischen &c. Haben diese Dramen den eigentlichen Zweck der theatralischen
Darstellung verfehlt, so haben sie doch genug innere Würde und Gediegenheit,
Einfachheit der Charaktere, schöne Vorbilder hoher Begeisterung und
standhaften Mutes (Rückerts Colombo, Heinrich IV.), edler Freundesliebe
(Rückerts Jonathan, David), Freundestreue (Sebastian, Las Casas), Frauenhoheit
(Anacaona), in sich, so daß sie sich zu einer lohnenden und erhebenden
Lektüre sowohl für die reifere Erfahrung, als auch besonders für die Jugend
wohl eignen.
Goethe sagt richtig: „Roman und Drama sind nicht eine Lektüre für
die Jugend, weil der Jugend das sittliche unbeirrte Verständnis, die vollendete
Reife für geistig gesunde Aufnahme von Charakterbildern, Konflikten und Situationen
fehlt, welche eine überwundene physische und psychische Entwickelungsperiode,
einen Umblick in der Welt, eine gewisse Ausweitung des Gesichtskreises,
ein Streben nach Objektivität des Urteils voraussetzt. Gerade unser größter
Dramatiker, Shakespeare, wird am allerwenigsten in eine Jugendbibliothek passen,
weil auf die Jugend das Dämonische und Bösartige der Charaktere, das Leidenschaftliche
der Konflikte, das Zweideutige der Situationen ─ wie sie in einem
Drama vorkommen und bei Shakespeare in der großartigsten Weise ─ nicht
abschreckend, sondern aufstachelnd, verführerisch und verderblich wirken.“ Selbstredend
meint Goethe nicht die Primaner unserer Gymnasien, deren Urteilsfähigkeit
und Reife die Behandlung einzelner Shakespearescher Stücke sogar ratsam
erscheinen lassen.
Der Mangel an zu großer Leidenschaft und peinvoller Schuld ist es gerade,
vermöge dessen die dramatischen Gedichte (vor allem die von Rückert)
nicht nur unbedenklich, sondern zugleich als ein wirksames Bildungsmittel zur
Veredlung der Sitten und des Verstandes in die Hände der Jugend gegeben
werden können.
Ein Vorzug hierbei ist, daß die dramatischen Gedichte das Ekelerregende,
Lasterhafte ausgeschlossen haben, womit nicht gesagt sein soll, daß dies in den [416]
theatralischen Dramen nötig sei. (Es hat z. B. Shakespeare in Richard III.
das Laster durchaus poetisch eingeführt; Richard III. begeht eine Schandthat
nach der andern.) Die Befriedigung des sittlichen Gefühls der Jugend liegt
darin, daß jede schlechte That ihre Strafe insofern in sich birgt, als sie als
Folge der vorhergehenden erkannt wird, sowie daß die Strafe den Verbrecher
ereilt und der Satz illustriert wird: „Alle Schuld rächt sich auf Erden.“ Bei
Goethes „Mitschuldigen“, wo eine ganze Familie, Vater, Tochter, Gatte, Liebhaber
sich gegenseitig auf den nächtlichen Schleichwegen des Lasters treffen,
findet sich keine Sühne der verletzten Sittlichkeit. Der Dichter verurteilt selbst
die Einführung des Lasters in seinen „Mitschuldigen“. Das heitere, burleske
Wesen erscheint auf dem düstern Familiengrunde als von etwas Bänglichem
begleitet, so daß es bei der Vorstellung im Ganzen ängstigt, wenn es im Einzelnen
ergetzt. Die widergesetzlichen Handlungen verletzen das ästhetische und
moralische Gefühl, und deswegen konnte das Stück auf dem deutschen Theater
keinen Eingang finden.
Analysen und Proben aus dramatischen Gedichten.
1. Kaiser Heinrich IV. von Fr. Rückert. (1. und 2. Teil.)
1. Teil. Der Kaiser Heinrich IV. geht nach Canossa, um sich vom
Bann lösen zu lassen. Die lombardischen Edlen empfangen ihn an der Grenze
und erbieten sich, ein Heer gegen den Papst zu werben. Heinrich zeigt sich
unmännlich und von religiösen Vorurteilen eingenommen. Er ist unselbständig
und besonders kurzsichtig gegen die Schlauheit des Papstes, als dieser für
ein Gottesurteil die halbe Hostie ißt und ihm die andere Hälfte reicht. (Leider
versäumt Rückert in der Canossascene den erhabensten Principienstreit des Mittelalters
darzustellen, er legte die ganze Scene nur einem Erzähler in den Mund &c.)
Rudolf wird Gegenkaiser. Der Papst lehnt es ab, Rudolf in den Bann zu
thun. Da sammelt sich bei Regensburg ein Heer zum Beistand für Heinrich.
Mainz erhebt sich. Der Kampf beginnt. Heinrich ist siegreich und zieht nun
nach Rom, um sich dort die Kaiserkrone aufsetzen zu lassen. Mit den begeisterten
Rufen: „Hoch Deutschland, hoch, wir siegen“ werden die Mauern erstiegen.
Heinrich hält siegreichen Einzug in Rom, während der Papst entflieht. Erzbischof
Wipert, den Heinrich als Clemens III. einsetzt, empfängt den festlich
einziehenden Kaiser und seine Gemahlin Bertha vor dem Hauptaltar der Peterskirche
und setzt ihnen die Kaiserkrone auf. ─
Jm 2. Teil zeigt uns der Dichter zunächst Heinrichs Toleranz im Gegensatz
zur Jntoleranz des Papstes. Heinrich verweist dem Bischof Werner das
Ansinnen, Rudolfs Grabdenkmal umzustoßen und die Asche in den Fluß zu
streuen. Er verzeiht dem Grafen von Luxemburg und den Herzogen von
Bayern. Einzelne Scenen schildern einbrechende Prüfungen. Heinrichs Gemahlin
stirbt, als er eben nach Jtalien ziehen muß. Der Abfall seines Sohnes
Konrad wird gemeldet. Papst Urban tritt aus seiner Passivität heraus und macht
sich populär durch seinen Aufruf zum Kreuzzug. Auch Heinrich V., vom Vater [417]
zum Könige eingesetzt, trennt sich von ihm und wird ein scheinbar gefügiges Werkzeug
der Kirche. Er nimmt den Kaiser gefangen und fordert ihm die Reichskleinodien
ab. Allein Heinrich IV. entflieht und erhält allerwärts Unterstützung;
die Städte erheben sich und die angrenzenden Länder nehmen drohende Mienen
an. Heinrich V. sinnt: „wie endigen?“ Da kommt die Nachricht vom Tode
des Vaters, welch letzterer ihm die Reichskleinodien mit seinem Segen sendet.
Nun wirft Heinrich V. die Maske ab. Er weist die Anmaßung der Kirche
zurück, um das Ansehen des Staats zu heben. Die päpstlichen Legaten schickt
er heim und setzt, trotz päpstlichen Verbotes, die Bischöfe ein. Ohne seine
aus England ankommende Braut erst zu begrüßen, eilt er mit seinem Heere nach
Rom. Die Enttäuschung des Papstes ist groß. Er wird mit allen seinen
Kardinälen gefangen genommen, bis er Heinrich V. zum römischen Kaiser gekrönt,
ein ehrliches Begräbnis dem Vater, Heinrich IV., gewährt und endlich die Jnvestitur
eingeräumt hat.
Boten kehren zurück und verkünden der harrenden Braut Mathilde, daß
aus dem Könige ein Kaiser geworden und daß die Hochzeit stattfinden werde,
sobald die Leiche des Vaters beigesetzt sei.
Schluß: Leichenzug von Bischöfen, worunter auch der Bischof von Speier,
der einen Zipfel des Bahrtuchs tragen muß, um den Sieg der weltlichen
deutschen Macht über die geistliche römische Anmaßung zu illustrieren.
Schlußchor:
2. Torquato Tasso, von Goethe.
Analyse. Torquato Tasso, italienischer Dichter, weilt am Hofe des
Herzogs Alphons von Ferrara. Er liebt die geistvolle, schöne Schwester des [418]
Herzogs, Leonore von Este. Als er sein herrliches Werk, das befreite Jerusalem,
vollendet hat, überreicht er es dem Herzoge. Die Prinzessin krönt ihn dafür.
Er bietet hierauf dem vielgeltenden Antonio seine Freundschaft an, wird aber
kalt zurückgewiesen. Da fordert er Antonio zum Zweikampf heraus und wird
verhaftet. Tasso argwöhnt bei den verschiedenen Vermittlungsversuchen überall
Verrat; er fordert seine Entlassung vom Herzog und erhält sie. Als er von
der Prinzessin Abschied nimmt, erkühnt er sich, ihr seine Liebe zu gestehen.
Die Fürstin weckt ihn aus seinen thörichten Träumereien durch ihr rasches:
Hinweg! und verursacht dem unglücklich Liebenden das bitterste Leid. Am
Ende findet er in Antonios Freundschaft noch Trost und Hoffnung. Neben
den beiden Hauptpersonen, Tasso und Antonio, zeichnet Goethe zwei interessante
Frauencharaktere, die edle und geistreiche, dem Dichter im Stillen geneigte
Prinzessin Eleonore und die Gräfin Eleonore Sanvitale, die fröhlich=liebenswürdige
Freundin der Prinzessin. Die fünfte Person ist der kunstsinnige kluge Herzog
Alphons, der Ehrfurcht gebietende Herrscher. Die Handlung geht ─ wie die
kurze Probe schon zeigen möge ─ mehr im Gemütsleben der Personen als in
der äußeren That vor sich. Das Stück bietet ausgedehnte Schilderungen
Jtaliens und gewährt die genußreichste Lektüre; ein Theaterstück ist es nicht.
Der übermäßig ausgedehnte Dialog hat für ein theatralisches Stück dieselben
Mängel, wie der Rückertsche.
Probe aus Torquato Tasso, von Goethe (2. Aufz. 1. Auftritt).
Prinzessin. Tasso.
Und sah ich hier mit Staunen nicht zuerst,
Wie herrlich man den tapfern Mann belohnt?
Als unerfahrner Knabe kam ich her,
Jn einem Augenblick, da Fest auf Fest
Ferrara zu dem Mittelpunkt der Ehre
Zu machen schien. O! welcher Anblick war's!
Den weiten Platz, auf dem in ihrem Glanze
Gewandte Tapferkeit sich zeigen sollte,
Umschloß ein Kreis, wie ihn die Sonne nicht
So bald zum zweitenmal bescheinen wird.
Es saßen hier gedrängt die schönsten Frauen,
Gedrängt die ersten Männer unsrer Zeit.
Erstaunt durchlief der Blick die edle Menge;
Man rief: Sie alle hat das Vaterland,
Das Eine, schmale, meerumgebne Land,
Hierher geschickt. Zusammen bilden sie
Das herrlichste Gericht, das über Ehre,
Verdienst und Tugend je entschieden hat.
Gehst du sie einzeln durch, du findest keinen,
Der seines Nachbarn sich zu schämen brauche! ─
Und dann eröffneten die Schranken sich;
Da stampften Pferde, glänzten Helm und Schilde,
Da drängten sich die Knappen, da erklang
Trompetenschall, und Lanzen krachten splitternd, [419]
Getroffen tönten Helm und Schilde, Staub,
Auf einen Augenblick, umhüllte wirbelnd
Des Siegers Ehre, des Besiegten Schmach.
O laß mich einen Vorhang vor das ganze,
Mir allzuhelle Schauspiel ziehen, daß
Jn diesem schönen Augenblicke mir
Mein Unwert nicht zu heftig fühlbar werde.
Wenn jener edle Kreis, wenn jene Thaten
Zu Müh' und Streben damals dich entflammten,
So konnt' ich, junger Freund, zu gleicher Zeit
Der Duldung stille Lehre dir bewähren.
Die Feste, die du rühmst, die hundert Zungen
Mir damals priesen und mir manches Jahr
Nachher gepriesen haben, sah ich nicht.
Am stillen Ort, wohin kaum unterbrochen
Der letzte Wiederhall der Freude sich
Verlieren konnte, mußt' ich manche Schmerzen
Und manchen traurigen Gedanken leiden.
Mit breiten Flügeln schwebte mir das Bild
Des Todes vor den Augen, deckte mir
Die Aussicht in die immer neue Welt.
Nur nach und nach entfernt' es sich, und ließ
Mich, wie durch einen Flor, die bunten Farben
Des Lebens blaß, doch angenehm erblicken,
Jch sah lebend'ge Formen wieder sanft sich regen.
Zum erstenmal trat ich; noch unterstützt
Von meinen Frauen, aus dem Krankenzimmer,
Da kam Lucretia voll frohen Lebens
Herbei und führte dich an ihrer Hand.
Du warst der erste, der im neuen Leben
Mir neu und unbekannt entgegen trat
Da hofft' ich viel für dich und mich; auch hat
Uns bis hieher die Hoffnung nicht betrogen.
Und ich, der ich betäubt von dem Gewimmel
Des drängenden Gewühls, von so viel Glanz
Geblendet, und von mancher Leidenschaft
Bewegt, durch stille Gänge des Palasts,
An deiner Schwester Seite schweigend ging,
Dann in das Zimmer trat, wo du uns bald
Auf deine Frau'n gelehnt erschienest ─ mir
Welch ein Moment war dieser! O vergieb!
Wie den Bezauberten von Rausch und Wahn
Der Gottheit Nähe leicht und willig heilt;
So war auch ich von aller Phantasie,
Von jeder Sucht, von jedem falschen Triebe
Mit Einem Blick in deinen Blick geheilt.
Wenn unerfahren die Begierde sich
Nach tausend Gegenständen sonst verlor,
Trat ich beschämt zuerst in mich zurück, [420]
Und lernte nun das Wünschenswerte kennen.
So sucht man in dem weiten Sand des Meers
Vergebens eine Perle, die verborgen
Jn stillen Schalen eingeschlossen ruht.
Es fingen schöne Zeiten damals an,
Und hätt' uns nicht der Herzog von Urbino
Die Schwester weggeführt, uns wären Jahre
Jm schönen ungetrübten Glück verschwunden.
Doch leider jetzt vermissen wir zu sehr
Den frohen Geist, die Brust voll Mut und Leben,
Den reichen Witz der liebenswürd'gen Frau.
Jch weiß es nur zu wohl, seit jenem Tage,
Da sie von hinnen schied, vermochte dir
Die reine Freude niemand zu ersetzen.
Wie oft zerriß es meine Brust! Wie oft
Klagt' ich dem stillen Hain mein Leid um dich!
Ach! rief ich aus, hat denn die Schwester nur
Das Glück, das Recht, der Teuern viel zu sein?
Jst denn kein Herz mehr wert, daß sie sich ihm
Vertrauen dürfte, kein Gemüt dem ihren
Mehr gleich gestimmt? Jst Geist und Witz verloschen?
Und war die Eine Frau, so trefflich sie
Auch war, denn alles? Fürstin! o verzeih!
Da dacht' ich manchmal an mich selbst, und wünschte
Dir etwas sein zu können. Wenig nur,
Doch etwas, nicht mit Worten, mit der That
Wünscht' ich's zu sein, im Leben dir zu zeigen,
Wie sich mein Herz im Stillen dir geweiht.
Doch es gelang mir nicht, und nur zu oft
That ich im Jrrtum, was dich schmerzen mußte,
Beleidigte den Mann, den du beschütztest,
Verwirrte unklug, was du lösen wolltest,
Und fühlte so mich stets im Augenblick,
Wenn ich mich nahen wollte, fern und ferner. u. s. w.
Zur Litteratur des dramatischen Gedichts.
Die Anzahl der dramatischen Gedichte ist im Verhältnisse zu den übrigen
Dramen nur gering. Wir rechnen unter die Gattung derselben außer den
genannten: Körners Hedwig und Tony; Zedlitz' Herr und Sklave; Tiecks
dramatisierte Märchen; Platens polemisch=satirische Komödien; Jmmermanns
Trauerspiel in Tyrol; Oskar Elsners Die Wacht am Rhein; Uhlands
Schildeis und sein Ständchen, sowie zum Teil sogar seine Dramen; in gewissem
Sinn auch A. Werners Martin Luther (vgl. S. 34 d. Bds.), sowie Aug.
Spechts Der Verfluchte. Ferner sind als dramatische Gedichte zu nennen:
Julius Mosens Heinrich der Finkler, Otto III., Rienzi, Herzog Bernhard, [421]
Der Sohn des Fürsten, ─ da in diesen historischen Gemälden das subjektiv Lyrische
und Rhetorische dominiert, die Handlung aber mangelnd oder zu unbedeutend ist.
Eine Fortbildung des dramatischen Gedichts zum bühnengerechten sog.
historischen Drama hat Raupach in seinem Cyklus Hohenstaufen, sowie Herrig
in seinen Werken: „Jerusalem“ und „Alexander“ versucht, welche großartige
Wendepunkte der Geschichte darstellen, den Übergang des Alten zum Neuen,
den Kampf geschichtlicher Prinzipien. (Sie wurden nie aufgeführt.) Noch mehr
nähern sich dem bühnengerechten Drama W. Molitors Maria Magdalena;
Otto Prechtlers Adrienne; ferner von Paumgartens Rudolf von Habsburg;
Ed. Rüffers Lorelei; Adolf Calmbergs Jürgen Wullenweber, sowie Calmbergs
Leyer und Schwert; Julius Ernsts Der Eremit von Juste; Linggs Berthold
Schwarz; Ferd. Stoltes Neuer Faust; besonders aber Feod. Wehls Hölderlins
Liebe, sowie Fr. Halms Camoëns und sein 5aktiges dramatisches Gedicht Griseldis,
dessen Sprache wie ein über den etwas unnatürlichen Stoff gebreiteter,
loser Schmuck erscheint, und dessen Heldin allzu peinlichen Quälereien und
Prüfungen ausgesetzt ist &c.
§ 155. Tragödie == Trauerspiel.
1. Unter Tragödie versteht man ein trauriges Schauspiel, ein
Trauerspiel, ein Drama mit unglücklichem Ausgang. Es stellt den
Kampf eines hervorragenden Charakters gegen die Macht äußerer Verhältnisse
oder auch der eigenen Leidenschaft so dar, daß der Held,
wenn er auch unterliegt, doch moralisch siegt, wodurch die sittliche
Jdee Siegerin bleibt.
2. Das Schicksal des Helden erzeugt die tragische Stimmung und
die tragische Poesie, deren Begriff wir I S. 100 entwickeln konnten.
3. Die Tragödie bringt eine höhere Wahrheit zum Ausdruck.
Dies nennt man ihre Tendenz.
4. Schon bei den Alten war Tragödie (ιραγῳδία) ein erhabenes
Gedicht von traurigem Ausgang, worin nur erhabene Personen (Götter,
Könige, Prinzen, Helden &c.) auftraten.
5. Die Tragödie unterscheidet sich in wesentlichen Stücken vom
Epos wie vom Roman.
1. Schopenhauer nennt das Trauerspiel die erhabenste Dichtungsart
(III 731), den Gipfel der Dichtkunst sowohl in Hinsicht auf die
Größe der Wirkung, als auch auf die Schwierigkeit der Schöpfung, ja, er bezeichnet
es als die höchste poetische Leistung (II 298. III 480), welche
die innere Bedeutung, das Wesen der Welt weit mehr als selbst die allerwichtigsten
und allergroßartigsten physikalischen Wahrheiten hervortreten läßt
(VI 215), welche das schwere Leiden, die Not des Daseins vorführt, wobei
die Nichtigkeit alles menschlichen Strebens das letzte Ergebnis ist (VI 472).
Nach Schiller ist die Tragödie dichterische Nachahmung einer zusammenhängenden
Reihe von Begebenheiten (einer vollständigen Handlung), welche uns [422]
Menschen in einem Zustande des Leidens zeigt, und zur Absicht hat, unser
Mitleid zu erregen.
Man sollte zur Erläuterung oder Erschöpfung des Begriffs zusetzen: Durch
jenes starke Beherrschtsein von heftigen Gefühlen, Affekten, Begehrungen, das
die Stimme der Mäßigung und Klugheit nicht beachtet, welches man Leidenschaft
nennt; ferner durch Rücksichtslosigkeit, Verbrechen, Unentschlossenheit &c.
verstößt der Held der Tragödie gegen bestimmte unabänderliche Gesetze und
zieht sich so sein Schicksal zu. Glück und Unglück wechseln. Endlich erscheint
der Rächer (Peripetie oder Umschlag). Vergebens sucht der tragische Held nach
einem Halt. Der Schluß ist Tod, Ruin, Untergang. So eröffnet die Tragödie
einen erhabenen Einblick in das unendliche Walten der Vorsehung, in die Schicksale
des Menschen.
Nach Hans Herrig (in Osk. Blumenthals Neuen Monatsheften IV 424)
ist die moderne Tragödie die wahre Kunst der Erlösung, der Freiheit, die nicht
wie die antike sich bei der schließlichen Ergebung in die Gesetze des Weltalls
beruhigt und resigniert, sondern durch Entsagung über dieselben triumphiert.
Das Wort des Heilands: Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie
thun, ist auch das letzte Wort der Tragödie. Die Welt weiß nicht, was sie
thut, aber der Held hat es erfahren, und hat nun nur noch die letzten Seufzer
für sie übrig: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, und „Es ist vollbracht!“
Der Schleier der Maja ist zerronnen; der Vorhang schwebt langsam nieder.
(Aug. Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie 1880 S. 43.)
2. A. W. Schlegel sagt (Sämtl. Werke V 41): „Wenn wir die Beziehungen
unseres Daseins bis an die äußerste Grenze der Möglichkeiten überschauen,
wenn wir dessen ganze Abhängigkeit von einer unübersehlichen Verkettung
der Ursachen und Wirkungen erwägen; wie wir schwach und hülflos
gegen den Andrang unermeßlicher Naturkräfte und streitender Begierden an die
Küste einer unbekannten Welt ausgeworfen werden, gleichsam bei der Geburt
schon schiffbrüchig; wie wir allen Jrrtümern, allen Täuschungen ausgesetzt sind,
deren jede verderblich werden kann; wie wir in der Leidenschaft unsern eignen
Feind im Busen tragen; wie jeder Augenblick im Namen der heiligsten Pflichten
die Aufopferung der süßesten Neigungen von uns fordern, und durch einen
plötzlichen Schlag uns alles Schwer-Erworbene rauben kann; wie mit jeder
Erweiterung des Besitzes die Gefahr des Verlustes steigt, und wir den Tücken
des feindseligen Zufalls nur um so mehr Blößen darbieten: dann muß jedes
nicht dem Gefühl verschlossene Gemüt von einer unaussprechlichen Wehmut
befallen werden, gegen die es keine andre Schutzwehr giebt, als das Bewußtsein
eines über das Jrdische hinausgehenden Berufs. Dies ist die tragische
Stimmung; und wenn die Betrachtung des Möglichen als lebendige Wirklichkeit
aus dem Geiste heraustritt, wenn jede Stimmung die auffallendsten Beispiele
von gewaltsamen Umwälzungen menschlicher Schicksale, vom Unterliegen
des Willens dabei oder bewiesener Seelenstärke, in der Darstellung durchdringt
und beseelt: dann entsteht tragische Poesie.“ (Vgl. I S. 100.)
3. Tragisch wird die Stimmung im Trauerspiel durch seine Tendenz, sofern
die Schrecknisse auf der Bühne dem Zuschauer „die Bitterkeit und Mutlosigkeit
des Lebens, also die Nichtigkeit alles Strebens entgegenhalten“ und zur Überzeugung
bringen, daß das Leben ein schwerer, ernster Traum sei. Die Tendenz
der Tragödie ist also Erzielung von Resignation, Entsagung, mutiges und
gelassenes Betrachten des Todes, die Hervorrufung echter Wehmut, die neben
dem Schmerz auch den Trost bietet: ähnlich der Lanze des Peleus, welche die
Wunden schuf und wieder heilte. Wenn das Glück des Helden im 5. Akt
scheitert, empfindet der Zuschauer eine gewisse Erhebung des Gemüts, ein
Genügen unendlich höherer Art, als es der Anblick des noch so sehr beglückten
Helden zu gewähren vermocht hätte. Man fühlt das Bedürfnis der Erlösung
und stimmt Seneka bei, daß der Unglückliche der Glückliche sei. (Vgl. Maria
Stuart, wenn sie auf dem Gang zur Richtstätte sagt: „Jetzt hab' ich nichts
mehr auf der Erde“; oder den sterbenden Palmire in Voltaires Palmire:
„Die Welt ist für Tyrannen, lebe du!“ oder Shakespeares sterbenden Brutus:
„Besänftige, Cäsar, dich: nicht halb so gern bracht' ich dich um, als mich u. s. w.“
Schopenhauer meint (II 316): „Wäre nicht das Erheben über alle Zwecke
und Güter des Lebens, dieses Abwenden von ihm und seinen Lockungen und
das hierin schon liegende Hinwenden nach einem anderartigen, wiewohl uns
völlig unfaßbaren Dasein die Tendenz des Trauerspiels: wie wäre es denn
überhaupt möglich, daß die Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens im
grellsten Lichte uns vor Augen gebracht, wohlthätig auf uns wirken und ein
hoher Genuß für uns sein könnte? Zwar nicht eigentliches Quietiv des Willens,
zwar nicht auf immer erlösend vom Dasein, sondern nur auf Augenblicke bildet
diese Darstellung noch nicht einen Weg aus dem Leben, sondern bloß einen
Trost in demselben, bis die dadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde,
den Ernst ergreift.
Ähnlich sagt Otto Liebmann (Zur Analysis der Wirklichkeit. Straßburg
1876 S. 560): „Das spezifisch Befriedigende der Tragödie liegt in der deutlicheren
oder undeutlicheren Erregung des ernsten Bewußtseins: Mögen Schuld und
Schicksal, Situationen und Charaktere, Zufall und Leidenschaften noch so störend,
verwirrend, vernichtend in das menschliche Leben eingreifen, die höchsten und
edelsten Bestrebungen vereiteln, das Beste, Daseinswürdigste unbarmherzig zerknicken,
die Unschuld morden, den Bösewicht triumphieren lassen, ─ es giebt
eine moralische Weltordnung, welcher stets das letzte Wort verbleibt, welche zuweilen
sichtbarlich, zuweilen auch für uns unmerklich, alles Unrecht sühnt, alles
unverdiente Leiden wieder gut macht, alle sittlichen Dissonanzen so oder so auflöst.
Vertraue darauf!“ (Vgl. des Näheren die mehrfach citierte Quellenschrift
Aug. Siebenlists über Schopenhauers Philosophie der Tragödie S. 24─45.)
Neben jener auf Entsagung und Resignation gerichteten Absicht kann die
Tragödie noch eine spezielle Tendenz verfolgen. So liefert z. B. die romantische
Jungfrau von Orleans den Nachweis, wie die fromme Schwärmerei eines
reinen Gemüts Wunder wirken kann! Maria Stuart zeigt, daß die Nichtbeherrschung
der Leidenschaft selbst auf dem Throne ins Unglück führt u. s. w.
4. Das Wort Tragödie ist abzuleiten von τράγος Bock und ᾠδή Gesang.
Es bildete ursprünglich die Bezeichnung für jeden mimischen Chorgesang
oder Dithyrambus, welcher bei den üblichen Bocksopfern gelegentlich der griechischen
Dionysusfeste angestimmt wurde, indem sich der Chor zur Nachahmung
der Satyrgestalt in Bocksfelle hüllte. Das Wort tragoedia bedeutete 1. Bocksgesang,
weil dem Sieger in der Tragödie ein Bock geschenkt wurde (vgl.
die Jnschrift der zu Marseille 150 n. Chr. gefundenen, jetzt in Oxford befindlichen
Marmortafel: „und zum Preise wurde der Bock gegeben“);
2. Gesang der Böcke, d. h. der Satyrn, welche mit den Böcken identifiziert
werden; 3. Bocksopfergesang, vorgetragen dem Dionys zu Ehren, denn bekanntlich
ist der τράγος das Opfer des Dionysos, weil der Bock die Weinreben
benagt, was ein deutsch gegebenes Epigramm besagt: „Benage nur, o Bock,
meine Wurzeln, es wird mir doch noch soviel Wein übrig bleiben,
um dich dazu zu verspeisen.“ (Näheres s. weiter unten unter Litteratur.)
Jn welcher Art aus dem Dithyrambus, den Arion schon (ca. 600 v. Chr.)
von kunstmäßig einstudierten Chören aufführen ließ, die Tragödie entstand,
haben wir unter Litteratur dargelegt.
Aristoteles nennt bereits die Tragödie die Darstellung (μίμησις) einer
bedeutenden, in sich abgeschlossenen Handlung von gewissem Umfange in angenehmer
Sprache, ausgeführt von Handelnden und nicht durch Erzählung,
sondern durch Mitleid und Furcht die Reinigung (Katharsis) solcher Affekte
vollbringend (κάθαρσις τῶν παθημάτων. Vgl. Arist. poet. cap. VI).
Gustav Rümelin (Reden, Aufsätze &c. Tübingen 1875 S. 382) interpretiert
diese Anschauung des großen Denkers von Stagira dahin, daß die
Tragödie durch Erweckung von Furcht und Mitleid eine Entlastung des Gemüts
von dem Druck eben dieser Stimmung bewirke. ─ Bernays, wohl der beste
Katharsiserklärer, übersetzt: Die Tragödie bewirkt durch (Erregung von) Mitleid
und Furcht die erleichternde Entladung solcher (mitleidigen und furchtsamen)
Gemütsaffektionen. ─ Mitleid und Furcht nennt Klein (Gesch. d. Dramen V
338) ein tragisches Zwillingspaar, dem sodann Aug. Siebenlist (a. a. O. 55)
seine Stellung im Sinne Schopenhauers anweist. ─ Auch Otto Ribbeck (Anfänge
und Entwickelung des Dionysoskultus 1869 S. 59) erblickt die Aufgabe
der Tragödie in der Befreiung des belasteten Gemüts, in der Entladung stürmischer
Affekte.
Durch die Musen Melpomene und Thalia stellt die bildende Kunst die
Tragödie und die Komödie dar; jene hält die tragische Maske in der Hand,
diese die komische.
5. Vergleichen wir die Tragödie mit dem Epos und dem Roman, so
finden wir, daß es sich in diesen drei Dichtungsgattungen um eine hervorragende,
das Jnteresse in Anspruch nehmende Persönlichkeit handelt. Alle drei
zeigen das Eingreifen von Verhältnissen, die oft nicht vorauszusehen und
zu beherrschen sind. Alle drei bedingen endlich das Eintreten von Nebenpersonen,
welche das Schicksal des Helden verzögern oder auch rascher herbeiführen
helfen.
Dabei sind aber doch große Verschiedenheiten zu bemerken. Während die
Tragödie (wie auch der Roman) den Eingriff einer höheren Macht in das
menschliche Dasein ─ jedoch eines Einzelnen ─ darstellt, zeigt dies das
Volks-Epos im großen Leben ganzer Völkerfamilien. Während der Held in
der Tragödie gegen eine unsichtbare Macht ankämpfen muß, der er nicht gewachsen
ist, läßt er sich im Roman vom Schicksal und oft durch Zufälligkeiten und
andere Personen bestimmen, im Epos dagegen kämpft er nur gegen äußere
Feinde und geht im Verein mit helfenden Freunden in der Regel siegreich aus
dem Kampfe hervor. Wenn in der Tragödie die Nebenpersonen gerne als
Repräsentanten einer ganzen Klasse von Menschen, als eine verkörperte Gattung
von Charakteren, als Träger gewisser Jdeen angesehen werden wollen, gehören
dieselben im Roman nur einer gewissen Zeit und ihrer Bildung an. Jm
Epos sind die Personen natürliche Menschen mit ihren verschiedenen Eigenschaften,
guten oder bösen, keine Symbole wie in der Tragödie. Franz Keim,
der so rasch bekannt gewordene Dichter der Tragödie Sulamith, sagt scharfsinnig:
Jm Epos herrscht die Begebenheit, in der Tragödie die Person; im
Epos fragt man: Was wird dem Helden begegnen, in der Tragödie: Was
wird er thun? u. s. w.
§ 156. Der Held der Tragödie und die poetische Gerechtigkeit.
1. Der Held der Tragödie muß sich durch Bedeutendheit
(Bedeutsamkeit, Gewichtigkeit, Nimbus) und Mut auszeichnen, um
den entgegen tretenden Schwierigkeiten (d. i. dem tragischen Konflikt)
gewachsen zu erscheinen.
2. Dabei braucht er in sittlicher Beziehung nicht vollkommen zu sein.
3. Das Geschick des Helden bedingt den einfachen tragischen Konflikt
oder eine sittliche Kollision.
4. Er erstrebt meist das Rechte und bewirkt das Gegenteil. Dies
ist die sogenannte tragische Jronie.
5. Der Held geht weiter, als es nach menschlicher Berechnung
klug ist. Dies führt seinen Untergang herbei und macht das Ende
tragisch.
1. Der tragische Held nimmt den Kampf mit den widrigen Verhältnissen
(d. i. dem tragischen Konflikte) auf. Aus diesem Konflikt erwachsen Leiden: verschuldete
(z. B. wenn Don Cäsar in der Braut von Messina sich tötet);
unverschuldete (z. B. wenn Jphigenia das Opfer des Gelöbnisses ihres
Vaters Agamemnon wird); physische (z. B. Maria Stuarts Gefangenschaft);
psychische (z. B. Ferdinand und Luise in Schillers Kabale und Liebe) u. s. w.
Soll uns der tragische Held nicht erbärmlich oder jämmerlich erscheinen,
so muß er sich durch Größe und Hoheit des Charakters, sowie durch Energie,
Kraft, Konsequenz, Unbeugsamkeit und Begeisterung auszeichnen, besonders wenn
er ein Repräsentant der Bildung, Sitte und Geistesthätigkeit seines Volkes sein [426]
soll. Wo seine innere Freiheit in Kampf mit der äußern Notwendigkeit tritt,
darf er keine Gefahr achten, er muß das Unerreichbare erstreben, und nicht
zurückschrecken, wenn ihm auch noch so viele Schwierigkeiten (tragische Konflikte)
in den Weg treten.
Der Prinz von Homburg von Kleist verliert zwar den Mut. Aber bald
gewinnt er den Sieg über Feigheit und über menschliche Liebe zum Leben;
er verachtet sich und erhebt sich zu einer des Helden würdigen Jdealität. Auch
bei König Lear überragt der hohe ideale Sinn die menschlichen Schwächen. ─
Uriel Akosta von Gutzkow, welcher nicht einmal aus innerer Nötigung sich untreu
wird, ist kein gelungener tragischer Held.
2. Der Held braucht nach rein moralischem Begriffe in der Tragödie
gerade nicht immer ein sittlich hoher Charakter zu sein, ebensowenig wie im
Epos. Ja, er kann sogar ein Verbrecher sein (z. B. Karl Moor, Richard III.),
sofern sein Verbrechen eine Verirrung (ἁμαρτία) ist. Der Charakter darf
weder zu schuldlos sein, um die Wehmut zu verdienen, noch zu schuldvoll für
diese. Die Tragödie will sittliche Unvollkommenheit der Charaktere; denn sie
würde der Geschichte widersprechen, wollte sie Strafe vorführen ohne Schuld
des Helden. (Calderons Standhafter Prinz ist ausnahmsweise ein Held,
welcher schuldlos leidet.) Aristoteles sagt (Poet. 13): „Zuerst ist es klar, daß
weder tugendhafte Männer aus Glück in Unglück übergehend erscheinen dürfen
(denn das erweckt weder Furcht noch Mitleiden, sondern vielmehr Unbehagen), noch
böse (schlechte) Menschen aus Unglück in Glück, (denn das wäre am wenigsten
tragisch, insofern es gar keine unserer Anforderungen an eine Tragödie erfüllt,
da es weder unser Gerechtigkeitsgefühl befriedigt, noch auch Mitleid oder Furcht
erweckt), noch endlich einen vollendeten Bösewicht, der aus Glück ins Unglück
stürzt: denn eine solche Darstellung möchte wohl unserem Menschlichkeitsgefühle
Genüge thun, aber uns weder Mitleiden noch Furcht einflößen; denn das Mitleid
richtet sich auf den, der unverdient leidet; die Furcht auf einen unseresgleichen.
Daher wird, was solchen geschieht, weder Mitleid erwecken noch Furcht.
So bleibt nur, der zwischen den bezeichneten in der Mitte ist. Das ist aber
ein solcher, der weder durch Tugend und Gerechtigkeit sich erhebt, noch durch
Laster und Verderbtheit in's Unglück kommt, sondern durch irgendwelche Verirrung
(durch einen bestimmten Fehltritt). Und zwar muß es ein Hochangesehener
und Beglückter sein, wie z. B. Ödipus, Thyestes, und sonst aus dergleichen
erlauchten Geschlechtern die hervorstechenden Männer.“ Ein tadelloser
Tugendheld oder ein vollkommener Weiser wird nicht durch seine Schuld untergehen,
da er zur rechten Zeit den Zwiespalt mit einer andern Macht durch
Entsagung seines eigenen Willens aufheben wird.
Wenn den Helden der Widerspruch zwischen Gesinnung und Verhältnissen
in seinem Streben nur nicht wankend macht, wenn er im Konflikt mit den
Verhältnissen und beim Eingreifen des Schicksals nur nicht von seinem Willen
abläßt, wenn er im Unglück, in seinen der Schuld entwachsenen Leiden nur
nicht kleinmütig sich zeigt, wenn er seine Freudigkeit nur nicht verliert, so sind
wir für ihn gewonnen und interessieren uns für ihn. Wenn wir auch schließlich [427]
das Unglück als die Folge seiner Schuld anerkennen müssen (vgl. Romeo,
der seine Schuld noch am Sarg vermehrt), so entziehen wir ihm doch unsere
Teilnahme nicht. Wir rechnen ihm diese Schuld (tragische Schuld) nicht an,
wir erklären sie vielmehr daraus, daß er die Ordnung der Dinge gestört hat,
daß er sich gegen die Gesetze einer Welt auflehnte, daß er zu viele Gegner
fand, denen er trotz seiner Energie zum Opfer fiel, daß er Unglück hatte; mit
einem Worte: wir erklären die tragische Schuld des Helden aus seiner geistigen
Anlage, aus den Verhältnissen, ohne ihn dafür verantwortlich zu machen.
3. Das Tragische, das wir I S. 100 erörtert haben, und wozu Aristoteles
schon den gewaltsamen Tod, heftigen und anhaltenden Schmerz, Verwundungen
&c. zählt, kann im Trauerspiel nur dann von Wirkung sein, wenn
es mit Notwendigkeit aus dem sittlichen Konflikt des Helden erwächst, wenn
Unglück eintritt, obgleich der Held in allen Pflichten treu ist, wenn der Strom
der äußeren Verhältnisse trotz alles ehrlichen Ankämpfens seinen Untergang
durch das schließliche Eingreifen des Schicksals bedingt, wenn die individuelle
Freiheit in Widerspruch mit höherer Naturnotwendigkeit gerät. (Beispiele: Hektor's
Untergang, Siegfried's Tod.) Wenn der Tod durch Zufall eintritt (z. B.
im Schiffbruch, im Gewitter), so kann man wohl auch von einem tragischen Ende
im gewöhnlichen Sinn sprechen, nicht aber im Sinn der Tragödie, wo der
Held in Kampf mit der bestehenden Weltordnung tritt.
Man unterscheidet in der Tragödie zunächst das Tragische des einfachen
Konflikts (z. B. Ödipus' Jähzorn. Egmonts Unschlüssigkeit) vom
Tragischen der sittlichen Kollision (Beispiele: Antigone, die mit Pietät
und Staatsgesetz, das die Bestattung des Bruders untersagte, in Konflikt gerät,
ferner Wallenstein, bei dem die Gehorsam fordernde Unterthanenpflicht den Konflikt
bedingt, ferner der Tyrann Macbeth, der alle ermordet, welche ihm unbequem
sind. Sein Eingriff in die Weltordnung führt seinen Untergang herbei,
der tragisch, wehmuterzeugend wirkt, weil er eine sittliche Bedeutung hat und
weil man sagt, daß er bei seinem Charakter so handeln mußte). Hier ist es
das Zusammentreffen von unüberwindlichen, kollidierenden Verhältnissen und
Hindernissen, also die Situation, dort der eigenartige Charakter.
4. Man nennt es tragische Jronie, wenn der Held in die Schlingen
des seiner harrenden Strafgerichts verfällt, wo er schon im Begriff ist, den
Weg der Schuld zu verlassen, wenn er das Rechte zu thun vermeint und das
Gegenteil erreicht, wenn er also das Unglück auf sein Haupt heraufbeschwört ─
gerade durch die Mittel, die er zur Abwehr ergriffen hat. Vgl. den Ödipus
in der Sophokleischen Tragödie, oder den Orestes, der die Mutter erschlägt,
um den gemordeten Vater zu rächen, und der nun als Muttermörder von den
Furien verfolgt wird. Das Tragische liegt hier in der Situation, in die der
Held gerät, indem er den Willen der Gottheit ausführt und dann doch untergeht.
Hier liegt freilich die Auffassung des Werkzeugs nahe:
Es ist die echteste Tragik, wo selbst Sühne ohne neue Pflichtverletzung
nicht mehr möglich ist. (Vgl. Pessimistenbrevier S. 299.)
5. Beim Tragischen des einfachen Konflikts geht der Charakter
durch seine Schuld unter, die tragisch und ethisch sein kann. (Beispiel
I 102.) Es beruhigt und versöhnt hierbei die Wahrnehmung einer sittlichen
Weltordnung neben der Mangelhaftigkeit menschlichen Daseins. Beim
Tragischen der sittlichen Kollision sieht man durch den Untergang des Helden
die unerbittlichen Pflichten und Forderungen einer moralischen Weltordnung
erfüllt, ersieht man die Wahrheit des Schillerschen Ausspruchs:
Eine gewisse Genugthuung (tragische Gerechtigkeit I. 101. 3; vgl. auch
den folgenden Paragraphen 157) gewährt der Hinblick auf
(Schiller.)
Es wird die Entladung von den trüben und beengenden Stimmungen
des Tages herbeigeführt, welche nur durch den Jammer und das Fürchterliche
in die Welt kommen. (Freytag, Technik des Drama, sowie Masings, die tragische
Schuld.) Wenn der Held die ihm von der Vorsehung gesetzten Schranken
überspringt, wenn er weiter geht, als es nach menschlicher Berechnung klug
oder naturgemäß erscheinen mag, so wachsen ihm die Folgen seiner That (Schuld)
über den Kopf und er wird durch innere Notwendigkeit zu einem Ausgang
fortgerissen, den er nicht ahnte: er geht unter. Daher ist das Grundgefühl
des Tragischen die Wehmut. Da die Geschichte reich an solchen Beispielen ist,
so giebt es viele historische Tragödien.
5. Wallenstein geht unter durch unbegrenzte Herrschsucht, die allerdings
in seinem Herrscherberuf Entschuldigung findet; Maria Stuart durch Unbeugsamkeit
des königlichen Sinnes, der sich nicht durch unwürdige Behandlung
erniedrigen läßt.
§ 157. Die poetische Gerechtigkeit.
Der Untergang des Helden muß der Beweis einer Gerechtigkeit
sein, welche die Schuld sühnt. Dem Fehltritte des Helden muß die
Nemesis, das Eingreifen des Schicksals, auf dem Fuß folgen.
Jn der Antigone nötigt z. B. die List der mit Strafe bedrohten Wächter
die Antigone zur wiederholten Übertretung der Staatsgesetze, wodurch ihre
Entdeckung erfolgt. Jn Maria Stuart spricht der unzeitige, für die Heldin
begangene Mordversuch gegen sie u. s. w. Die in der Tragödie eintretende
Sühne heißt poetische Gerechtigkeit. Jene Sühne des frommen Glaubens, die [429]
nicht in der Tragödie einzutreten braucht, kann man die ewige Gerechtigkeit
nennen.
Das tragische Element kennzeichnet die innere Freiheit gegenüber der
äußeren Notwendigkeit, die aber keine Naturnotwendigkeit ist, sondern
sich als unergründliche Macht des ewigen Schicksals darstellt. Es ist nicht
unbedingt nötig, daß der Held stirbt, wenn nur der Totaleindruck ein wahrhaft
tragischer ist, wenn uns nur das Gefühl erhebt, daß die große sittliche Jdee
eine Bestätigung fand. Dadurch, daß der Held sein Leben für Wahrheit und
Recht in die Schanze schlägt, wird das Jnteresse gesteigert und dem moralischen
Siege Bedeutung verliehen.
Dieser Sieg macht das Tragische der Jdee des Schönen entsprechend; er
bewirkt das Gefühl der sittlichen Läuterung durch die Wahrnehmung, daß alle
Fehltritte, aus welchen die Leiden erwuchsen, eine Sühne erhalten müssen.
Die Tragödie muß so angelegt sein, daß der Widerstreit von Verhältnissen
und Pflichten des Helden den tragischen Ausgang anschaulich herbeiführen. Die
widerstreitenden Verhältnisse verwickeln und steigern sich bis zur Katastrophe
immer mehr, bis endlich dieser tragische Ausgang die Lösung wird: „Alle
Schuld rächt sich auf Erden.“ Dieser Gedanke wirkt so gewaltig, weil
er unseren sittlichen Begriffen entspricht. Er befriedigt trotz des Untergangs
des Helden. Wer die ihm von der Vorsehung gesteckten Grenzen
mutwillig durchbrechen will, stürzt sich in Verhältnisse, die
sein Lebensglück vernichten, ja, mitunter seinen Tod herbeiführen:
Dies ist die Lehre des Trauerspiels: die Wirklichwerdung
jenes in der Menschenbrust liegenden Wunsches, daß der Mensch erntet, was
er säet, die sog. poetische Gerechtigkeit.
Der Philosoph des Pessimismus freilich, Arthur Schopenhauer, will (nach
Siebenlist a. a. O. 155 ff.) nichts von dieser poetischen Gerechtigkeit wissen;
er nennt sie ebenso Philisterei, wie Kants Postulate eines belohnenden
Gottes und einer belohnt werdenden unsterblichen Seele. Er meint, daß nur
Philister, welche an moralischem Werte Hiobs vernünftelnden Freunden gleich
zu achten seien, die poetische Gerechtigkeit erfunden hätten, damit die Tugend
doch wenigstens zuletzt etwas nütze. Nur im ungenialen z. B. Jffland'schen
Drama setze sich die Tugend zu Tische, wenn sich das Laster erbreche. Nach
Schopenhauer (II. 299 ff.) stellt bloß die glatte, optimistische, protestantischrationalistische
oder eigentlich jüdische Weltansicht die Forderung einer poetischen
Gerechtigkeit auf, während doch jeder, der etwas moralisch Ausgezeichnetes leiste,
den Lohn dafür abweise (IV. 262). Der wahre Sinn des Trauerspiels sei
die tiefere Einsicht, daß das vom Helden Abgebüßte nicht seine Partikularsünden
seien, sondern die Erbsünde, d. h. die Schuld des Daseins selbst, denn Calderon
habe recht, wenn er sage: Die größte Schuld des Menschen ist, daß er geboren
ward. Ja, Schopenhauer, dessen pessimistische Philosophie treffend als philosophisches
Requiem bezeichnet wurde, behauptet, daß alle großen Tragiker ─
Sophokles, Shakespeare, Calderon, Goethe ─ dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit
geradezu Hohn gesprochen und sie vernachlässigt hätten. „Was haben [430]
die Kordelien, die Desdemonen, die Ophelien verschuldet? Jm König Ödipus,
im Hamlet, im Lear, im standhaften Prinzen, in Egmont u. s. w. fällt der
Unschuldige, der Edle, der Tugendreiche; das Laster triumphiert: γελῶσι
δ'ἐχθροί (Soph. Elektra 1153 ed. Dind.). Und liegt nicht in dem unschuldigen
Leiden und Tod der Dejaniere die Poesie gerade darin, daß keine
wirkliche Schuld auf ihr lastet, sondern des Anscheines dieser Schuld nur so
viel, daß sie sich darum Unruhe und Angst, und daß die andern ihr darum
Vorwürfe machen? (Gruppe, Ariadne S. 188.) Und sogar Schiller läßt den
Carlos und Posa elend enden!“ A. Siebenlist betrachtet die poetische Gerechtigkeit,
die a. a. O. 177 „roh materialistische Gerechtigkeit“ genannt ist,
als einen Eindringling in den Haushalt der Tragödie, denn für die Tragödie
als der erhabensten Dichtart müsse auch die erhabenste Moral Geltung haben,
und demnach müßten Gelüste, wie z. B. die Blutrache, oder das jüdische „Aug'
um Auge, Zahn um Zahn“ in ihr verstummen; hier gelte vielmehr: „Rechtet
einer mit dir um den Mantel, so gieb ihm auch den Rock!“ und „Schlägt
dich einer auf den rechten Backen, so halte ihm auch den linken hin!“ endlich:
„Mein ist die Rache!“
Wenn wir auch diese ewig gültige, versöhnende, mit unserer Forderung
einer ewigen Gerechtigkeit im Einklang stehende Anschauung gern acceptieren,
und wenn uns auch nichts ferner liegt, als eine moralische, „protestantischoptimistische
Tragödie“ zu befürworten, so läßt doch der Hinblick auf viele
wertvolle Tragödien, welche die poetische Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen,
bei der Anschauung und der ethischen Substanz unseres Jahrhunderts die Hervorkehrung
der poetischen Gerechtigkeit unseren Tragikern für neue Schöpfungen
eindringlichst empfehlen.
Der große Lessing, der in seiner Emilia Galotti der ewigen Gerechtigkeit
Ausdruck verleiht („Dort erwarte ich Sie vor dem Richter unser Aller!“), verwirft
doch die poetische Gerechtigkeit nicht, wenn er auch sagt: „Gut, daß es
noch eine andere Gerechtigkeit giebt, als die poetische.“ Dies beweisen seine
Aussprüche z. B. im 79. Stück der hamburgischen Dramaturgie, wo er sich
über Weißes Richard III. vernehmen läßt: „Er (Richard) ist so ein abscheulicher
Kerl, so ein eingefleischter Teufel, in dem wir so völlig keinen einzigen ähnlichen
Zug mit uns selbst finden, daß ich glaube, wir könnten ihn vor unsern
Augen den Martern der Hölle übergeben sehen, ohne das geringste für ihn
zu empfinden, ohne im geringsten zu fürchten, daß, wenn solche Strafe nur
auf solche Verbrechen folge, sie auch unsrer erwarte. Und was ist endlich das
Unglück, die Strafe, die ihn trifft? Nach so vielen Missethaten, die wir mit
ansehen müssen, hören wir, daß er mit dem Degen in der Faust gestorben ist.
Als der Königin dieses erzählt wird, läßt sie der Dichter sagen: Dies ist etwas!
─ Jch habe mich nie enthalten können, bei mir nachzusprechen: nein, das ist
gar nichts! Wie mancher gute König ist so geblieben, indem er seine Krone
wider einen mächtigen Rebellen behaupten wollen? Richard stirbt doch als ein
Mann auf dem Bette der Ehre. Und so ein Tod sollte mich für den Unwillen
schadlos halten, den ich das ganze Stück durch über den Triumph seiner Bosheiten [431]
empfunden? .... Sein Tod selbst, welcher wenigstens meine Gerechtigkeitsliebe
befriedigen sollte, unterhält noch meine Nemesis. Du bist wohlfeil
weggekommen! denke ich: aber gut, daß es noch eine andere Gerechtigkeit giebt,
als die poetische!“ &c.
Vorzügliche Vertreter der poet. Gerechtigkeit waren 1. Samuel Johnson,
der s. Z. klassisch gebildete Shakespeare-Kritiker und Vorläufer der von
Siebenlist (a. a. O. 161) aufgezählten Antishakespeareomanen. 2. Julius
Frauenstädt und 3. Gottlieb Fichte, welch letzterer sich also vernehmen läßt:
„Jm Trauerspiele sind wir nicht eher befriedigt, bis wenigstens die Ehre des
unschuldig Verfolgten gerettet und seine Unschuld anerkannt, der ungerechte
Verfolger aber entlarvt ist und die gerechte Strafe erlitten hat, so angemessen
es auch dem gewöhnlichen Laufe der Dinge sein mag, daß dies nicht geschehe;
zum sichern Beweise, daß wir es nicht von uns erhalten können, dergleichen
Gegenstände, wie die Handlungen moralischer Wesen und ihre Folgen sind,
bloß nach der Kausalität der Naturgesetze zu betrachten, sondern daß wir sie
notwendig mit dem Begriffe des Rechtes vergleichen müssen. Wir sagen in
solchen Fällen, das Stück sei nicht geendigt; und ebensowenig können wir bei
Vorfällen in der wirklichen Welt, wenn wir z. B. den Bösewicht im höchsten
Wohlstande, mit Ehre und Tugend gekrönt, oder den Tugendhaften verkannt,
verfolgt und unter tausend Martern sterben sehen, uns befriedigen, wenn nun
alles aus und der Schauplatz auf immer geschlossen sein soll. Unser Wohlgefallen
an dem, was recht ist, ist also keine bloße Billigung, sondern es ist
mit Jnteresse verbunden.“ (J. G. Fichte, Versuch einer Kritik aller Offenbarung
1793, S. 48 ff.) Siebenlist (a. a. O. S. 161 ff.) weist nach, wie Schopenhauer
den „bausbackenen“ Standpunkt besonders Fichtes bekämpft, indem er
zugleich (a. a. O. 165) auszuführen versucht, daß sich auch Aristoteles im
13. Kap. seiner Poetik im allgemeinen ablehnend gegen die poetische Gerechtigkeit
verhalte u. s. w.
§ 158. Eigenartiges in der Technik der Tragödie.
1. Die Tragödie als die gewaltigst wirkende und schwierigste
Dichtungsgattung verlangt von ihrem Dichter das ernsteste Studium,
die größte Darstellungsgabe und Menschenkenntnis. Hier bewährt sich
der Ausspruch, daß der Gott der Dichtkunst zugleich der
Gott der Weisheit sei.
Alle im § 20 ff. d. Bds. (S. 29─62) gegebenen Vorschriften
sind auch für den Bau der Tragödie maßgebend. Besondere Beachtung
erfordern jedoch außerdem noch:
a. der Stoff,
b. die Entwickelung der Handlung,
c. Sprache und Form der Tragödie.
a. Der Stoff. Die Tragödie lehnt sich bei der Wahl des Stoffes
gern an den Mythus, an die Sage, an die Geschichte an. (Vgl. S. 37 d. [432]
Bds.) Am liebsten nimmt sie ein Bruchstück aus dem Leben eines hervorragenden,
hochgestellten Menschen, weil das Leben eines solchen großartigere
Verhältnisse mit sich bringt, welche Unbedeutendes übersehen lassen. Dieses
Bruchstück braucht nicht historisch treu verwendet zu werden.
Den griechischen Tragikern war Homer und seine Nachfolger (die sogen.
cyclischen Epiker) die Fundgrube für ihre Stoffe. Die Athener, die doch sonst
das Neue liebten, verlangten auf ihrer tragischen Bühne allbekannte typische
Figuren; sie wünschten alte liebgewordene historische Stoffe von Äschylus, von
Sophokles und dann von Euripides dramatisch dargestellt zu sehen.
Die ältesten deutschen Dramatiker schöpften aus der Litteratur z. B. Hans
Sachs aus der Bibel, aus Boccaccio, aus dem deutschen Heldenbuch, andere
aus der Weltgeschichte &c. Shakespeare schöpfte aus Sage und Geschichte.
Wir Deutsche seit Lessing ebenfalls. Die Anlehnung an das Geschichtliche hat
den Vorzug der Anschaulichkeit und des Jnteresses, und Jean Paul (in „Vorsch.“
S. 500) bemerkt daher treffend: „Ein bekannter historischer Charakter, z. B.
Sokrates, Cäsar, tritt, wenn ihn der Dichter ruft, wie ein Fürst ein und setzt
sein Kognito voraus: ein Name ist hier eine Menge Situationen. Hier erschafft
schon ein Mensch Begeisterung oder Erwartung.“
b. Die Entwickelung der Handlung. Die Entwickelung der Handlung
verlangt die Herbeiführung und logische Anordnung spannender Ereignisse,
sowie geschickte, psychologische Motivierung des Darzustellenden. Hierzu ist dem
Dichter eine genaue Kenntnis des Lebens ─ auch in seinen Verirrungen nötig,
sowie ein scharfes und vorurteilfreies Beurteilungsvermögen in harmonischer Verbindung
mit dem richtigen Takt und Gefühl. Maß und Würde sind hier im
eminenten Sinn zu fordern.
c. Sprache und Form. Um die handelnden Personen scharf, klar
und bestimmt zu zeichnen, ist vom Dichter der Tragödie die edelste Sprach=
und Ausdrucksweise zu verlangen. (Vgl. § 38 S. 54 d. Bds.) Der höchste
Wohllaut und Schwung einer metaphorisch blendenden, glänzenden Diktion, und
eines energisch sententiösen, in Stichomythien ergreifenden Ausdrucks ist in der
Tragödie am Platz.
Ein wesentliches Erfordernis der Tragödie ist der sogen. tragische Stil.
Derselbe verträgt keine Untermischung leidenschaftlicher Partien mit Tiraden,
sententiösen Schnörkeln und lyrischen Exkursen; es herrscht bei ihm eine dem
Schwulst (S. 54 d. Bds.) entgegengesetzte Naivetät, sowie die reinste Sprache
des Gemüts in allen Affekten und in voller Wahrheit. Er vereint die Plastizität
des Ausdrucks eines Lessing mit der malerischen Jndividualisierung eines
Shakespeare. Zur Kenntnis des tragischen Stils wie überhaupt der Eigenart
in der Technik der Tragödie ist zu empfehlen das Studium des bahnbrechenden
klaren Lessing, des freilich nicht immer theatralischen Goethe, des zuweilen
phrasenhaften, doch bewundernswerten Schiller, des talentvollen, nur hie und
da schrullenhaften Kleist, der wegen eines Fehlers (angeblicher Aberglaube)
von der Kritik verhöhnten Stücke: Müllners Schuld und Raupachs Müller
und sein Kind, des durch Vertiefung und Charakteristik imponierenden Shakespeare, [433]
des durch wunderbare Lösung der selbstgeschaffenen Verwicklungen wie
durch theatralische Technik hochbedeutenden Calderon (von dem Klein in Gesch.
d. Drama XI 18 ff. meint, daß ihm zu einem ganzen spanischen Shakespeare
der bacchische, gotttrunkene, poetische Humor fehle), des durch leidenschaftliche
Knappheit sich auszeichnenden Alfieri, des altclassischen Ödipus rex, sowie
der (besonders im Lustspiel) durch ihren intelligenten, espritreichen Dialog und
den scenischen Aufbau hervorragenden Franzosen. (Vgl. weiter unten Litteratur
der Tragödie.)
Über Lessings Sprache urteilt Aug. Lehmann (in Forschungen über Lessings
Sprache. Braunschweig 1875. Vorwort V): „Klarheit und Wahrheit, Einfachheit
und Natürlichkeit, Lebhaftigkeit, Kürze, Kraft und Kernhaftigkeit, Gewandtheit
und klangreiche Harmonie sind die Gestirne der Lessing'schen Sprache.“ Und
von Goethe bemerkt Jakob Grimm (Rede auf Schiller. Berlin. Dümmler. 1871.
S. 318) im allgemeinen: „Seine ganze Rede fließt überaus gleich und eben,
reichlich und gemessen; kaum daß ein unnötiges Wörtchen steht: Kühnheit und
Zurückhalten, Kraft und Milde, alles ist vorhanden. Hierin kommt ihm
Schiller nicht bei, der fast nur über ein auserwähltes Heer von Worten gebietet,
mit dem er Thaten ausrichtet, und Siege davonträgt, Goethe aber vermag
der schon entsandten Fülle seine Redemacht aus ungeahntem Hinterhalte,
wie es ihm beliebt, nachrücken zu lassen. Man könnte sagen, Schiller schreibe
mit dem Griffel in Wachs, Goethe halte in seinen Fingern einen Bleistift zu
leichten, kühnschweifenden Zügen. Goethe schaltet demnach in der Schriftsprache
königlich“.
Um eine Vornehmheit im sprachlichen Ausdruck zu beweisen, bedienten
sich schon J. H. Schlegel, J. W. Brawe († 1758 im Trauersp. Brutus),
Weiße, dann aber der bahnbrechende Lessing der gebundenen Rede. (Bd. I
S. 311.) Seitdem entstanden sogar auch gereimte Tragödien (z. B. Faust
von Goethe).
Schiller schreibt an Goethe bezüglich der Umarbeitung des Wallenstein
aus Prosa in poetische Form: „Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine
poetisch=rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz anderen Gerichtsbarkeit
als vorher, selbst viele Motive, die in der prosaischen Ausführung recht
gut am Platze zu stehen schienen, kann ich jetzt nicht mehr brauchen; sie waren
bloß gut für den gewöhnlichen Hausverstand, dessen Organ die Prosa zu sein
scheint; aber der Vers fordert schlechterdings Beziehungen auf die Einbildungskraft,
und so mußte ich auch in mehreren meiner Motive poetischer werden ....
Man sollte wirklich alles, was sich über das Gemeine erheben muß, in Versen
wenigstens anfänglich konzipieren.“
Der dramatische Vers der griechischen Tragödie war ─ wie S. 55 d.
Bds. erwähnt ─ der trimeter jambicus mit seinen schönen Cäsuren ⏒ – ⏑ –
⏒ ‖ – ⏑ – | ⏒ – ⏑ –. (Vgl. Aristoteles Poet. c. 4. g. E. Rhetor. 3,8.)
§ 159. Die griechische Tragödie im Vergleich mit der
unserigen.
1. Die Architektonik bei unseren Tragödien ist verwickelter und
kunstvoller, als bei den griechischen.
2. Die griechische Tragödie entnimmt ihren Stoff hauptsächlich
der Sage und Geschichte; die deutsche verwendet auch erfundene, unserer
Zeit und Sitte entsprechende Stoffe.
3. Jn der griechischen Tragödie greifen die Götter zur Herbeiführung
der Katastrophe ein, in der unserigen schafft sich der Held
sein Schicksal selbst.
4. Bei den Griechen war der Heroismus ein treibender Faktor,
bei uns ist es vorwiegend die Liebesintrigue.
5. Unsere Tragödie gestattet mehr philosophische Behandlung als
die griechische.
6. Ferner bietet sie würdigere Behandlung und Darstellung der
Personen.
7. Bei den Griechen wurde der Wert einer Tragödie, abgesehen
von ihrer Anlage und Ausführung, hauptsächlich nach ihrer Aufnahme
seitens des Publikums bestimmt, während bei uns neben ihrer Technik
die ethische Tendenz mit entscheidend ist.
1. Die griechische Tragödie, deren Grundtypus der Dithyrambus war
(§ 102 d. Bds.), zeichnete sich durch Einfachheit der Grundhandlung und
durch absichtsvolle, durchsichtige Ausführung aus. Die Griechen brauchten nicht
viel mehr zu thun, als ihre Handlung durch deren Träger geschickt erzählen
zu lassen, da ja die Helden schon an und für sich bekannt und interessant
genug waren. (S. 430 d. Bds.) Ein Held, der den Griechen von Jugend an
teuer war, hatte keinerlei künstliche Verwicklungen und geschraubte Knoten zu
seiner Einführung nötig. Die Tragödie führte ihn meist nahe am Ziele der von
ihm repräsentierten Handlung ein; die Katastrophe trat oft schon im vorletzten
Akte ein ─ man wartete nur mit begeisterter Spannung auf den letzten Akt.
─ Diese Ausführung würde man bei der deutschen Tragödie geradezu unerhört
finden. Natürlich konnten die einfach heroischen Stoffe eines Euripides und Sophokles
nichts von den Verwicklungen unserer Tragödie wissen, weil sie meist den
einfachen Zeiten entnommen waren, wo nur Freie und Sklaven, Fürsten und
Heroen verkehrten; die Verwicklung war durchsichtig, einfach; nur in Beobachtung
der Natur (vgl. Argwohn zwischen Kreon und Ödipus; Geschwisterliebe zwischen
Antigone, Polynikes und Jsmene) waren sie bedeutend, obwohl auch hier nicht
übersehen werden darf, daß ihre den einfachsten Verhältnissen entsprungenen
Beobachtungen wenig philosophisch=abstrakte Reflexionen zeigten. Schopenhauer
sagt daher mit Recht: Shakespeare ist viel größer als Sophokles; gegen Goethe's
Jphigenie könnte man die des Euripides beinahe roh und gemein finden.
(Vgl. die Darlegung Aug. Siebenlist's a. a. O. S. 359 ff., wie Schopenhauer [435]
das Trauerspiel der Neueren höher stellt als das der Alten. Besonders
S. 362: „Die griechische Tragödie ist ein lautes Weh über das Possenspiel
des Lebens und seine Nacht und Verworrenheit: Auf diesem Boden kann Glück
und Ruhe nimmermehr gedeihen, sogar nicht einmal die Pflicht erfüllt werden!
Selbst wer das Beste will, begeht trotz seines Willens Verbrechen!“)
2. Die Fabel der griechischen Tragödie ist in der griechischen
Sage und Geschichte begründet, während die deutsche Tragödie
häufig genug als Darstellung einer erdichteten Handlung nach ihrer inneren
Veranlassung anzusehen ist. Die reiche griechische Heroengeschichte machte dem
Dichter die eigene Erfindung überflüssig; er brauchte seinem gegebenen, historischen
Stoffe durch dichterische Behandlung lediglich Wert und Jnteresse zu verleihen.
Bei der griechischen Tragödie befriedigte und fesselte das durch den Stoff
und den Helden bedingte nationale Jnteresse, das die deutschen Tragödien (Tell
und einige andere ausgenommen) bis 1870 wenig kannten, weshalb wir alle
künstlichen oder künstlerischen Mittel für Erzeugung des Jnteresses anwenden
mußten.
3. Die Mittel und die treibenden Agentien bei der griechischen
Tragödie unterscheiden sich wesentlich von den unserigen. Die Griechen liebten
unvorhergesehene Ereignisse, den deus ex machina, das Dazwischentreten
höherer Wesen, wenn sie es auch verschmähten, die Götter in einer Weise in
die Handlung eingreifen zu lassen, wie es z. B. Shakespeare mit seinem Geist
beliebte. Bei den Griechen leiten und lenken die Götter das Ganze unsichtbar.
So muß z. B. Ägisth von Argos entfernt werden und Orest eben zur Zeit
ankommen, als der an Agamemnon begangene Mord gerächt werden soll. Der
nach unseren Begriffen hier waltende Zufall wird von den Griechen wie ein
schon vorhandenes Fatum angesehen. Anders ist es freilich mit Zufälligkeiten,
die zur Beschleunigung der Handlung im Laufe der Stücke eintraten.
Die Erscheinung der Götter lag in der griechischen Volksreligion begründet
und der Dichter bediente sich mit vollem Rechte des Volksglaubens, indem er
ihn der Bühne dienstbar machte. Der Fluch des Schicksals und die Vorverkündigung
wurden vom Volksglauben anerkannt. Uns fehlen Orakel und Seher,
jene Organe einer verletzten Gottheit, welche z. B. Müllner (in der Schuld)
nimmermehr durch seine Zigeunerin oder (in der Albaneserin) durch seine dämonischen
Mächte zu ersetzen imstande ist. (Nur Wallenstein liest emsig in
den Sternen und Johanna kämpft mit dem schwarzen Ritter &c.)
Unseren christlichen Begriffen von der Vorsehung widerstrebt das Walten
eines harten Verhängnisses, das selbst den Unschuldigen vernichtet, oder mindestens
sein Lebensglück zerstört. Das Erhabene, wahrhaft Befriedigende liegt
uns in der durch die Tragödie verkörperten Wahrheit, daß eine ewige Gerechtigkeit
auch den Höchstgestellten ereilt, sobald er ─ Schuld begeht, daß aber die
Jdee siegt, wenn auch der einzelne untergeht, daß Weltordnung und Gesetz
unwandelbar sind, auch wenn die Edelsten dagegen den Kampf aufnehmen
(S. 427 d. Bds.). Aber die Änderung des Lebensschicksals, die Umkehr in
andere Bahnen liegt im freien Willen des Helden. Deshalb ist unser Held [436]
freier, verantwortungsreicher, als der einer psychologischen Gestaltung wenig
fähige typische Held der Griechen, über dessen Haupt sein Schicksal schwebt.
Wir haben für Fatalismus nur Leichtsinn, Unbesonnenheit.
Die Verschiedenheit unserer tragischen Helden wird auch durch unsere christliche
Anschauung bedingt. Schopenhauer sagt in dieser Beziehung: Wie der
stoische Gleichmut von der christlichen Resignation von Grund aus sich dadurch
unterscheidet, daß er nur gelassenes Ertragen und gefaßtes Erwarten der unabänderlich
notwendigen Übel lehrt, das Christentum aber Entsagung, Aufgeben
des Wollens: ebenso zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen
unter die unausweichlichen Schläge des Schicksals, das christliche Trauerspiel
dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlassen
der Welt, im Bewußtsein ihrer Wertlosigkeit und Nichtigkeit. Es würde sich
hienach die Wirkung des antiken zu der des modernen Trauerspiels zwar nicht
völlig, aber doch beiläufig wie der Wert einer negativen zu dem einer positiven
Größe stellen. (Vgl. Siebenlist a. a. O. 42.)
4. Die Anschauungen der Griechen von dramatischer Vollkommenheit mußten
auch aus inneren Gründen von den unsrigen abweichen. Bei ihnen findet
man allenthalben Heroismus, heroische Sujets, der Schwerpunkt ihrer Katastrophen
fällt in die Staatsidee, in den Staatszweck, während bei uns die
Liebe und die Liebesintrigue als ein Hauptmotiv der Tragödie eine große Rolle
spielt. Bei den Griechen hatte das Weib eine untergeordnete Stellung, während
es uns ebenbürtige Genossin ist, so daß unsere Tragödien eine Reihe hocherhabener
Frauencharaktere aufweisen. Wie somit die Griechen die modernideale
Liebe (die Geschlechtsliebe) als treibendes Moment in der Tragödie nicht
benützen konnten, so würden sie auch eine Tragödie nicht anerkannt haben, in
welcher diese modern=ideale Liebe das belebende Agens gewesen wäre.
Gebrochene Herzen aus verschmähter Liebe würden ihnen eben geradezu unverständlich
gewesen sein. Allerdings hat Euripides in der Alkestis und im Hippolyt
eine zärtliche Gattin und ein Weib im Kampf mit Unschuld und sinnlicher
Leidenschaft vorgeführt; aber die Behandlung und dichterisch leidenschaftliche
Entfaltung unterscheidet sich doch grundwesentlich von unserer modern=deutschen,
aus dem Christentum erwachsenen Behandlungsweise.
Die Griechen besaßen große Helden mit einer gewaltigen Leidenschaft; ich
erinnere an den zürnenden Achill, den rasenden Aias, die rachebrütende Elektra
(παῖσον εἰ σθένεις διπλῆν), die alles der Pietät opfernde Antigone, die
rachesüchtige Medea &c.; aber sie besaßen aus dem obigen Grund keine Liebeshelden,
keinen Romeo, keine Julia. Siebenlist (a. a. O. S. 424) sagt: Von
Äschylos darf man behaupten, er habe nicht ohne volles Bewußtsein von den
gewöhnlichen erotischen Stoffen keinen Gebrauch gemacht. Wenigstens rechnet
er es sich bei Aristophanes sogar zum Verdienst an, niemals ein liebendes Weib
auf die Bühne gebracht zu haben. Dafür schildert er eine Abart der Liebe,
die, mag sie auch ihrer ideellen Seite nach nichts Bedenkliches haben, gleichwohl
immerhin etwas Fremdartiges an sich trägt, das dem modernen Menschen selbst
durch Paul Heyses Tragödie Hadrian, in welcher das Verhältnis dieses edlen [437]
Kaisers zu dem schönen Jünglinge Antinous dramatisch behandelt wird, bloß
um weniges näher tritt &c. Mit Recht sagt Klein (Gesch. des Drama III
536): Der griechische Kunst- und Staatsgeist konnte die Liebe nur individualisiert,
verhüllt und maskiert, gleichsam in festbegrenzten, naturbestimmten, in sich
selbst abgeschlossenen, also immer noch selbstischen Formen erschauen. Über den
Nationalitätsbegriff, den Staats- und Familienkultus, die Stammesliebe und
Freiheit, und Aufopferung für diese Liebe und Freiheit erhob sich die Menschheitsidee
der Griechen nicht. Nur unter dieser Gestalt tritt die Liebe in ihrem
Drama auf, als Haupttriebfeder und Läuterungsmotiv. Vater=, Bruder=
Schwesterliebe, Aufopferungsliebe für Staat und Stadt: darin verläuft und
erschöpft sich der tragisch=ethische Reinigungsprozeß im griechischen Drama. Die
Geschlechterliebe, selbst in ihrer reinsten Form als bräutliche und Gattenliebe,
tritt hinter jene so entschieden zurück, daß sie in der ungefälschten, großen
Tragödie nicht als Hauptmotiv wirken, nicht als heroische Leidenschaft sich
hervorstellen darf. ─
5. Bei unseren meist philosophischen Wahrnehmungen, wo Wunsch mit
Wunsch, Empfindung mit Gefühl, Leidenschaft mit verdeckter Begierde kämpfen,
gestaltet sich natürlich die Darstellung und Bearbeitung der Tragödie
philosophischer. Wir haben auch weit mehr Bedürfnis zur Menschenbeobachtung,
um das Raffinement verkehrter Bildungen verstehen zu lernen und in die
Kombination der Leidenschaft und des Affekts einzudringen, als dies bei den
Griechen der Fall war. Weiter ist unser geistiges und nationales Leben ein
so eigenartiges, daß uns dadurch schon eigene Bahnen gezogen sind. Unsere
philosophische Entwickelung drängt uns, z. B. die Leidenschaft eigenartig, typisch
zu verwerten. Die Leidenschaft an sich hat sich im Leben der Völker, im Laufe
der Jahrhunderte mit dem Streben nach Besitz, Wohlstand, Glück und Liebesgemeinschaft,
mit der Veredlung der Lebensweise und dem zunehmenden Luxus,
mit dem Emporquellen des Lasters (man betrachte den Hof eines Ludwig XIV.),
mit dem kriechenden Wesen, mit Neid und Verstellung anders entfaltet, als
das früher bei den einfachen Griechen, ja, selbst noch zur Zeit des schwelgerischen
Tiberius und seiner Nachfolger der Fall war.
Bei der griechischen Tragödie war es das Eingreifen der Götter, oder
das Handeln gottähnlicher Personen, welche den musikalischen Rhythmus, die
Deklamation, die rhetorischen Erörterungen, die Chorgesänge zwischen jedem Akte
und den ganzen feierlichen Ton der Tragödie erzeugten. Bei uns wird der
Ton und die Haltung der Tragödie durch Zeichnung der Seelenzustände, durch
psychologische Motivierung, durch philosophische Entfaltung der eigenartigen Jdeen
geschaffen. Natürlich mußten die Alten innerhalb der Grenzen des allgemeinen
bleiben, während wir bis in's Detail der Leidenschaft und Empfindung zur
Erreichung unserer Absicht vordringen können. Bei den Griechen mußte die
wenig philosophisch wirkende Tragödie dem großen Volke verständlich sein. Bei
uns kann der Dichter schon einige Schritte dem Publikum voraus sein (nach
Lessing soll er es sogar). Jn dieser Hinsicht kann man Goethe keinen Vorwurf
machen wegen der philosophischen Durchdringung seiner Jphigenie. „Jch [438]
bewundere, (sagt Manso, dem wir hier folgen), eine deutsche Jphigenie, ich
setze sie ohne Bedenken weit über die griechische, ich glaube, so würde der philosophische
Euripides geschrieben haben, wenn er in unseren Tagen gelebt hätte,
aber diese sanft gehaltenen Charaktere, diese feineren Schattierungen der Leidenschaft,
dieser hohe Adel in den Gesinnungen, diese gedankenschweren Sentenzen,
diese so abgemessenen Verse sind nicht für die trägen Herzen und blöden Augen
und dicken Ohren des Volks.“
Jch für meinen Teil zweifle nicht an der, wenn auch zukünftigen volkstümlichen
Bedeutung und Bestimmung von Kunstwerken, die das Volk auf der
augenblicklichen Bildungsstufe schwer versteht.
6. Endlich sind unsere Helden menschlicher, als die der Griechen, was
mit unserer nationalen und religiös sittlichen Bildung zusammenhängt. Menschlichkeit,
Toleranz, Versöhnlichkeit &c. sind Charaktereigentümlichkeiten unserer, die
stilleren Tugenden des Herzens pflegenden Nation geworden; den Griechen
zeichnete eine exponierte Vaterlandsliebe aus, die ihn zur Tapferkeit, zur Härte,
ja, zur Grausamkeit führte. Wenn nun die Tragödie die poetische Zeichnung
des wirklichen Lebens einer bestimmten Zeit ist, so bedingt das die Verschiedenheit
unserer und der griechischen Charaktere. Eine dem Feinde die Augen ausbohrende
Hekuba, ein Orest und eine Elektra, die kalten Herzens über den Tod
der Mutter zu Rat gehen, endlich eine Frau als Opferschlachterin &c. würden
bei unserer Anschauung geradezu widerlich wirken und dadurch unmöglich sein.
Freilich hatten es die griechischen Dichter insofern leichter, als sie durch den
bequemen Fatalismus den größeren Teil der Schuld ihrem tragischen Helden
abnahmen und den Gestirnen zuschoben. Jhr unglücklicher Held konnte auf
Teilnahme rechnen trotz seiner unnatürlichen, menschenunwürdigen Handlungsweise.
─ (Orestes, der die Mutter töten muß, erregte Mitgefühl, denn der
Gott hat ihm ja seine That befohlen und die Unterlassung mit furchtbarer Strafe
bedroht u. s. w.)
7. Während wir mit Aristoteles den Vorzug unter den Trauerspielen des
Sophokles dem König Ödipus geben, haben die Griechen den Preis der
in Anlage und Ausführung weit geringeren Antigone zuerkannt, so daß dieselbe
32mal aufgeführt wurde und dem Dichter als Lohn für die Festaufführung,
welche eigentlich gottesdienstlich war, die Befehlshaberstelle über das
nach Samos befehligte Heer eintrug.
Den Wert einer Tragödie bestimmte bei den Griechen (wie das vorstehende
Beispiel zeigt) vorzugsweise die Aufnahme und das Jnteresse des
Publikums.
Für unsere Beurteilung ist diese Aufnahme zwar auch nicht unwesentlich,
doch ist sie nicht in der obigen Weise maßgebend. Unsere Anforderungen sind
andere geworden nicht nur hinsichtlich der Technik, sondern besonders was unsere
heutigen Begriffe von Sitte, Tugend und die durch das Christentum ausgebildete
und vervollkommnete Sittlichkeit betrifft. Wir würden z. B. eine Tragödie
mit unsittlichen Tendenzen zu verwerfen haben und wenn sie den begeistertsten
Beifall des Theaterpublikums finden würde. Die griechische Tragödie [439]
mit ihrem wirkungerhöhenden, erläuternden, beifallkündenden Chor würde auch
in der äußern Darstellung bei uns keinen Erfolg mehr haben. Sie wurde am
Tage unter freiem Himmel aufgeführt. Die Darsteller trugen meist etwas entstellende
Masken, lange schleppende Gewänder, den Bühnenschuh (Kothurn von
κόθορνος). Unsere Zeit, welche lebensvolle Wahrheit verlangt, würde solche
Mummerei belächeln u. s. w.
§ 160. Die Technik der Tragödie an Schillers Wallenstein
praktisch erläutert.
Nachdem wir bereits § 35 S. 49 d. Bds. eine Tragödie nach
ihrer formellen Seite als Beispiel für den Bau des Drama analysiert
haben, erübrigt noch, eine einzelne Tragödie in ihrer Anlage und in
ihrem Werden dem Blicke klar zu legen. Wir wählen die durch ihre
kräftige Charakteristik, durch ihre großartige Bewegung geschichtlicher
Personen, wie durch ihre sich stets steigernde Energie der Handlung
hochbedeutende Tragödie Wallensteins Tod von Schiller und entwickeln
hierbei:
1. Den ihr zu Grunde liegenden geschichtlichen Stoff im Umriß;
2. Die Handlung in ihrem Verlauf;
3. Die Charakteristik.
1. Geschichtliches in der Tragödie Wallensteins Tod.
Der Held Albrecht Graf von Waldstein, Herzog von Friedland und Generalissimus
der österreichischen Armee im 30jährigen Kriege, wurde am 15. September
1583 von utraquistischen Eltern auf dem Gute Hermanik in Böhmen
geboren. Früh verwaist wurde er in das Jesuitenconvikt gebracht und katholisch
erzogen. Er bezog 1594 (nach andern 1599) die Universität Altdorf bei
Nürnberg, wo er sich durch unruhiges, jähzorniges Wesen wiederholte Karzerstrafen
zuzog. Der Markgraf Karl von Burgau zu Jnnspruck nahm ihn als
Pagen in seinen Dienst (vgl. 4. Akt 2. Auftr., wo Gordon sagt, daß er
gleichzeitig mit ihm Page am Hof von Burgau gewesen sei und hinzufügt, Wallenstein
sei dort zur katholischen Kirche übergetreten). Nach längeren Reisen durch
Frankreich, Niederlande, Deutschland &c. setzte Wallenstein seine Studien zu
Padua in Mathematik, Politik und besonders in Astrologie fort. Jm Jahre
1606 machte er einen Feldzug gegen die Türken mit und wurde Hauptmann.
Er vermählte sich mit einer reichen, bejahrten Wittwe und konnte nun als
Besitzer ausgedehnter Ländereien in Mähren und von 14 Gütern in Böhmen
am Hof des Mathias zu Wien glänzend auftreten. So warb er 200 Reiter,
um sie dem Erzherzog Ferdinand 1617 im Kriege gegen Venedig zur Verfügung
zu stellen, wofür seine Ernennung zum Obersten erfolgte. Jn den
Grafenstand wurde er 1617 erhoben, 3 Jahre nach dem Tode seiner Frau,
als er sich mit der Tochter des Grafen v. Harrach vermählte. Von den Rebellen [440]
1619 vertrieben, warb er 1000 Kürassiere und kämpfte ruhmvoll in
der Schlacht am weißen Berge (8. November 1620) gegen Friedrich V. Zur
Belohnung wie zur Entschädigung für seine verwüsteten Güter belehnte ihn der
Kaiser Ferdinand (1622) mit der Herrschaft Friedland in Böhmen und erhob
ihn 1623 zum Fürsten und 1624 zum Herzog von Friedland. Als sich 1626
König Christian V. von Dänemark an die Spitze der Protestanten stellte, rettete
Wallenstein den Kaiser aus großer Verlegenheit, indem er sich erbot, 50,000
Mann zu werben, wenn ihm die Oberbefehlshaberstelle mit der Berechtigung übertragen
würde, brandschatzen und die Anführerstellen selbst vergeben zu dürfen.
Die Soldaten ergriff ein wunderliches Grauen, wenn Wallenstein ernst
und schweigsam durch ihre Reihen ritt. Sein Anzug war fast phantastisch.
Hosen und Mantel waren von Scharlach; sein Reiterrock von Elennshaut;
sein Halskragen war spanisch gekräuselt; auf seinem Hute trug er eine rote
Feder und um den Leib eine breite rote Binde.
Der bayerische General Tilly verlangte Hülfstruppen; Wallenstein forderte
dafür Unterwürfigkeit. Der stolze Tilly verweigerte diese und erhielt die
Truppen nicht. Am 18. April 1626 schlug Wallenstein den Grafen von Mansfeld
an der Dessauer Brücke. Dieser wandte sich durch Schlesien nach Ungarn.
Wallenstein folgte ihm (3. Akt 15. Auftritt) und Mansfeld ging nach Dalmatien,
wo er starb. 1627 vertrieb Wallenstein die weimarschen Truppen
aus Oberschlesien und brach durch die Mark Brandenburg in Mecklenburg ein,
vertrieb die Herzöge, und eroberte Schleswig und Jütland. Jm Mai
1628 verlor er in fruchtlosen Stürmen auf das von Dänen und Schweden
gut verteidigte Stralsund mehr als 12,000 Mann (1. Akt 5. Auftritt: „Den
Admiralshut rißt ihr mir vom Haupt“), 1629 schloß er mit den Dänen
Frieden und lebte nun mit großer Pracht in Güstrow, wo Kepler sein Hofastrolog
war. Eine Flut von Klagen über Brandschatzungen und Erpressungen,
in neutralen Landen veranlaßte den Kaiser auf dem Reichstag zu Regensburg
1630, ihn zurückzurufen. Wallenstein, der sich in Memmingen befand, zog
sich nun auf seine Güter nach Böhmen zurück, und seine Truppen kamen unter
Tillys Oberbefehl. Als aber Gustav Adolf Fortschritte machte und die Sachsen
sich der böhmischen Grenze näherten, erhielt Wallenstein den Auftrag, Unterhandlungen
mit den Sachsen anzuknüpfen und sie vom schwedischen Bündnis
zu trennen. Nun drangen die Schweden in Bayern ein. Tilly fiel am Lech.
Wallenstein wurde bestürmt, die Oberfeldherrnwürde anzunehmen. Der Kaiser
mußte (April 1632) die demütigende Bedingung eingehen, daß er nie beim
Heere erscheinen wolle, und Wallenstein das Recht habe, frei zu schalten und
zu begnadigen, daß er beim Frieden Mecklenburg wieder erhalte, und daß ihm
während des Krieges im Notfall alle kaiserlichen Erbländer offen stehen sollten.
Schnell warb er ein Heer von 40,000 Mann (1. Akt 5. Auftritt: Es ist
leichter 60,000 Mann aus nichts hervorzulocken), eroberte im April 1632
Prag, vereinigte sich bei Eger mit den bayerischen Truppen, die sich seinen Anordnungen
fügen mußten und belagerte Nürnberg (1. Akt 5. Auftritt), wo
Gustav Adolf vergeblich sein Lager stürmte (August 1632). Nach des letzteren [441]
Abzug wandte er sich mordend und brennend nach dem Norden. Gustav Adolf
zog ihm nach und lieferte ihm am 16. November 1632 die berühmte Schlacht
bei Lützen, die Gustav Adolf das Leben kostete. Der zum erstenmal besiegte
Wallenstein mußte verwundet und mit dem Verlust seiner Geschütze das Schlachtfeld
verlassen, das die Schweden unter Bernhard von Weimar behaupteten. Jm
folgenden Jahre marschierte er neu ausgerüstet gegen Schlesien, wagte aber
nicht einmal das kleine Häuflein Schweden anzugreifen, (1. Akt 5. Auftritt),
weshalb er in den Verdacht geriet, mit den Schweden im Bund zu
stehen, um sich durch Unterstützung der Protestanten zum Könige von Böhmen
zu erheben. (1. Akt 5. Auftritt „indem er mir zur böhm'schen Kron' verhelfe.“)
Als Wallenstein am 11. Januar 1634 zu Pilsen dem versammelten
Kriegsrate seine Beschwerden gegen den Kaiser wegen mehrfacher Kontraktsverletzungen
vorgelegt hatte, und die Generäle teilweise für seine Absicht gewonnen
waren, erkannte man auf Anzeige Oktavio Piccolominis, Gallas' und
Aldringers in Wien die Gefahr. Unterm 18. Februar 1634 wurde Wallenstein
entsetzt und mit seinen beiden Generälen Jllo und Terzky geächtet. Zugleich
wurden verlässige Generäle befehligt, sich Wallensteins lebendig oder tot
zu bemächtigen. Die Verschworenen töteten ihn am 25. Februar 1634, nachdem
sie seine vertrautesten Freunde bei einem Gastmahl niedergemacht hatten.
Schweigend und mit ausgebreiteten Armen empfing er der Hellebarde tötlichen
Stoß in die Brust.
Von seinen Papieren konnte keines den Nachweis des ihm schuldgegebenen
Verrats liefern. Sein Biograph Fr. Förster will sogar seine Unschuld bebewiesen
haben.
Seine Gelder, seine Besitzungen wurden denen gegeben, die seinen Untergang
herbeigeführt hatten. ─
Wallenstein war unermüdlich thätig, ehrsüchtig, ein Feind der Geistlichkeit,
ohne Achtung vor der Religion, verschwenderisch in Errichtung von Gebäuden und
in Unterhaltung eines glänzenden Hofstaats. Nach seiner Ächtung schien er
die Vereinigung mit dem Feind gesucht zu haben, welche für den Kaiser von
unberechenbar schlimmen Folgen gewesen wäre &c. ─ Schiller hat seiner Tragödie
die beiden nicht historischen (erdichteten) Personen Max, Sohn des Piccolomini,
und Thekla eingefügt. Es sind Jdealfiguren, welche dem Ernst-Erhabenen
das sentimentale Element hinzufügen.
2. Die Handlung der Tragödie in ihrem Verlauf.
Erster Akt. Wallenstein ratschlagt im astrologischen Turme mit Seni
über sein Geschick. Alles ist günstig, Wallenstein freut sich über den Stand
des Saturn. Da beginnen bereits die Fäden seines späteren Schicksals. Terzky
meldet, daß der Unterhändler Sesina gefangen sei und alle Briefe in des
Kaisers Hand sich befänden. Um sich zu retten, müsse man vorwärts; Wallenstein
erschrickt. Noch könnte er die Freiheit des Willens beweisen, wenn nicht
alles sich zu seinem Untergang vereinigte. Der Gesandte Schwedens, Wrangel,
verlangt raschen Entschluß und bietet die Krone Böhmens. Wallenstein kann [442]
nicht mehr zurück. Er glaubt auf das Heer rechnen zu können und den Schweden
trauen zu dürfen. Doch erinnert er sich seiner Pflicht und wird wankelmütig.
Die Gräfin Terzky zeigt verlockend die Größe des Erfolgs und erinnert an des
Kaisers Undank. So spinnen sich in der Exposition die Fäden, die das Netz
bilden, um den Helden zu umstricken. Der Schritt ist geschehen, welcher Wallenstein
in's Unglück führt. Die eigentliche Tragödie beginnt.
Zweiter Akt. Max will Wallenstein retten durch ernste Warnung und
Hinweis auf die Pflicht. Es ist zu spät. Wallenstein hat mit den Schweden
abgeschlossen und Eilboten nach Prag geschickt, um von dort gegen den Kaiser
vorzugehen. Er vertraut dem Oktavio, der aber insgeheim zum Kaiser hält
und alle Pläne Wallensteins vereitelt.
Das kaiserliche Manifest, welches Wallenstein ächtet und dem Oktavio das
Kommando überträgt, führt den wankelmütigen Jsolani zur Pflicht zurück.
Den ernsten Buttler kann Oktavio dem Wallenstein nur dadurch untreu machen,
daß er ihm nachweist, wie ihn Wallenstein um den Grafentitel gebracht habe.
Dies entflammt Buttlers Rache. Oktavio ahnt dessen plötzlich entstehende
schwarzen Mord-Pläne, ohne sie zu beabsichtigen.
Max will dem Vater nicht folgen, da sein Weg der krumme sei. Er
liebt Thekla, Wallensteins Tochter, und will nur von seinem Herzen sich leiten
lassen. Den Argwohn seines Vaters Oktavio, daß er gegen ihn kämpfen könne,
widerlegt er durch die Erklärung, er werde fechtend fallen, oder die vom Vater
zurückgelassene Bedeckung aus Pilsen führen. Er vergißt, dem Vater die Abschiedshand
zu reichen, fällt ihm aber um den Hals, als dieser fragt, ob er
keinen Sohn mehr habe.
Dritter Akt. Die Terzky erblickt in der Liebe des Max zu Thekla das
willkommene Mittel, welches Max an Wallenstein unlöslich binden soll. Thekla
soll Max ermutigen, damit er für Wallenstein eintrete. Aber Thekla erbebt
vor dem Vergehen des Vaters. Dieser will nichts von der Werbung des Max
hören und ruft aus, er gedenke die Thekla nur „um ein Königsscepter loszuschlagen.“
Die Warnung der Gemahlin, er möge nicht bis in die Wolken
fort bauen, beachtet er nicht.
Hier beginnt eigentlich schon die Peripetie: der Umschlag der Handlung
zum Unglück. Die Hiobsposten lösen sich rasch ab. Buttler scheint
der alleinige Treue zu sein. Er meldet Oktavio's Verstellung, das vereitelte
Unternehmen zu Prag, den Abfall der Regimenter und die Ächtung.
Diese Mitteilung fordert Wallensteins höchste Thatkraft heraus. Er entschließt
sich mit frischer Energie zum Kampf für sein Leben. Den Freunden
ruft er Mut zu und rechnet vor, daß er mit den 5 Regimentern Terzky'scher
Truppen und mit „Buttler's wackern Scharen,“ zu denen 16,000 Schweden
am folgenden Tag stoßen würden, stark genug sei. Am meisten schmerzt ihn
Oktavio's Verrat, und er neigt sich mit um so größerem Vertrauen zu Buttler
hin, der kalt für ihn bleibt und nun seinen Fall um so sicherer vorbereitet.
Buttler sieht kaum, wie die Pappenheimer, durch Wallensteins Worte gefesselt,
schon halb für ihn gewonnen sind, als er durch die schlaue Nachricht, daß [443]
Terzky's Grenadiere die kaiserlichen Adler von ihren Fahnen reißen, sie dem
Wallenstein wieder abspenstig macht. Neue Hoffnung durch das Erscheinen des
Max. Dieser ist gekommen, Abschied zu nehmen. Wallenstein sucht ihn an
sich zu fesseln. Jn heftigem Kampfe mit sich glaubt Max von Pflicht und
Eid sich gebunden. Er ist unschlüssig und legt die Entscheidung in Thekla's
Hand. Wahrheit und Unschuld siegen. Thekla ruft: „Fort, eile, deine gute
Sache von unsrer unglückseligen zu trennen.“ Zur Entscheidung drängend
fordert ihn Wallenstein auf, den Kampf mit ihm zu wagen. Aber Max will
nur die ihm anvertrauten Regimenter wegführen; zu kämpfen mit ihm wolle
er vermeiden, denn auch feindlich sei ihm sein Haupt noch heilig. Schon rücken
die Pappenheimer vor's Schloß, um Max zu befreien; sie töten den Adjutanten
Wallensteins; und als Wallenstein vom Altan den empörten Sinn in's alte
Bette des Gehorsams zurücklenken will, da werden seine Worte durch kriegerisches
Spiel und durch ein Hoch auf den Kaiser erstickt. Ein ergreifender
Moment von tragischer Bedeutung hat sich herausgebildet. Die Truppen des
Max dringen unter klingendem Spiel in den Saal. Wallenstein giebt Max
frei und wendet ihm den Rücken. Wie schwer wird Max die Trennung! Er
fleht vergeblich: Noch einmal zeige mir Dein verehrtes Antlitz. Er wendet
sich an die Base Terzky, an die Herzogin, und zweideutigen Blickes an Buttler
mit der Bitte, ihm die Hand darauf zu geben, daß er Wallenstein's Leben
schützen wolle. Dieser zieht die Hand zurück und Jllo ruft, er möge die Verräter
in seines Vaters Lager suchen. Schmerzlich bewegt reißt er sich los;
in Verzweiflung ─ den Tot suchend ─ giebt er sich seinem Schicksal hin.
„Der Rachegöttin weih ich eure Seelen! wer mit mir geht, der sei bereit zu
sterben!“ so ruft er abgehend den Seinen zu.
Vierter Akt. Wallenstein begiebt sich nach Eger, da er sich in Pilsen
nicht mehr sicher fühlt. Den Empfang hat ihm Buttler bereitet. Das Verhängnis
rückt näher und näher. Jeden Rettungsweg schneidet Buttler ab; an
Böhmens Grenze soll Wallensteins Gestirn untergehen.
Der Kommandant Gordon, der Jugendfreund Wallensteins, will's nicht
glauben, daß dieser ein Verräter sei. Aber die Unterhaltung Wallensteins mit
dem Bürgermeister, die Gordon mit Buttler anhört, hebt seine Zweifel. Als
ihn Wallenstein mit Buttler bemerkt, spricht er unbefangen mit ihm, wie in
früherer Zeit.
Nun scheint eine günstige Wendung einzutreten. Die Schweden haben
einen unerwarteten Sieg errungen, aber gegen Max ─ und dieser ist
gefallen.
Buttler enthüllt Gordon seinen Plan. Dieser will nicht teilnehmen, bis
ihn Buttler unter Vorzeigung des kaiserlichen Manifests für die Folgen verantwortlich
macht, falls der Streich nicht vor Ankunft der Schweden geführt
sei. Bei einem Gastmahl zur Feier der anrückenden Schweden sollen Jllo und
Terzky fallen; beide sollen Wallenstein im Tode vorangehen. Nochmals sucht
Gordon das Felsenherz Buttlers zum Edelmut zu stimmen. Vergebens! Ohnmächtig
ruft er: „Jhn rette ein Gott aus Eurer fürchterlichen Hand.“ Die [444]
letzte Nacht des allmächtigen Helden ist gekommen. Noch einmal verkehrt Wallenstein
mit den Seinigen. Er fühlt Theklas Schmerz; doch hält er sie stark
genug, um die Todesnachricht aus des Boten Munde zu vernehmen; sie ─
vor kurzem noch im Glück ─ und jetzt im Übermaß des Schmerzes!
Sie ermannt sich. Die Sehnsucht nach dem Geliebten läßt den Entschluß
in ihr reifen, noch in der Nacht nach dem Kloster zu eilen, wo sein Leichnam
liege. Welchem Schicksal wird sie entgegen gehn? Dem Stallmeister, der die
Pferde schafft, kündet sie an, daß er nicht zurückkehren werde. Der Mutter sagt
sie in schmerzlichstem Bewegtsein „Gute Nacht“.
Fünfter Akt. Buttler trifft die Anordnungen für das Reifen seiner
schwarzen Pläne. Wallenstein erhofft vom nächsten Tage den Anfang neuer
Macht. Dem schwedischen Hauptmann giebt er die Versicherung, daß die
Festung dem Einzug offen stehen solle.
Hiermit hört er auf, sich in seinen Plänen als General zu zeigen. Nur
als fühlender Mensch tritt er noch auf. Er spricht wehmütig über den Tod
des Max. Er ist ruhebedürftig und will zu Bett gehen. Am Himmel ist
noch Leben; er sieht seinen Stern, den Jupiter, mit Wolken bedeckt. Seine
Schwester erzählt ängstliche Träume. Er fühlt sich trotzdem sicher und geht
ohne Waffen zur Ruhe; auch das Zerspringen der Ordenskette, des frühesten
Zeichens kaiserlicher Gunst, erklärt er plötzlich sehr vernünftig. Noch scherzt
er darüber, wie Gordon einst am Hof zu Burgau immer den Sittenrichter
spielte und wie sich seine Weisheit so schlecht bewährt habe. Seni meldet
die böse Konstellation und beschwört Wallenstein, sich den Schweden nicht
zu vertrauen. Vergebens! Schon sind die Freunde im Schloß gefallen, und
Wallenstein geht, um ─ wie er doppeldeutig sagt ─ einen langen Schlaf
zu thun.
Da naht in Buttler das schwarze Verhängnis. Gordon will diesen
zurückhalten. Der Diener mahnt, den Herzog nicht zu stören. Trompeten
erschallen. Man hält sie für schwedische. „Auf Euern Posten, Kommandant!“
donnert Buttler. Gordon stürzt hinaus. Der Kammerdiener fällt durchbohrt.
Dumpfe Stimmen, Waffengetöse, Mord: Das Schicksal hat sich an Wallenstein
vollzogen.
Angsterfüllt kommt die Terzky, welche Thekla nicht finden kann, und deren
Mann nicht zurückkehrt, um den Bruder zu suchen. Gordon stürzt herein, um
die schwarze That zu verhindern, denn nicht die Schweden sind's: Oktavio ist
eingezogen.
Da trifft ihn Buttlers eisig kaltes: „Zu spät!“ Das ganze Schloß ist in
Bewegung. Oktavio tritt ein, als eben Wallensteins Leichnam weg getragen
wird; er macht Buttler verantwortlich, der jedoch die Schuld auf ihn selbst
zurückschiebt. Die Terzky klagt ihn als den Urheber des Unglücks an und
erbittet Beisetzung des Leichnams Wallensteins in der von ihm gestifteten Karthause.
Dann sinkt sie mit den Worten nieder: „Jch habe Gift.“ Ein Kurier
erscheint und bringt dem Oktavio den Fürstenhut, ─ der ihn nicht mehr
freuen kann. Der Vorhang fällt.
Der Zuschauer hat den Eindruck, daß Auflehnung gegen göttliche
Ordnung und Sebstüberhebung die Strafe im Keime mit sich führen.
3. Die Charakteristik.
1. Wallenstein, dieser Held des vollkommensten Dramas Schillers,
ist streng genommen zu wenig handelnder General und zu viel peripatetischer,
phrasenhafter Philosoph. Er steht im Gegensatz zu dem groben, starrköpfigen,
stierhalsigen, schnurrbärtigen, kaiserlichen Generalissimus, wie er uns durch Van
Dyks Skizze und durch einen alten Stich erhalten ist. Schiller strebt kraftvoll
aus dem weichen Elemente subjektiver Empfindungskämpfe heraus, und ihm
gelang die Zeichnung der Soldateska, aber sein Wallenstein ist doch immerhin
für seine Zeit zu ideal. Er hat zwar Kraft und Selbstgefühl; aber er ist
unentschlossen. Er glaubt an die Sterne und an seine Abhängigkeit von ihnen.
Wirken und schaffen möchte er, immer weiter es bringen, nur um nicht unthätig
zu sein. Seine ursprüngliche Absicht war weder Verrat noch Abfall
vom Kaiser. Es ist ein planloses Spiel mit seiner Kraft. Jst er sich doch
bewußt, alles zu können, was er will. Jhm fehlen nicht die Bedingungen
für die weitest gehenden Pläne, die er nicht beabsichtigt; es reizt ihn lediglich,
mit der Möglichkeit des Überschreitens seiner Bahn, wie seiner Macht zu spielen.
So schaute er sich versuchsweise um nach Freunden, so begann er mit den
Schweden versuchsweise zu verhandeln. Er will nur der Mittelpunkt für alle Möglichkeiten
sein, ohne ernstlich die Abirrung von der Bahn des Rechtes zu planen. Daß
der Strudel sein Schiff mit fortschnellen könnte, dies kömmt ihm, dem willensstarken
Steuermann, nie in den Sinn. Aus keiner Äußerung geht hervor,
daß es ihm um Verrat oder Abfall zu thun sei. Jm Gegenteil: es bleibt
die Vermutung nicht ausgeschlossen, daß er die besten Ziele und Zwecke im
Auge hatte. Jm Dienste Österreichs hat er Deutschland lange Jahre hindurch
mit Krieg verheert und überschwemmt; vielleicht weidete er sich jetzt am Gedanken,
endlich für Deutschlands Ruhe und Frieden ─ und nicht aus Egoismus
─ in die Schranken treten zu können, ─ also für ein hohes, edelmenschliches
Ziel zu wirken?!
Es ist ein Vorzug großer Naturen, daß sie das auch aussprechen, was
sie denken, und daß sie selbst diejenigen Pläne offenbaren, die einer Mißdeutung
fähig sind, weil sie in ihren Thaten sich des geraden Weges bewußt sind.
Und konnte sich denn Wallenstein, der die ausgedehntesten Vollmachten besaß,
nicht wie ein Fürst fühlen, der für seine großen Pläne niemand Rede zu
stehen brauchte?
Aber es gab eine kurzsichtige Umgebung, die im Mißverständnis des
Wortgeistes ihn zur Verteidigung des Wortsinnes zwang.
Von hier an beginnt Wallensteins Abhängigkeit. Der Scherz verwandelt
sich in Ernst. Schrittweise wird Wallenstein zur That gedrängt, die er belächelt,
weil er sie nie wollte, die ihm undenkbar erscheint, weil er sich für den einzigen
Faktor der That hält, weil er die weltbewegende That ist.
So erklärt sich das Zaudern, die Unentschlossenheit dieses Schlachtenfürsten.
Alle Umstände vereinigen sich, ihn zu schieben; seine Umgebung erklärt sich für [446]
ihn; der Erfolg wird ihm als glänzend gemalt; die Schweden bieten 12,000
Mann Hülfstruppen: trotzdem zögert er. Er gefiel sich ja nur im Kokettieren
mit dem, was er vermöchte, was er aber nicht will. Die Ausführung entsetzt
ihn, und schwerwiegend ist ihm schon der Fluch der Nachwelt, die Verachtung
der Menschheit. Erst die Einsicht, daß man sein Spiel denunzierte,
und der Gedanke, daß ein schwacher Kaiser ihn richten würde, ihn, den Allmächtigen,
ja, endlich der beleidigte Stolz, Etwas eingestehen und möglicherweise
abbitten zu sollen, was er nie wollte, sowie die Überredung der Terzky, die ihn
an seinen Schwächen erfaßt und zur Rache entflammt, drängen ihn zu einem
Entschlusse, vor dem sein Herz erbebt, machen ihn zum Verräter am Kaiser,
dessen Majestät er bis zum letzten Abend nicht bezweifelt, ja, dessen Ordensauszeichnung
er noch in der Todesnacht trägt.
Hätte er den Verrat in der That geplant, so würde er schweigend genug
günstige Veranlassungen gefunden haben, sich mit den Schweden zu vereinigen.
Aber er hatte nur das Gefühl, wie ihm Anerkennung dafür gebühre,
daß er seine Gewalt nicht mißbrauche.
Wie zu seinem eigenen Erstaunen sieht er sich zur Notwehr gezwungen
und zum Kampf herausgefordert, in welchem er am liebsten gegen sich selbst
Partei nehmen möchte.
Diese Thatsache sichert ihm unsere Teilnahme, unser Mitgefühl. Denn
es ist ein Unterschied, das Verbrechen mit allem Vorbedacht geplant und ausgeführt
zu haben, oder gegen den besseren Willen in den Strudel des Verbrechens
gerissen zu werden. Wir nehmen seine Partei gegen den kalten Oktavio, dem
er sein ganzes Vertrauen geschenkt, das weder durch Warnungen, noch durch
Bitten seiner Freunde erschüttert werden kann, und wir fühlen ihm die furchtbare
Enttäuschung nach, die sein Herz trifft und ihm den Glauben an die
Menschheit rauben muß. Es berührt tragisch, diesen Glauben durch die erheuchelte
Treue Buttlers wieder aufleben zu sehen; Buttler, der doch nur durch
den Vorteil an ihn gekettet zu sein schien, teilt jetzt sein Geschick, das so wenig
versprechend erscheinen muß. Es läßt einen tiefen Blick in Wallensteins Herz
thun, wie rückhaltslos er Buttler vertraut, dem selbst Max mißtraut.
Daß er auch von Buttler betrogen wird, regt unsere Teilnahme neu an.
Wir sehen ihn durch eine Kette von Umständen zum Verbrechen geführt.
Das Unglück hat seinen Blick umdüstert. Früher hatte er Buttler durchschaut
und gegen Erteilung des Grafentitels gesprochen; jetzt traut er sich kein
anderes Urteil mehr zu, als das der Sterne. „Die Sterne lügen nicht,“
sagt er gläubig und läßt sich nicht auf Einzelheiten in Beurteilung Oktavios
und Buttlers ein.
Es schmerzt uns für Wallenstein, wie sich Max von seinem Herzen losreißt,
um so mehr, als wir sehen, wie Wallenstein im Grunde dem Scheidenden
recht geben muß. Vielleicht beneidet er Max, der blutenden Herzens
Lieb' und Freundschaft der Treue für seinen Kaiser opfert.
Der Heldentod des Max und die Wirkung auf Thekla erschüttern sein
Vertrauen auf den Sieg seiner Sache.
Aber ungebeugt fühlt er sich im Glauben an die glückverheißenden Gestirne;
hoffnungsvoll zieht er in Eger ein, das sein Grab werden soll. Ergreifend
wirkt das menschlich innige Fühlen Wallensteins. Angesichts der schlimmen
Konstellation drängt sich ihm der Gedanke an die Vergänglichkeit auf. Er
stellt Betrachtungen über den Tod des Max an. Diese Milde im Unglück
ergreift uns tief. Wir erkennen: Wallenstein ist ein Held, der ein menschliches
Herz hat, das wie das unserige empfindet, das des Lebens Lust und Leid zu
erfassen vermag. Dies zeigt der Schluß der Tragödie, und dies sichert dem
Helden unsere herzlichste Anteilnahme an seinem Unglücke zu.
Trotz aller Warnungen geht er ruhig zu Bette. Wehmütig fühlen wir
die rührende Katastrophe, und es ergreift uns die Doppeldeutigkeit der so absichtslos
gesprochenen letzten Worte mit tragischer Gewalt: „Jch denke einen
langen Schlaf zu thun.“
2. Die Gräfin Terzky. Sie ist eine hochverständige, klug berechnende,
weltgewandte Frau. Sie redet sich ein, daß es ihrem Bruder um die Krone
Böhmens zu thun sei, und weiß ihn durch alle Künste der Überredung dahin
zu bringen, gegen den Kaiser in Aufwallung zu geraten und ihre Gedanken für
die seinigen zu halten. Unermüdet ist sie den Plänen des Bruders zugethan;
sie ist überall thätig und hat einen wesentlichen Anteil am Verhältnis des
Max zu Thekla. Sie kann das tragische Ende des Bruders nicht überleben
und zeigt sich als eine wirkliche Heldin, die durch den Tod sühnt, was sie
durch ihren Anteil an der Katastrophe verschuldete.
3. Max. Ein herrlicher, großangelegter Charakter voll Kraft, Unschuld und
Reinheit der Gesinnung, voll Milde, Freundschaft und Treue. Er erscheint
wie ein guter Genius unter all den finstern Gestalten in Wallensteins unheilbringender
Umgebung. Ohne Falsch steht er den Machinationen seiner Umgebung
gegenüber da. Nicht einen Augenblick strauchelt er auf den Pfaden
der Wahrheit und des Rechts. Offenen Blicks tritt er an Wallenstein hinan
und bietet alles auf, diesen zur Pflicht zurückzuführen. Wallenstein läßt ihn
in sein Herz sehen und gesteht, daß es für ihn leider keine Wahl mehr gebe.
Da trennt sich Max blutenden Herzens.
Es zeugt von der tiefsten Kenntnis des menschlichen Herzens, wie der
Dichter den Abschied des Max von der Thekla darstellt.
Diese Scene ist von einer wunderbaren Schönheit und Gewalt. Aus
allen Versuchungen geht Max rein und siegreich hervor. Er läßt Thekla entscheiden
und diese bestärkt ihn in der Treue gegen den Kaiser. Liebe und
Pflichtgefühl kämpfen den schwersten Kampf. Aber er folgt der Pflicht und
geht ─ in den Tod, den er im Kampf mit den Schweden findet.
4. Thekla. Eine ebenso bedeutende, ja, in vielen Stücken noch wunderbarere
Figur ist Thekla. Sie ist unschuldig und wahr ─ wie Max. Dazu
hat ihr die Natur die sanften Saiten des Herzens ihrer Mutter gegeben.
Unverbildet aus der klösterlichen Erziehung hervorgegangen, ist sie tief empfänglich
für die Liebe zu Max, der ihr ganzes Herz erfüllt. Sie gelobt Treue
und übt sie; ja, sie beweist die Treue durch Aufopferung in Beantwortung [448]
der ernsten Frage des Max zu Gunsten der Rechtlichkeit und zu Ungunsten des
Besitzes der Liebe. Niedergeschmettert von der Todesnachricht des Geliebten
ermannt sich ihr Heldenherz in schmerzlichstem Gefühle, um alles zu hören,
was der Bote vom Tode des Max weiß. Jhr erschüttertes edles Frauenherz
scheint brechen zu wollen; aber der vom Vater ererbte Heldensinn veranlaßt
sie, ungesehen noch in der Nacht zum Grabe des Geliebten aufzubrechen, ─
wie es scheint, um nicht wiederzukehren, sondern am Grabe ewig mit dem Geliebten
vereint zu bleiben.
5. Wallensteins Gattin. Eine edle Erscheinung! Treu und ohne
Murren fügt sie sich in ihr Geschick. Sie hat eine Ahnung vom Unglück, nicht
aber vom Niedergang des ganzen Glücks. Da sie einmal schon die Demütigung
des Gemahls erlebt, so fürchtet sie nur, es könne wieder so werden wie nach
Regensburg, und sie beklagt, daß sodann Thekla ihre kaiserliche Pathe verloren
habe. Sie nimmt innigen Anteil am Unglück der ihr in allen Stücken
gleichenden Tochter.
6. Oktavio. Jn der Beurteilung des Charakters Oktavios darf nicht
übersehen werden, wie er es für die erste Pflicht hält, in den gewohnten Bahnen
des Herkommens fortzuwandeln und dem Kaiser das Gelöbnis der Treue zu
halten. Nicht ein gemeiner Verräter ist er, der aus Eigennutz und Ruhmsucht
Wallenstein betrügt. Wäre dies der Fall, so würde die Pointe der Handlung
nicht mehr in der Person Wallensteins gipfeln, dessen Auflehnung gegen die
bestehende Ordnung als seine eigenste Schuld seinen Untergang herbeiführen
mußte. Der Dichter stellt Oktavio höher als Buttler. Wenn er ihn auch als
des Edlen, Schönen, Hohen bar zeichnet, so läßt er ihn doch keine gemeinen,
niedrig=leidenschaftlichen Ränke anwenden. Er läßt ihn mit Geist und schlauer
Berechnung handeln. Oktavio warnt den Wallenstein nicht vor dem Abgrund,
aber er stößt ihn auch nicht hinein. Von den Schwächen der Menschen zieht
er Vorteil. Mit großer Schlauheit weiß er Buttler und Jsolani dem Wallenstein
abspenstig zu machen.
Eine Seite seines Herzens bringt ihn uns näher. Es ist seine Liebe zu
Max und sein Schmerz, ja, seine Entrüstung über Wallensteins Tod. Wir
fühlen mit ihm den Verlust des Sohnes, den ihm der Fürstentitel nicht ersetzen
kann.
7. Wrangel. Wrangels Charakter vereint klaren Blick und vorsichtige
Berechnung mit freundlichem, für den Diplomaten fast etwas zu kordialem
Entgegenkommen.
8. Terzky und 9. Jllo. Terzky steht als Mensch höher als Jllo,
welcher sich nicht ganz beherrschen kann. Jhre Genußsucht kennt nicht das
sittliche Moment der Pflicht. Sie drängen Wallenstein von That zu That.
Dieser widerspricht ihnen nicht, weil er an die Folgen nicht glaubt, weil er
die Fäden der Handlung in seiner eigenen Hand vereinigt glaubt. Die Nachricht
vom Siege der Schweden überwältigt Terzky und Jllo. Sie feiern
ein Fest und vergessen der Wachsamkeit, um Wallenstein im Tode voraus
zu gehen.
10. Jsolani. Jsolani ist das Bild der Charakterlosigkeit, der Schwäche,
der Unschlüssigkeit, der Zaghaftigkeit, des Wankelmuts.
11. Gordon. Der alte brave Gordon verbindet mit Treue gegen seinen
Kaiser wirkliche Anhänglichkeit an seinen ehemaligen Jugendgenossen Wallenstein.
Er ist ohne Entschlossenheit und Thatkraft. Zwar giebt er dem Wallenstein
genug Andeutungen nahenden Mißgeschicks, aber er wagt es doch nicht, ihn offen
zu warnen, oder gar zu retten. Er ist bemüht, den Tod Wallensteins abzuwehren
und läßt dann alles geschehen, weil er vor den Folgen erzittert, für die ihn der schlaue
Buttler verantwortlich macht. Kaum ist er weggeeilt, um den Angriff der Schweden
abzuwehren, als ihn sein Herz zurücktreibt, den Tod Wallensteins zu verhindern.
12. Deveroux und 13. Macdonald. Diese Beiden sind niedrige, charakterlose
Werkzeuge Buttlers, ─ unterthänig und servil gegen den Mächtigen, nichtswürdig
und teuflisch gegen den Wehrlosen, und wäre er ─ wie hier ─ ihr Wohlthäter.
14. Buttler. Buttler ist der eiskalte Egoist, welcher demjenigen Schurkendienste
leistet, der ihn bezahlt. Er ist treu, solange er Nutzen von seiner
Treue verspürt. Er lebt nur seinen Privatinteressen, kennt keine Dankbarkeit,
und macht aus seinem Charakter kein Hehl.
Wallenstein vereitelt seine Erhebung in den Grafenstand, weil er Buttler genau
kennt. Dieser glaubt sich vom Kaiser gekränkt und geht zu Wallenstein über.
Als er durch Oktavio den Wallenstein als Veranlassung seiner Kränkung erkennt,
verläßt er diesen und kehrt zum Kaiser zurück, um sich an Wallenstein zu
rächen. Er weiß sich in einer Weise zu verstellen, die schlecht zu seinem seitherigen
aufbrausenden Charakter passen mag. Es ist unwahrscheinlich, daß
einem so rachesüchtigen, aufwallenden Menschen, der Beobachtung vieler gegenüber,
die Verstellung in der von Schiller angegebenen Weise gelingen wird.
Auch ist nicht anzunehmen, daß er seine schwarze That mit Vernunftgründen
zu beschönigen sucht. Dies hat er nicht nötig, da er den Vorwand der
Rache mit dem Befehl der Urteilsvollstreckung decken durfte. So bezeichnet er
denn in Wirklichkeit seine Handlung als eine gute That, die Anspruch auf
Belohnung habe, da durch sie das Reich von einem furchtbaren Feinde befreit
worden sei. Sein lohnsüchtiger, egoistischer Charakter tritt in seinen Schlußworten
noch einmal zu Tage, er reise nach Wien, um den Beifall sich zu
holen, den der geschwinde Gehorsam von dem gerechten Richter fordern dürfe.
§ 161. Verschiedene Benennung und Einteilung der Tragödien.
1. Die Tragödien wurden von jeher sehr verschieden benannt und
rubriziert. Einige Schriftsteller unterschieden: a. Tragödien des besiegten
Konflikts, b. Tragödien des siegenden Konflikts, c. Tragödien
der Schuld, d. reine Tragödien, e. Tragödien der Liebe.
2. Andere teilten ein in: a. antike, b. romantische und c. moderne
Tragödien.
3. Eine mehr philosophische Anordnung scheidet in: a. Charaktertragödien,
b. Prinzipientragödien, c. Sittentragödien.
1. Die Tragödie des besiegten Konflikts ist jene Tragödie, in welcher
den Helden selbst eine verlockende Belohnung (wie z. B. Liebesglück) nicht von
seinen Grundsätzen abwendig machen kann, für die er in den Tod geht.
Jn der Tragödie des siegenden Konflikts zeigt sich der Held der Versuchung
nicht gewachsen. Dennoch ändert er sein Geschick nicht; der Konflikt
nimmt eine solche Wendung, daß der Held aus Verzweiflung oder aus Strafe
für seine Schwäche den Tod erleidet.
Jn der Tragödie der Schuld verstößt der Held entweder gegen göttliche
und menschliche Ordnung, oder er unterläßt es, mit Energie für seine
Pflicht einzutreten (Hamlet, Egmont), oder aber er wählt zwischen zwei sich
entgegenstehenden Pflichten (Max' Abschied von der Geliebten in Wallensteins
Tod) so, daß die Verhältnisse, wie sie jetzt liegen, seinen Untergang herbeiführen.
Jn der reinen Tragödie geht der Held nicht von seiner großen Sache
ab, auch wo er den Untergang voraussieht. Er kann schuldvoll oder (wie Calderons
standhafter Prinz) schuldlos sein.
Jn der Tragödie der Liebe kann der Held am Verrat der Geliebten
zu Grunde gehen, oder aber beide Geliebte fallen am Ende den sich dem tragischen
Konflikt entgegentürmenden Verhältnissen zum Opfer (Romeo und Julia).
2. Die antiken Tragödien sind bekanntlich die Tragödien der Griechen;
die romantischen haben ein Muster in der Jungfrau von Orleans, und die
modernen Tragödien haben ihre Beispiele in den Tragödien der Liebe (z. B.
Grillparzers Des Meeres und der Liebe Wellen [Hero und Leander]; Julius
Mosens Wendelin und Helene &c.).
3. Zu den Charaktertragödien zählen die Tragödien der Leidenschaft
und der einfachen Schuld (Beispiele: Othello, Macbeth).
Prinzipientragödien sind die Tragödien des sittlichen Konflikts
(z. B. Sophokles' Antigone).
Sittentragödien sind auf dem Gebiet der Tragödie dasselbe, was
der Zeitroman auf dem des Romans ist (A. E. Brachvogels Narziß).
§ 162. Unsere Einteilung der Tragödie nebst Begründung.
Als eine allen Anforderungen genügende, erschöpfende Einteilung
der Tragödie dürfte sich die nachstehende Rubrizierung der sämtlichen
Tragödien empfehlen:
I. Sagenhaft=heroische (altklassische) Tragödien;
II. Philosophische;
III. Geschichtliche oder heroische, sowie politische;
IV. Bürgerliche;
V. Moderne Schicksalstragödien.
I. Sagenhaft-heroische (altklassische) Tragödien.
Es sind dies die später (S. 456) zu erwähnenden Tragödien der klassischen
Völker. Sagenkreise sind Der Prometheus-Mythus; das mit Fluch beladene [451]
Haus der Labdakiden (Ödipodie); das verderbenbringende Haus der Pelopiden
(Orestie) &c. Vgl. § 163 S. 456 ff. d. Bds.
II. Philosophische Tragödien.
Hierzu gehören die im vorigen Paragraphen unter 3 aufgeführten Arten.
Ein Beispiel aus unserem Jahrhundert ist: Gutzkows Uriel Akosta. Goethes
Faust ist ebenso philosophische als bürgerliche Tragödie (vgl. S. 453 d. Bds.).
III. Geschichtliche oder heroische Tragödien.
Bei der historischen Tragödie braucht sich der Dichter weder sklavisch an
die Sage noch an die Geschichte zu halten, wie dies Schiller z. B. im Tell, in
Maria Stuart und in der Jungfrau von Orleans auch nicht gethan hat.
(S. 40. d. Bds.) Der Dichter darf dem Charakter und der Handlung zuliebe
nach Gutdünken abändern, wie die Sage ja auch mit den Jahrhunderten sich
ändert; ja, er muß sogar ändern, um die Begebenheiten seiner dichterischen
Jdee entsprechend zu gestalten und die Bedeutung seiner Handlung zu erhöhen.
(S. 38 d. Bds.) „Egmont“ bietet Begebenheiten, von denen die Geschichte
durchaus nichts weiß; mehr noch „Don Carlos“, dessen Charakter durch Schiller
in einer Weise idealisiert wurde, daß er nicht mehr dem geschichtlichen entspricht.
Der Dichter soll nur beim Jdealisieren weder die historische Treue der Jdee
antasten, noch auch das Kostüm (d. h. den historischen Gebrauch der Zeit, zu
denken, zu handeln, zu reden, sich zu kleiden &c., wobei er freilich nicht gerade
historische und antiquarische Gelehrsamkeit des Publikums im minutiösen Maße
voraussetzen soll).
Aristoteles (Poet. c. IX. Ausg. von Susemihl S. 75) sagt: „Es
erhellt aus dem Gesagten auch noch dies, daß nicht das die Aufgabe des
Dichters ist, das wirklich Geschehene zu berichten, sondern vielmehr darzustellen,
wie etwas geschehen kann und was möglich ist nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit
oder Notwendigkeit. Der Geschichtschreiber und der Dichter unterscheiden
sich nicht (etwa) von einander durch die Darstellung in ungebundener
und in gebundener Rede. Denn es könnte das Werk des Herodotos in Verse
gebracht sein, und es würde doch immerhin nur ein Geschichtswerk bleiben in
Versen, wie sonst ohne Verse. Vielmehr das ist der Unterschied, daß der Geschichtschreiber
darstellt, was wirklich geschehen ist, der Dichter dagegen, wie
Etwas geschehen kann. Deshalb ist denn auch die Poesie philosophischer und
erhabener, als die Geschichte; denn jene stellt mehr das Allgemeine, diese mehr
das Einzelne dar.“ Ferner (a. a. O. S. 77. 9): „Klar ist es mithin hiernach,
daß der Dichter mehr an der Fabel seine schöpferische Dichterkraft bewähren
muß, als an den Versen. Denn Dichter ist er eben vermöge der nachahmenden
Darstellung, und der Gegenstand dieser Darstellung ist die Handlung.
Andererseits aber, wenn er dabei wirklich Geschehenes darstellt, kann er nicht
minder seine schöpferische Dichterkraft beweisen. Denn es steht ja dem nichts
im Wege, daß manches von dem wirklich Geschehenen auch nach aller Wahrscheinlichkeit
so geschah, ja, gar nicht anders geschehen konnte, und indem er es
von dieser Seite her darstellt, wird er an ihm zum Dichter. &c.
(Schiller äußert über die Ansicht des Aristoteles bezüglich des Verhältnisses
des tragischen Dichters zum Geschichtschreiber in einem Briefe an Goethe
vom 5. Mai 1797: „Daß er in der Tragödie das Hauptgewicht in die Verknüpfung
der Begebenheiten legt, heißt recht den Nagel auf den Kopf getroffen.
Wie er die Poesie und Geschichte mit einander vergleicht und jener eine größere
Wahrheit als dieser zugesteht, das hat mich auch sehr von einem solchen Verstandesmenschen
erfreut.“)
Sofern die historische Tragödie an Personen anknüpft, die als Träger der
Geschichte bedeutungsvoll sind, so nennt man sie auch die heroische. Beispiele
der historischen oder heroischen Tragödie sind: Schillers Wallenstein und sein
Fiesko, sowie Goethes Egmont, Werners Attila, Raupachs Nibelungenhort,
Hebbels Nibelungen, Laubes Graf Essex, G. Büchners Dantons Tod, Julius
Mosens Cola Rienzi, Nissels Die Florentiner, Eduard von Schenks Belisar,
Gust. Freytags Die Fabier, R. Gisekes Kurfürst Moritz von Sachsen, Rud.
v. Gottschalls Herzog Bernhard von Weimar, und sein Mazeppa &c., Alb.
Lindners Die Bluthochzeit, G. zu Putlitz' Don Juan d'Austria, Aug. v. Maltitz'
Hans Kohlhas, Bernh. Scholz' Hans Waldmann, R. Prölß' Katharina Howard,
Grabbes Hohenstaufen &c. Hieher gehört auch die politische Tragödie Macchiavelli
von Elise Schmidt, sowie Osw. Marbachs Manfred der Hohenstaufe; H.
Friedrichs Servet; Roquette Die Protestanten in Salzburg; Emil Pirazzis Rienzi
der Tribun; Geibels Sophonisbe; P. Lohmanns Strafford &c.; Gregorovius' Der
Tod des Tiberius; Grosses Ynglinger &c.
IV. Bürgerliche Tragödien.
Es sind jene Tragödien, bei welchen Personen und Konflikte des bürgerlichen
Lebens die Motive bilden. Der Philosoph des Pessimismus Schopenhauer
verhält sich der bürgerlichen Tragödie gegenüber mehr ablehnend als
anerkennend, wenn er auch (nach Kuhs Hebbelbiographie II 586) Hebbels
Maria Magdalena in mancher Beziehung gelobt hat. Nach ihm müssen im
Trauerspiele nur bedeutende, hochstehende, königliche, fürstliche Personen auftreten,
deren Thun in's Große geht. Ebenso wie ein Lustspiel von Fürsten nicht leicht
gelingen könne, weil ihr Thun in's Große gehe, so glücke auch das bürgerliche
Trauerspiel nicht leicht, denn das Leben en détail sei fast immer Lustspiel,
wenn es auch noch so verdrießlich sei. Die Unglücksfälle, welche eine bürgerliche
Familie in Not und Verzweiflung setzen, seien in den Augen der Großen
und Reichen meistens sehr geringfügig und durch menschliche Hülfe, ja, bisweilen
durch eine Kleinigkeit zu beseitigen: solche Zuschauer können daher von ihnen
nicht tragisch erschüttert werden. Hingegen seien die Unglücksfälle der Großen
und Mächtigen unbedingt furchtbar, auch keiner Abhülfe zugänglich, da Könige
durch ihre eigene Macht sich helfen müßten oder untergehen. Dazu komme,
daß der Fall von der Höhe am tiefsten sei; den bürgerlichen Personen fehle
es demnach an Fallhöhe.
Dem gegenüber wendet der unparteiische Jnterpret Schopenhauers, Dr.
Aug. Siebenlist (a. a. O. S. 64), mit Recht ein, daß es ein Gebiet im [453]
Menschendasein giebt, auf dem die zahlreichen Schichten der Gesellschaft samt
und sonders gleich hoch dastehen; und auch der Abgrund, der zu ihren Füßen
gähnt, ist gleich jäh und gleich tief für sie alle. Da ist kein Stand mehr
und kein Rang; da gilt nicht die Krone, da gilt nicht der Fürstenstab. Nur
das Herz ist nötig in diesem Ringen um Glück oder Weh, um Leben oder Tod.
Und was immer Mensch heißt, hat hier Zutritt und zahlt hier mit kostbarem
Blute, das die Walstatt färbt. Mag also Schopenhauer noch so bedenklich
den Kopf schütteln, wo es sich um die bürgerliche Tragödie handelt, mag der
Stagirite die vornehme Abgeschlossenheit des Trauerspieles auf die Spitze treibend
gar die Erklärung abgeben, lediglich die auf den Höhen der Menschheit Wandelnden,
vom Schlage des Ödipus und Thyestes, und solcher, die ähnlichen
erlauchten Geschlechtern angehören (οἱ ἐν μεγάλ δόξῃ ὄντες, οἷον Οἰδίπους
καὶ Θυέστης καὶ οἱ ἐκ τοιούτων γενῶν ἐπιφανεῖς), seien im Grunde
zur Tragödie zulässig: die großen Dichter der Neuzeit haben in dieser Beziehung
durch die That alle die Skrupel und Zweifel Andersdenkender besiegt und mit
ihren Werken gezeigt, daß es Lieblinge des Unheils giebt in jedem Stande,
und in jedem Stande einen Adel des Leidens, den das Schicksal erteilt
mit wuchtigem Ritterschlag (Pessimistenbrevier 320). Lessings Miß Sara
Sampson, Schillers Kabale und Liebe, und Hebbels Maria Magdalena
sind bürgerliche Trauerspiele ─ ja, s ind Shakespeares Romeo und
Julia (Klein, Gesch. d. Drama XII 506), Goethes Stella (W. Scherer,
deutsche Rundschau 1876. IV 66 ff.) und Faust etwas anderes? ─ und
dennoch werden sie vor hoch und niedrig ihre Wirkung thun, so gut wie die
besten Tragödien, deren Kronengold und Herrscherpurpur das Auge blendet.
Ja, gäbe es bloß den einzigen bürgerlichen Faust Goethes: wie viele
Dutzende der Blaublutstragödien möchte man nicht missen für den Einzigen?
Ruht doch (nach J. J. Baumann, 6 Vorträge 1874. S. 134) der fortwährende
Zauber dieser Dichtung gerade darin, daß die Angelegtheit für das
Faust'sche Element im Menschen allen Lesern stets einwohnt.
Nachdem Siebenlist noch durch eine Reihe anderer Gründe die Gleichberechtigung
der bürgerlichen Tragödie mit der „adeligen“ dargethan, widerlegt
er auch die Einwürfe in Bezug auf die Fallhöhe, indem er ausruft: Sollte
Fausts großes Herz, sein ungestümer Lebensdrang, sein überreiches Gemüt, sein
tiefes Wissen, all seine „Philosophie, Juristerei und Medicin und leider auch
Theologie“ nicht mindestens gleich hoch postieren, als das funkelndste Diadem
aus Diamanten und Edelsteinen? Jch glaube also, für die tragische Muse sind
bloß die Leidenschaften, die Willensbewegungen vorhanden; die tragische Muse
sieht, wie Gott, nur die Herzen &c. Am meisten fällt in dieser Frage, wie
sonst, Lessings Stimme in die Wagschale, der im 14. Stück der Hamb.
Dramat. sagt: Wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit
ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen ... Man thut dem menschlichen
Herzen unrecht, man verkennt die Natur, wenn man glaubt, daß sie
Titel bedürfe, uns zu bewegen und zu rühren &c.
Von guten bürgerlichen Tragödien erwähnen wir außer den genannten [454]
noch: Goethes Clavigo; Jfflands Albert von Thurneisen; Gutzkows Volkstrauerspiel
Liesli; Bulthaupts Ein korsisches Trauerspiel; Richard Voß' Luigia Sanfelice
&c.
V. Schicksalstragödie.
Diejenige Gattung von Tragödien nennt man Schicksalstragödien,
welche die Jdee zum Ausdruck bringen, daß das Los der Menschen schon vor
der Geburt voraus bestimmt sei, so daß die besten Bemühungen, demselben zu
entfliehen, dem Untergang desto sicherer entgegenführen. Von der sittlichen Freiheit
und freien Selbstbestimmung, von der sittlichen Zurechnungsfähigkeit ist bei der
Schicksalstragödie keine Rede, wohl aber vom blinden Schicksal (fatum, Bestimmung).
Der Held leidet schuldlos für andere und verfällt seinem Verhängnis.
Diese Gattung hat daher nicht den sittlichen Wert der übrigen Tragödien,
und ist daher nicht selten als Abart (Verirrung) der Tragödie bezeichnet
worden.
Vischer sagt: „Was den Griechen normal war, ist uns abnorm; daher
ist eine moderne Schicksalstragödie eine schlechte Tragödie.“ Während man bei
den übrigen Tragödien innere Befriedigung hat, (sofern man den tragischen
Ausgang als notwendig nach den vorausgegangenen Konflikten und Kämpfen
erkennt), so ergreift bei der Schicksalstragödie eine Verstimmung und Unruhe,
ja, Entsetzen das Gemüt; denn wir wissen, es ist keine sittliche Freiheit, die
den Helden so und nicht anders handeln läßt, sondern vorausgesetzte Bestimmung,
weshalb sein Streben, seine Anstrengungen, sein edler Charakter, das
gespenstische, unheimliche Verhängnis nicht abzuwenden vermögen. Die Absicht
der Tragödie, reinigend, erhebend zu wirken, erreicht die Schicksalstragödie
nicht. Zudem steht sie ganz im Widerstreit zu unserer christlichen Anschauung
von der Gerechtigkeit einer Vorsehung.
Der Schillersche Versuch (Braut von Messina), das griechische Fatum als
tragisches Motiv zu verwerten, hat zu den modernen deutschen Schicksalstragödien
geführt, von denen Andreas Borschke im Programm des Wiener Schottengymnasiums
(1872 S. 5) ein ziemlich vollständiges Verzeichnis liefert.
Die deutsche Schicksalstragödie unterscheidet sich wesentlich von der Schicksalstragödie
der Griechen. Bei den alten Griechen war einmal ─ wie schon
früher erwähnt ─ der Fluch des dunkeln Schicksals und die Vorherverkündigung
desselben durch Orakel und Seher Sache des Glaubens und ihrer Weltanschauung,
welche ganz mit der jüdischen Strafe bis in's dritte und vierte Glied
übereinstimmt; ─ und dann war ihnen der tragische Held nicht ohne Schuld,
die er im Zustand der Freiheit begangen, und die als Mangel weiser Mäßigung
erscheint. Die Zahl der modernen Schicksalstragödien ist nicht gering.
Als die bekannteren sind zu erwähnen: Zacharias Werners († 1823)
Das Schloß an der Ostsee, Luther, Attila, Wanda, Der 24. Februar; Ad.
Müllners († 1829) Der 29. Februar, Die Albaneserin und die trefflich
gearbeitete Tragödie Die Schuld (vgl. weiter unten die Analyse); Houwalds
(† 1845) Der Leuchtturm, Das Bild, Fluch und Segen; Otto Ludwigs [455]
Der Erbförster; Hölzls Die Gräfin Osinsky; Mich. Beers († 1833) Die
Bräute von Arragonien, sowie Struensee, zu denen Beers Bruder, Meyerbeer,
begleitende Musik schrieb; besonders aber des österreichischen Schillers Grillparzers
Die Ahnfrau. Der modernen Schicksalstragödie, gegen welche Castelli
gemeinschaftlich mit Aloys Jeitteles (Der Schicksalsstrumpf) und Platen (Die verhängnisvolle
Gabel) ihre satirische Geißel schwangen, näherte sich von den Neueren
besonders Gutzkow mit seinen Tragödien Der 13. Februar, und Wullenweber.
Als typische Vertreter der ganzen Richtung sind dem Studium zu empfehlen:
Müllners Schuld, und Grillparzers Ahnfrau. Müllners Schuld hat (nach
Siebenlist a. a. O. Seite 151) folgendes Argument: „Hugo von Oerindur
hat einen Karlos auf tückische Weise getötet, um dessen Frau Elvira heiraten
zu können. Später wird entdeckt, daß die Beiden Brüder sind. Den Mord
aber bringt man damit in Zusammenhang, daß die schwangere Mutter der
Brüder einst eine Bettlerin beleidigt habe, die ihr darauf den Fluch gegeben,
der Sohn, den sie unter dem Herzen trage, solle seinen älteren Bruder umbringen.
Nun suchen Hugo und seine Gattin durch Selbstmord ihre Unthat zu
sühnen.“
Ungleich höher als diese die Menschen zu Puppen erniedrigende Tragödie
steht Grillparzers Ahnfrau. S. A. Byk versucht diese Erstlingsdichtung Grillparzers
mit dem Gesetze des tragischen Monismus in Einklang zu bringen,
indem er (Physiologie des Schönen 1878. S. 279) sagt: „Wiewohl die Ahnfrau
in Grillparzers gleichnamigem Trauerspiel die im Drama sich abspielenden
Ereignisse nicht selbst herbeigeführt hat, so können wir doch ihrer Erscheinung
die Berechtigung nicht absprechen, da erst durch sie das Spukhafte in ein Werk
ewiger Gerechtigkeit umgewandelt wird, infolge dessen die unerhörten Schicksalsschläge,
die auf einander folgenden Unglücksfälle, welche eine ganze Familie
bis auf ihren letzten Sprößling vernichten, einen ethischen Charakter gewinnen,
der uns mit ihrer Furchtbarkeit aussöhnt und die Handlung zu einem harmonischen
Ganzen abschließt. Jn dieser harmonischen Gestaltgebung liegt hier die Notwendigkeit
der gespenstischen Erscheinung. Die Erscheinung dieser ruhelos umherirrenden
Sünderin, deren verbrecherische Liebe die einzige Ursache des Unterganges
ihres Geschlechtes ist, versöhnt uns mit dem Schicksal und beruhigt
unser moralisches Gewissen. Wir begreifen, daß das Unglück, welches das
Haus der Borotin's heimsucht, weder das Werk einer mutwilligen Schicksalslaune,
noch eine unverdient verhängte Strafe ist, sondern daß sich hier ein
ethischer Reinigungsprozeß vollzieht, dessen Notwendigkeit im Wesen der ethischen
Jdee selbst liegt, die ebenso, wie die physisch=organische Natur in ihrer lebendigen
Thätigkeit, alles Unassimilierbare abstößt und entfernt.“ (Vgl. übrigens
über die Ahnfrau Gödekes Grundriß III. 384 ff. sowie Grillparzers Werke
2. Aufl. 1874 II S. 140 ff.) ─ Klarer hat schon Schopenhauer das Unterfangen,
dem bloßen, reinen, offenbaren Zufall eine Absicht unterzulegen,
einen Gedanken genannt (V 216), der an Verwegenheit seines Gleichen suche
─ einen Gedanken übrigens, der, je nachdem man ihn versteht, der absurdeste
oder der tiefsinnigste sein kann.
Manche interessante Gesichtspunkte bietet, neben Siebenlists erschöpfender
Ausführung, auch „Die moderne und antike Schicksalstragödie“ von Eugen
Heinrich Schmitt (Berlin 1874).
§ 163. Litteratur und Entwickelung der Tragödie. Der
griechische Chor. Analysen der wichtigsten Tragödien
aller Völker.
Da die klassischen Tragödien neben den englischen und spanischen
einen nachweislichen Einfluß auf die Gestaltung unserer deutschen Tragödie
ausübten und das Studium der hervorragendsten derselben, die
in guten Übersetzungen vorhanden sind, gefordert werden muß, so mußten
wir denselben die gebührende Beachtung widmen. Zum Verständnis
des Schillerschen, auf Einführung des griechischen Chors gerichteten
Bestrebens mußte dieser Chor kurz beleuchtet werden, wie auch das
Wesentliche über das Äußere der griechischen Bühne einzufügen war.
a. Griechen. Die griechische Tragödie ist aus religiöser Gelegenheitspoesie
entstanden: aus dem für die Dionysosfeste bestimmten Dithyrambus, wo
ein Chor in Verkleidung, die Sänger in Bocksfellen, an Gestalt den Bacchus
begleitenden Satyrn entsprechend, singend den Altar umtanzte. Schon frühzeitig
legte der unter den griechischen Stämmen durch geistigen Adel sich auszeichnende
Dorier die Satyrmaske ab; der dithyrambische Chor wurde würdiger;
nur die Landbewohner behielten die Vermummung bei. Zuerst wurde der
Chor durch nur einen Chorführer (ἔξαρχος) geleitet, der sich nach und nach
immer mehr vom Chor abschälte, die Thaten des Gottes erzählte, Mythen und
Sagen heranzog, um sodann sogar die Landesheroen zu feiern.
Damit waren diese dramatischen Aufführungen an dem Punkte angelangt,
wo aus ihnen die weltliche Tragödie geboren wurde. Dies geschah durch den
Attiker Thespis (540 v. Chr.), der den Dithyrambus dialogisch umarbeitete
und den Vorsänger zum Schauspieler erhob, insofern letzterer seinen Gesang
in Wechselunterhaltung mit dem Chore durch Bewegungen und mimische Geberden
begleitete. Die ernstere Seite der Dithyramben, welche zur Winterzeit die
Leiden des Dionysos beklagten, ging in die Tragödie über. Durch Peisistratos
(560─527 v. Chr.) Gunst wurde diese Art von Tragödie zum Hauptteil der
Dionysosfeier erhoben, bei welcher ein Wettstreit agonistisch von verschiedenen
Dichtern verschiedener Tragödien aufgeführt wurde.
Etwa 50 Jahre nach Thespis ließ der in seinen Werken so erhabene
Äschylus dem Erzähler nicht mehr durch den Chor antworten, sondern durch
einen Zwischenredner. Er brachte somit zwei Personen auf die Bühne, die
sich in mimischer Rede unterhielten.
Nach Äschylus kam Sophokles, der Vollender der Tragödie und der
Schöpfer erhabener weiblicher Charaktere; er führte die Tragödie in's Gebiet
des Menschlich-Schönen, ließ die durch Äschylus in's Übernatürliche gehobenen
Götter menschlicher erscheinen und hielt überhaupt Maß.
Euripides ging über ihn hinaus. Er gab der leidenschaftsvollen Entwickelung
des menschlichen Gemüts Raum und führte den Schluß zuweilen
durch besondere Hülfe (deus ex machina) herbei.
Die antike Tragödie konnte das in unserer Tragödie zu Entwickelnde
meist voraussetzen, sofern dasselbe durch Mythus und Geschichte feststehend war.
Somit bot sie nur das, was uns heutzutage Peripetie und Katastrophe bieten;
alles Übrige vermittelte der Prolog.
Der griechische Chor. Wesentlich war für die griechische Tragödie, wie
überhaupt für das griechische Drama, der Chor, der mit der eigentlichen Handlung
nichts zu schaffen hatte, vielmehr das öffentliche Gewissen zum Ausdruck
bringen sollte. Er wurde repräsentiert durch eine Reihe von Personen, welche
in dem zwischen dem Zuschauer und der Bühne befindlichen Raum ihren Platz
hatten und zuweilen die Handlung durch Gesang, Musik, Tanz &c. unterbrachen.
Seine Aufgabe war es, hinzuleiten auf die wahre und eigentliche Wirkung
der Tragödie (κάθαρσις τῶν παθημάτων); er sollte die Stimmung des
Zuschauers durch ruhiges Urteil, durch Beifalls- oder Mißfallensbezeugungen,
durch Ausdrücke der Sympathie, der Ermutigung, der Warnung &c. zeigen.
Reinkens nennt ihn daher (Aristoteles über Kunst &c. S. 261 ff.) den Anwalt
der Jnteressen des Volks, den Ausdruck der öffentlichen Meinung, oder
das öffentliche Gewissen selbst, das Schallrohr der Stimme der Götter &c.
Wenn auch bei der Geburt der Tragödie die äolische Lyrik (durch Alkäos
und Sappho) längst ihre Höhe erreicht hatte, so behielt die Lyrik im Chor doch
eine gewisse Selbständigkeit. Der lyrische Charakter des Chors (dem man zum
Beweis seiner Herkunft selbst im attischen Drama die dorische Mundart
ließ, wodurch das Eigentumsrecht der Dorer auf die chorische Poesie manifestiert
wird) liegt ebenso in der lyrischen Strophenform, als darin, daß der Chor
gewissermaßen der Ausdruck all der moralischen Effekte war, welche die Handlung
in den empfänglichen Gemütern erzeugte, wenn er sich auch zuweilen bis
zu den höchsten Höhen geistiger Anschauung erhob (Pindar). (Vgl. weiter
unten die versuchte Nachahmung des griech. Chors in Schillers Braut von
Messina.)
Äußeres. Was das Äußere in der griechischen Tragödie betrifft, so
trat zu der bereits von Thespis eingeführten Maske noch eine Fußbekleidung
mit hohem Absatz, der Kothurn, hinzu. (Vgl. S. 437 d. Bds.) Man brauchte
riesige Gestalten, wie die Götterbilder. Bei der Größe der Bühne hatte man
auch eine starke leidenschaftsvolle Stimme nötig, weshalb zur Verstärkung der
selben unter den Masken ein stimmverstärkender Schallapparat (per-sona) angebracht
wurde. Das Theater selbst war eine dachlose Arena, deren Sitze treppenartig
erhöht waren und im Halbkreise herumliefen, wie die erhaltenen alten
Theater noch heute ersehen lassen.
Von den oben erwähnten drei Haupt-Tragikern des klassischen Altertums
sind uns mehrere Tragödien erhalten worden: a. von Äschylus, der 490 v.
Chr. bei Marathon mitkämpfte, sieben Tragödien, darunter Der gefesselte Prometheus,
Agamemnon, Die Grabesspenderinnen und Die Eumeniden (letztere [458]
drei bilden eine Trilogie unter dem Namen „Orestie“, die uns von O. Marbach
und A. Oldenberg übersetzt wurde); b. von den 130 Tragödien des Sophokles
sind folgende sieben erhalten: Antigone, König Ödipus, Ödipus in Kolonos,
Elektra, Der rasende Ajas, Philoktetes und Die Trachinierinnen (unter diesen sind
die vier ersten seine Meisterwerke, welche ihn über Äschylus stellen, ja, zum vorzüglichsten
griechischen Tragiker erheben); c. von den 75 Tragödien des Euripides,
der den Zweck der Tragödie in der Erregung von Mitleid und in der
Rührung erblickte, sind 18 erhalten, z. B. Hippolytos, Alkestis, Jphigenie in Aulis
und Jphigenie auf Tauris, die Bachantinnen, Medea und Phädra, von denen
z. B. Medea, eine in der Rache ihre Befriedigung findende Zauberin, sich himmelweit
von einer Antigone, dem Jdeal einer opfermutigen Jungfrau, unterscheidet.
Äschylus ist von J. H. Voß, Fr. L. Graf zu Stolberg, Minckwitz, Donner deutsch
übertragen, welche drei letztere neben Solger, Ast, Hartung, teilweise Th.
Kayser auch Sophokles übersetzten. Ajas bearbeitete Thudichum (der Übersetzer
des ganzen Sophokles) und Gensichen. Euripides ist übersetzt von Minckwitz,
Donner, Bothe; seine Helena und sein Jon von Wieland. Auch C. Th.
Gravenhorst gab deutsch Antigone, Medea und die Äschyleische Orestie &c.
heraus. Jphigenie in Aulis bildete Schiller nach. Jphigenia auf Tauris ist
Bearbeitung Goethes. Zwei gediegene, in neuerer Zeit mit Erfolg zur Aufführung
gelangte Bearbeitungen Wilbrandts sind Elektra des Sophokles und
der Cyklop des Euripides u. a.
b. Römer. Die römische Tragödie war Nachahmung der griechischen
(ca. 150 Jahre nach Sophokles nnd Euripides) und daher von Anfang
an nicht nationalen Ursprungs. Ebensowenig diente sie religiöser Bestimmung;
sie entbehrte (mit Ausnahme des Tragikers Seneka) des Chors. Jn den
Stoffen beschränkte sie sich fast ausschließlich auf die nationalfremden troischen
Sagen &c.; sie war somit ein schwaches auf fremden Boden verpflanztes Reis,
das nie zum Baum wurde. Erwähnt werden als Tragiker: Livius Andronicus
(220 v. Chr.); Ennius, Pacuvius, Attius und Seneka, dessen 10 erhaltene
Stücke von zweifelhaftem ästhetischem Wert metrisch von W. A. Swoboda übersetzt
wurden und die einzig erhaltenen Tragödien der Römer sind.
c. Franzosen. Jodelle, der Begründer des französischen Theaters, schrieb
1552 die Tragödie Kleopatra. Der berühmte Tragiker Corneille († 1684),
schrieb 31 Tragödien, darunter Cinna, Die Horatier, Rodogune, Cid. Racine
schrieb 11 Tragödien, die Viehoff ins Deutsche übersetzte. Vgl. auch Racines
(von Schiller ins Deutsche übertragene) Nachbildung der Phädra des Euripides,
welche Nachbildung als das beste Drama der Franzosen gerühmt
wurde. Voltaire († 1778) schrieb: Ödipus, Zaïre, Mahomet, Tancrede u. a.
Viktor Hugo (geb. 1802) schrieb: Cromwell, Lukrezia Borgia und das berühmt
gewordene Drama Hernani. Sämtliche Franzosen schrieben aus Anregung der
antiken Tragödie, der Vorschrift des Aristoteles gemäß &c.
d. Spanien. Jn Spanien schloß sich der realistische, naturwüchsige
Lope de Vega in seinen historischen Dramen an die antike Tragödie an, worauf
Calderon die Romantik im Drama begründete. Lope de Vega, der [459]
bedeutendste scenische Dichter Spaniens, über den A. W. v. Schlegel nur Calderon
stellte, und der 1800 Dramen und 400 Autos sacramentales geschrieben
haben soll, lieferte Tragödien, von denen mehrere zur Bearbeitung für die
deutsche Bühne benützt wurden (z. B. von Zedlitz „Stern von Sevilla“). Von
Lope de Vegas Tragödien sind mehrere deutsche Übersetzungen vorhanden (vgl.
Spanisches Theater von Moritz Rapp Bd. 3─4 1869). Sein oben erwähnter
Stern von Sevilla wird als seine beste Tragödie gerühmt. (Jnhalt: Estrella,
die Schönste aller Schönen, der Stern von Sevilla genannt, lebt in Sevilla, beschützt
von ihrem Bruder Bustos, als Braut des Ortiz, eines edlen Jünglings.
König Sancho bewirbt sich um ihre Liebe. Ortiz und Bustos sind dagegen,
weshalb der König den Vasallen Ortiz an seinen Hof beruft mit dem Auftrage,
denjenigen Ritter zum Zweikampf zu fordern, den ein versiegeltes Blatt
bezeichnen werde. Es ist Bustos. Ortiz unschlüssig zwischen Freundes= und
Vasallenpflicht gehorcht seinem Könige und tötet Bustos. Estrella schmückt sich
zum Empfang des Bräutigams, aber der Spiegel zerbricht und der Fingerring
springt. Bange Ahnung steigt in ihr auf, als man den Leichnam des Bruders
bringt. Jhr Verlangen nach Blutrache befriedigt der König durch Überreichung
des Kerkerschlüssels. Verschleiert naht sie Ortiz und ist verwundert, daß er
seine That durch seine Vasallenpflicht rechtfertigt und die Befreiung zurückweist.
Er wird zum Tode verurteilt, aber der König begnadigt ihn. Estrella will
nicht die Gemahlin des Brudermörders werden. Daher zieht Ortiz in den
Krieg gegen die Mauern und findet den Tod auf dem Schlachtfelde.)
Calderon († 1681) lieferte 108 Jntriguenstücke, heroische Komödien,
historische Schauspiele und Tragödien. („Das Leben ein Traum“, mehrfach
übersetzt, wurde durch die Romantiker eingeführt, ebenso „Die Andacht zum Kreuz“
und Calderons Meisterwerk „Der standhafte Prinz“.)
e. England. Das altenglische Theater, das unter Elisabeth und Jakob
I. zur Blüte gelangte und durch den Riesengeist Shakespeare eine epochebildende
Bedeutung erhielt, befleißigte sich der größten scenischen Einfachheit, um
eine gewaltige Kraft der Charakteristik und eine imponierende Höhe der Weltanschauung,
wie Kenntnis des menschlichen Herzens zur Entfaltung zu bringen.
Neben dem griechischen wurde das Shakespeare'sche Drama die Hauptform für
unser deutsches Drama.
William Shakespeare (1564─1616), der Dichter der Leidenschaft
und der bedeutendste Tragiker der neueren Litteratur, hat alle Beweggründe
des Menschenherzens dargelegt; und da dieses Menschenherz, abgesehen von
vermehrter Bildung der Jahrhunderte, in seiner Leidenschaft sich immer gleich
bleibt, so wird Shakespeare für alle Jahrhunderte von Bedeutung sein. Von
ihm gilt, was sein Cassius zum Brutus über Julius Cäsar sagt:
Von seinen, durch Schlegel, Ortlepp, Bodenstedt, Baudissin und Dorothea
Tieck u. a. ins Deutsche übersetzten Tragödien sind hervorzuheben:
1. „Romeo und Julia.“ (Romeo, der Sohn Montagues, erscheint
verkleidet auf dem Maskenball Capulets, wo er die einzige Tochter Capulets,
Julia, kennen lernt und in Liebe zu ihr erglüht. Die Liebenden beschließen, da
die Väter sich hassen, heimlich vom Franziskaner Lorenzo sich trauen zu lassen.
Ein unglücklicher Zufall zwingt Romeo zum Kampf und zur Ermordung des
Vetters seiner Julia. Er wird verbannt und Julia soll zur Verbindung mit
Graf Paris gezwungen werden. Auf Lorenzos Rat nimmt sie einen, den
Scheintod für nur zwei Tage bewirkenden Schlaftrank. Julia wird für tot
gehalten und in der Familiengruft beigesetzt. Die Todesnachricht erfährt Romeo,
bevor ihn Lorenzo benachrichtigen konnte. Er eilt herbei, dringt in die Gruft, tötet
den begegnenden, ihm unbekannten Paris, worauf er sich nach rührendem Abschied
vor der Leiche vergiftet. Jetzt erwacht Julia. Unendlicher Seelenschmerz erfaßt
sie, als sie das Giftfläschchen sieht; sie tötet sich mit einem Dolch. Nun erscheinen
die Montagues und Capulets und schließen vor den geliebten Toten Frieden.)
2. „Hamlet, Prinz von Dänemark,“ wohl die bedeutendste Tragödie
Shakespeare's. (Claudius, König von Dänemark, vergiftet Hamlet's Vater
und ehelicht dessen Wittwe. Da erscheint dem Hamlet des Gemordeten Geist
und fordert Rache. Unter dem Schein des Wahnsinns verbirgt Hamlet seinen
Racheplan. Trotzdem schickt ihn der argwöhnische König nach England und
befiehlt seine Ermordung. Hamlet findet den Befehl, wird darauf von Seeräubern
gefangen, freigegeben und kehrt nach Dänemark zurück. Der König reizt
nun Laërtes, den Sohn des von Hamlet getöteten Polonius zur Fechtprobe (Wettkampf)
mit Hamlet, da Laërtes während der Probe leicht sein stumpfes Rapier
gegen ein scharfes vergiftetes vertauschen könne, während der König außerdem
einen vergifteten Becher Wein für Hamlet bereit hält. Hamlet wird nach
2maligem Sieg verwundet; er verwundet aber auch, nachdem im Durcheinanderwerfen
die Rapiere verwechselt waren, den Laërtes. Da stirbt die Königin,
welche aus dem Giftbecher getrunken, und der sterbende Laërtes gesteht nun
seinen und des Königs Verrat. Hamlet durchbohrt den König und stirbt mit
den Worten: der Rest ist Schweigen.)
3. „König Lear.“ (König Lear will sein Reich unter seine 3 Töchter
Goneril, Regan und Cordelia teilen, dabei aber diejenige bevorzugen, welche ihn am
meisten liebe. Die beiden älteren falschen Töchter heucheln Liebe und erhalten
das Reich; die jüngere, treuliebende Cordelia, welche ihre Liebe nicht äußern
kann, wird enterbt und verstoßen. Sie geht zum Gemahl nach Frankreich.
Bald zeigt sich die Schlechtigkeit der älteren Töchter, indem sie dem Vater das
nötige Einkommen vorenthalten. Er spricht einen gräßlichen Fluch über sie
aus und irrt nun wahnsinnig auf öden Heiden umher. Cordelia stellt sich an
die Spitze eines vom Gemahl erbetenen Heeres. Sie wird nebst ihrem Vater
gefangen genommen und erdrosselt. Aus Gram stirbt König Lear auf ihrer
Leiche. Doch das Geschick ereilt auch die Schwestern: Goneril vergiftet Regan
und tötet sich selbst. So ist der Fluch des Vaters in Erfüllung gegangen.)
4. Macbeth, 5. Othello, 6. Richard III., 7. Julius Cäsar,
8. Coriolan u. s. w. Sie sind sämtlich Repertoirstücke unserer deutschen Bühnen &c.
f. Jtalien. Als italienische Tragiker von Verdienst sind zu nennen:
Nicolini, Manzoni und besonders Alfieri († 1803), welcher 21 von Rehfues
und Tscharner in's Deutsche übersetzte Tragödien schrieb, von denen Maria
Stuart, Orest, Virginia, Abel und Agamemnon die bekanntesten sind &c.
g. Deutschland. Jn Deutschland, wo die ersten Anfänge im Drama
(nach Tacitus in Germania cp. 24) auf theatralische Aufführung von Waffentänzen
zurückzuführen sind und wo nur die hochgelehrte Äbtissin Rhoswitha um
980 sechs dem Terenz in lat. Sprache nachgebildete Lustspiele schrieb, ging
die Tragödie wie bei den Griechen aus dem religiösen Kultus (aus Passionsspielen)
hervor, welche das Leben und Leiden des Erlösers erzählten und in
den 3 letzten Tagen der Charwoche erzählend aufgeführt wurden. Jn diesen
epischen Mysterien war die tragische Stimmung vorherrschend. Das erste,
lateinisch geschriebene Mysterium stammt aus dem 12. Jahrhundert. Das Volk
hatte ein gewisses Schaubedürfnis; es mußte Christus zum Kreuze wanken sehen.
Jm folgenden Jahrhundert mischte man deutsche Strophen ein. Überwiegend
wurde in den Mysterien die deutsche Sprache im 14. Jahrhundert. Jm 15.
Jahrhundert wurde die Mysterie überall auf den Märkten und in Kirchen aufgeführt
(I. 49).
Das Studium der klassischen Litteratur führte zu Versuchen in der Tragödie.
Besonders Hans Sachs, der 55 Tragödien schrieb, wurde der Schöpfer
der deutschen Tragödie wie des deutschen Drama überhaupt. Gryphius und
Lohenstein im 17. Jahrhundert gaben sodann der Tragödie anerkennenswerten
Aufschwung.
Gryphius (I 51) schrieb mehrere Tragödien.
Lohenstein noch mehr. Des Letzteren Trauerspiele können trotz der Jnschutznahme
Kerckhoffs (v. Lohensteins Trauerspiele &c., Paderborn 1877) weder
nach Jnhalt und Art der Bearbeitung noch hinsichtlich ihres poetischen Gehalts
gepriesen werden. Man vgl. nur wenige Verse aus der Kleopatra:
Klopstock schrieb biblische und nationale Tragödien (z. B. der Tod Adams);
v. Cronegk lieferte die Preistragödie Codrus (I. 54); Wieland schrieb Lady
Johanna Gray &c.
Aber erst Lessings, des genialen Verfassers der Hamburger Dramaturgie,
Tragödien waren epochebildend. Lessing brach mit den alten Traditionen.
Jhm folgten Schiller und Goethe, die sich dem Einfluß der antiken Tragödie [462]
noch nicht ganz zu entziehen vermochten (vgl. Schillers Braut von Messina
und seine Übersetzung der Jphigenie in Aulis von Euripides, Goethes Nachdichtung
der Jphigenie in Tauris &c.) und von denen Goethe die Aufmerksamkeit
unseres Volks durch Egmont auf das echt deutsche historische Trauerspiel
lenkte, während Schiller die Tragödie durch den romantischen idealen
Charakter, den er ihr verlieh, zur höchsten Höhe emporhob.
Um eine Anregung zum poetischen Studium der bedeutendsten Tragödien
unserer Litteratur zu geben, und um deren litterargeschichtliche Bedeutung zu
zeigen, führen wir unter Verweisung auf Lessings Miß Sara Sampson und
Emilia Galotti lediglich die bedeutendsten Tragödien Schillers und Goethes durch
präzise Analysen ein.
Die Verschwörung des Fiesko, von Schiller. Mit diesem republikanischen
Trauerspiel eröffnet Schiller die Reihe jener historischen Tragödien,
die des Dichters dauernden Ruhm begründeten. Jn demselben bringt er seinen
Freiheitsdrang zum Ausdruck. Das Stück, durch rasche Beweglichkeit, Glanz
und Kraft der Charaktere ausgezeichnet, stellt den Verstand in den Kampf mit
den bestehenden Verhältnissen. Es behandelt als Stoff die Geschichte von der
Verschwörung des Fiesko gegen die Dorias in Genua im 16. Jahrhundert.
Der Held Fiesko, auf die Dorias eifersüchtig, besonders auf den Neffen des
Andreas, Johann Doria, sucht durch eine Verschwörung der Herr Genuas zu
werden. Die Verschworenen sind im Vorteile; Johann Doria fällt; Herzog Fiesko,
indem er über ein Brett gehen will, um eine Galeere zu besteigen, wird von
Verrina, dem Rächer der Freiheit, in's Meer gestoßen ─ und ertrinkt.
Kabale und Liebe, von Schiller. Dieses bürgerliche Trauerspiel ist
wie das vorige von revolutionärem Geiste durchweht, indem der Dichter der
moralischen Verderbtheit höherer Stände den Adel der Seele in niederen Ständen
entgegenstellt. Es ist reich an schönen Einzelheiten, verliert aber, abgesehen
von der noch nicht immer gewählten Sprache, durch unnatürliche Charakterzeichnung,
wie auch durch den unversöhnten Schluß.
Jnhalt: Der Präsident von Walter sucht mit Hülfe seines Haussekretairs
Wurm das Liebesverhältnis seines Sohnes Ferdinand zu Luise, der Tochter des
Stadtmusikus Miller, zu lösen. Durch erweckte Eifersucht gelingt der Plan;
Ferdinand vergiftet sich und Luise. (Vgl. S. 39 d. Bds.)
Maria Stuart, von Schiller. Schiller bietet in der Heldin Maria
Stuart (S. 40 d. Bds.) einen ungewöhnlichen Charakter, welcher Kraft genug
zeigt, ungeheure, namenlose Leiden zu ertragen. Jhre menschlichen Fehler:
Sinnlichkeit, gekränkte Eitelkeit, von denen sie schon in früheren Jahren zur
Zeit ihrer Regentschaft befangen ist, haften ihr auch noch im Kerker an. Wir
sehen sie hier ringend mit dem Unglücke. Unterstützt von religiösem Gefühl,
sucht sie das Unglück zu bewältigen und geht endlich nach vierteljähriger Gefangenschaft
mit sanfter Demut und rührender Ergebenheit als Heldin ihrem
unvermeidlichen Schicksal, dem Tode entgegen.
Die Jungfrau von Orleans, von Schiller. Der Dichter zeigt sich
in dieser romantischen Tragödie, die den Anfang der modernen Romantik bildet, [463]
auf dem Standpunkte des Katholizismus, weshalb er von Seiten der Protestanten
manche scharfe Kritik ertragen mußte. Jhre Grundlage bildet die Befreiung
Frankreichs von der englischen Herrschaft durch Aufopferung der heldenmütigen
Jungfrau von Orleans, Johanna d'Arc. Schiller hat, um eine
romantische Tragödie zu schaffen, Personen wie Ereignisse sehr idealisiert und
die Heldin mit dem Reize des Phantastischen und Wunderbaren in hohem
Grade umgeben.
Die Braut von Messina, von Schiller. Diese Tragödie machte
den Versuch, den antiken griechischen Chor in unsere Litteratur einzuführen.
Aber die Chöre, welche Schiller für den einheitlichen Chor der Griechen bietet,
reflektieren viel zu viel und unterbrechen handelnd die Handlung (z. B. wo
der Chor für die feindlichen Brüder mit gezücktem Schwert Partei nimmt),
eine Ungehörigkeit, die Schiller mit Platen teilt, indem auch letzterer seinen
Chor in die Handlung hinein- oder aus ihr herausreden läßt; ich erinnere an
Die verhängnißvolle Gabel, wo der Jude Schmuhl Mantel und Bart von sich
wirft und ─ bis an den Bühnenrand vortretend ─ als Chorus erscheint,
welche Demaskierung ─ um Chor sein zu können ─ fünfmal bei den Aktschlüssen
vorkommt, die durch sog. Parabasen oder Reden des Dichters an's
Publikum markiert werden. Die griechische Tragödie hatte den Chor als Eischale
vom Dithyrambus her behalten; unsere Tragödie hat keinen solchen Ursprung,
folglich auch kein Bedürfnis für den störenden Chor, der, soweit er an der Handlung
sich beteiligt, überhaupt aufhört, Chor im antiken Sinne zu sein. (S. 457 d. Bds.)
Jmmerhin ist Schillers Braut von Messina durch den Versuch eines Chors
eine interessante Litteraturerscheinung, die freilich trotz großer, erhabener Gedanken
und glänzender Sprache gerade deswegen weniger Glück als die andern Stücke
des Dichters machte. Eigentümlich ist in dieser Tragödie auch das Auftreten
von drei Religionen (der christlichen, griechischen und maurischen), was aber
dadurch zu rechtfertigen ist, daß alle drei auf diesem Tummelplatze der verschiedensten
Völker (Sicilien) heimisch waren. Den Jnhalt des Trauerspiels
bildet der durch ein dunkles Verhängnis erfolgte Untergang eines altsicilianischen
Fürstenhauses.
Clavigo, von Goethe. Das Trauerspiel, dessen Charaktere bis auf
den unnatürlich charakterlosen Helden des Stückes gut gezeichnet sind, ist reich
an Effekt. Goethe zeigt uns im Helden Clavigo einen Schriftsteller und königlichen
Archivar in Madrid, der ein Verhältnis mit der schönen und tugendreichen
Maria Beaumarchais anknüpft. Clavigo, von seinem Freunde, dem
weltlich gesinnten Carlos verleitet, ist durchaus wankelmütig und verläßt seine
Braut, um eine glänzendere Partie zu suchen. Mariens Bruder kommt nach
Madrid, um seine Schwester zu rächen. Marie unterliegt dem Grame und
der Aufregung, bevor das geschehen. Clavigo, ihrem Leichenzuge begegnend,
wird an Mariens Sarge von ihrem Bruder erstochen.
Egmont, von Goethe. Das in schöner Prosa geschriebene Trauerspiel,
dessen Stoff der Geschichte des Abfalls der Niederlande entnommen ist, bringt
treffende Bilder niederländischen Lebens aus damaliger Zeit. Zu beklagen ist, [464]
daß dem Egmont als Helden die Fülle der sittlichen Kraft fehlt und Brakenburg
in seinem ganzen Wesen zu sentimental geschildert ist. Jnhalt: Egmont,
ein ritterlicher Held, ein treuer Vasall, Heiterkeit und Freiheit liebend, glücklich
und geehrt, sorglos und liebeselig, strebt für die Freiheit. Jnfolge des
Leichtsinnes, mit welchem er des vorsichtigen Oranien Warnung verachtet, stürzt
er in sein Verderben. Der grausame Herzog Alba vollstreckt das Schicksal;
doch stirbt der Held im tröstlichen Bewußtsein, ein Opfer der Freiheit zu sein.
Jhm gegenüber steht das mit verehrender Schwärmerei zum Geliebten aufblickende,
einfache, reizend naive Clärchen, das bereit ist, für den Gefangenen
alles zu wagen und zu dulden. Goethe's Charakterzeichnung des Clärchen ist
von unerreichter Schönheit u. s. w.
Eine eigenartige geschichtliche Färbung erhielt die deutsche Tragödie durch
die Dramatiker der Romantik (I. 59), ferner durch die Repräsentanten des
jungen Deutschland (I. 61), endlich durch die im vorigen Paragraphen aufgeführten
Schicksalstragiker.
Jn unserer Zeit sind die meisten bedeutungsvollen Tragödien in die Rubrik
der deklamatorischen Jambentragödie zu zählen, die sich an Lessing und Schiller
anlehnt und deren Vertreter wir I § 18 z. B. S. 66. 77 &c. verzeichnet haben.
Neben ihnen sind noch ─ soweit dies nicht bereits im Text der §§ 154─163
geschehen ist ─ als Tragödiendichter der Gegenwart zu nennen: Julius Mosen
(Cola Rienzi; Otto III); Gensichen (Danton); Jensen (Dido); Frau Charlotte
v. Stein-Kochberg (Dido); Geibel (Brunhild); Fr. Hebbel (Nibelungentrilogie);
Gregorovius (Tod des Tiberius); Ferd. Kürnberger (Catilina); Tempeltey
(Klytämnestra); Alb. Schmidt (Marfa); R. Bunge (Desiderata, Nero &c.);
O. Devrient (Tiberius Gracchus); Haeger (Grandisson); Ed. Lobedanz (Hulda);
Kastropp (Helene); Jordan (Die Wittwe des Agis); O. Girndt (Dankelmann);
Mosenthal (Pietra &c.); Arth. Müller (Der Fluch des Galiläi; Geächtet &c.);
Ludw. Eckart (Palm, ein deutscher Bürger); Ad. Wilbrandt (Nero; Kriemhild;
Arria und Messalina); Karl Thomas (Samson); Johannes Petersen (Der
schwarze Graf); Mart. Greif (Nero); Die Marquise von Brinvilliers von
Conrad (Pseud. f. Prinz Georg v. Pr.); Köster (Ulrich von Hutten); Alex.
Rost (Friedrich mit der gebissenen Wange); W. Genast (Bernh. v. Weimar);
Feod. Wehl (Herman von Siebeneichen &c.); Grosse (Tiberius); Heyse (Elfriede,
Graf Königsmark); H. Bürger (Die Florentiner); v. Gottschall (Arabella Stuart;
Kath. Howard &c.); Arth. Fitger (Die Hexe &c.); F. Dahn (König Roderich);
Bodenstedt (Kaiser Paul); O. Roquette (Der Feind im Hause); Paul Möbius
(Bar Kochba); Rob. Waldmüller (Brunhild); G. Köberle (Der Löwe von Béarn);
Peter Lohmann (Masaniello, Savonarola; Appius Claudius &c.); Faust Pachler
(Begum Sumro); Fr. Halm (dasselbe [Begum Sumro] nach der Novelle La
Begorn Sombre); F. v. Saar (Heinrich IV. Tod); Häbler (Liebes-Geschick);
Alfr. Meißner (Reginald Armstrong); Rogge (König Manfred); Kinkel (Nimrod);
Kruse (Die Gräfin &c.); Koberstein (Erich XIV.); Murad Efendi (Selim III.);
Wichert (Otto III.); Marie v. Ebner-Eschenbach (Maria Roland; Maria Stuart &c.);
Heydrich (Gracchus); H. Herrig (Alexander); Hedrich (Kain) u. a.
§ 164. Schauspiel (Drama).
1. Schauspiel ist diejenige dramatische Dichtung, welche zwischen
Tragödie und Komödie in der Mitte steht, indem sie zwar einen an
die Tragödie erinnernden ernsten Charakter hat, dabei aber einen glücklichen,
versöhnenden Ausgang nimmt. Der Held schafft sich sein Schicksal
selbst; er verläßt entweder den zum Unglück führenden Weg, oder
er besiegt die feindlichen Verhältnisse.
2. Von der Tragödie unterscheidet sich das Schauspiel daher besonders
durch den glücklichen Ausgang. (Vgl. Paul Heyses Schauspiel Elisabeth
Charlotte, das bis zum Schluß den Charakter der Tragödie behält.)
3. Schauspiele gab es schon im Altertum; man zählte sie jedoch
zu den Tragödien.
4. Die Franzosen nennen das Schauspiel Tragikomödie.
5. Schauspiele waren die sog. Staats- und Hauptaktionen &c.
1. Das Schauspiel (in der allgemeinen Bezeichnung das eigentliche
Drama, ─ bei Hans Sachs hieß es Spiel) schließt sich an die Tragödie
an, weil es ebenfalls wie diese den Ernst des Lebens darstellt. Es bildet
den Übergang zum Lustspiel (Komödie). Vom Trauerspiel unterscheidet es
sich zunächst dadurch, daß der Held der interessanten Begebenheit nicht untergeht,
sondern die Fähigkeit und den Charakter besitzt, seine zum Unglück führende
Laufbahn zu ändern und seinem Untergang zu entgehen. Wenn seine That
vielleicht sein Unglück bereitet, so geht diese wohl aus dem Drange der Verhältnisse
hervor, aber nicht aus der inneren Notwendigkeit seines Charakters.
Wo in der Tragödie die Notwendigkeit, das Verhängnis herrscht (wie in dem
Lustspiel der Zufall und die Willkür der Jntrigue), da waltet im Schauspiel
die Freiheit der Selbstbestimmung.
2. Oft ist es nur der Schluß, der das Schauspiel von der Tragödie
unterscheidet, der siegende Held im Gegensatz zum untergehenden.
Jn diesem Falle verdient das Drama tragisch genannt zu werden; denn es
stellt sich der endliche Sieg einer guten Sache als Werk der sittlichen Weltordnung
dar, welche den Helden durch Leiden führt, in denen er als ein
nicht schuldloses, vielmehr der Prüfung und Läuterung ausgesetztes Werkzeug
derselben erscheint. Dieses tragische Drama ist daher gewissermaßen als Unterart
der Tragödie aufzufassen. Goethes Tasso und seine Jphigenie, die der
Dichter selbst Schauspiele nennt, könnten nach Stoff und Behandlung mit allem
Recht als Tragödien bezeichnet werden; ebenso Schillers Räuber; Alex. Rosts
Volksschauspiel Ludwig der Eiserne oder das Wundermädchen aus der Ruhl,
besonders aber das erwähnte Schauspiel von Heyse: Elisabeth Charlotte u. a. Jm
Schauspiel geht der Held als Sieger aus dem Kampfe hervor, nicht wie in der
Tragödie als gebrochen, in demütiger Ergebung ausgesöhnt. Er hat die Macht
gehabt, die widrigen Verhältnisse zu bekämpfen. Auch war sein Kampf nicht, wie
in der Tragödie dies der Fall ist, ein Kampf gegen ewige Gesetze des Rechts [466]
und des Gefühls, sondern vielmehr gegen das Unrecht oder einen nicht in der
Notwendigkeit liegenden Widerstand. (Jch weise nur auf Wilhelm Tell hin.)
Nicht durch fremde Elemente (deus ex machina), sondern durch den Verlauf
der Handlung wird im Schauspiel die Lösung motiviert.
3. Eigentliche Schauspiele mit versöhnendem Schluß finden wir schon bei
Äschylus (die Oresteia, wo die Eumeniden durch Lossprechung des Orestes vor
der lichten Macht des Bewußtseins zurücktreten), bei Sophokles (Philoktet,
Ödipus auf Colonos und Ajax, wo der Held seine Verirrung durch freiwilligen
Tod sühnt und die Ehre des Begräbnisses gewinnt); Euripides (Jphigenia in
Tauris. Den Knoten löste hier ein Gewaltakt der Gottheit, wodurch die Wendung
zum Guten herbeigeführt wurde).
Einen Unterschied zwischen Tragödie und Schauspiel kannten die Alten nicht;
sie nannten merkwürdigerweise auch das Stück mit versöhnendem Ausgang Tragödie.
4. Die Franzosen (z. B. Corneille für seinen Cid) erfanden das Wort
tragicomédie statt tragicocomédie. (Später nannte Corneille seinen Cid
tragédie.) Gutzkow hat auffallenderweise die Bezeichnung Tragikomödie für sein
Drama Nero in 10 Bildern adoptiert. Hebbel suchte diesen Titel für eine
Gattung, wie sein „Trauerspiel in Sicilien“, einzubürgern.
5. Eine Abart des Schauspiels waren früher die extemporierten, nach
einer Skizze aufgeführten sog. Staats- und Hauptaktionen, welche Züge aus
dem Leben bedeutender Staasmänner in einer gewissen Abgemessenheit darstellten,
so daß sie häufig dem Lustspiele verwandt waren, ja, in dasselbe
übergingen.
Beispiele: Als Muster des Schauspiels sind außer den oben genannten
zu bezeichnen: Shakespeares Maß für Maß, Cymbeline, Der Kaufmann von
Venedig; Schillers Räuber, und sein Tell; Goethes Jphigenie, und sein Götz
von Berlichingen; Kleists Prinz von Homburg; Spielhagens Liebe um Liebe;
Krug von Niddas Heinrich der Finkler; Hertz' skandinavisches Drama König
Renés Tochter, u. a. im folgenden Paragraphen genannte.
§ 165. Einteilung der Schauspiele.
Bei der Verwandtschaft des Schauspiels mit der Tragödie unterscheidet
man fast dieselben Arten von Schauspielen wie von Tragödien.
(§. 161 d. Bds.)
Dazu kommen noch einige im Schauspiele mit Vorliebe gepflegte
Formen.
Wir führen nachstehend die charakteristischen Arten vor.
1. Klassische Schauspiele. (Beispiele s. §. 164. 3.)
2. Philosophische Schauspiele. (Beispiele: Goethes Faust, Lessings
Nathan, G. v. Meyerns Ein Kaiser, und das von Bernh. Hirzel aus
dem Sanskr. und Prakrit metrisch übersetzte Drama Prabodhatschandrodaja
von Krischnamisra &c.)
3. Geschichtliche, heroische, politische Dramen. (Beispiele:
Schillers Tell, Demetrius &c.; Ponholzers Bonifaz, der Apostel der Deutschen;
Bodenstedts Boriß Godunoff; R. Gisekes Ein Bürgermeister von Berlin;
P. Heyses Colberg; Raupachs Die Hohenstaufen (10 Dramen) und die Trilogie
Cromwell; Ludw. Wesenfelds Der Fall von Metz; Bärmanns König
Kanut u. a.; besonders aber Shakespeares König Johann, dessen König Heinrich
der Sechste; König Heinrich der Achte; König Richard der Dritte &c.)
4. Bürgerliche Dramen. Man nennt diese Dramen, deren Begebenheit
dem bürgerlichen Leben entnommen ist, wohl auch Familiendramen.
Dieselben gewähren meist nur einen beschränkten Eindruck, weil die bürgerlichen
Verhältnisse nur geringen Einfluß auf das Allgemeine und Große ausüben
und auch für die Helden selbst bei den gewagtesten Entschlüssen wenig zu befürchten
ist. Für diese bürgerlichen Schauspiele ist der Kothurn der Tragödie
zu erhaben und der Soccus der Komödie zu hoch.
Beispiele: Goethes Die Geschwister; Gutzkows Herz und Welt, Ottfried;
Jfflands Jäger; Kotzebues Familienstücke; Fritz Brentanos Die Weber von Lyon
u. s. w.
5. Zeitdramen. Zu diesen dürfen wir auch die Sittenschauspiele und
die socialen Schauspiele rechnen. Beispiele: A. Friedrichs Übersetzung des
Pariser Sittenschauspiels Le Demi Monde von Dumas Sohn; Die sociale
Frage von Gustav von Hoven; Unsere Sklaven von Sacher-Masoch &c.
6. Die Volksschauspiele. Es sind dies jene Dramen, die ihre Figuren
dem Volksleben entlehnen und mit ihrer Begebenheit im Volke wurzeln. Beispiele:
Das trefflich gearbeitete Drama Raupachs Der Müller und sein Kind;
Mein Leopold von L'Arronge; Der Biberhof von Märzroth; Deborah von
Mosenthal; Ein Excommunizierter von Heinr. Jantsch u. a.
7. Die Ritterschauspiele. Es giebt deren eine höhere und eine
niedere Richtung. Die erstere ist vertreten z. B. durch Kleists romantisches
Käthchen von Heilbronn (vgl. auch Babos Rittertrauerspiel Otto von Wittelsbach).
Letztere Richtung ist eine Zwittergattung und steht der Posse näher als
dem Schauspiel. Seinem ernsten Stoffe und seiner Anlage nach gehört das
niedere Ritterschauspiel zu den Schauspielen, während ihm seine Ausführung,
die Mittel der Darstellung und die Wirkung den Charakter der Posse verleihen.
Die bekanntesten haben Lauer, Kopal, Pocci, Holbein geschrieben. Zur Charakterisierung
genügt die einfache Titel-Wiedergabe: a. Liebe kann Alles,
oder: Sie kriegen sich! Pyramidales Ritterschauspiel zu Fuß und zu Pferde
mit Gesang, Tanz und Lanzenbrechen in 2 kurzen, angenehmen Aufz. von
K. A. Lauer. b. Kunigunde von Wolfenbüttel, oder: Die Liebe ist die
Wurzel alles Übels, oder: Das Turnier zu Pferde. Ein niedlich=romant. Ritterschauspiel
in 1 Aufz. und 2 Verwandlungen. Musik und Gesang von K. A.
Lauer. c. Der Ohrenbalsam des Eremiten, oder: Der ungehörte Vaterfluch, oder:
Des Backenstreiches Fluch und Segen. Ein ritterl. Schauspiel mit Gesang, Tanz,
Gefecht und Feuerwerk in 2 Aufz. und 1 Vorspiele von Gust. Kopal. d. Die
stolze Hildegard, oder: Asprian mit dem Zauberspiegel. Großes Ritterschauspiel [468]
in 3 Aufz. von Franz Pocci. e. Kasperls Heldenthaten von Pocci. f. Das
Turnier zu Kronstein von Franz v. Holbein u. s. w.
§ 166. Litteratur des Schauspiels nebst Analyse und
Würdigung hervorragendster Schauspiele.
Die Aufzählung der Dramatiker fremder Litteraturen kann hier
unterbleiben, da die im § 162 genannten Tragiker auch die besten
Schauspiele geschrieben haben. Wir beschränken uns darauf, von den
in Deutschland berühmt gewordenen Schauspielen aus fremden Litteraturen
durch Mitteilung präziser Analysen zum Studium zu empfehlen:
1. das spanische Schauspiel: König Wamba, 2. das indische: Sakuntala,
3. das französische: Dora.
1. König Wamba von Lope de Vega. (Deutsch von Moritz Rapp
u. a. Halm vollendete 2, nunmehr gedruckte Akte.)
Dieses von allen Gebildeten studierte Schauspiel, welches zur Zeit der
Romantik unbestrittenen Einfluß auf die Entwickelung unseres deutschen Drama
übte, ist für Gewinnung eines weiten Blicks in die Technik beachtenswert. Es
läßt sich erkennen, daß alle in Romanzen mit spanisch gläubiger Reliquienverehrung
aufbewahrten Einzelzüge aus dem Leben des gotischen Bauern Wamba,
welcher Spaniens König wurde, benutzt wurden; deshalb ist dieses Stück zugleich
von Wert, um neben der Technik des Drama den spanischen Volksgeist
kennen zu lernen: die Empfindungswelt, den Fanatismus, den komischen,
katholischen Aberglauben des Spaniers. Man kann sagen, daß der Zuschauer
bei diesem Drama die Handlung in thätigem Genuß selbst mit weiter spinnt.
Spanien war nach des frommen Königs Regiswind Tode in Anarchie versunken.
Der Papst, an den sich das ungläubige Volk wandte, erteilte den
Deputierten den Rat, ein Bäuerlein zum König zu wählen, das sie mit zwei
Stieren von gleicher, bestimmter Farbe am Pfluge antreffen würden. Sie gehen
heim ─ und finden den Bauern Wamba. Der Bauer wird nun ein Tyrann
und kommt schließlich durch Erwig, eine Donna Blanca, und den Magier
Mujaravo elendiglich um's Leben. Unvorbereitetes Unglück folgt dem unvorbereiteten
Glück ─ das ist die Lösung. Alle spanisch=volkstümlichen Züge sind
in das Drama aufgenommen, z. B. daß Wamba das Wort mosaie nicht hören
kann, weil es an Moses und die verhaßten Juden erinnert. Auch ist im
Charakter Wambas das Jdyllische mit verzwickter Bauernschlauheit vereint.
Lope hat sein Jahrhundert gezeichnet, wie es war. (Das hat auch der
große Dramatiker Calderon gethan, weniger aber Cervantes, der in
anderen Beziehungen über seine Nation und seine Kunstgenossen hinausreichte.)
2. Sakuntala von Kalidasa. (Für die deutsche Bühne bearbeitet
von Wolzogen.)
Die erste Bekanntschaft mit Sakuntala verdanken wir William Jones.
Auf seiner Übersetzung (Works of Jones VI. p. 209, 1789) beruht zunächst
die deutsche Übersetzung von Forster. Eine gelungene, metrische Bearbeitung [469]
von Sakuntala lieferte ferner Wilh. Gerhard (Leipzig 1820). Den Bearbeitungen
von Lobedanz (1851) und Meier (Stuttg. 1852) folgte die Übersetzung
Rückerts (Nachlaß 1867), worauf A. Donsdorf und Wolzogen
Sakuntala (mit geringem Erfolg) für die deutsche Bühne bearbeitet haben.
Das Drama bietet die zarteste Schicksalsfabel und gehört durch Glut der
Phantasie und Mannigfaltigkeit der farbenreichsten Bilder zum Besten, was die
indische Poesie geliefert hat und welches in wahrhaft Goethe'scher Vollendung
sich uns vor die Augen stellt. Es ist eine Episode aus dem Mahâbhârata
und wird dem indischen Calderon, Kalidâsa, zugeschrieben. Dieser blühte unter
der Regierung Wikramâditja's, von welchem die indische Zeitrechnung sich herschreibt,
und der „den neunfachen Perlenschmuck“ ─ die ausgezeichnetsten Geister
seines Volks ─ um sich versammelte. Kâlidâsa war also ein (nur etwas älterer)
Zeitgenosse der römischen Dichter Vergil, Horaz, Tibull und Properz, sowie sein Gebieter
ziemlich gleichzeitig mit dem Diktator Cäsar regierte. Er hat auch das Drama
Urwasî (eigentlich Vikramorwasi == Tapferkeits-Urwasi) geschrieben, das von
Wilson in's Englische und von Höfer (Berlin 1837) in's Deutsche übersetzt wurde.
Jnhalt von Sakuntala: Der König Duschianta verirrt sich auf der Jagd
in die Einsiedelei Kanwa's. Hier sieht er die Büßerjungfrau Sakuntala, vermählt
sich mit ihr nach Gandharverweise und übergiebt ihr einen Ring mit
dem Versprechen, sie abholen zu lassen. Als sie später, in Gedanken versunken,
einen Einlaß begehrenden Brahmanen einzulassen versäumt, flucht dieser, Duschianta
möge sie vergessen und sie nur wieder bei Anblick seines Ringes erkennen.
Kanwa sendet Sakuntala zu Duschianta; da verliert sie beim Baden
den Ring. Der Fluch wirkt. Duschianta will sich trotz versuchten Auffrischens
seiner Erinnerung nicht entsinnen, sie gesehen zu haben. Als sodann ihre Mutter,
die Fee Menaka, sie entführt hat, bringt ein Fischer dem Könige den Ring, und
Duschianta wird nun von Sehnsucht nach seiner Gemahlin fast verzehrt. Der
Wagenlenker Jndra's fährt ihn endlich zu ihr ─ nach dem Lustorte Jndra's, wo
die Nymphen und unschuldig Verfolgten wohnen. Hier gewahrt er zuerst seinen
Sohn, der mit einem Löwen spielt; dann findet er Sakuntala, deren Verzeihung
er erbittet, worauf er beglückt mit ihr in sein Reich zurückkehrt.
3. Dora von V. Sardou. (Deutsch von Schilcher.)
Dieses gut übersetzte, zum deutschen Repertoirestück gewordene espritreiche
Schauspiel ist mehr als andere geeignet, das Geheimnis eines wirksamen Bühnendramas,
eines das heutige Publikum begeisternden französisch=theatralischen Stückes,
erkennen zu lassen.
Sardou, der im Ganzen satirisch angelegte Dichter, verstand es in diesem
Stücke, das er, im Gegensatz zu anderen Dichtern, denen der Salon nur Versammlungsort
ist, aus dem Salon emporsprießen läßt, aus anekdotenhaften mosaikartig
verwebten Bildern der ersten Akte die Handlung erstehen zu lassen. Dabei unterscheidet
sich das Stück durch sein ethisches Prinzip vorteilhaft von der üblichen
Frivolität des französischen Konversationsspiels, obwohl es auf dem nicht zu verleugnenden
Boden französischer Sittenzustände aufgebaut ist. Ausgestattet mit der
staunenswerten Fähigkeit des französischen Schauspiels der neueren Zeit, durch [470]
kunstvoll verwebte und ineinander gefügte Thatsachen zu wirken und zu entscheiden
(eine der deutschen Litteratur durchaus fern liegende Fertigkeit, weil der
Deutsche, der aus seiner tieferen Anlage nicht diesen Reichtum an Handlung zu
schaffen weiß, wesentlich innere Motive, psychologische Wandlungen und damit
eine wahrhaft dramatische Vorbereitung der Handlung in ihrem Beginn, in ihrem
Fortgang und in ihren Verwicklungen fordert), entsprießt das Stück dem
Diplomatensalon zweiten oder dritten Ranges (d. h. dem anrüchigen Salon
der diplomatischen Agenten, Nachrichtenvermittler, Spione, Abenteurer und Jntriguanten,
der nie verheiratet gewesenen Witwen, der Fürstinnen und Gräfinnen
ohne Adelsbrief aus aller Herren Ländern). Ein Hauptgeheimnis der Wirkung
ist, daß der Dichter alle genrebildlichen, episodisch aneinander klebenden Momente
der ersten Akte ─ seiner Gewohnheit gemäß ─ in zwei großen Scenen
(der Peripetie des vierten Aktes und der Katastrophe des fünften) vereint. Jn
diesen beiden Scenen entfaltet er seine ganze Wirkung und sein gewaltiges
dramatisches Talent, so daß die aneinander gefügten Momente der drei ersten
Akte wie eine langgezogene Exposition sich ausnehmen. Die nach deutschen
Begriffen wunderliche, abenteuernde Gesellschaft, welche der Dichter zur Unterlage
für sein Kunstwerk wählt, kennt die landläufige, bürgerliche Moral nicht;
sie ist bezahlt und schreckt vor keinem Abenteuer, vor keinem Mittel, selbst nicht
vor offenem Dokumentendiebstahl zurück. Natürlich brütet in den Salons dieser
Gesellschaft eine schwüle, beängstigende Luft, und es ist psychologisch motiviert,
daß dem in diese Kreise Hineingezogenen, aber innerlich ihnen Fernstehenden,
selbst die reineren Elemente, die doch in jener Atmosphäre leben, von ihr infiziert
erscheinen. Diesem Motiv entlehnt das Bild seine mannigfaltig wechselnden Farben.
Jn heller Glorie der Unschuld, naiver Reinheit der Gesinnung und des
tief=innerlichen Frauengefühls hebt sich von dieser korrumpierten Gesellschaft die
ideale Hauptfigur des Stückes (Dora) ab.
Sie hat keine Ahnung von den Machinationen, Jntriguen und Zwecken
ihrer Umgebung; sie schließt ein ideales Liebesverhältnis und gerät schon am
Hochzeitstage bei ihrem Gatten selbst in den durch gravierende Jndizien bestärkten
Verdacht der diplomatischen Korrespondenz und des Diebstahls wichtiger
Dokumente. Hat sich aber schon in der Exposition ihr geistiger Gehalt in der
entrüsteten Zurückweisung eines frechen Zudringlings gezeigt, so manifestiert sich
derselbe besonders in der großen Scene des 4. Aktes, in welcher der Dichter
die echt dramatische Pointe entfaltet. Es ist die Unleugbarkeit zwingender Thatsachen,
die mit unheimlicher Gewalt den Verdacht auf Dora lenkt, die den
liebenden, vertrauenden, edlen André von Maurillac dem qualvollsten Zweifel
verfallen läßt, dem andererseits wieder Dora's Unschuld und Reinheit mit Recht
das stumme, wie in Schmerz erstarrende Zurückweisen jedes Versuchs einer Verteidigung
entgegenstellt. Das Gefühl der zart weiblichen, gekränkten Frauenehre
und der unbelohnten Liebe bäumt sich auf in edlem Frauenstolz gegen
Verkennung und entehrende Verdächtigung; sie verlangt Glauben an ihre Unschuld,
eine auf Achtung ihres Frauenwertes gegründete Liebe, und bricht
wie ihr junges Glück unter den wuchtigen Schlägen der unabänderlichen Vorgänge [471]
zusammen. Der dramatische Effekt dieser Scene, in welcher der Seelenkampf
alle Nüancen der Leidenschaft entfaltet, ist ein gewaltiger und erhält
nur einen schwachen Reflex in der großen Scene des letzten Aktes, in welcher
durch die geistvolle Jnitiative eines wahren Freundes die Unschuld glänzend
an's Licht kommt, die Jntriguantin entlarvt wird, und der seine Verblendung
beklagende Gatte mit Wonne zu Dora zurückkehrt.
Jn Deutschland war (wie schon bei der Tragödie S. 461 angedeutet
wurde) das plumpe rohe Fastnachtspiel der erste Versuch eines Schauspiels. Bereits
im 12. und 13. Jahrhundert begann man damit, die biblischen Abschnitte
nicht bloß vorzulesen, sondern auch anschaulich darzustellen (z. B. die Ankunft
der Weisen aus dem Morgenlande, Christi Grablegung &c.). Weil der Andrang
in die Kirchen zu groß wurde, verlegte man ganze Aufführungen auf freie
Plätze, wodurch Geistliches mit Weltlichem, Komisches mit Ernstem vermengt
wurde, namentlich als Talentvollere bei Volksfesten Aufführungen mit andern
Stoffen veranlaßten und Schwänke, komische Zwiegespräche, Gaukler- und Pantomimenspiele
der schaulustigen Menge zum besten gaben.
Erst um 1300 n. Chr., als die Blütezeit der Epik, wie der Lyrik vorüber
war, begegnen wir dem ersten Versuch eines deutsch=nationalen Dramas (Sängerkrieg
auf Wartburg, vgl. I. 47. D.), in welchem eine größere Anzahl gut
charakterisierter Personen auftritt und die Begebenheiten lebendig sich abspielen.
Ein epischer Stoff ist hier in dialogischer Form behandelt; dem Epos sind die
erzählenden Partien entnommen, der Lyrik die strophische Form. Dieser Versuch
mußte notwendig zu einem deutsch=nationalen Drama führen, sofern man
in der betretenen Bahn weiter schritt. Aber man verharrte bei der Form
kirchlicher Schauspiele (I. 49) und der sog. Fastnachtsspiele (I. 50. D.), bis
endlich Hans Sachs und dessen Zeitgenossen im 16. Jahrhundert Plan und
Handlung in das Drama brachten. Es entstand durch Herzog Heinrich Julius
von Braunschweig das erste stehende Theater. Leider hinderte das
17. Jahrhundert durch seinen Riesenkrieg und durch seine Anlehnung an die
Fremde die Entfaltung eines nationalen Dramas, so daß unser Drama (I. S. 52
und I. S. 54) den entlehnten Charakter trug. Gryphius, der nach dem Vorbild
des Seneka und der Holländer seine nicht eben kunstlosen Dramen bildete,
leistete Manches für das Drama. Gottsched (I 53) war es, der dem Pomphaften
und Lasciven der schlesischen Schule entgegen trat. Aber das gute
Drama konnte sich auch bei uns, wie bei den Griechen (im Perikleischen Zeitalter
nach den Perserkriegen), oder bei den Engländern (zur Zeit der Elisabeth
nach der Reformation), doch auch erst in der Zeit geschichtlicher Reife Bahn
brechen: zur Zeit Kants und Fichtes nach der Aufklärung. Lessing war es,
dem die Shakespeareschen und Calderonschen Dramen den Weg wiesen und der
berufen war, das deutsche Drama zum Kunstwerk zu erheben. Er setzte der Gottschedschen
Sprachkorrektheit Sprachgehalt entgegen, der französischen Effekthascherei
und Tändelei Lebenswahrheit und naturgemäße Entwickelung
lebensvoller Handlung. Er beseitigte das lächerliche Moralisieren im Drama
und gab ihm durch sein vorbildliches philos. Drama „Nathan“ seine Selbstständigkeit, [472]
sowie seine neue metrische Form (Bd. I S. 311 und II §. 156).
(Man studiere Nathan!)
Nun folgten Schiller und Goethe, von denen mindestens Die Räuber,
Tell, und Jphigenie eine interessevolle Vertiefung verlangen können.
1. Die Räuber, von Schiller.
Schiller liefert in diesem Werk kraftvollen, wenn auch in mancher Hinsicht
unreifen Talents ein Drama voll wilder Leidenschaft und übertriebener, fast
unnatürlicher Charaktere. Jm Charakter des Räubers Moor spiegelt er seinen
glühenden Freiheitsdrang und die Unzufriedenheit der Zeit mit dem Bestehenden.
Die Sprache ist kühn, aber doch nicht allenthalben edel.
Jnhalt des Schauspiels: Graf Moors Sohn, Franz, von schlechtem Charakter,
verleumdet seinen gutmütigen, etwas leichtsinnigen Bruder Karl so sehr,
daß der Vater denselben verstößt und verflucht. Karl wird darauf Räuberhauptmann.
Franz nimmt das väterliche Erbe in Besitz und hält den alten,
aus Gram hinsiechenden Vater in einem Turm gefangen. Endlich sucht er
auch seines Bruders Braut, Amalia, zu gewinnen. Karl naht mit seinen
Räubern als Rächer, befreit seinen alten Vater und erschießt seine Braut. Franz
tötet sich aus Furcht. Karl liefert sich den Gerichten aus. „So nimmt,“
um mit Schiller in der Vorrede zu sprechen, „das Laster den Ausgang,
der seiner würdig ist. Der Verirrte tritt wieder in die Geleise der
Gesetze. Die Tugend geht siegend davon.“
2. Wilhelm Tell, von Schiller.
Dieses Schauspiel, episch in der Anlage, zwiespältig in der Ausführung,
ist voller Handlung und Leben. Es behandelt die Befreiung der Schweiz vom
österreichischen Drucke durch Tell. Die Erhebung des ganzen Volkes geht ergänzend
neben Tells That her. Das Stück atmet Freiheitsbegeisterung und
besonnene Vaterlandsliebe. Es ist Schillers letztes und beliebtestes Schauspiel.
Die Eidgenossen und Tell stehen in keinem innern Zusammenhang. Auch resultiert
zu wenig aus der an sich wunderbar schönen, eigentlich überflüssigen Rütliscene.
3. Jphigenie auf Tauris, von Goethe.
Dieses vollendet schöne, nach griechischem Muster (Euripides) gedichtete Drama,
das viel mit dem dramatischen Gedicht gemein hat, ist ein Werk von hoher
Bedeutung, das zuweilen überschätzt wurde. Jmmerhin vereinigt es altklassische
Gediegenheit mit deutscher Tiefe und ist reich an edlen, herrlichen Gedanken.
Jnhalt: Jphigenie, Tochter Agamemnons, und Priesterin des Dianentempels
auf Tauris, führt das barbarische Scythenvolk und den grausamen
König Thoas zur Sitte durch ihre wunderbare Hoheit. Sie beruhigt und tröstet
ihren von den Furien verfolgten Bruder Orestes. Dann bittet sie Thoas, die
Fremdlinge zu schonen, sie selbst aber mit ihrem wiedergefundenen Bruder und
dessen Freund Pylades in die Heimat zurückkehren zu lassen. Der Scythenkönig
entläßt die hehre Freundin mit einem ernsten Lebewohl &c. ─
Nach Lessing, Schiller und Goethe erschien Stern um Stern am dramatischen
Himmel (I 54). Jm Gegensatz zu diesen Meistern ließen viele deutsche
Dramatiker das höhere Drama ungepflegt und wandten sich dafür dem Ritterschauspiele [473]
und Familiendrama zu (vgl. I 57). Kleist (I 59) gestaltete das
Drama realistischer als Schiller, Heine phantastischer; Tieck, Fouqué, Clemens
Brentano und Achim von Arnim (I 59) gestalteten es romantisch und verdrängten
es dadurch von der Bühne. Platen nimmt in dieser Gruppe von
Dramatikern eine eigene satirische Stellung ein. Nach und nach machte sich
Mangel an Schöpfungskraft bemerklich. Der Eingeweihte mußte für die Bühne
eine Epoche des marasmus senilis erkennen, in welcher die Theod. Hellschen
Fabrikübersetzungen, Claurensche Vogelschießen &c. nur hie und da durch reinere
Klänge (vgl. Jmmermann I 59 u. 60) unterbrochen wurden. Da kam
Gutzkow (I 61), der das von den Romantikern von der Bühne fast verdrängte
Drama der Bühne zurückeroberte. Mit dem jungen Deutschland (I 61)
begründete er das moderne Bühnendrama, welches seine Stoffe der Wirklichkeit
der Neuzeit entlehnte, oder das Geschichtliche mit modernen Farben malte und die
Wirkung durch theatralische Effekte erzielte. Gutzkow hat daher um die Bühne der
Gegenwart kein geringes Verdienst. Er ist in bestimmtem Sinn der Ausgangspunkt
der verschiedenen dramatischen Formen der Gegenwart. Nach seinem Vorbild suchten
die Bühnendichter den Geschmack des Publikums gleichmäßig mit den Ansprüchen
der Kunst zu versöhnen. Es traten im Drama die I S. 66 und 67 gezeichneten
Richtungen hervor, besonders das originelle Kraftdrama (I 66 a), das künstlerisch
moderne Bühnendrama (I 67 c) und das bürgerliche Schauspiel (I 67 d).
Endlich die Kulturbilder und guten Volksstücke, unter deren Dichtern als
tonangebend zu nennen sind: 1. Freytag, dessen Kulturbild „Die Journalisten“
seit 25 Jahren immer neue Nachahmer fand; 2. der ebenso geniale Anzengruber,
dessen markige Charakteristik, schlagkräftige Sprache und hie und da geradezu grandioser
Humor die Menge, wie die Gebildeten hinreißen, auch wenn diese nicht in der
Gefühls- und Anschauungswelt der österreichischen und altbayerischen Bauern heimisch
sind (vgl. dessen Pfarrer von Kirchfeld; Der Meineidbauer; Die Kreuzelschreiber &c.).
Eine große Zahl dramatischer Schriftsteller hat sich ihn zum Vorbild genommen.
Jm letzten Decennium ist viel über den Niedergang des deutschen
Theaters geklagt worden, weniger in Bezug auf die Darstellung, die auf Bühnen
wie in Meiningen (vgl. S. 61 d. Bds.) &c. musterhaft ist, als hinsichtlich
der Schöpfungen der dramatischen Muse. Laube hat die Geschichte des Wiener
Stadttheaters mit einem Stoßseufzer beschlossen. Die Bühne lockt eben die Dichter
zu wenig, weil es aufstrebenden Talenten schwer gemacht wird, in die Arena eintreten
zu können, indem meist nur die Stücke von bekanntesten Autoren gelesen
werden, so daß nur diese wenigen allbekannten Namen auf der Scene bleiben.
Von den Stücken, die einen Fortschritt bekunden, nehmen wir nachstehend
eines der bedeutenderen heraus:
Liebe für Liebe von Fr. Spielhagen. Das Motiv dieses Stücks,
dessen Bau beachtenswert ist, bildet ein psychologisches Problem. Der Dichter sucht
es den vielverspotteten „Einheiten“ der älteren französischen Dichter recht zu
machen. Das Stück spielt vom Morgen des 18. Oktober 1813 bis zur Morgenfrühe
des 19. Als Ort ist ein Rittergut zwischen Dresden und Leipzig gewählt,
wo sich in raschem Fluß ein ergreifendes Schicksal abspielt.
Jnhalt: Fritz v. Elbeck ist als Teilnehmer am unglücklichen Zuge Schills
in die Hände der Franzosen gefallen. Seine Familie betrauert ihn als tot,
während er als Galeerensklave lebt. Endlich ergreift er die Flucht. Er erfährt,
daß seine Geliebte Charlotte die Braut seines Freundes und Kampfgenossen,
des Pfarradjunkten Bernhard, sei. Sein Herz wendet sich Charlottens
Schwester Elma zu, ohne daß er's bemerkt. Heftig braust er auf gegen Charlotte
und Bernhard. Um beide zu retten, verrät Elma seinen Namen und
zwingt den Kapitän der französischen Einquartierung, den flüchtigen Galeerensklaven
zu verhaften. Nun findet ein Aussprechen der Liebenden statt; Elbeck
erkennt das treue Herz Elmas; die Schlacht von Leipzig befreit ihn und vereint
die Liebenden. Das Glück derselben geht auf im Siege der ganzen
Nation. ─ Trefflich weiß Spielhagen zu charakterisieren. Die Leidenschaftlichkeit
des heftigen Elbeck steht der Gemessenheit des würdigen Bernhard gegenüber;
der sanften Sentimentalität der Charlotte die Beweglichkeit der mutigen,
raschhandelnden Elma; der Ritterlichkeit des Marquis die Verbissenheit des
Franzosenhassers Krüger u. s. w. Dazu kommt die geist- und kraftvolle Jndividualisierung,
die wunderbar schöne, mitunter wahrhaft klassische Sprache, von
der ein Kritiker äußerte: er habe selten in den Werken der neuesten, dramatischen
Schule solch ergreifende, hinreißende und melodische Töne gehört.
So kann man an diesem einzigen Beispiel nachweisen, daß auf den Gebieten
des Schauspiels auch die Neuzeit hinter den Erwartungen des Kunstfreundes
nicht so ganz zurückgeblieben ist.
Zum Abschluß dieser historischen Skizze erübrigt es noch, als Ergänzung
von I 66. 67 und 73 sowie der §§ 153 ff. d. Bds. jene Dichter zu nennen,
die in den letzten Decennien durch ihre an poetischen und genialen Zügen
reichen Dramen mehr oder weniger das Drama pflegten oder die Aufmerksamkeit
des Theaterpublikums auf sich lenkten. Es sind noch: Holtei (Lorbeerbaum
und Bettelstab); Robert Gieseke (Der Burggraf von Nürnberg); P. Jué (Die
Goldgräber); Emil Pirazzi (Die Erben von Maurach &c.); F. Wilferth (Adel
um Adel); C. J. Folnes (Verbotene Früchte); Al. Heßler (Jn Feindesland);
J. Werther (Pombal); Waldmüller-Düboc (Die Tochter des Präsidenten &c.);
C. Heigel (Freunde; Josephine und Napoleon); Wilhelmine von Hillern (Ein
Arzt der Seele [nach dem gleichnam. Roman bearb.]; Geier-Walli &c.); Ludw.
Schneegans (Jan Bockhold); J. Wolf (Drohende Wolken); H. Riotte (Königsmark;
Gold für Eisen); O. v. Redwitz (Philippine Welser &c.); Friedrich Rüffer
(Die Jdealisten); J. Weilen (Der neue Achilles; An der Grenze); Ed. Franz
(Bettler von London); Laube (Die Bernsteinhexe; Böse Zungen &c.); Kneisel
(Die Lieder des Musikanten; Das böse Fräulein); Karl v. Moy (Ein deutscher
Standesherr); Martin Greif (Prinz Eugen); Otto Franz Gensichen (Euphrosyne);
Paul Wendt (Colberg; Ein deutscher Brutus); Gust. Michell (Melitta und
Elisabeth); John Paulsen (Frauenherzen); Gust. Wacht (Dolkuroff); Heinr. Lemcke
(Eine Mission); Otto Schreyer (Das Triumvirat); Herm. Voget (Versöhnt);
Alb. Lindner (Moderne Teufel); Gust. Gerstel (Hans Ottmar); Hugo Müller
(Von Stufe zu Stufe); Ed. Rüffer (Die Hermannsschlacht); Fr. Friedrich (Eine [475]
Warte am Rhein); Mart. Schleich (Bürger und Junker); Heinr. Rustige (Eberhard
im Bart); M. Blanckarts (Johann von Schwaben); Alex. Rost (Ludwig
der Eiserne); Weichselbaumer (Scipio der Überwinder); E. Wichert (Die Frau
für die Welt); P. Heyse (Hans Lange; Ehre um Ehre); Fr. Bodenstedt (Alexander
in Korinth); A. Mels (Der Staatsanwalt); Nik. Stieglitz (Gräfin Olga); Richard
Voß (Unfehlbar); Karl Kösting (Jm großen Jahr); Theod. Piderit (Schön
Rotraut); Moritz Löbel (Ein Roman); Julius W. Braun (Die Arbeiter); A.
Cyriax (Joseph II. und die Jesuiten); W. Henzen (Die Lügen des Herzens);
Fr. Geßler (Reinhold Lenz &c.); Notter u. a., deren Namen bereits bei der
Tragödie, oder bei den Gattungen des Lustspiels, oder im § 177 d. Bds.
erwähnt sind, oder deren Bedeutung in anderen Gebieten liegt.
§ 167. Komödie oder Lustspiel.
1. Unter Komödie versteht man diejenige dramatische Dichtungsart,
deren Grundton Laune, Scherz, Komik, Humor, heitere Stimmung
ist, und die somit den polaren Gegensatz zur Tragödie bildet.
2. Der Stoff der Komödie entstammt, im Gegensatz zur Tragödie,
nur selten der Geschichte, sondern meist dem geselligen Leben der Gegenwart
durch die Thätigkeit der freischaffenden Phantasie.
3. Der Konflikt der Komödie wird nicht durch den Kampf gegen
das Schicksal, sondern gegen Menschen mit ihren Schwächen hervorgerufen.
Der Held der Komödie führt seinen Kampf mit List, Jronie,
Scherz, Komik, Humor.
4. Das Lustspiel bedient sich meistenteils der Prosa.
1. Komödie (κωμῳδία == schwärmender Gesang, abzuleiten von κῶμος
== lustiger Umzug, oder von κᾶμος und ᾠδή == Freudengesang) hieß in
älterer Benennung Freudenspiel, Scherzspiel, Schimpfspiel (Schimpf in der
Bedeutung von Scherz oder Spott gebraucht). Ursprünglich verstand man
darunter heitere Gesänge, welche die Griechen bei ihren Umzügen während der
Bacchusfeste (besonders bei der Weinlese) anstimmten. Später wurde die
Komödie als Dichtungsgattung der Gegensatz zur Tragödie, deren Grundton
Wehmut ist. Wie das komische Epos, die Satire und die Travestie, so zeigt
die Komödie den Widerspruch von Verstand und Gefühl mit den Anschauungen
der Wirklichkeit, so daß sie den Zwiespalt übersieht, über die Verkehrtheiten und
Ungereimtheiten lacht und scherzt, während die Tragödie über die Gebrechen
der Menschheit weint.
Das Lustspiel mit seinen fröhlichen Personen muß Lustempfindung im
edlen ästhetischen Sinn und angenehme, behaglich harmlose Stimmung hervorrufen.
Es darf sich ─ wie schon v. Steigentesch betont ─ „nie von dem
Zwecke entfernen, die heitere Seite des Lebens darzustellen. Die Personen,
die in ihm auftreten, müssen fröhlich erscheinen und verschwinden; selbst die
finsteren Bilder des Lebens müssen so gestellt werden, daß sie einen heiteren
Eindruck machen und zurücklassen, und kein Ausdruck des Schmerzes oder der [476]
Wehmut darf diesen Eindruck stören. Der Lustspieldichter muß alle trüben
Farben aus seiner Darstellung verbannen, die höchstens nur wie Schatten in
einem Gemälde angelegt werden dürfen. Jede Rührung, die eine Thräne
erpreßt, muß dem Lustspiele fremd bleiben.“
Der Tragödie ist die Wirklichkeit tragisch, der Komödie nur komisch, sofern
sich in ihr Unverstand und Verkehrtheiten der Menschen zeigen. Die Geschichte
zeigt allenthalben eine tragische Jdee, weshalb ein historisches Drama dem Stoff
nach eigentlich nur Tragödie (oder Schauspiel) sein kann. Aber die noch nicht
zur Geschichte gewordene Wirklichkeit und Gegenwart, die noch nicht so objektiviert
ist, daß man überall jene tragische Jdee wahrzunehmen vermöchte: sie
kann nur in ideale Beziehung gebracht werden zur oberflächlicheren Jdee der
komischen Poesie.
2. Daher wird der Lustspieldichter, selbst wo er die Larve früherer Jahrhunderte
vorhält, immer nur seine Zeit meinen, d. h. den Charakter immer
nach den Formen der Gegenwart individualisieren. Die Tragödie, deren
Domäne also die Vergangenheit ─ die Geschichte ─ sein muß, ist demnach um
vieles epischer als die Komödie, die mit Laune und Spott die Albernheiten der
uns in allen Teilen bekannten Gegenwart übergießt und daher besonders im
metrischen Lustspiel (vgl. S. 478 d. Bds.) dem lyrischen Element größeren Spielraum
gewährt. Aristophanes hat nicht gefehlt, indem er den geschichtlichen
Sokrates auf die Bühne brachte; denn er hatte es nur auf die Neigung seiner
Zeit zu unpraktischem Philosophieren abgesehen; er faßte deshalb die ganze Art
philosophierender Menschheit seiner Zeit in der Figur eines Sokrates zusammen,
der ganz wenig mit dem historischen gemein haben sollte, und der ja auch Dinge
sagte, die jener nie gesprochen haben würde. Auch Tiecks bekannter Prinz Zerbino
zeigt, daß es der Komödie nie auf bestimmte geschichtliche Jndividuen,
sondern auf ganze Arten ankomme. (Er hat für den Namen Nicolai den Namen
Nestor gewählt, um dadurch seinen Angriff auf alle litterarischen Philister auszudehnen.)
3. Die Jndividuen der Komödie ─ auch wenn sie einen historischen Stoff
haben ─ sind somit gewissermaßen Jndividualisationen der Gegenwart,
die eng mit der Handlung verknüpft sind. Der Lustspieldichter ist auf freies
Erfinden auch der Handlung hingewiesen, was dem Tragiker verwehrt ist, dem
in seinem historischen Helden die tragische Jdee samt dem besonderen historischen
Material gegeben ist. So kann die kecke Phantasie in Entfaltung von übermütiger
Laune und ätzendem Spott im Lustspiel frei walten; der Verstand hat
nur zu wachen, daß das Maß eingehalten werde, daß die Konzeption und die
feine Verwickelung künstlerisch bleiben und nicht Planlosigkeit und Verwirrung
eintritt.
3. Wenn die Überhebung des Helden über die göttliche Weltordnung den
Konflikt in der Tragödie bewirkt, so resultiert derselbe in der Komödie aus
menschlichem Unverstand, aus Albernheit, Thorheit, Verkehrtheit gegenüber den
menschlichen Ansichten über Sitte, Sittlichkeit, Lebensweisheit, Denken, Empfinden,
Reden, Handeln. Daher gestattet die Komödie dem Zufalle, welchen die [477]
Tragödie ausschließt, einen großen Spielraum. Es sind ja nicht Schicksalsmächte,
gegen welche der Held kämpft, sondern die Schwächen seiner Mitmenschen,
deren zufällig entgegenkommende Engherzigkeit oder deren zu benützende
Thorheit. Er geht daher nicht über die Schranken des gewöhnlichen Lebens
hinaus. Seiner Wirkungssphäre entsprechend führt er den Kampf mit List und
Gewandtheit, mit Witz, Scherz und Laune. Die Lösung besteht nicht im Untergang
der feindlichen Partei, sondern in deren Nachgeben, oder in Überlistung
derselben, in Besiegung von Jntriguen.
Oft ist der Held selbst der Verkehrte und Verirrte; er unterliegt sodann
von Rechtswegen und kehrt zur richtigen Vernunft zurück. Dieser Ausgang
hat etwas Erheiterndes, Komisches, Humoristisches, Befriedigendes, indem er
zeigt, daß das Jrrtümliche, Bornierte und Verkehrte endlich der Vernunftmäßigkeit
und Natürlichkeit weichen muß. Witz, Jronie und jene feine Komik,
die mit ihrem unverstellten Blick alle Situationen durchdringt, sind die wesentlichen
treibenden Momente im Lustspiel. (Vgl. I 103 ff.) Aber der Witz
und die Jronie müssen sich aus der Handlung ergeben. Nicht der bloße Wortwitz,
der ja auch zuweilen seine Wirkung übt, ist es, sondern Gedankenhumor
im Handeln, in Überlistung des Geschicks, Jronie im Bild, was den Charakter
des Ungesuchten an sich trägt. (Man vgl. z. B. Falstaff von Shakespeare.)
Am besten entsteht das Komische durch den Kontrast des Charakters mit der
Situation.
Die Ungereimtheiten müssen von vernünftigen Wesen ausgehen, an wichtigen
Dingen stattfinden und überraschend auftreten. Über den Stotternden wird
man nur lachen, wenn er z. B. eine feierliche Rede halten wollte; über einen
Zerstreuten, wenn er z. B. den Degen an der rechten Seite trägt; über alberne
Redewendungen, die sich wiederholen, wenn der Redner sich für geistvoll hält;
nicht aber über einen Geisteskranken &c. (vgl. I 102).
Das Lustspiel, indem es durch Witz und feine Komik das wirkliche Leben
mit seinen Mängeln und Schwächen von seiner lächerlichen Seite darstellt, zieht
dazu auch das Edle, Liebenswürdige und Gefällige der menschlichen Verhältnisse
und der gesellschaftlichen Zustände in seinen Kreis. Komische Situationen müssen
das Jnteresse der Handlung beleben, und wir müssen durch dieselben nach den
Gesetzen des Kontrastes an die schönen Verhältnisse erinnert werden, deren
Gegenteil sie sind.
Ein Unglück, welches dem Helden zustößt, muß als leicht zu lösende, „lächerliche
Not erscheinen, die keine ernsten Folgen haben wird“. Der Dichter hat
eben die ergetzlichen Widersprüche geschickt zu verwerten, ohne sie auszugleichen.
Wenn er sie wirklich ausgleicht, wenn die Thoren vernünftig, die Schlechtgesinnten
gebessert, oder im tragischen Sinne bestraft werden, so ist es, wie
Schlegel richtig bemerkt, um den lustigen Eindruck geschehen. Die Moral des
Lustspiels ist nach ihm die Moral des Erfolgs, nicht, wie in der Tragödie die
der Triebfeder. Jm feineren Lustspiel dürfen die handelnden Personen ihre
Schwächen, die sie zu verbergen suchen, nicht kennen; nur aus der Handlung
müssen diese mit ihrer ergetzlichen Wirkung hervorgehen.
4. Das niedere Lustspiel ist in der Regel in Prosa geschrieben, während
das feine auch in der Form seine höhere Stellung sich wahrt. Weniger ist
es der in der Tragödie wie im Schauspiel beliebte jambische Quinar, als der
neue Senarius, der Alexandriner, der jambische Viertakter, welche wir im Lustspiel
angewandt finden. Ausnahmsweise begegnet man auch trochäischen Versen.
Um zu beweisen, welchen Reiz der Vers auch dem Lustspiel zu verleihen vermag,
brauchen wir bloß an das metrisch so schön aufgebaute allbekannte Lustspiel
Der Kuß, von Doczi zu erinnern, das augenblicklich in Deutschland beliebtes
Repertoirestück geworden ist, oder an das von Schreyvogel (wie auch von A. West)
bearbeitete span. Lustspiel Donna Diana von Don Augustin Moreto; oder an
Halms Verbot und Befehl; oder auch an das 1aktige Lustspiel Zweier Herren
Magd von M. Tenelli u. s. w.
§ 168. Anforderungen an die Handlung im Lustspiel.
1. Die Handlung muß lebendig, dem geselligen Leben der Gegenwart
entsprechend sein.
2. Sie muß komische Wirkung zu üben vermögen.
3. Je nach dem Charakter des Lustspiels hat sie das Feinkomische
oder das Niedrigkomische hervorzukehren.
1. Die Anforderungen einer lebendigen Aktion (Handlung) sind an das
Lustspiel ─ als einer Gattung des Drama ─ in gesteigertem Maß zu richten.
Wenn der gewandte Paul Lindau in neuester Zeit in drei Stücken lyrische
Ergüsse von Goethe, Eichendorff und Chamisso verwebte ─ und Andere (z. B.
Rudolf Kneisel im Originalschwank „Sein einziges Gedicht“, oder Fr. Rüffer
in „Der Wildfang“, einem Pendant zu „Sie hat ihr Herz entdeckt“), in wirksamer
Weise ganze Gedichte einlegen, die in der Handlung selbst keine Rolle
spielen, so ist dies doch nicht als Norm hinzustellen. Lindau weiß durch
geistvollen, prickelnden, spannenden Dialog den Mangel an Handlung zu ersetzen,
und Kneisel wie Rüffer haben bei ihrer vom poetischen Hauch durchzogenen
Lustspielidee genug Gelegenheit, das Gedicht zum Substrat der Handlung zu
erheben. Die selbsterfundene oder aus Ereignissen des geselligen Lebens entstandene
Handlung darf den Charakter der Wahrscheinlichkeit nicht verlieren.
Jm Gegensatz zum Epos und zur Tragödie darf bei der Komödie die Subjektivität
des Dichters in der Handlung hervortreten. (Bei der antiken Komödie
trat das subjektive Element nur in den komischen Chören, den Parabasen, zu Tage.)
2. Die Handlung muß solche Situationen aufsuchen, welche augenblicklich
im Kontrast mit dem Charakter des Helden stehen, welche komisch wirken,
ohne gegen die gewöhnlichen Lebensinteressen zu verstoßen. Sie muß daher vor
allem seltsam sein und trotz aller komischen Hindernisse glücklichen Ausgang nehmen.
3. Jm seinen Lustspiel ist in der Handlung das Feinkomische vorherrschend,
in der Posse das Niedrigkomische, Burleske. Das Feinkomische verlangt feinen
Geschmack, elegante Darstellung, Kenntnis des feinen Umgangs. Der Begriff [479]
der niederen und feineren Komik ist häufig nach der Einfachheit der Komposition
und dem Übermut in den Situationen bestimmt worden. Jn diesem Sinn
wäre die Aristophanische Komik niedrig, während sie in Hinsicht auf den Schwung
des Geistes und des Gemütes sehr fein und hoch zu nennen ist.
Jn jeder Form des Lustspiels trägt es zur Belebung der Handlung bei,
wenn der Dialog geistreich, lebhaft, witzig, epigrammatisch präcis ist.
§ 169. Einteilung der Lustspiele nach der Stoffquelle.
Nach der Stoffquelle teilt man die Lustspiele ein:
1. in historische, politische, nationale;
2. in bürgerliche, zu denen das Konversationsstück zu zählen ist.
1. Die historischen Lustspiele wählen nur ihre Figuren aus der Geschichte,
und zwar in der Absicht, durch Geißelung der Privatleidenschaften derselben
an Typen der Gegenwart zu erinnern. Sie zeigen daher die Schwächen des
geschichtlichen Helden mit Humor und Witz, indem sie ihn im Spiegel der
Gegenwart zeigen. Somit sind sie im eminenten Sinne politische ─ oder wenn
man will ─ nationale Lustspiele.
Klein (Gesch. d. Drama I 356) behauptet: „Jede echte Poesie, das echte
Drama voraus, ist nichts wie Politik und nichts wie Zeitungspolitik, aber in
poetischer Gestalt, als Jdeenpoesie, nicht im Stil und Ton von Zeitungsartikeln.“
Der Vater des politischen Lustspiels war Aristophanes. (§ 176 S. 493
d. Bds.) Platen, Rückert, Prutz &c. suchten dieses Vorbild für die moderne Bühne
zu verwerten und uns ähnliche politische Lustspiele zu geben. Leider blieben
aber Platens aristophanische Komödien in einer unpolitischen Zeit in kleinlichem,
litterarischem Wust stecken und führten das Wort nur vor einem ganz exklusiven
Publikum, das immer kleiner wurde, je mehr die versteckten Anspielungen,
Persiflierungen und litterarischen Seitenhiebe an Verständlichkeit verloren.
Rückerts aristophanisch gehaltene Komödie Napoleon ging spurlos vorüber,
da sie zu spät kam.
Prutz dagegen machte 1843 mit seiner aus dem Dänischen schöpfenden
Politischen Wochenstube die Erfahrung, daß eine politische Komödie nur vor
einem politisch reifen Publikum aufgeführt werden kann; und ein solches gab
es in den vierziger Jahren in Deutschland sicher noch nicht.
Jm alten Griechenland war ein solches vorhanden, weshalb die aristophanischen
Komödien die vollendetste Blüte der hellenischen Dichtkunst wurden
und zugleich die herrlichste Epoche des atheniensischen Staatslebens bezeichnen.
„Nur ein freies Volk ist würdig eines Aristophanes,“ ruft Platen in einer
seiner Parabasen aus; er wußte es sehr wohl, daß er seinem deutschen Volk
wohl Polenlieder, aber keine politische Komödie bieten durfte.
Freytags hochbedeutende Journalisten sind als erneuter Versuch eines
politischen Lustspiels aufzufassen.
Robert Hamerling (Teut), Fr. von Schack (Der Kaiserbote, und Cancan),
Jul. Böhm (vgl. dessen humoristisches Zeitbild „Vor Paris“), besonders aber [480]
Otto Girndt (Orientalische Wirren, Drei Buchstaben, Politische Grundsätze,
Preußisches Strafrecht &c.) gaben uns Lustspiele, von denen die ersteren mit
ausgesprochener Absicht an die aristophanischen Formen sich anlehnen, während
die letzteren wenigstens den Versuch wagen, mitten hinein in's politische Kampfgewoge
ihre Stimme erklingen zu lassen, und dort, wo alles Volk steht und
sie hören kann, sich vernehmen zu lassen.
Ein volles Aufgehen im Kunstwerk hat unser deutsch=nationales Leben noch
nicht gefunden, weil uns eben (wenigstens bis 1870) ein gesteigertes nationales
Gefühl abging, welches gewaltige, die Kraft des Volkes manifestierende
Jdeen zu Tage fördert. Wir sind jetzt endlich „ein einig Volk von Brüdern“
geworden; unsere Großthaten im Feld sind einzig in ihrer Art; ─ hoffentlich
erstehen uns nunmehr die verherrlichenden Dichter, welche, aus dem deutschen
Volksgeiste schöpfend, uns mit einer Reihe echt nationaler Lustspiele beschenken!
Weitere Beispiele des historischen Lustspiels, das man je nach dem Vorwalten
der Jntrigue oder der Kraft des Charakters auch als Jntriguen= oder
Charakterlustspiel bezeichnen könnte, sind: 1740 von Hersch; Prinzeß Kätherle
von v. Graßhoff; Pitt und Fox, sowie die Diplomaten von R. v. Gottschall;
Aktien von Otto Glagau; Der geschüchterte Hahn, oder: Die Weiber von
Schorndorf von Wechßler; Die Weiber von Schorndorf von P. Heyse; Die
Bürgermeisterin von Schorndorf von Wintterlin; Laube's Charakterlustspiel
„Gottsched und Gellert“ &c., sowie besonders Zopf und Schwert, Lorbeer und
Myrte, und Urbild des Tartüffe von Gutzkow, von denen das erstere feinkomische
Charakteristik hat, während das letztere ein Werk feinster Satire auf das Verhältnis
des Dichters zum Publikum ist &c.
2. Lustspiele, welche dem bürgerlichen Leben den Spiegel vorhalten, heißen
bürgerliche Lustspiele. Jn Deutschland wurde neben Kotzebue besonders Rod.
Benedix ihr Begründer. Er schrieb sehr viele bürgerliche (zuweilen leider auch
spießbürgerliche) Lustspiele. Wir nennen von ihm Dr. Wespe, Der Vetter,
Der Kaufmann, Aschenbrödel, Die Hochzeitsreise, Das Lügen, Die Dienstboten,
Der Eigensinn. Weitere Beispiele sind: Bauernfelds Aus der Gesellschaft;
Krisen &c.; Michael Klapps „Rosenkranz und Güldenstern“; Otto Franz Gensichens
Die Märchentante; Feldmanns Der Rechnungsrat und seine Töchter;
L'Arronges „Doktor Klaus“; Faust Pachlers reizender Einakter Loge Nr. 2
und dessen „Er weiß Alles“ u. s. w.
Ein Lustspiel, welches in allen Teilen dem feineren, espritreichen Umgangs=
und Unterhaltungstone entspricht, überhaupt das Leben im Salon repräsentiert,
nennt man Konversationsstück. Beispiele sind: Scribes von Theodor
Hell übersetztes Ein Glas Wasser; Alfred de Müssets von G. Ritter übersetztes
Eine Caprice; Putlitz' Eine Tasse &c.; Jahns Zwischen Thür und Angel; Paul
Lindaus Preislustspiel Jn diplomatischer Sendung; Bauermeisters Farbe halten;
Bauernfelds Bürgerlich und romantisch, ein Stück, welches feinen Konversationston,
französische Leichtigkeit und Eleganz mit deutscher Gemütlichkeit verbindet
u. a. m.
§ 170. Einteilung der Lustspiele nach den Lebenskreisen
des Helden, sowie nach ihrer Tendenz und Herkunft.
Diese umfassende Einteilung ergiebt folgende Arten des Lustspiels:
1. realistische; 2. phantastische oder idealistische (ideale); 3. romantische;
4. rührende; 5. Sittenstücke; 6. Übersetzungslustspiele, besonders aus
dem Französischen.
1. Das realistische Lustspiel kann man auch bürgerlich realistisches
Lustspiel nennen, sofern es wie die bürgerliche Tragödie seinen Stoff aus dem
gesellschaftlichen Leben entlehnt, das Einseitige, Verkehrte, Absonderliche desselben
aufsucht und mit feinem Humor oder mit Jronie und Satire beleuchtet.
Mit der Welt des Phantastischen vertauscht das realistische Lustspiel die Welt
der lebensvollen Erscheinungen, die reale Wirklichkeit. Nach dem Vorgange
des Anaxandrides, der die Liebe zuerst in die Komödie einführte, ist bei
den meisten realistischen Lustspielen ein Liebesverhältnis Ausgangspunkt und
Kern der Handlung geworden, woran sich sodann die durch die Liebe bedingten
Äußerungen der Leidenschaft, Eifer- und Ränkesucht von selbst anschließen.
So wird das realistische Lustspiel durch komische Verschlingung von Jntriguen,
von Konflikten zwischen Liebe und Ehre zum Jntriguenspiel, oder durch markiges
Auftreten der durch die labyrinthischen Gänge der Hinterlist und der Komik mit
einer leichten Eleganz hindurchschreitenden Helden zum Charakterlustspiel. (Vgl.
§ 171 S. 483.) Beispiele sind: Hackländers Magnetische Kuren; Rau's Mein
liebenswürdiger Grobian; Bauernfelds Der Vater, Die Bekenntnisse u. s. w.
2. Das phantastische oder idealistische Lustspiel nimmt seine
Figuren aus der Fabel=, Tier- oder Zauberwelt, denen meist eine symbolische
Bedeutung inne wohnt.
Die älteste Form dieses Lustspiels hat sich von Aristophanes erhalten.
Die von Rückert übersetzten Vögel; ferner Die Frösche; die die Frauenemanzipation
geißelnden Ekklesiazusen; Die Wolken u. s. w. sind
Denkmale des polemischen Kampfes, den der Dichter gegen die Schwächen,
Thorheiten und Gebrechen seiner Zeit mit der Geißel des Humors und eines
ätzenden, zersetzenden Witzes führt. Allüberall tritt uns die Phantastik in
der Vertauschung des Menschlichen mit dem Tierischen, in einem gewissen Aufgehen
des Menschen in das tierische oder elementarische Leben entgegen.
Das phantastische Lustspiel pflegte Shakespeare z. B. im Sommernachtstraum
und Sturm, wenn auch die Ausführung dieser Lustspiele, bei denen die
Liebesintriguen eine Rolle spielen, und bei welchen Elfen &c. erscheinen, eine von
Aristophanes grundverschiedene ist. Tieck (Die verkehrte Welt, Prinz Zerbino,
Der gestiefelte Kater), ferner Platen (Romantischer Ödipus &c.), sowie Raimund
(Alpenkönig, Verschwender) haben den Versuch gemacht, das phantastische
Lustspiel bei uns einzuführen. Auch R. Prutz (Politische Wochenstube) ist als
Repräsentant des phantastischen Lustspiels zu nennen. Wir erwähnen noch als
Beispiel Rückerts Komödie „Napoleon“, wo Satire, Humor und Spott sich [482]
zu den augenfälligsten Unmöglichkeiten versteigen. Aber die Symbolik dieser
Unmöglichkeiten rechtfertigt sie und wirkt humoristisch.
3. Romantisch nennt man unsere modernen Lustspiele ausnahmsweise
zur Unterscheidung von den antiken. Auch belegt man vorzugsweise die Lustspiele
der Romantiker (I 59) mit diesem Namen. Man könnte auch sagen:
die poetische Form zum poetischen Jnhalt macht mit Rücksicht auf die vergangene
(die poetische) Zeit das romantische Lustspiel. Als Beispiele vgl. die
unter 2 erwähnten Lustspiele von Platen und Tieck; ferner Ponce de Leon von
Cl. Brentano; Halms Sohn der Wildnis, Wildfeuer, König und Bauer nach
Lope de Vega und vor allem sein „Verbot und Befehl“ u. a.
4. Der Name rührendes Lustspiel ist eigentlich ein Widerspruch (eine
contradictio in adjecto). Man versteht darunter eine aus der Verbindung
des Komischen mit dem Tragischen hervorgegangene Mischgattung komisch gefärbter
Tragödien. Obgleich denselben genug rührende Scenen eingeflochten
sind, so wird doch das Gefühl der Wehmut vom komischen Element überwogen.
Beispiele: Lessings Minna von Barnhelm, Jfflands Die Hagestolzen,
Nissels Ein schöner Wahn, verschiedene Lustspiele Diderots &c. Das rührende
Lustspiel ist schwer vom bürgerlichen Schauspiel zu unterscheiden (S. 467 d. Bds).
5. Tritt als Tendenz des Lustspiels die Geißelung der Verkehrtheiten
und sittlichen Schwächen einer bestimmten Zeit oder bestimmter Verhältnisse und
Personen zutage, so nennt man es wohl auch Sittenstück. Beispiele:
Michels Du sollst nicht lügen; Zahlhas' Ludwig XVI. und sein Hof.
6. Die französischen Übersetzungslustspiele bestechen durch leichte, gewandte
Konversation, die sich, bei Licht besehen, meist als oberflächliches Salongeschwätz
erweist. Jhrem dichterischen Wert nach sind diese Lustspiele oft zweifelhaft,
ihrem ethischen Gehalt nach ebenso oft verwerflich.
Die französischen Lustspieldichter haben nur mehr Routine als wir. Sie
sind geborene Akteurs, aber sie kennen keine tiefere Bedeutung ihrer Kunst;
sie betrachten sie als Geschäft und sind zufrieden, wenn dieses sich als einträglich
erweist. Daher bei ihnen auch kein Verständnis Shakespeare's. Wie
Jffland und Kotzebue sind sie deshalb (Scribe etwa ausgenommen) bald verbraucht
und vergessen. So viele ihrer auch sind, so haben sie der Welt in
der Kunstform nichts Neues zugeführt; es müßten denn die Drames proverbes
erwähnenswert sein; alle bewegen sich in längst ausgefahrenen Geleisen. Dagegen
hat sich der Jnhalt der Komödien in ihren Händen immer mehr verschlechtert.
Seit Viktor Hugo, Georges Sand, Alex. Dumas, Scribe und
Alfred de Musset sind die Konflikte der Ehe der Lieblingsgegenstand der Lustspiele
geworden. Mächtige Deklamationen und große Gewandtheit in der sinnlichen
Farbe wollen wir diesen Dichtern gern zugestehen; aber sie sind unfähig,
ihre Paradoxien glaubhaft durchzuführen, weil sie ohne den mindesten Respekt
vor der Wahrheit und den sittlichen Maximen ihre Gestalten, ihre meist infamen
Kreaturen schaffen. Solche Geschöpfe, auch wenn sie im heutigen Frankreich
möglich sein sollten, gehören nicht auf die Bühne. Es sind Sünden gegen die
menschliche Natur. Was wir von ihnen lernen, ist die liederliche Atmosphäre, [483]
welche die wunderliche Art der Kulturbewegung über Paris verbreitet hat. Kein
Staat kann in ihr leben und gedeihen. Sie erzeugt vernichtende historische
Gewitter, Revolutionen wie die von 1789, welche die grundliederliche Epoche
von Ludwig XIV., der Regentschaft und Ludwig XV. beendigt, und zu Niederlagen
führte, wie die von 1870. Wir sind ein junger, in Gesundheit aufstrebender
Staat, wir haben dem Pariser Treiben in der Politik eine Ende
gemacht, wir müssen uns auch von der Jmmoralität der französischen Bühne,
besonders im Lustspiel (wie auch in der Operette), emanzipieren. Wir haben
eine Hauptstadt, in welcher das öffentliche Leben pulsiert, wie es in Paris
bewegter, aber nicht folgenreicher sein kann. Unser Berlin hat alle Fähigkeit
und alle Bedingungen, für die Zukunft der Boden für ein nationales Lustspiel
zu werden, für ein gutes Konversationsstück wie für das Jntriguenstück.
Bessere Beispiele des französischen Übersetzungslustspiels sind: Eugene Scribes
Der Weg durchs Fenster; Sardous Moderne Kleinstädter; Th. Barrières Die
Jagd nach einem Schwiegersohne; Goudinets Papas politische Grundsätze;
H. Chivôts Hausherrnfreuden; Hennequins Jch erwarte meinen Onkel; Leroys
Cousin Jaques; E. de Girardins Lady Tartüffe, Bayards Der Vicomte de
Létorières u. a. Als Beispiele empfehlen sich noch die bereits oben erwähnten
Proverbes dramatiques, von denen die besseren besonders von Carmontelle
und Leclercq durch Wolf Graf Baudissin in's Deutsche übersetzt wurden (z. B.
Versprechen ist Eins und halten ein Andres; Wer den Kern essen will, muß
die Nuß knacken; Man muß jeden kratzen, wo es ihn juckt; Jeder hat seinen
Sparren; Wer einen Gesellen bei sich hat, der hat auch einen Meister bei sich;
Könnte der Narr schweigen, so wäre er weise; Ein wenig Hülfe ist oft viel
wert &c.). (Unter Proverbes versteht man kleine improvisierte Salonlustspielchen
[comédies de paravent] mit nur 1 Scene und 2 Personen, deren Schlußwort
oder Moral ein bekanntes Sprichwort ist, die schon von der Maintenon gepflegt
wurden, aber erst durch Carmontelle und Leclercq, Monnier, Musset,
Feuillet u. a. zur Bedeutung gelangten. Ein reizendes deutsches Proverbe von
der Baronin v. Ebner-Eschenbach ist im vorigen Jahr in den Dioskuren erschienen.
Vgl. auch deren Veilchen.)
§ 171. Einteilung nach Entwickelung und Verwickelung, sowie
das Jdeal eines deutschen Lustspiels.
1. Jn Hinsicht auf Entwickelung und Verwickelung scheiden sich
die Lustspiele
a. in Charakterlustspiele,
b. in Jntriguenstücke.
2. Das Jdeal eines guten deutschen Lustspiels liegt zwischen diesen
beiden in der Mitte.
1. Tritt der Kontrast eines Charakters oder mehrerer Charaktere des
Lustspiels mit der praktischen Wirklichkeit des Lebens vorzugsweise hervor (d. h.
scharfe Entwickelung der Charaktere mit Hervorkehrung der Eigenheiten, der [484]
Vorzüge, Mängel, Verkehrtheiten &c.) so heißt ein solches Stück Charakterlustspiel.
Beispiele sind: Molières Tartüffe; Shakespeares Falstaff; Freytags Journalisten;
W. v. Hillerns Ein Autographensammler; Laubes Gottsched und Gellert;
v. Plötz' Der Haustyrann; Birch-Pfeiffers Ein Kind des Glücks; W. Klägers
Ludwig Devrient; Sheridans Lästerschule (übers. v. Schröder); Schröders Der
Ring; Kotzebues Die beiden Klingsberge; Feldmanns Der Sohn auf Reisen,
Der Rechnungsrat und seine Töchter &c. &c.
Liegt dagegen das Komische mehr in der Überlistung und in der Gewandtheit,
die Verhältnisse zu gestalten: also in der feinen und reich verschlungenen
Verwickelung, im neckischen Spiel des Zufalls, in Durchkreuzung, Schaffung
und Aufhebung der Verwickelungen, so heißt das Lustspiel Jntriguenstück.
(Eine Eigentümlichkeit des mehr dem romanischen Charakter zusagenden Jntriguenlustspiels
─ das Herauswinden aus der Verwickelung ─ illustriert eine Anekdote,
die man sich von Scribe, dem Meister desselben, erzählt. Es waren ihm
die einzelnen Momente und der Zusammenhang seiner früher geschriebenen
Lustspiele entfallen, die er immer wieder mit großem Jnteresse aufführen sah.
Da wo der Knoten am besten geschürzt war, rief er in höchster Erregung aus:
„Wie werd' ich mich da nur herausgewunden haben?“) Beispiele sind: Shakespeares
Was ihr wollt; Schillers Neffe als Onkel; Doczi's Kuß; Karl Mallachows
Der Chevalier de Liriac; Ed. Ellersbergs Eine Damenverschwörung; A. Schröders
Verheiratet wider Willen; A. Heinrichs Der Augenblick des Glücks; M.
Dolmanns Fürst und Kavalier; A. Schreibers Der Jesuit und sein Zögling &c.
2. Wir brauchen uns keinen Vorwurf zu machen, daß wir an Witz,
Schlauheit, Jntrigue &c. den Franzosen nachstehen. Unsere Originalität liegt
im Herzen. Daher wird das Jdeal eines deutschen Lustspiels weder ausgeprägtes,
die Jntrigue und die Situationsmalerei vernachlässigendes Charakterstück noch ein
die Charakteristik unterschätzendes Jntriguenstück sein können. Dieses Jdeal liegt
vielmehr mitten innen. Es braucht nur darnach zu streben, die Schwächen und
Thorheiten im Spiegel des Humors zu zeigen, um ein Charakterstück zu werden,
das nicht als einzige Hauptsache die Charakteristik anstrebt, vielmehr auch die
Fülle des Jnhalts berücksichtigt, die interessante Verwickelung und die naturgemäße
Lösung. Die aufmerksame Charakteristik wird das lichte Moment bilden,
um durch das verschlungene Gewirr von streitenden Jnteressen und Verwickelungen
sicher hindurch zu führen.
So entsprechen wir den Lessing'schen Traditionen und wahren uns ein
national=deutsches Lustspiel, auf das wir ebenso stolz sein können, wie die Jtaliener
auf ihre Masken, die Engländer auf ihre Charakterstücke, die Franzosen
auf ihre Vaudevilles, die Spanier auf ihre Mantel- und Degenstücke &c.
§ 172. Einteilung nach Form und Ausdehnung.
Jn Beziehung auf Form und Ausdehnung unterscheidet man:
a. die Bluette, b. das höhere, c. das niedere Lustspiel und dessen
Abarten.
a. Erreicht ein Lustspiel nur die Ausdehnung eines kurzen Aktes, so heißt
man es Bluette. Beispiele: Jmmermanns Die schelmische Gräfin; Wachenhusens
Wenns der Arzt erlaubt; R. Genées Ehestandsexercitien; Faust Pachlers Loge
Nr. 2; Benedix' Eigensinn &c.
Schubladenstück nennt der Schauspieler diejenige Bluette, welche ihm
Gelegenheit giebt, seine Fertigkeit in Anwendung einer gewandten Aufeinanderfolge
verschiedener Masken zur Entfaltung zu bringen. Beispiele hiervon finden
sich in der von Bloch herausgegebenen Bluettensammlung; ferner bei Kotzebue;
vgl. auch Elsholtz' Komm her! &c.
b. Das S. 478 4 und 3 erwähnte feinkomische Lustspiel (z. B. Scribes
Glas Wasser, Sardous Letzter Brief), insbesondere aber das Lustspiel in gebundener
Rede (z. B. Doczi's Kuß &c.) nennt man höheres oder feines Lustspiel.
c. Für das niedere Lustspiel wählt man mit Recht die Prosa, da diese
ja der unmittelbarste Ausdruck des wirklichen Lebens ist.
Als Abarten (Unterarten) des niederen Lustspiels führen wir nachstehend auf:
1. Die Posse mit den Unterarten Lokalposse, Zauberposse und Schwank
(§ 173). 2. Die Tierkomödie (§ 174).
§ 173. Posse, Lokalposse, Zauberposse, Schwank.
1. Posse (oder Galeriestück) nennt man dasjenige realistische Lustspiel,
in welchem das Niedrigkomische, das Derbheitere, Burleske vorherrschend
ist. Die Übertreibung und das Haschen nach lächerlichen
Effekten, die Karikierung in der Charakteristik und in den einzelnen
Situationen macht das Lustspiel zur Posse. (I 106. 3.)
2. Behandelt die Posse Lokalinteressen und ist sie mit Lokalwitzen
versehen, so heißt sie Lokalposse.
3. Weitere Unterarten der Posse sind die Zauberposse und der
Schwank.
1. Jn der Posse kann sich die Vollkraft der Komik entfalten. Zur derben
burlesken Handlung derselben und ihren komischen Situationen sind Sprache,
Kleidung, Geberden &c. die nötige Beihülfe. Jedes feinere gesellige Element
aber ist verbannt. Gewöhnlich ist es irgend eine menschliche Thorheit,
welche mit Laune und Witz in seiner nicht selten die Grenzen der Wahrscheinlichkeit
überschreitenden Weise gezeichnet und lächerlich gemacht wird. Die Posse
geht in ihren grellen Übertreibungen planmäßig darauf hinaus, Lachen zu erregen.
(Echte Possen sind z. B. von Kotzebue Pagenstreiche, Der Wirrwarr &c.)
Jn neuester Zeit ist leider die Posse um so beliebter, je mehr sie schon
durch den Ort der Handlung (Eisenbahnperron, Tingeltangel, Skating-Rink)
Sensation erregt und sich der Lokalposse nähert. Wie oft ist Die Reise durch
Berlin, Die Reise um die Welt, Drei Monate nach dato &c. applaudiert
worden. Und wo wären nicht Rosens O diese Männer &c. und O. Mosers
Hypochonder, sowie Sklave gegeben worden, von den französischen: Hôtel
Godelot, Bébé &c. mit ihrem frivolen Ton gar nicht zu sprechen.
2. Die Lokalposse ist ein Gemisch von Lustspiel, Dialektstück und Liederspiel.
Nach Louis Schneider ist sie die einer Stadt eigentümliche Posse, welche
entweder allgemeine Vorfälle und Situationen, oder besondere Gebräuche, Sitten,
bekannte Vorgänge derselben in demjenigen Dialekt schildert, der dem Volke
eigen ist. Sie bringt Volksfiguren auf die Bühne, gruppiert diese um irgend
ein Volksfest, eine auffällige Begebenheit, und wirkt schlagend, wenn die Charakteristik
der Personen glücklich ist. Das komische Lied, die satirische Pointe,
Calembourg und Couplet gehören recht eigentlich in das Gebiet der Lokalposse. Nur
Jtalien und Deutschland können dergleichen Lokalpossen haben, weil die Dialekte
in beiden Ländern unter sich so sehr verschieden sind. Wien, Berlin, Hamburg
und Frankfurt a. M., ja auch München haben vollständig ausgebildete Lokalpossen.
Es ist eine irrige Ansicht, daß die Lokalposse die Form für Willkür,
Übertreibungen und Unwahrscheinlichkeiten sei, daß sie strengere Kunstregeln
ignorieren könne, ja, daß sie bis zum ausgelassensten Witz und bis an die
Grenzen des Läppischen und Gemeinen vordringen dürfe; denn nicht der niedere
Geschmack der Galerie ist in der Ästhetik maßgebend, sondern der gebildete
Geschmack des gebildeten Publikums. Dieses kann nur wünschen, daß die
Lokalposse manierlich bleibe und nicht durch allzu vulgären Ton abstoße.
Die Lokalposse stammt aus Wien, wo der 1737 aus Deutschland verbannte
Hanswurst (I 53) freundliche Aufnahme fand und Bernardon das erste Stück
dieser Art schrieb. Hensler schrieb Das Donauweibchen; Meisl Das Gespenst
auf der Bastei. Bäuerle, der Erfinder des Ausspruchs: 'S giebt nur a Kaiserstadt,
's giebt nur a Wien, schrieb Staberls Hochzeit, Staberls Wiedergenesung &c.
Nun folgte Raimund und besonders Nestroy, welcher der Wiener Lokalposse
ihre heutige Form verlieh. Hopp schrieb Doktor Fausts Hauskäppchen. O. F.
Berg und Anton Langer vermittelten den Übergang zur Berliner Lokalposse; ihre
Stücke wurden nämlich nach Berliner Bedürfnissen zugearbeitet, „berolinisiert“.
Die Hauptvertreter der Berliner Lokalposse waren Angely und Karl von Holtei.
Dazu kamen Jul. v. Voß und Fritz Beckmann, durch dessen „Eckensteher
Nante im Verhör“ Nante in Berlin dieselbe stehende Figur wurde, als Staberl
(durch Adolf Bäuerles Staberliaden) in Wien, oder Kasperl (durch Poccis
Kasperliaden) in München, oder Hampelmann in Frankfurt a. M. Epochemachend
wurden David Kalisch (Berlin bei Nacht; Aktienbudiker &c.) und
Aug. Weirauch (Kieselack und seine Nichte), welch' beide der Lokalposse eine
Art Jdeal gaben. Noch thaten sich hervor: A. Hopf (Eine Nacht in Berlin);
Denecke und R. Hahn (Ein Tag in der Residenz); Jakobson und Salingré u. a.
Jn Frankfurt machte in der Lokalposse Epoche Carl Malß, der Verf. der
Hampelmanniaden, sowie Fr. Stoltze; in Hamburg Georg Starke und Krüger;
in München Schleich und Prüller.
3. Die Zauberposse ist jene Art niederen Lustspiels, welche die Welt des
Wunderbaren, des romantisch Zauberhaften, Märchenhaften, Phantastischen mit
dem Wirklichen in Beziehung bringt. Gepflegt wurde sie vor allem durch den
Dresdener Hofschauspieler Gust. Raeder in „Weltumsegler wider Willen“ (den
Raeder unter dem Pseudonym von W. Emden == Von wem denn? erscheinen [487]
ließ), ferner in Der Artesische Brunnen; Ella; Flick und Flock, in welch letzterem
Stücke den Reisenden sogar Wolkenwagen zur Verfügung stehen u. s. w. Told
in Wien schrieb den wohl über 3000 mal aufgeführten Zauberschleier; Raimund
Der Verschwender, ferner Der Barometermacher auf der Zauberinsel. W. Friedrich
lieferte Die Tochter des Lucifers; A. Gerstel „Gott Marius“; Osw. Marbach
Shakespeare-Prometheus; Elmar Des Teufels Brautfahrt; Krüger „König
Wein“; A. Hopf Der Liebestraum eines Jünglings; Meisl Arsena die Männerfeindin;
Ferd. Fränkel Der Goldsee; Jakobson „Lehmann im Feenreiche“; Nestroy
Das liederliche Kleeblatt; Trautmann Ein moderner Faust &c.
4. Schwank (franz. la farce == Die Farce) ist eine niedrig komische,
burleske Abart der Posse. Ursprünglich war dem Schwank wesentlich die lustige
Person (Der Narr, der Pickelhering, Kasperle, Hanswurst, der englische Clown,
der italienische Harlekin). Diese Person hatte dieselbe Aufgabe, welche der
griechische Chor als vox populi zu erreichen hatte. Sie lieferte keinen Beitrag
zur Handlung, aber wie der attische Chor begleitete sie die Handlung mit
derben Wahrheiten, oder mit Spötteleien und Sticheleien, die in die schalkhafte
Form der ironischen Dummheit oder Plumpheit eingekleidet war. Sie redete den
Zuschauer an, um Winke zu geben und die Vermittlung zwischen Dichter und
Publikum herzustellen.
Christian Weiße, der den Pickelhering oft anwandte, sagt über ihn: „Die
Sache beruht auf einer also genannten Prosopopöie. Denn ein jeder Mensch
ist so gesinnt, daß er über andrer Leute Verrichtungen sich verwundert, und
wo nicht öffentlich, dennoch im Herzen eine kleine Satiram darüber machet.
Absonderlich wenn etliche Personen auf dem Theater vorgestellt werden, so
geschieht es darum, daß die Zuschauer sich dabei verwundern und von der Sache
selbst ernsthaft oder höhnisch raisonnieren sollen. Damit nun den Leuten in
solcher Verwunderung gleichsam eine Sekunde gegeben werde, so wird eine
Person dazu genommen, welche gleichsam die Stelle der allgemeinen satirischen
Jnklination vertreten muß. Also trifft es sich unterweilen, daß eine solche
Person mitten in der Kurzweil die klügsten Sachen vorbringt.“
Die zur Lachlust anregenden Momente der Posse finden ihre Unterstützung
durch die Mimik und die Gestikulationen des Darstellers, durch die Ausdrucksweise,
Betonung, Kunstpausen, Wortspiele, Dialekt &c., durch geschickte Hervorkehrung
der Pointe (acumen), des schlagenden Witzes (I 103 ff.) &c.
Zur Litteratur der Posse.
Bekannt gewordene Possen schrieben: Theodor Hell (Die Benefizvorstellung);
Kotzebue; F. C. Hiller; Kalisch; Salingré (Die Reise durch Berlin &c.); Görlitz
(Das große Loos); Adolf L'Arronge (Der Neuigkeitsjäger &c.); W. Mannstädt
(So muß es kommen); Fr. Hopp (Doktor Fausts Hauskäppchen); Jul. Stettenheim
(Ein gefälliger Mensch); Räder (Robert und Bertram); Charlotte Birch=
Pfeiffer (Gasthaus-Abenteuer); Görner (Ein billiger Mann); Nestroy (Einen Jux
will er sich machen); Ad. Müller (Die Gebrüder Haas, eine jüdische Posse);
Belly (Monsieur Herkules); A. Christen (Das Loch in der Wand); Morländer [488]
(Kling, kling!); G. v. Moser (Aus Liebe zur Kunst); Jos. Doppler (O Susi);
Grandjean (Er kann nicht lesen); Louis Schneider (Der Kurmärker und die Picarde);
G. zu Putlitz (Der Brockenstrauß); Anna Löhn-Siegel (Das falsche Jettchen);
H. Beyer (Die vier Sterne); Louis Julius (Eine Nacht in Salzbrunn) u. v. a.
Bekannt gewordene Schwänke lieferten: C. A. Görner (En passant!);
E. Dohm (Jhr Retter); E. Pohl (Ein flotter Bursche); Hans Arnulph (Edle
Zeitvertreibe); Oskar Blumenthal (Wir Abgeordneten); F. A. Sauer (Unglücksrabe);
Carl Görlitz (Subhastiert); L. F. Trabnitz (Der Bürgermeister
von Adersbach); E. Jacobson (Ännchen vom Hofe); J. F. Nesmüller (Nur
reell); O. Devrient (Zehn Minuten Aufenthalt); Gottfr. Böhm (Penelope);
Rud. Genée (Das heiß Eisen nach H. Sachs); Stix (Überall Diebe); Gräser
(Eine reife Melone); Grandjean (Drei Viertel auf Elf); Stuckenbrock (Berliner
im Elsaß); Franz Volger (Brandenburger und Lothringerin); Carl Sonntag
(Frauen-Emanzipation); A. Günther (Pseud. f. Herzog Elmar v. Oldenburg:
Jn Hemdsärmeln); F. Wehl (Ein modernes Verhängnis); Schmithoff (Moltke
in Köpenick); W. Friedrich (Öffentlichkeit und Mündlichkeit); F. Schütt (Reisende
Engländer); Marie Knauff (Die vergessenen Schuhe); Angely (Die Weihnachtspräsente)
u. a. m. Man vgl. hiezu die im Verlagsbüreau zu Altona
erschienenen Possenspiele.
§ 174. Die Tierkomödie.
Sie ist eine Abart des Lustspiels, welche die Komik des Lustspiels
dadurch zu steigern sucht, daß sie Tiere handelnd auftreten läßt.
Den Franzosen gebührt das zweifelhafte Verdienst ─ das liebe Vieh auf
die Bühne gebracht zu haben. Die erste Tierkomödie (Der Goldesel)
wurde Anfangs dieses Jahrhunderts in Paris gegeben, wobei ein wirklicher
Esel die Hauptrolle spielte. Paris fand an der eselhaften Handlung Geschmack,
und bald gab es spekulative Schriftsteller, welche die „Hauptpersonen“
ihrer Lustspiele dem Tierreiche entlehnten.
Den glücklichsten Griff that Guilbert-Pixérécourt (1773─1844) mit
seinem historisch=romantischen Drama: Der Hund des Aubry, dessen
Jnhalt der bekannten Sage „Die Königin von Frankreich, die vom
Marschall verleumdet wird“ (S. 242 d. Bds.), entlehnt ist. Der dressierte
Pudel versetzte den Pariser Janhagel in Begeisterung. Sein Läuten der Glocke
am Wirtshaus, in dem sein ermordeter Herr gewohnt, das Zerren am Kleide
der Wirtin, die grimmige Verfolgung des Mörders &c. waren so natürlich, als
ob er mit seinem Herzen an der Handlung sich beteiligt hätte. Jm Theater
an der Wien kam Der Hund des Aubry (in von Castelli besorgter Übersetzung)
am 26. September 1815 zum ersten Male zur Aufführung. Dieses
Stück übte um so größere Zugkraft auf die Wiener, als auf dem Zettel in
berechneter Weise gebeten wurde, „sich beim Erscheinen des Hundes gefälligst
ruhig zu verhalten, um eine mögliche Störung des eigenen Vergnügens zu
verhüten“. 1816 wurde das Stück an der Berliner Hofbühne gegeben. [489]
Goethe, der seine Weimarer Bühne nicht „auf den Hund“ bringen wollte, widersetzte
sich der Aufführung und erhielt dafür seine Entlassung als Weimarer
Jntendant. Jn Amsterdam wurde das Stück 30mal hintereinander gegeben.
Schwierig war es für die Darstellung, einen genügend resignierten und kuragierten
Darsteller für den Bösewicht Macaire zu finden, der sich vom Hunde
am Halse packen und zu Boden werfen ließ. Um den treuen, vierfüßigen
Helden zum Verfolgungsakte anzueifern, bediente sich der betreffende Schauspieler
eines unter dem Halstuche verborgen gehaltenen Leckerbissens, der auf
die Geruchsorgane des Pudels wirkte.
Joachim Perinot schrieb eine Parodie in Knüttelversen: Dragan, der
Hund des Aubry. Sie wurde am 3. Februar 1816 (dem Todestage
Perinots) im Leopoldstädter-Theater gegeben.
Als der Hund nicht mehr zog, versuchte man es mit anderen Tieren,
die aber von Künstlern dargestellt wurden. Unmittelbare Nachfolgerin war
„Die Elster, oder die Magd von Palaiseau“ (1816 im Theater an der
Wien aufgeführt). Das an lebende Tiere gewöhnte Publikum fand aber an
dem Vogel, der durch seinen Diebstahl von Silberlöffeln ein ehrliches Dienstmädchen
verdächtigte, wenig Gefallen, da der Vogel nur durch Mechanik über
die Bühne flatterte. Man griff wieder zum Hund und gab in Wien: Der
Hund vom Gotthardsberg, ein ebenfalls dem Französischen nachgebildetes
Melodram. Für den geschickten Darsteller Mayerhöfer in Wien, der als Wolf,
Tiger, Löwe und Leopard Unglaubliches geleistet haben soll (vgl. Hamb.
Th.=Chronik) wurde eine ganze Serie von Stücken geschrieben, z. B. Der
Wolfsbrunnen, Der Leopard und der Hund &c. Von Mayerhofer ist bekannt,
daß er einst als Wolf verkleidet eine Schafherde in die Flucht jagte, wobei
er fast ums Leben gekommen wäre, da es schwer hielt, zwei wütend auf ihn
eindringende Wolfshunde von ihm loszureißen. Als er in Rußland verschollen
war, versuchte sich der Petersburger Mimiker Springer 1831 in Wien als
Löwe in „Der großmütige Löwe“, und später ─ als die reißenden Tiere
nicht mehr zogen ─ als Affe. Der berühmte französische Mimiker hatte die
Affendarstellungen zu Anfang der zwanziger Jahre eingeführt. Das erste
deutsche Debut des Affen war im Wiener Kärntnerthor-Theater (August 1826)
in einem Taglionischen Ballet: „Domina, oder Joko, der brasilianische Affe“,
mit Musik von Lindpaintner. Das Theater an der Wien brachte sofort das
große melodramatische Spektakelstück: „Domi, der brasilianische Affe, oder:
Negerrache“, mit dem Mimiker Springer in der Titelrolle, der seinen Kollegen
Joko an Kühnheit und Edelmut überbot, ein Kind rettete, mit einer Schlange
kämpfte, von einem hohen Felsen herabstürzte &c.
Jm Melodrama: „Ori, oder Das Zigeunerweib“ kam kurz darauf noch
ein dritter durch Carolle aus Paris dargestellter, brasilianischer Affe auf die
Bühne: Tom Rick, oder Der Pavian, eine aus dem Französischen übersetzte,
in der Josephstadt am 1. Juli 1834 aufgeführte Tierkomödie, zu welcher
Kapellmeister Kreutzer eine Musik schrieb. Als im Jahre 1831 der Bürgermeister
von Magdeburg den englischen Affendarsteller Klischnigg zurückwies, [490]
meinte dieser, das sei sehr schlimm und kratzte sich mit dem Fuß hinter dem
Ohr. Da gab der frappierte Stadtvorstand seine Zustimmung und der Gymnastiker
wußte mit seinen bald beliebten Affendarstellungen allerwärts riesige
Kassenerfolge zu erzielen. Am 23. Juli 1836 trat Klischnigg in der von Nestroy
eigens für ihn geschriebenen Gelegenheitsposse „Der Affe und der Bräutigam“
auf, die den Gegenstand von „Tom Rick“ benützte. Das Stück wurde wohl
über 50 Mal gegeben. Klischnigg spielte in Wien noch in folgenden Stücken:
Der Affe als Mensch; La Peyreuse, oder: Der Affe von Malicolo; Affe
und Frosch; endlich in „Gig-Gig“, worin er als Affe, Frosch, Tiger und
Schildkröte auftrat. Er hatte viele Nachäffer selbst in den obskursten Wirtshäusern,
bis „Der Wettritt um Columbinens Hand, oder: Affen über Affen“,
eine in der Leopoldstadt gegebene Pantomime, diese Affenmanie choreographisch
geißelte und die Periode der eigentlichen Tierkomödie abschloß.
An Versuchen, die Tiere auf der Bühne zu erhalten, fehlte es freilich
nicht. Ein Direktor (Carl) hielt es für wünschenswert, den Räubern von
Schiller durch Mitwirkung von Pferden auf die Beine zu helfen. Jn einem
Spektakelstück ließ er ein Kamel aus der Menagerie, ein andermal eine Giraffe
auftreten. Ein anderer Direktor (Brauer) hat mit der Schauspielerin Kratz
im Carlstheater Die Verwandelte Katze und Die Hirschkuh gegeben.
Viele Theater-Direktionen glauben noch heute, auf die Mitwirkung von
Pferden nicht verzichten zu sollen u. s. w.
§ 175. Verschiedenartige Benennungen bestimmter dramatischer
Gattungen und ungewöhnliche Namen einzelner dramatischer
Dichtungen.
Obwohl in der Benennung der dramatischen Dichtungen im allgemeinen
große Übereinstimmung herrscht, so belieben doch einzelne
Dichter a. Abweichungen in der Benennung der Spezies oder gestatten
sich b. Absonderlichkeiten in Benennung ihrer dichterischen Erzeugnisse.
a. Viele Dichter, welche mit der Posse Musik vereinen durch Einfügung von
Couplets &c., nennen das so entstehende Liederspiel (§ 181 d. Bds.) Posse mit
Gesang (z. B. Langer's Der Aktien-Greißler), oder Liederposse (z. B.
Holtei's Ein Achtel vom großen Los), oder Burleske mit Gesang (z. B.
Stix' Er ist unsichtbar), Komisches Zeitbild mit Gesang (z. B. Elmar's
Der schönste Zopf) u. s. w.
Barth. Ponholzer nennt sein dramatisches Gedicht „Der ägyptische Joseph“
ein biblisches Volksschauspiel mit Dialog, Chören, Schaubildern in 5 Aufz.
O. Mylius bezeichnet sein Lustspielchen „Beim Standesbeamten“ als
komisches Genrebild; Nißl und Schlesinger eine dramatische Scene als
„ländliches Gemälde“ u. s. w.
Vielfach wird die drastisch wirkende Posse Burleske genannt (z. B.
Herm. v. Glasenapps Der Bey von Tripolis). Th. Gaßmann nennt seine [491]
Zauberposse Das Rätsel des Glück's ein romantisch=komisches Zauberspiel,
obwohl die Epitheta ornantia selbstverständlich sind u. s. w.
b. Verwerflich ist die Manier gewisser Dichter, die Titel ihrer Stücke wie
Küchenzettel aufzubauschen und durch dieselben schon im Voraus den Jnhalt
bekannt zu geben. Jch wähle nur wenige, abschreckende Beispiele:
Eginhard und Emma, oder Verbotener Lieb' und Löffelei erschreckliche
Folgen aber doch erfreuliches Ende, oder: Die Gründung der Großherzogl. Hessischen
Stadt Seligenstatt. Eine traurige wahrhaftige Historie sehr lehrreich und ergetzlich
zu sehen, zum erstenmal in eine hochdeutsche Tragödie abgefaßt zu Nutz und
Frommen wie Seelenergetzung für hoch und niedrig durch Cyprianum Jocosum,
art. lib. mag.
Der Tyrann von Syrux-Kuß, oder: Es geht nichts über Worthalten.
Großes hist. unsinnig=theatralisch romantisches Fastnachtspossen-Puppenspiel
mit Gesang und Tanz, frei bearbeitet nach einem verloren gegangenen
Schillerschen Fragment in 4 A. von L. A. Görner.
Der Schmied von Antwerpen, oder: Quintin Messis. Ein lyrisches
Spiel mit Prolog, Zwischenrede und Epilog von Mor. Horn.
Esther, Vorbild der Kirche, oder: Kampf und Sieg der Religion. Scenische
Darstellung in Schaubildern (Tableaux), Deklamation und Gesang. Für Frauendarstellungen
von Barth. Ponholzer.
Der blutige Pantoffel an der Kirchhofsmauer, oder: Das vergiftete
Dreierbrödchen. Große historisch=romantische Tragödie in 5 Aufwicklungen von
Chemnitz u. s. w.
Jnwieweit solche geschraubte Titel, die das krankhaft=krampfhafte Bemühen
allzugroßer Deutlichkeit oder Komik auf der Stirn tragen, mit den ästhetischen
Anforderungen (I § 26) vereinbar sind, ist wohl ohne Kommentar ersichtlich.
§ 176. Parodistische und travestierende Dichtungen verschiedener
dramatischer Gattungen.
Die Parodie wie die Travestie soll das Erhabene nicht in den
Staub ziehen, vielmehr eine Abwehr gegen falsche Tendenzen, Verirrungen
auf allen Gebieten bilden, besonders auf denen der Kunst
und Litteratur (vgl. S. 193 ff. d. Bds.).
Einem Herabziehen des Erhabenen in den Staub scheint es gleichzukommen,
wenn Röller Schillers herrliche Jungfrau von Orleans, J. L. Weber
Kabale und Liebe, sowie Raupachs Der Müller und sein Kind travestiert, oder
wenn Joh. Bapt. Vogl eine Parodie zur Sophokleischen Ariadne auf Naxos
liefert. Dagegen erscheinen die S. 195 d. Bds. verzeichneten Parodien Mahlmanns
und Castellis &c. vollberechtigt. Die bekanntesten Parodien dramatischer
Dichtungsgattungen, die sich zum Teil wenigstens für einen Augenblick der
Gunst des Publikums erfreuten, sind von folgenden Dichtern:
Bäuerle (Leopoldstag, eine Parodie auf Menschenhaß und Reue), Laun
(Pseud. für Fr. Aug. Schulze; verspottet im Marionettentrauerspiel die Schicksalstragödie); [492]
Platen (Die verhängnisvolle Gabel parodiert Müllners Schuld);
W. v. Merkel (die geistreiche gelungene Sigelind parodiert Redwitz' Sieglinde);
Fränkel (Die Zunftmeister von Krähwinkel sind eine Verhöhnung des
Redwitzschen Der Zunftmeister von Nürnberg); Görner (Die Waise von Berlin
ist ein komisches Widerspiel von Die Waise von Lowood); Morländer (Die
Naturgrille parodiert Die Grille); Nestroy (Nagerl und Handschuh parodiert
„Aschenbrödel“) &c.
Durch absonderliche Titel machen sich folgende Parodien bemerklich:
Die schöne Helena, oder Troja in Dalles. Parodierende, travestierende,
memorierende, extemporierende Schau=, Trau=, Rühr- und Thränenposse mit
Allocution, Tingeltangel, Sang, Klang, Tanz, Keilerei und Gartenvergnügen
in 3 A. und 2 Zwischenpausen von A. U. Tor (Musik vom Komponisten).
Kieselherz, Prinzessin von Nirgendswo. Ein tragi=komisches Märchen
frech bearbeitet nach Gozzi und Schillers Turandot von Dreien.
Der blaue Frack und seine Folgen. Ein Familienjammer in 1 Akt
als parodierender Schwank oder schwankende Parodie von Alexander Baumann.
Ritter Toggenburg, oder: Liebe, Haß, Rache, Reue, Romantik,
Selbstmord und moralisches Bewußtsein. Unglaublich tragisches Fastnachtsspiel
von G. Schönstein u. s. w.
Zum Schluß schreibe ich noch die bekanntesten Parodien und Travestien
musikalisch dramatischer Formen her:
Frau Vasko, oder die bildschöne Afrikanärrin, oder: Geographische
Konfusionen, oder: Was sich der Mazanillo-Baum erzählt, oder: Der verschlagene
Marine-Offizier. Kolossal große heroische, phil─an─tropische Gegenden
erinnernde Oper in 4 bis 5 Akten mit Gemurmel, Seufzern und anderen
gangbaren Melodien von Siegfried Eisenhardt (quidam). Musik von Charles Lecocq.
Hepp, hepp! oder: Die Meistersinger von Nürnberg. Große konfessionell=socialdemokratische
Zunftoper in 3 gegenwärtigen Akten für die Vergangenheit
komp. von Richard (Schmidt-Cabanis). Text auch von Richard, aber
von einem andern.
Die Prinzessin von Dragant. Komische Operette in 3 Akten
nach Nestroys Lohengrin-Parodie von Costa und Grandjean. Musik von Suppé.
Pumphia und Kulikan. Eine Karikatur-Oper in 2 Akten nach
Bernardon Kurz. Ganz neu bearbeitet in Knüttelreimen von Joachim Perinet.
Musik von Teyber.
Pygmalion, oder: Die Musen bei der Prüfung. Parodie in 2 Akten
in Knüttelversen mit Arien und Chören. Vom Verf. der Modesitten.
Parodie von Robert der Teufel von Boilot. Deutsch von Treumann.
Parodierende Posse ist die Afrikanerin von Görner. (Musik von Buthemuth.)
Tannhäuser. Zukunftsposse mit vergangener Musik und gegenwärtigen
Gruppierungen in 3 Akten. Musik von Karl Binder.
Tannhäuser, oder: Die Keilerei auf der Wartburg. Große sittlichgermanische
Oper mit Gesang und Musik in 4 Akten. Text, Komposition,
Dekorationen und Beleuchtung von demselben.
Die travestierte Zauberflöte. Parodierende Posse von Meisl.
Alexander Stradellerl. Parodie der Oper Stradella mit Gesang
von A. Lödl. Musik von Ad. Müller.
Sechzig Minuten nach 12 Uhr. Parodie der Melodramen in
2 Akten mit Gesang und Tänzen von Meisl u. s. w.
§ 177. Litteratur der Komödie und Angabe von Proben.
Um das Wesen des Lustspiels an guten Beispielen zu studieren,
empfehlen wir:
1. Lessings Minna von Barnhelm, das beste Lustspiel seiner Zeit;
2. Kleists Der zerbrochene Krug;
3. Platens romantische Komödie Die verhängnisvolle Gabel;
4. Gutzkows Zopf und Schwert;
5. Doczi's Kuß;
6. Schaufferts Schach dem König.
Andere erwähnenswerte Lustspiele nennt der nachstehende Überblick
über die Litteratur, der sich selbstredend auf die hervorleuchtendsten
Namen beschränken mußte.
Griechen: Wie schon § 163 S. 456 d. Bds. angedeutet, hatte das
Lustspiel der Griechen einen ähnlichen Ursprung wie die Tragödie. Bei den
Dionysosfesten (S. 456 d. Bds.), hauptsächlich bei der Weinlese, wo, wie bei
unserem Fasching, die ausgelassenste Freude herrschte, führte ein Verein von 24
Landleuten Spiele auf, wobei die Zuschauenden geneckt und Lieder gesungen
wurden. So entstand die Komödie, als deren Begründer für Attika Susarion
(um 580 v. Chr.) und für Sicilien Epimarchos genannt werden. Jn Athen
hatte seit den Perserkriegen Chionides begonnen, die Komödie aus den Elementen
der Megarischen Schwänke zu entfalten.
Man unterscheidet 3 Perioden der kunstmäßigen griechischen Komödie:
1. Die alte Komödie (ἡ ἀρχαία κωμῳδία) etwa bis zur Zeit
der Dreißig um 404 v. Chr. mit den Dichtern Kretinos, Krates, Eupolis,
Pherekrates, Phrynichos und vor allen Aristophanes. (Von letzterem sind uns
11 Komödien aufbewahrt worden, die sich durch gewandte, schlagfertige Ausdrucksweise,
durch vollendeten Versbau und lebendige Darstellung auszeichnen,
und deren bekannteste sind: 1. Die Acharner, in welchen ein Bauer die
Vorteile des Friedens darlegt; 2. Die Wolken, welche die scheingelehrten
Sophisten, zu denen auch Sokrates gezählt wird, geißeln; 3. Die Ritter,
welche die Prozeßsucht der Athener und den Gerber Kleon lächerlich machen;
4. Die Frösche, die den Euripides als Tragödienverderber brandmarken;
5. Die Wespen, 6. Die Vögel &c. (vgl. S. 481 d. Bds.). Aristophanes'
Komödien, welche durch die Ochlokratie reichen Stoff erhielten, sind eine Art politischer
Censur, gewissermaßen die vox populi. Durch ihren öffentlichen Charakter,
der die Zeit in den Umrissen einer verkehrten Welt wiederspiegelt, [494]
gewinnen sie die beiden Elemente: das Phantastische und die Berechtigung der
Jnkonvenienz, wodurch sie der diametrale Gegensatz der Tragödie werden.)
Die ältere Komödie besaß den Chor, der sich zuweilen in zwei Halbchöre
teilte, ebenso wie die Tragödie; nur der Gesang zwischen den einzelnen Akten
fehlte ihr. Der Tanz (κόρδαξ) bestand aus ausgelassenen Sprüngen und
zuweilen unschicklichen, unzüchtigen Bewegungen. Eine Eigentümlichkeit des
komischen Chors war noch die Parabase (παράβασις): eine das Spiel unterbrechende
Digression, oder ein Jntermezzo, in welchem sich der Dichter mit dem
Publikum auseinandersetzte, indem sein Chor nach der Exposition den Ruhepunkt
im Dialog benützte, um zum Zuschauerraum gewendet eine Stellung auf der
Orchestra einzunehmen und die Schattenseiten des öffentlichen Lebens zu beleuchten,
die Götter zu preisen oder dem Publikum Wünsche und Anschauungen
des Dichters zu vermitteln. Die Sprache war der reinste Atticismus.
2. Die mittlere Komödie (ἡ μέση κωμ.) ist der Übergang der
älteren zur neueren. Statt angesehener Personen ─ wie dies bei der alten
Komödie der Fall war ─ verspottete sie Personen aus dem bürgerlichen Leben:
Handwerker, Krieger, Bauern, tragische Dichter &c. Die Chöre fielen bei ihr
ganz weg. Die Handlung wurde bewegter, mannigfaltiger; die Sprache kam
der gewöhnlichen Umgangssprache gleich. Aristophanes leitete diese Richtung
im Plutos ein; hauptsächliche Vertreter waren Antiphanes und Alexis.
3. Die neue Komödie (ἡ νέα κωμ.) erstieg eine höhere Stufe des
feinen, künstlerischen Aufbaus. Das politische öffentliche Leben verschwand in
der neueren Komödie von der Bühne; es kam das Charakterstück an die Reihe
mit selbsterfundener Fabel, kunstvoll durchgeführter Handlung und tüchtiger
Schilderung eines Charakters. Der Chor, der schon bei der mittleren Komödie
weggefallen war, kam nur noch als handelnde Person vor. Als Dichter sind
zu erwähnen Menander, Philemon, Diphilos, Apollodoros &c. Die Charaktere,
denen wir hier begegnen, sind (nach Lübker) dieselben, welche wir bei Plautus
und Terenz finden, nämlich: leno periurus, amator fervidus, servulus
callidus, amica illudens, sodalis opitulator, miles proeliator, parasitus
edax, parentes tenaces, meretrices procaces etc.
Römer. Nach Livius (7. 2) entstand der erste Anfang einer Komödie
in Rom um 363 v. Chr., indem man bei einer Pest die Götter durch ludi
scaenici (mimische Tänze ohne Gedicht) versöhnen wollte. Eine Art Komödie
waren auch die Atellanen, an deren Stelle später der Mimus trat. Jm Jahre
240 v. Chr. dichtete der griechische Freigelassene, Livius Andronikus, ein Stück,
dessen Vortrag durch die Flöte begleitet wurde. Den Schluß bildeten sodann
die Atellanen als Nachspiele (exodia). Die älteste kunstmäßige Komödie der
Römer finden wir bei Plautus, von dem 20 durch Danz, Kuffner, Rapp,
Köpke u. a. übersetzte Lustspiele auf uns gekommen sind, sowie bei Terenz, von
dem nur 6 von Kindervater, Roos und Einsiedel übersetzte Lustspiele vorhanden
sind. Nävius büßte den Versuch, die attische Komödie durch freimütige Angriffe
bei den Römern einzuführen, mit Gefängnis; die Folge war, daß die
Komödie des öffentlichen Charakters entbehrte und nie wie in Athen Staatsinstitut [495]
wurde. Teile der römischen Komödie waren: der Prolog (prologus),
diverbium (duiverbium) Dialog mit canticum; die von der Musik begleiteten
Gesangpartien überwogen nicht selten den Dialog. Der Chor fehlte
in der römischen Komödie. Man unterschied die den Griechen nachgeahmte
Komödie mit griechischem Leben und griechischen Sitten (die fabula palliata),
sowie die römische Komödie mit römischen Sitten und Trachten (die fabula
togata).
Jtaliener. Wie schon in den uralten römischen Atellanen die stehenden
Personen: Maccus, der gefräßige und lüsterne Dummkopf, Bucco (Großmaul),
ein unverschämt zudringlicher Schmarotzer und Schwätzer, Pappus, der
geizige, überall überlistete Alte, und Dossennus, der bucklige Beutelschneider,
sowie Schreckgestalten &c. waren, so hatte das Volkslustspiel in Jtalien schon
im 16. Jahrhundert folgende stehende Personen: einen pedantisch=gelehrten
Doktor, einen gutmütigen, ehrlichen, übervorteilten, venetianischen Kaufmann,
Namens Pantalone, einen pfiffigen Harlequin, den tölpelhaften Diener Pantalones
(der bei uns Hanswurst hieß) und den Scaramuzzo, einen prahlerischen
Spanier, der vom Harlequin Prügel erhielt; hin und wieder kam hinzu Pulcinello,
ein mißgestalteter, lustiger Bauer, Scapino, ein spitzbübischer Bedienter,
Tartaglia, der Stammler u. a.
Neben der erwähnten Volkskomödie kam die kunstmäßige Komödie durch
Nachahmung der Alten auf gelehrtem Weg in die italienische Litteratur. Diese
gelehrte Komödie, welche an Höfen aufgeführt wurde, pflegte besonders Ariosto,
der 5 Komödien hinterließ, sowie Macchiavelli u. a. Sehr talentvoll erwies
sich der Lustspieldichter Giammaria Cecchi, der seine Lustspiele meist dem Plautus
und Terentius entlehnte u. a. m. Jn der Folgezeit brach sich die Volkskomödie
(Commedia dell' arte) trotz aller Anfeindung Bahn und blühte besonders
im 17. Jahrhundert in Neapel. Salvator Rosa (Signor Formika),
Porta u. a. pflegten sie. Jm 18. Jahrhundert wurden Racine und Molière
nachgeahmt. Da trat Goldoni auf († 1792, der einzig gediegene Komiker
Jtaliens, der 150 Lustspiele schrieb) und wirkte durch edlere Sittenkomödien
der Volkskomödie entgegen. Jhn überflügelte Gozzi († 1806, dessen Turandot
Schiller deutsch verwertete) durch seine dramatisierten Märchen. Die Deutschen
Kotzebue und Jffland gewannen vorübergehend Einfluß durch Avelloni und
Gualzetti. Nach ihnen wurden beliebt Nota († 1847), Augusto Bon, Giraud
und in neuester Zeit Testa und Farini.
Spanien. Als in Spanien ein Unterschied zwischen Tragödie und
Komödie noch nicht bestand und es nur geistliche (Autos sacramentales) und
weltliche Schauspiele (Comedias etc.) gab, schrieben berühmte, zur Gattung
der Komödie zu rechnende Stücke: Lope de Vega und Calderon. Durch Virues
und später durch Ramon de la Cruz wurde Tragödie und Komödie geschieden.
Der hervorragendste Lustspieldichter der Gegenwart ist Don Juan Eugenio
Hartzenbusch. Die übrigen Namen giebt das seit 1836 erscheinende Sammelwerk
Teatro moderno español. Vgl. auch v. Schack's Spanisches Theater, 1845.
Frankreich. Hier waren die ersten Vorbilder des Lustspiels Plautus [496]
und Terenz; doch trat dasselbe bald in selbständige Bahnen. Die Zahl der
Lustspieldichter von Jodelle (§ 163 S. 458 d. Bds.) bis in die Gegenwart ist
nicht gering, wie schon Kreyßigs kurzgefaßte Gesch. d. franz. Nat.=L. ersehen läßt.
Eine Epoche im franz. Lustspiel bildet Beaumarchais, der den Stil seiner Komödie
in der Vorrede zum Figaro also schildert: „Sobald mein Gegenstand
mich ergreift, rufe ich mir alle meine Personen herbei und stelle sie auf ihre
Posten. Paß auf, Figaro, dein Herr wird dich erraten! Rette dich schnell,
Cherubino! &c. Dann, wenn sie recht im Feuer sind, so schreib' ich auf, was
sie mir sagen, sicher, daß sie mich niemals täuschen. Jeder spricht seine eigene
Sprache, und der Gott der Natürlichkeit behüte sie davor, eine andere zu
reden.“
Für das Studium der franz. Technik könnten noch genannt werden:
Victor Hugo, Octave Feuillet, Alex. Dumas, Augier, die in den §§. 163 und
170 d. Bds. genannten Franzosen, und unter diesen besonders der Hauptvertreter
des Lustspiels der Gegenwart Victorien Sardou. Am meisten studiert wird in
Deutschland immer noch Molière († 1673), aus dessen Stücken l'Avare, le
Misanthrope, Tartuffe, L'école des femmes, Le malade imaginaire sich
allerdings die Methode des Charakterisierens erlernen läßt &c.
England. So beträchtlich die Zahl bedeutender oder durch ihre Produktivität
hervorragender englischer Lustspieldichter ist (wir erwähnen nur Byron,
Baillie, M. G. Lewis, Bulwer, Taylor, Miß Mitford, Collins, Tennyson,
Jerrold, Buckstone, Planche u. v. a.), beschränkt sich doch das Studium der
deutschen Dichter immer noch mit Recht fast nur auf Shakespeare, von dem wir
als gute Lustspiele nennen: Zähmung der Widerspenstigen, Der Sommernachtstraum,
Die lustigen Weiber von Windsor, Viel Lärm um Nichts, und besonders
Der Kaufmann von Venedig. (Jn diesem Lustspiel hat Antonio versprochen,
sich vom Juden Shylok ein Pfund Fleisch aus dem Leibe schneiden zu lassen,
falls sein Freund in 3 Monaten nicht zahlen werde. Als der Freund nicht
zu zahlen vermag, macht Porzia durch geistvolle Auslegung den Vertrag Antonios
mit Shylok hinfällig &c.)
Ungarn. Von den Ungarn hat Doczi ein auch für den deutschen
Dramaturgen wertvolles Muster: „Der Kuß“ geliefert. Seine an Grillparzer
erinnernden, glatten Verse, sein witzig lebhafter, epigrammatisch präziser Dialog,
seine edle Diktion, seine feine Komik, ja, sein geistvoller, durch die labyrinthischen
Gänge der Jntrigue mit leichter Eleganz hindurchführender Aufbau, seine
künstlerische Architektonik &c. lassen es als Pflicht erscheinen, dieses vom Dichter
auch in deutscher Sprache gegebene, zum Repertoirestück aller deutschen Bühnen
gewordene Lustspiel des näheren zu betrachten. Die Gestaltungskraft des
Dichters läßt manche Unwahrscheinlichkeiten in der Charakteristik und in einigen
erkünstelten Situationen um so mehr übersehen, als Kühnheit und rasches
Fortschreiten der Handlung, die es weniger auf Einzeleffekte, als auf Zeichnung
eines großen Ziels absieht, sich mit feiner, psychologischer Motivierung und
wohlberechneter Detailmalerei verbindet, welch letztere in ihrer allegorisch=idealen
Technik Sinn und Gemüt mit anmutigem Zauber umstrickt.
Jnhalt: Adolar, der Halbbruder des klösterlich keuschen und streng richtenden
Königs Sever wird verbannt, weil er die Rosenlippen der Kanzlerstochter
Angela kußlich fand. Er wendet sich nach Aragon, wo er ein wegen
des gleichen Frevels von König Sever verfolgtes Liebespaar (Carlo und Maritta)
trifft; Adolar will den König von seiner Härte überzeugen; er läßt sich verkleidet
als Abgesandter des Herzogs von Aragon in seine Heimat zurückschicken,
um dort gleich Zeuge des strengen Urteils über die Ausgelieferten Carlo
und Maritta zu sein, die nun zur Strafe ein Jahr lang am Hofe unter der
Bedingung zurückgehalten werden, sich während dieser Zeit nicht zu küssen. An
diesen Urteilsspruch anknüpfend, weiß Adolar den König zu einer Wette zu
veranlassen darüber, daß trotz strengen Verbots am Hofe jedermann und der
König selbst küssen würde, wenn die beiden allegorischen Figuren Gelegenheit
und Notwendigkeit herantreten würden. Der König verläßt scheinbar
für einen mehrwöchentlichen Besuch das Land, kehrt aber sofort wieder zurück,
um (genau wie in Shakespeare's „Maß für Maß“ der Herzog Vicentio
oder in dem preisgekrönten Lustspiel: Schach dem König, der König Jakob)
unerkannt beobachten zu können. (Jn dem erwähnten Preislustspiel des 1837
verstorbenen Schauffert wird der gegen das Tabakrauchen fanatisch eingenommene
König Jakob durch seinen Ganymed, die verkleidete Geliebte seines Schreibers,
dazu verleitet, aus der Tabakpfeife zu schmauchen. Er hatte erklärt, seinen
beim Rauchen ertappten und deshalb verbannten Schreiber nur dann wieder
anzunehmen, wenn er selbst einmal geraucht haben würde. Nun zwingt ihn
die Geliebte des Schreibers zur Rückberufung ihres Geliebten &c.) Sever muß
sich überzeugen, daß an seinem Hofe niemand einen Kuß verschmäht, ja, er
selbst wird vom Kultus der Natur besiegt, als Maritta in der Dunkelheit ihn
für Carlo hält und mit Küssen überhäuft. Einmal von dem versengenden
Liebeskuß durchbebt, verzehrt sich der König vor Sehnsucht.
Geistvoll ist die psychologische Motivierung, wie die Königin dem häßlichsten
Mohren, der den wertvollsten Diamant nur für einen Kuß der allerschönsten
Frau geben will, diese Gunst gewährt. Mitleid und Eitelkeit wären wohl für
unser ästhetisches Gefühl genügend gewesen, um den Kuß zu rechtfertigen. Der
Dichter will es anders; er macht die hohe Gunstgewährung noch von der Forderung
des Übertritts zum Christentum abhängig. Derartige Bekehrungsversuche stehen
freilich mit unseren modernen Anschauungen nicht im Einklang, wenn sie
auch kostümgemäß sind. Jedoch wird das ethische Moment insofern aufrecht
erhalten, als König wie Königin rein aus dem Konflikte hervorgehen.
Deutschland. Die ältesten Lustspiele in Deutschland (vgl. Rhoswitha I 47)
waren in lateinischer Sprache abgefaßt. Auch die Fastnachtsspiele (Mysterien
S. 461 d. Bds.) hatten lateinischen Text. Eine Art frühester Lustspiele waren die
sog. Fastnachtsspiele und Possenspiele (I 49 und 50 D). Es waren Lustspiele
mit geringen Verwickelungen. Wie die Tragödie aus den Passionsspielen,
so entstand die Komödie aus den Fastnachtsspielen. Hans Sachs, der 78
Lustspiele schrieb, bedeutet einen Fortschritt auch im Lustspiel. Er, Rosenplüt
und Folz waren die Begründer des eigentl. Lustspiels, dessen Wiege also Nürnberg [498]
ist. Einiges leistete sodann Gryphius (I 51; vgl. dessen Peter Squenz
und den an fremdsprachlichen und obscönen Stellen überreichen Horribilicribrifax).
Die späteren Lustspieldichter hielten sich an Shakespeares romantische Lustspiele
oder an Molières Charakterkomödien.
Epochebildend für das deutsche Lustspiel trat nun auf: der Reformator
unseres Stils und Geschmacks, der Gründer unserer National-Litteratur G. E.
Lessing besonders durch Minna v. Barnhelm, welches Lustspiel Kneschke als
ein Werk für alle Ewigkeiten bezeichnet, das die Ära des Glanzes in
der Geschichte des deutschen Lustspiels begründete.
Eine wertvolle Litteraturerscheinung wurde Kleists Der zerbrochene Krug
(vgl. die Ausg. von Karl Siegen). Bedeutend wirkten Goethe und Schiller,
wenn auch der letztere im heiteren Genre zu keiner allzugroßen Bedeutung
gelangte (I 105). Für die Geschichte des Lustspiels sind neben und nach
ihnen zu nennen: Raimund (Der Verschwender, Der Bauer als Millionär,
Alpenkönig und Menschenfeind); Kotzebue († 1819. Die Freimaurer; Die
beiden Klingsberge; er schrieb manche ergetzliche Possen, z. B. Wirrwarr, Pagenstreiche,
ferner den gegen die Gebr. Schlegel gerichteten „hyperboreischen Esel“,
in welchem ein von der Universität heimkehrender Student durch geschraubte,
gelehrte Reden alle Verwandten zur Verzweiflung bringt), Tieck (Der gestiefelte
Kater, Die verkehrte Welt, Prinz Zerbino), Platen (Der gläserne Pantoffel
vereint die Märchen von Aschenbrödel und Dornröschen; der Schatz des Rampsinit
enthält die von Herodot erzählte, bekannte Sage vom Schatzhause des
Rampsinit; der romantische Ödipus ist eine gegen die romantische Poesie
und besonders gegen Jmmermann gerichtete satirische Komödie, welche ─
wie auch die verhängnisvolle Gabel ─ die Schicksalstragiker verhöhnt), Felix
Weiße (Die Matrone von Ephesus), Bretzner († 1807. Das Räuschchen,
Liebe nach der Mode), Brandes († 1799. Der geadelte Kaufmann), v. Steigentesch
(† 1826. Mißverständnisse), Contessa († 1825. Das Rätsel,
Der Findling), Theod. Winkler (Das Strudelköpfchen), Heun (Das Vogelschießen),
Eichendorff (Die Freier), Jmmermann (Die Prinzen von Syracus,
Die Schule der Frommen), Körner (Der Nachtwächter, Die Gouvernante, Der
grüne Domino), Gutzkow (Königslieutenant), Laube (Rokoko), Seidl (Die
Unzertrennlichen, Das letzte Fensterl), v. Heyden (Die Modernen), Raupach
(Die Schleichhändler, Allopath und Homöopath), Halm (König und Bauer),
Ed. Devrient (Gunst des Augenblicks), Lebrün (Ein Fehltritt), K. Schall (Unterbrochene
Whistpartie), Karl Blum (Der Ball zu Ellerbrunn, Der Schneider
von Lissabon, Jch bleibe ledig), Karl Töpfer (Die blonden Locken, Bube und
Dame, Rosenmüller und Finke), Hackländer (Der geheime Agent, Magnetische
Kuren), Wehl (Alter schützt vor Thorheit nicht; schrieb sonst reizende Einakter
und größere Lustspiele), G. zu Putlitz (Badekuren, Der Salzdirektor, Die blaue
Schleife), Nestroy (Lumpaci Vagabundus, Eulenspiegel), Berger (Die Bastille),
Bürkner (Der Traum der Kaiserin), Elmar (Unter der Erde), Fr. Kaiser (Stadt
und Land, Mönch und Soldat), W. Friedrich (Das Fräulein vom Hause;
Die Volksvertreter auf Urlaub), Wilhelmi (Einer muß heiraten), v. Plötz [499]
(Der verwunschene Prinz), Joseph Mendelssohn (Überall Jesuiten), Max
Martersteig (Jm Pavillon), Levin Schücking (Die Prätorianer), Julius Stinde
(Hamburger Leiden und Freuden), G. Michel (Herr Schwabe), Hugo Bürger
(Der Frauenadvokat &c.), A. Förster (Feuer in der Mädchenschule), E. Eckstein
(Ein Pessimist), H. Dohm (Der Seelenretter), Leop. Feldmann (Der Lebensretter
u. viele a.), A. Fresenius (Die Glücksritter), L. Goldhann (Jm alten
Raubschloß), Luise Gutbier (Das verhängnisvolle Manuscript), Jordan (Durchs
Ohr), E. Lehmann (Nur Modell), Frz. Rheder (Um so'n ol' Petroleumlamp),
Jul. Riffert (Hänschen), Alfred Lindolf (Die Spektralanalyse), Rud. Kneisel
(Emmas Roman), Anna Löhn (Jm Finstern), E. Mautner (Eine Kriegslist),
Arthur Müller (Gute Nacht Hänschen), Wolfgang Müller v. Königsw.
(Sie hat ihr Herz entdeckt), Karl Rudolf (Ein Vater auf Kündigung), G.
v. Vincke (Viel Lärm um nichts), Ad. Wechßler (Der Herr Doktor), F.
Wilferth (Die Rosen des Referendars), Oskar Welten (An der schönen blauen
Donau), Eugen Friese (Auf der Mensur), Cuno Wohlfahrt (Deutsch), Alb.
Gäbeler (Candidat Haller), Schmidt-Cabanis (Jrren ist menschlich), Bernhard
Busch (Ein prächtiger Einfall), Alb. Herzfeld (Unwiderstehlich), Gust. Wacht (Reisemasken),
E. Hofmann (Orestes und Pylades), A. Bahn (Wunderkuren),
Alb. Lindner (Puck in Briefen), Dr. Hugo Müller (Salonlustspiele, z. B. Jm
Wartesalon erster Klasse), Max von Schlägel (Die Komödie um ein Herz),
Emil Neumann (Jch bin nicht eifersüchtig), Adolf Calmberg (Wer ist der Herr
Pfarrer?), Felix Hesse (Beim Herrn Landrat), Ludolf Waldmann (Also doch!),
Poly Henrion (Für nervöse Frauen), R. Waldmüller (Talma), König Ludwig
von Bayern (Rezept gegen Schwiegermütter; dasselbe auch von Fastenrath
bearbeitet), Jul. Hammer (Zur Wiederkehr), G. v. Moser (Der Veilchenfresser,
Ultimo, Wie denken Sie über Rußland?), A. v. Winterfeld (Wenn
Frauen weinen), Ed. Bloch (Eine Kokette), Mathilde Paar (Die Wahrheit),
Julie Kühne (Die Badegesellschaft), Ernst Wichert (Frische Luft), Grandjean
(Ludwig IV.), A. Mels (Heines junge Leiden), Ferd. Maltan (Ein moderner
Diogenes), Mosenthal (Die Sirene), Bohrmann (Neuer Adel), Jul.
Wolff (Die Junggesellensteuer), Osk. Blumenthal (Die Philosophie des Unbewußten),
Wilhelmine v. Hillern (Die Augen der Liebe), Theod. Gesky
(Eine hübsche Überraschung), E. v. Grotthuß (Der Magnetiseur), Faust Pachler
(Er weiß Alles), Edm. Henoumont (Alicens Rache), Graf Ulrich Baudissin
(Ein seelenguter Mensch), Franz Koppel-Ellfeld (Welcher Meier?), Spielhagen
(Der lustige Rat), L. Berthold (Bergluft), E. Claar (Jn Homburg), Bauernfeld
(Die Bekenntnisse &c.), Bruno Reche (Jncognito), W. Henzen (Zweideutigkeiten),
B. Auerbach (Eine seltene Frau), Bergen (Schwesterliebe), Young
(Ein amerikanisches Duell), Schlesinger (Heiratsanträge), Carl Heigel (Angenommen),
Bretzner (Der Eheprokurator), Prinzessin Amalie H. v. S. (Das
Fräulein vom Lande), Aug. Wintterlin (Der Geisterbanner), Alex. Cosmar
(Die Liebe im Eckhause), Hans Köster (Liebe im Mai), Ludwig Foglar (Ein
lockeres Verhältnis), E. Geibel (Meister Andrea), Rud. Genée (Ein neuer
Timon), Rod. Benedix (Die relegierten Studenten), W. Ziegler (Der seltene [500]
Onkel), E. Beyer (Die Versöhnung), Conrad (Prinz Georg v. Pr., Wo liegt
das Glück?), Herzenskron (Der Gang in's Jrrenhaus), Börnstein (Betrogene
Betrüger), Lesser (Der Portraitmaler), E. Henle (Der Erbonkel, ein an die
Posse angrenzendes Lustspiel), Fr. Storck (Deutsche Herzen), Ad. Wilbrandt
(der mit seinen Malern in die Bahnen E. v. Bauernfelds tritt, schrieb viele
gute Stücke), Paul Lindau (Espritreiche Stücke, z. B. Marion, Gräfin Lea, Maria
Magdalena u. a.), Mich. Klapp (Rosenkranz und Güldenstern), L'Arronge
(Wohlthätige Frauen, Mein Leopold, Hasemanns Töchter, Doktor Klaus, Haus
Lonei &c. sind Familiengemälde mit einer meisterhaften Charakteristik; durch dieselben
wurde L'Arronge der Mitbegründer des modernen Volksstücks, das der
Vater der Lokalposse, Kalisch, bereits vergeblich angestrebt hatte), Rudolf v. Gottschall
(die trefflichen, oft aufgeführten Stücke Pitt und Fox, Die Diplomaten,
Die Welt des Schwindels &c.) u. s. w.
§ 178. Verzeichnis dramatischer Autoren, Sammlungen von
Dramen aller Arten, Übersetzungen und Quellenschriften.
1. Der Vollständigkeit halber führen wir noch die Namen jener
dramatischen Schriftsteller hier an, welche innerhalb der allerletzten
Litteraturperiode mehrfach Dramen irgend welcher Art drucken ließen,
deren Namen jedoch in den vor. §§ noch nicht genannt sind. 2. Ferner
geben wir ein Verzeichnis jener dramatischen Sammlungen, welche
Tragödien, Schauspiele, Lustspiele, Possen &c. von allen möglichen
Dichtern liefern und einen Überblick über die individuellen Richtungen
der dramatischen Dichtungsgattungen gewähren. 3. Endlich nennen
wir die bekanntesten Übersetzer fremder Stücke, sowie die bedeutendsten
Quellenschriften für den Dramaturgen.
1. Dramatische Schriftsteller der letzten Periode, von denen
je mehrere dramatische Erscheinungen durch die Presse veröffentlicht
wurden:
Adami, Alberti, Anders, Anzengruber, Apel, Arter, Augustsohn, Barrière,
Bartl, Bauermeister (z. B. Kutschke auf Vorposten u. a. Lustspiele), A. Baumann
(Versprechen hinterm Herd), Baumgärtner, Beaumont, F. Becks, A.
Beer, Behrle, G. Belly (Monsieur Herkules), O. F. Berg, Berla, Bernard,
Bernays, Bewer, Biermann, Birch-Pfeiffer, Bittner, M. Böhm, Böcker, Frz.
Bonn, Born, Boursel, J. W. Braun, Breitschwert, Buchholtz, Büchner, R.
Bunge, Buzzi, Byr, Ad. Calmberg, Cappilleri, A. Carl, Carsten, Cornelius,
Corrodi, F. Dahn, Dingelstedt, Ed. Dorn, Dreher (Betrogene Betrüger),
Dreyfuß (Jm schwarzen Frack), W. Drost, Dulk, Duncker, Eichrodt, Eickhorn,
Eirich, A. Elz, Ellmenreich, Erhard, A. Fitger, Fleischmann, Feßler,
J. G. Fischer, Findeisen, Flamm, Flammberg, Frank, Fränkel, Franz,
Freese, A. Freytag, Gust. Freytag, Frieder, Frohberg, Th. Gaßmann,
Gätschenberger, F. Geber (Jm Carcer), Gensichen, Gervais, Girndt, Giseke, [501]
Görlitz, Görner, G. Görß, Grahl, Graeser, Graßhoff, M. Greif, L. Gruber,
Grothe, Gruppe, Gubitz, Gulden, Gurlitt, Haber, Haffner (Therese Krones),
R. Hahn, Hamerling, Hasert (Joseph und seine Brüder), Heintze, Heinrich,
Helbig, Heimerdinger, Heinzelmann, Herhold, H. Herrig, Hersch (Die Anne Lise),
H. Hertz, Heßling, Hiemer, Arnold Hirsch, E. Hirthe, Fr. Hofmann (Dichterweihe),
v. Holbein, Holberg, Hollpein, Hölty, Holtei, Hopf, Fr. Hopp, M. Horn, G.
Horn, Hosäus, P. Hübner, E. Jacobson (Backfische &c.), H. E. Jahn, H.
Jahnke, Jantsch, R. Jonas, C. Juin, Julius, Kastropp, E. Keller (Der Angerhof),
Kette, Kinkel, W. Kläger (Vor Taschendieben wird gewarnt &c.), Julius
Klein, Klenze, Koberstein, W. Köhler, Königsberg, Krause, Krüger, H. Kruse,
K. Kuhn, Kurländer, Lambrecht, Landerstein, Lemcke, E. Lehmann (Eine verhängnisvolle
Nacht &c.), Leythäuser-Melano, Linderer, Lingg, Peter Lohmann (Dramatische
Werke, 4 Bände), Löwe, Lucius, Lutze, Mallachow, v. Maltitz (Anna
Boleyn), Mann, Manstädt, Marbach, Märzroth, G. v. Meyern, Megerle,
Michaelis, Molitor (Maria Magdalena), Moltke, Morolf, Müchler, O. Mylius
(Die Reise um die Welt in 80 Tagen), Nesmüller, Niendorf, Nordmann (Ein
Marschall von Frankreich), Oberleitner, Ohorn, Öhlenschläger, Osterwald, Oswald,
Palleske, Pape, Pasque, v. Paumgartten, Perron, Petrick, Pocci, Pichler,
Plönnies, E. Pohl, Ponholzer, Ponsard, Ponte, Priem, Pröhle, Prölß, Pyl,
Raven, v. Redwitz (Philippine Welser), A. Reich, Rethwisch, Reinold, Rellstab
(Dramatische Werke), Rensch, Max Ring, Ringseis, Ristori, Jul. Rodenberg
(Ehen werden im Himmel geschlossen), Rödiger, Röder, Roltsch, Roquette, Th.
Rose, Rosenzweig, Rosenthal, Rost, Rüben, Runge, Rustige, Sauer, Schack,
Schenck, Schleich (gesammelte Lustspiele), Schlägel, E. Schmithoff, Schlemm,
Herm. v. Schmid (Der Loder), A. Schmidt (Judith, Nero &c.), Schneegans,
B. Scholz, E. Schönfeld, Schönau, Schönstein, Schottky, O. Schreyer, Schröer,
Schröder, Fr. C. Schubert (Wlasta), Schumacher, Schütz, Schwebemeyer,
Schweitzer (Epidemisch), Sepp von Laßberg, L. v. Selar (Frauenlist), K. Siegen,
Simon, Carl Sontag, Spengel, E. Stadion, Starke, Stein, Stern, Stettenheim,
Stix, Sturm, Sträter, Struensee, Stumpf, Suter, Tempeltey (Hie Welf,
hie Waiblingen), Thürmayer, Träger, Trautmann, Treptow, Türcke, Türk,
H. Uhde (Gott sei Dank, der Tisch ist gedeckt), Ullmayer, Uschner, W. Vogel,
F. Volger, v. d. Vondel, Voß, Wachenhusen (Die glücklichen Jnseln &c.),
Waal, Feod. Wehl (Ges. dramat. Werke), Weilen, C. Weiß, Weißbrodt, Max
v. Weißenthurn, Wendt, Wessenberg, Westermann, Westphal, Weyl, J. N.
Widmann, Wieser, Wildenbruch, Wilborn, Wilken, Alex. Wilhelmi (Einer muß
heiraten), Wimmer, Winckler, Wohlgemuth, Wohlmuth, Wollheim, v. Wolzogen,
Young (Ein amerikanisches Duell), Zell, Zimmermann u. a.
2. Sammelwerke. Anthologie der nordgermanischen dramatischen
Litteratur, Album für Liebhabertheater, Schaubühne von Feod. Wehl (fortgesetzt
v. Perels), Originalbeiträge zur deutschen Schaubühne, Bibliothek vaterländischer
Schauspiele, Klassische Theater-Bibliothek, Launige Theaterstücke, Sozialistische
Theaterstücke, Blochs Dilettantenbühne, Blochs Theater-Gartenlaube,
Blochs Volkstheater, Wallners Deutsche Festspielhalle, Wallners Haustheater, [502]
Wallners Allg. Schaubühne, Wallners Thespiskarren, Wallners Volks= und
Nationaltheater, Kühlings Album für Liebhaberbühnen, Kühlings Deklamationshalle,
Kühlings Volksschaubühne, Kühlings Theaterspecialitäten, Görlitz' Almanach
dramatischer Bühnenspiele, desgleichen von Görner, Jahrbuch deutscher Bühnenspiele,
Kathol. Dilettantenbühne, Haustheater (Graz und Leipz.), Theater-Mappe,
Der Theaterfreund, Die Jugendbühne, Schauspiele für Mädchen, Boths Bühnenrepertoire
des Auslands, Repertoirestücke deutscher Bühnen in neuen Bearbeitungen
und Einrichtungen, Theater des Auslands, Neues Theater des Auslands,
Wiener Theaterrepertoire, Neues Wiener Theater, Dramatische Meisterwerke der
Ungarn, Jndisches Theater, Jtalienisches Th., Spanisches Th. u. a. m.
3. Die bekanntesten und fleißigsten Übersetzer von Stücken fremder Litteraturen
sind: Angely, Graf Baudissin, Blum, Töpfer, Th. Hell, A. E. Wollheim,
G. Ritter (Pseud. für Zollinger), Lorinser (Calderon), Ad. Laun (Racine und
Molière), L. Schneider, Bahn (Man sucht einen Erzieher &c.), Börnstein (Eine
Frau, die sich zum Fenster hinausstürzt &c.), Cosmar, A. Friedrich, W. Friedrich
(Guten Morgen, Herr Fischer! &c.), Hermann (Alles durch die Frauen &c.), Denecke
(Eine brillante Verlegenheit), Schrader (Dr. Robin), Schlivian (Frauenpolitik),
Hiltl (Ein prächtiger alter Knabe), Winterfeldt (Jch speise bei meiner Mutter),
Julius (Alle Mittel gelten), E. Neumann (Der Lebensretter), Lindau (Molière),
Dingelstedt, Gries, Wilh. Lange, Emil J. Jonas u. a. Nach Gozzi bearbeitete
Schiller seine Turandot, Goldoni bildete die Grundlage zu Carl Blums Jch
bleibe ledig, Sheridans Lästerschule übersetzte von Leonhardi u. a. Die Spanier
Lope de Vega, Calderon, Moreto (Donna Diana) wurden in Übersetzung oft
gegeben; mehr noch seit Lessing und Schröders Zeiten Shakespeares Lustspiele;
ebenso Molière und besonders Eugène Scribe, der die deutsche Bühne lang
beherrschte, wie er in Frankreich eine Schule von Lustspieldichtern begründete (ich
nenne nur Bayard, dessen Vicomte von Létorières deutsches Repertoirestück
wurde) u. s. w.
Für den Dramaturgen empfehlenswerte Schriften sind neben Lessings
Hamburgischer Dramaturgie: Klein, Geschichte des Drama; Creizenach, Zur
Entstehungsgeschichte des neueren deutschen Lustspiels; Kneschke, Das deutsche
Lustspiel; Prölß, Katechismus der Dramaturgie; W. R. Hoffmann, Der Entwickelungsgang
des deutschen Schauspiels; Herzfeld, Entwickelung der dramatischen
Kunst; Knorr, Entstehung und Entwickelung der geistlichen Schauspiele
in Deutschland; Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie, ein Werk,
welches man wohl als das gediegenste und umfassendste Kompendium der
Tragödie betrachten darf; Heinr. Theod. Rötscher, Die Kunst der dramatischen
Darstellung; Tiecks Dramaturgische Blätter; P. Lindaus Dramaturgische Blätter;
A. E. Brachvogels Theatralische Studien (Jena 1863); G. v. Putlitz' Theater=
Erinnerungen (Berlin 1875); R. Wagners Oper und Drama; Ambros' Die
Grenzen der Musik und Poesie; Kalbecks Bühnenfestspiel in Bayreuth; v. Thüngen
Dramaturgische Fragmente; Gotth. Hübners Theatralische Feuilletons; K. R.
Pabsts Die Verbindung der Künste auf der Bühne; sowie Wehls Didaskalien
(Leipzig 1867) u. a.
III. Musikalisch-dramatisch-weltliche, und kirchlich-musikalische
Formen.
§ 179. Einteilung dieser Formen.
Die Verbindung der Dichtkunst mit der Musik vollzieht sich:
I. in musikalisch=dramatisch=weltlichen Formen,
II. in kirchlich=musikalischen Formen.
Die musikalisch=dramatisch=weltlichen Formen sind folgende:
1. Das Melodrama,
2. Das Vaudeville und das Sing- oder Liederspiel,
3. Das Schauspiel mit Musik,
4. Die Oper:
a. Ernste Oper,
b. Komische Oper,
c. Operette,
d. Jntermezzo.
Die kirchlich=musikalischen Formen sind:
a. Der Choral,
b. Die Motette,
c. Der Psalm,
d. Die Kantate,
e. Die Passion,
f. Die Messe und das Requiem,
g. Das Oratorium.
I. Musikalisch-dramatisch-weltliche Formen.
§ 180. Das Melodrama.
Das Melodrama (von μέλος == Gesang und δρᾶμα == Handlung)
ist eine Deklamation mit einer ihre Stimmung charakterisierenden Musikbegleitung.
Es ist jene Kunstgattung, in welcher sich die Musik mit
dem gesprochenen Worte verbindet, indem sie (die Rede begleitend,
oder abwechselnd an passenden Stellen kurze Motive einfügend) die von
der Dichtkunst angeregte Stimmung zu erhöhen sucht. Das Melodrama
heißt Monodrama, wenn nur eine Person deklamierend auftritt,
Duodrama, wenn zwei Personen thätig sind.
Vom Singspiel unterscheidet sich das Melodrama dadurch, daß seine Personen
nicht singen, sondern deklamieren, und daß die Musik lediglich die in der
Dichtung ausgedrückten Gefühle zu unterstützen, zu fördern, fortzuleiten hat.
Ausnahmsweise (wie z. B. in Büttingers Vaterunser von Mahlmann) kann
ja wohl auch einmal eine Gesangspiece eingeschoben werden.
Jm klassischen Griechenland gab es noch kein Melodrama, da man dort ja
überhaupt keine gesanglichen Dramen kannte; der musikalische Anteil beschränkte [504]
sich auf den mit dem Rhythmus verbundenen Tanz und auf die Chöre; der
Dialog wurde recitativartig vorgetragen &c.
Unser Melodrama schreibt sich aus dem vorigen Jahrhundert her. Die
erste Anregung zu demselben gab J. J. Rousseau, dessen Pygmalion lediglich
ein von Musik begleiteter, dramatisch gehaltener Monolog war. Nach diesem
Vorbild bearbeitete in Deutschland der Schauspieler Brandes († 1799 in
Berlin) die Kantate Ariadne auf Naxos von Gerstenberg, um seiner in der
lyrischen Deklamation bedeutenden Frau eine Glanzpartie zu schaffen. Die
stimmungsvolle begleitende Musik lieferte ihm G. Benda, und dieser wurde
somit der erste Begründer des musikalischen Teils unseres Melodramas.
Es folgten nun bis in die Neuzeit viele Melodramen, von denen
folgende bekannter geworden sind: Gotters Medea (mit Bendas Begleitung);
Meißners (und Neefes) Sophonisbe, Lichtenbergs (und Voglers) Lampedo;
Ramlers Cephalus und Prokris, Rambachs Theseus auf Kreta, Kaffkas
Rosamunde, W. v. Gerstenbergs Minona, Bertuchs Polyxena, G. Conrads
(Prinz Georgs von Preußen) Phädra, Gubitz' (und B. A. Webers)
Sappho, Heinrich Drehers (Musik mit Einflechtung von Melodien zu Körner'=
schen Liedern von Rich. Genée) Theodor Körner, Albertis (und Reineckes)
Der Mutter Gebet u. a.
Schauspieler, die in der Deklamation glänzen wollten, veranlaßten auch
melodramatische Bearbeitung episch=lyrischer Gedichte, z. B. Der Gang nach dem
Eisenhammer von Ans. Weber; Die Glocke, Die Bürgschaft &c. von P. Lindpaintner;
Der Taucher von Uber; Klopstocks Frühlingsfeier von Zumsteeg;
die Balladen: Der Heideknabe, Die Flüchtlinge, Schön-Hedwig von Schumann;
Bürgers Lenore von Liszt u. a.
Aber auch in Schauspiele und in Opern schob man episodische melodramatische
Scenen ein, die sich von vortrefflicher Wirkung erwiesen, namentlich,
wenn es galt, durch die Musik den dunkeln schlummernden Empfindungen
Raum zu gewähren und einen weihevollen, stimmungsreichen Eindruck zu schaffen.
Vorzügliche Verwendung fand das Melodrama in dieser Beziehung in der Preziosa,
und im Freischütz durch Weber; in der Kerkerscene der Oper Fidelio
durch Beethoven; in Struensee durch Meyerbeer; im Sommernachtstraum durch
Mendelssohn; ferner am Schlusse von Egmont, wo die Musik den Tod Egmonts
verklärt und seinen letzten Schlaf versüßt. Auch Schumann fügte vielen
Stellen des Byronschen Manfred (z. B. Erscheinung der Geisterfee &c.) melodramatische
Musikbegleitung ein u. s. w.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß das Melodrama (in welchem ─
nach Bouterwecks Ästhetik ─ zwei das gleiche Ziel erstrebende Künste mit besonderer
Höflichkeit einander Platz machen, wenn die eine der andern in den
Weg tritt) in unserer Gegenwart zu den unpopulären Gattungen gehört, da
wir für Steigerung des Gefühls die Rede lieber mit dem Gesang vertauschen.
Jndes wird das Melodrama immerhin hervorragenden Deklamatoren erwünscht
bleiben, wie es denn auch unzweifelhaft für angehende dramatische Komponisten
ein vorzügliches Mittel zur Erreichung der Befähigung ist, die Musik von einer [505]
die Dichtkunst unterstützenden Seite aufzufassen und in den Geist der dichterischen
Kunstwerke selbst einzudringen. (Über das Melodrama vgl. Herder in seiner
Adrastea, 4. Stück.)
§ 181. Das Vaudeville und das Sing- oder Liederspiel.
Unter Vaudeville, wie unter Sing- oder Liederspiel versteht man
eine Art Schauspiel mit Gesang- und Jnstrumentalbegleitung, wobei
Gesang wie Jnstrumentalmusik keinen Anteil an dem dramatischen Fortschritt
der Handlung nehmen; es ist also eine Art lyrisches Drama,
welches sich durch geschmackvolle Einreihung von liedartigen, meist nach
bekannten Volksmelodien gesungenen und mit Refrain versehenen Strophen
auszeichnet. Oder: Vaudeville ist ein mit beliebten Gesangsstrophen
(Couplets) unterbrochenes Lustspiel, oder auch eine mit Musik verbundene
Posse, welch' letztere Art meist den Namen Vaudeville-Posse
oder Vaudeville-Burleske trägt.
Der Unterschied zwischen Vaudeville und Sing- oder Liederspiel liegt infolge
ihres Ursprungs weniger in der äußeren Form als im inneren Wesen
dieser Gattungen; er ist ein innerlicher, den nationalen Genius und Charakter
Frankreichs und Deutschlands zum Ausdruck bringender. Man kann den Unterschied
andeuten, indem man sagt: Das Vaudeville ist ein französisches
Liederspiel und das Liederspiel ist ein deutsches Vaudeville. Die
Couplets des Vaudeville atmen dem französischen Volkscharakter entsprechend
Witz, Ungebundenheit, Laune bis zur Satire und Frivolität, während die Liedstrophen
des deutschen Lieder- oder Singspiels, das ja auch das Humoristische
liebt, mehr den gemütsinnigen Charakter des deutschen Volksliedes zum Ausdruck
bringen. Der Zweck des Vaudeville ist Erheiterung, Ergetzung; und es
hört diese Gattung sofort auf Vaudeville zu sein, wenn Witz, Laune, Satire
fehlen, während das deutsche Liederspiel auch Rührung, Läuterung des Geschmacks
&c. erzielen und sich mit einfachem Stimmungshumor begnügen kann.
Von der Operette (§ 186) unterscheiden sich beide Formen dadurch, daß
alle Gesangsstücke der letzteren lediglich aus Liedern bestehen, die entweder mit
längst bekannten Melodien versehen sind oder deren Melodien doch wenigstens
volkstümlich und einfach sind.
Geschichtliches und Litteratur beider Formen.
(Französisches Vaudeville.) Der Name Vaudeville soll ─ so nehmen
alle Litterarhistoriker bis jetzt ausnahmslos an ─ von dem Städtchen Vaux
de Vires (in der französischen Normandie) herstammen, wo gegen Ende des
14. Jahrh. ein Walkmüller Namens Olivier Basselin mit seinen übrigens erst
1576 erschienenen ─ Vau de Vire genannten ─ Couplets von sich als
Dichter zu sprechen machte. Man meint etwas gesucht, daß aus seinem Vau
de Vire nach und nach Vaux de toutes les villes und daraus Vaux
de villes entstanden sei. Andere sind der Ansicht, Vau de ville bedeute [506]
lediglich ein Lied, welches durch die Stadt ─ also gewissermaßen von Mund
zu Mund ─ weiter gehe &c.
Uns scheint der Ursprung des Vaudeville bei dem Trouvère (d. i. Dichter
und Komponist) des 13. Jahrhunderts Adam de la Hale (genannt le
Boiteux d'Arras) zu liegen, der (vgl. die Leipz. Allg. musik. Zeitg. Jahrg.
1827 S. 217 ff., sowie Jahrg. 1828 S. 81) wohl zuerst in seinen Werken
die Jeux (Spiele) auszuzeichnen begann und auch Gesänge in die Dichtkunst
mischte. Sein von Professor Fétis in Paris 1827 aufgefundenes »Robin
et Marion« ist wohl das älteste Denkmal eines Vaudeville (wie überhaupt
das Embryo der späteren komischen französischen Nationaloper) und muß wohl
endlich den Streit um die Herkunft des Vaudeville lösen. ─
Ende des vorigen Jahrhunderts war das Vaudeville eine in Paris sehr
beliebte Gattung. Man gründete dort 1791 ein besonderes Vaudeville-Theater,
und alle Dichter versuchten sich im Genre des Vaudeville. Le Sage war es,
der mehrere Vaudevilles mit einheitlichem Plan und einer bestimmten ─ in
Stadt- und Dorfschenken spielenden ─ Handlung zu einem Lustspiel (der Vaudeville-Comédie)
vereinigte; Scribe verlegte die Scene in die bürgerlichen
Wohnungen, wie in die Salons und schuf somit eine Art besseres Vaudeville=
Drama &c.
Nachdem wir in Deutschland ─ wie unten auszuführen ist ─ nach dem
Vorbild des Vaudeville durch Reichardt längst ein deutsches Liederspiel besaßen,
wurde auch das französische Übersetzungsvaudeville in unsere Litteratur und
in unser Theater eingeführt. Die bekanntesten, aus dem Französischen stammenden
Vaudevilles, die in Deutschland eine gewisse Popularität erlangten, sind: Karl
Blums (geb. 1805) Der Bär und der Bassa (nach Scribe), und Der Schiffskapitän;
Louis Angelys († 1835) Sieben Mädchen in Uniform; Salingrés
Vaudeville-Posse Besorgt und aufgehoben; Bärmanns Contumaz von Scribe;
Lebruns Die kinderlose Ehe u. a., die sich gesammelt finden in Vaudevilles
und Lustspiele (Berl. 1834, 4 Bände), sowie in Neuestes komisches Theater
(Hamburg 1841, 3 Bände) &c.
(Deutsches Sing- oder Liederspiel.) Der als Komponist und Schriftsteller
bekannte Johann Friedrich Reichardt, der bei Komposition seiner volksmäßigen
Lieder (z. B. Sah ein Knab' ein Röslein stehn) großes Gewicht auf
den Sprachaccent legte, lernte in Paris das Vaudeville mit seinen leichten,
witzigen, zuweilen satirisch=ätzenden Couplets kennen und faßte den Entschluß,
durch eine dem deutschen Geschmack zusagende auf die einfache Volkstümlichkeit
hinweisende Nachahmungsform des Vaudeville dem damals übertriebenen Koloraturgesang
und der italienischen Manier entgegen zu treten. Bei unserem Mangel
an allgemein gesungenen, witzigen und satirischen Liedern konnte er eine treue
Nachahmung des französischen Vaudeville nicht versuchen, und er schuf daher
im Hinblick auf die deutsche Vorliebe für Liebes- und Trinklieder im Jahre
1800 ein kleines sentimentales Singspiel: Liebe und Treue, dem er den
Namen Liederspiel beilegte, wodurch er der Schöpfer dieser Gattung wurde.
Lied und nichts als Lied bildete den Jnhalt, und der außerordentliche Erfolg [507]
dieses Stückes reizte zur Nachahmung. Himmel (Fanchon) und Herklotz traten
in Reichardts Bahn, der selbst mit neuem Glück das Goethesche Singspiel Jerry
und Bätely bearbeitete und die Liederspiele Kunst und Liebe, Erwin und Elmire,
Claudine &c. schuf, worauf die bedeutendsten Komponisten und Dichter dieses Genre
pflegten. Sogar Operetten ─ wie z. B. Lindpaintners „Gewalt des Liedes“
─ entwickelten sich aus dem Singspiel als eine durch die Kunst veredelte, höhere
Gattung desselben ─ geeignet die Freude an wirklich deutschen, einfachen,
gemütsinnigen Liedern im Volksgeschmack aufrecht zu erhalten.
Besondere Pflege erfuhr später das deutsche Liederspiel durch Karl von
Holtei, dessen Stücke: Der alte Feldherr, Die Wiener in Berlin, Die Berliner
in Wien, Dreiunddreißig Minuten in Grünberg, „Das Liederspiel“, Lenore
(letzteres mit dem bekannt gewordenen „Schier dreißig Jahre bist du alt“)
unzählige Male gegeben wurden.
Als weitere beliebte Liederspiele erwähnen wir unter Hinweis auf die
oben genannten Sammlungen nur noch: Ad. Hamms Jm Hochgebirge, sowie
Mendelssohn-Bartholdys Heimkehr aus der Fremde, welch' letzteres Feldmanns
Liederposse Heimkehr von der Hochzeit veranlaßte.
Als beliebte deutsche Liederpossen (Vaudevillepossen) nennen wir noch die
preisgekrönte Carnevalposse Ein Narrentraum von Rich. Genée; Weibliche Seeleute
von A. Weihrauch, und J. Jakobsons Burleske (Vaudeville-Burleske) Backfische &c.
§ 182. Das Schauspiel mit Musik.
Neben den im § 180 S. 504 erwähnten Schauspielen, welchen
episodische melodramatische Scenen eingefügt sind, giebt es auch solche
mit Ouvertüren, welche in die Grundstimmung der Dichtung a priori
versetzen sollen, ferner mit Liedern, Chören, Marschformen, Tänzen &c.
Die bedeutendsten Dichter waren es, welche die Schwesterkunst der Musik
in ihren hervorragendsten Schauspielen zur Erhöhung der eigenartigen Wirkung
heranzuziehen verstanden, und welche auf diese Weise die Veranlassung zum
Schauspiel mit Musik geworden sind. Wir beschränken uns auf wenige
Beispiele und Angaben.
Shakespeares Sommernachtstraum hat durch Mendelssohn außer den von
uns bereits im § 180 erwähnten melodramatischen Scenen noch weitere musikalische
Zuthaten (Ouvertüre, Duette, die Stimmung vermittelnde Entr'actes,
Scherzo, Notturno, Hochzeitsmarsch, Chöre mit Soli, den überaus charakteristischen
Trauermarsch, Tanz der Rüpel &c.) erhalten, wodurch er unserem Jnteresse
wieder gewonnen wurde. Jn gleicher Weise sind noch andere Schauspiele dieses
dramatischen Heros durch Hinzutritt der Musik wieder zu eigentlichem Leben
erwacht. Jch erinnere nur an den Sturm und an das Wintermärchen mit
der Musik von Max Seifriz &c.
Gewaltige Steigerung der Wirkung verleiht die Musik Goethes Faust,
welcher durch Fürst Radziwil, Lindpaintner, Pierson, wie in neuester Zeit durch
Lassen (Bearbeitung von Devrient) eine künstlerisch vollendete musikalische Beigabe [508]
erhielt. Ein Gleiches ist der Fall bei Egmont, wobei wir nur die Lieder
„Die Trommel gerühret“ &c., und „Freudvoll und leidvoll“ erwähnen, und
dessen charakteristische Traumscene man sich ohne Musik gar nicht denken mag.
Für Schiller erinnern wir an die große Wirkung und Beihülfe der Musik
in seinem Tell (durch Reinecke), besonders aber in seiner Jungfrau durch die
mustergültige Bearbeitung des Hof-Kapellmeisters Max Seifriz in Stuttgart &c.
Unsere Dichter sollten mehr als seither bei lyrischen Partien ihrer Werke
tüchtige Musiker zu Rate ziehen.
§ 183. Die Oper im allgemeinen. Begriffliches.
1. Man versteht unter Oper ein mit Gesang und Jnstrumentalmusik
verbundenes Drama, also die innigste Vereinigung (Vermählung)
der dramatischen Poesie mit der Musik.
2. Die Oper ist die höchste Gattung der musikalisch=dramatischen
Kunst. Da sie ein gesungenes Drama ist, so muß sie mit dem Drama
selbstredend das Ziel, den scenischen Aufbau, wie die Einteilung in
Akte gemein haben.
3. Die musikalisch gesanglichen Teile der Oper haben besondere,
weiter unten mitzuteilende Benennungen.
4. Je nach Stoff, Charakter und Ausdehnung unterscheidet man
verschiedene Arten von Opern: ernste (große) und komische Oper,
Operette und Jntermezzo.
1. Die Oper heißt französ., italien. und englisch opera. Die ursprüngliche
deutsche Übersetzung Singspiel ist für unsere Zeit nicht mehr zutreffend,
weil man sich gewöhnt hat, unter Singspiel das deutsche Vaudeville oder auch
hie und da die Operette zu begreifen. Zudem ist das allgemein bezeichnende
Wort Oper in das Volksbewußtsein übergegangen und daher eine Übersetzung
mindestens überflüssig.
2. Die Oper geht einigermaßen über das Drama hinüber, indem sie zur
Erhöhung oder Verstärkung ihrer Wirkung sich der Tanzkunst (Ballet), und der
Malerei (Ausstattung, Dekoration) in erhöhtem Maß bedient und auch die Pantomime
als Verstärkungsmittel des Effekts nicht verschmäht. Der größte Reiz
der Oper, welche das Phantasievolle und Wunderbare zuläßt, liegt in der vielseitigen
Belebung der Sinne durch die verschiedenen Künste. Dadurch wird sie
ein erhebendes, veredelndes, sinnbelebendes Spiel, das durch seine gediegene
Musik an sich schon hervorragende Stellung und Bedeutung verlangen kann.
3. Die Teile der Oper sind: a. das Arioso, unter welchem man kleine
lyrische Stellen, oft nur ein paar lyrische Takte versteht und das sehr gern
behufs Abwechslung das Recitativ unterbricht, b. die Arie, welche bei besonderer
lyrischer Färbung Kavatine genannt wird, c. das Recitativ, eine Deklamation
mit gesprochenen Tönen, welche die Stelle des gesprochenen Dialogs vertritt.
(Man teilt das Recitativ in das Recitativ secco, welches nahe mit dem [509]
Sprechton zusammenfällt [z. B. im Don Juan, der früher mit Dialog gegeben
wurde], sowie in das ausgeführte Recitativ, bei welchem der musikalische Teil
mehr Bedeutung und Einfluß erhält.) d. Duett, e. Terzett, f. Quartett, u. s. w.,
ferner g. Chor, und h. Ensemble (letzteres ist die gesangliche Vereinigung der
Solisten häufig sogar mit dem Chor; es zeigt sich besonders bei Aktschlüssen
wirksam). Als Einleitung kommt musikalischerseits bei der Oper noch hinzu:
i. Die Ouvertüre, und als Aktschluß k. das Finale.
Als Anhaltepunkte für den Librettodichter erwähnen wir noch, daß die
gesanglichen Partien der Oper je nach dem Umfange, der Lage und dem Klangcharakter
der Stimme sich teilen in: hoher Sopran, Mezzo-Sopran, Alt und Kontra=
Alt, Tenor, Bariton, Baß. Dem dramatischen Charakter entsprechend sondert
man: dramatischen und lyrischen Sopran und Alt, ferner die Soubrette und die
komische Opern-Alte, den Heldentenor und den lyrischen Tenor, sowie den Tenor=
Buffo, den Helden- und den lyrischen Bariton, den seriösen Baß und den Baß-Buffo.
4. Man unterscheidet je nach dem tragischen oder komischen Stoff und
Charakter der Oper, wie im Hinblick auf ihre Ausdehnung: a. ernsthafte oder
tragische (große) Opern, b. komische Opern, c. Operetten, wozu
man viele komische Opern rechnen kann, d. das Jntermezzo.
§ 184. Die ernste (große) Oper in Deutschland.
Die ernste Oper (ital. opera seria, französ. opéra sérieux) entspricht
dem ernsten Drama und enthält ─ (einige wenige Opern wie
z. B. Fidelio ausgenommen) ─ gar keine Sprachscenen. Sie hat meist
tragische Lösung des Konflikts.
Jn Frankreich nennt man große Oper (grand opéra) diejenige Oper
ohne Dialog, welche meist geschichtlichen Hintergrund hat und in Bezug auf
Darstellung großen Aufwand von Scenerie, Aufzüge, Ballet &c. verlangt.
Zur heroischen Oper wird sie, wenn sich ihr Held durch Bedeutung des
Charakters und der Handlung hervorthut.
Jst in der großen Oper durch äußere Pracht, Ballet, Dekoration,
Scenenwechsel für bestechende Abwechselung gesorgt, und spielt die Fabel des
Libretto (Textes) im ritterlichen Mittelalter oder mittelalterlichen Rittertum,
oder auch in der übersinnlichen Götter=, Zauber- und Märchenwelt, so entsteht
die romantische Oper (welche Karl Maria v. Weber, der Komponist des
Freischütz, schuf, und für welche ein bekanntes Beispiel Marschner in Hans
Heiling lieferte, dessen Libretto Ed. Devrient nach böhmischen Volkssagen bearbeitete),
oder auch die Zauberoper (Beispiele: Undine von Lortzing und in
neuester Zeit Bergkönig von einem schwedischen Komponisten) &c.
Je nach dem Vorwiegen des Lyrischen oder Tragischen wird die ernste
Oper als lyrische oder als tragische Oper bezeichnet.
Als Beispiele ernster Opern erwähnen wir: Fidelio von Beethoven;
Wilhelm Tell von Rossini; Die beiden Jphigenien (in Aulis und in Tauris) [510]
von Gluck; Norma von Bellini; Hugenotten von Meyerbeer; Arion von
Claudius (Text von Stöckhardt); Die Stumme von Portici, sowie der
Maskenball von Auber; Hermione von Max Bruch (Text von H. Hopfen);
Die Nibelungen von Dorn (Text von E. Gerber); Die Folkunger von
Edm. Kretzschmer; Golo von Bernh. Scholz &c. Selbst Mozarts Don Juan
muß man hierher rechnen, obgleich dieses Werk ursprünglich die Bezeichnung
komische Oper trug: Stil, Jnhalt und äußere Form, wie das tragische Ende
des Helden stempeln dasselbe zur großen Oper. ─ Es giebt übrigens mehrere
Opern mit versöhnendem Ausgang, welche weder zur großen Oper noch auch
zur komischen zu rechnen sind, vielmehr eine Zwischengattung bilden, welche
unserem deutschen Schauspiel entspricht. Als solche nennen wir: Josef und
seine Brüder von Méhul, Mozarts Zauberflöte u. a. (Von Rich. Wagner könnte
als große Oper Rienzi genannt werden, welche noch so ziemlich im Rahmen
der alten großen Oper à la Spontini gehalten ist. Über die Opern seiner
späteren Schaffungsperiode handeln wir später.)
§ 185. Die komische Oper in Deutschland.
Die komische Oper (italien. opera buffa, opera demi seria, französ.
opéra comique) entspricht ihrem Jnhalt und Ausdrucke nach mehr
dem Lustspiel. Sie enthält größtenteils gesprochenen Dialog. (Vgl.
Figaros Hochzeit in der ital. Bearbeitung.)
Wie das Lustspiel giebt sie den Schwächen und Thorheiten der Menschen
und ihrer Zeit Ausdruck, weshalb sie durch Charakteristik, durch Handlung,
Scene und Musik die Kontraste darzustellen sucht. Hierbei berücksichtigt sie die
Bildung, den Stand, den Ort, ohne gerade der Lokalkomik ein Vorrecht einzuräumen.
Die komische Oper hat ihren Ursprung in Jtalien, wo die bereits um
1597 gedruckte Oper Amfiparnasso das erste unvollkommene Muster dieser
Gattung war. Als Vorbild der komischen Oper ist sodann Pergoleses Serva
padrona zu nennen, der die komische Oper auch in Frankreich (vgl. S. 511
d. Bds.) begründete. Nach Pergolese wurde in derselben wenig mehr gesprochen;
man benützte zur Verbindung der einzelnen Teile das Recitativ, dessen Gesang
so eigenartig fesselnd war, daß man in Jtalien behauptete, ein Buffo dürfe
gar keinen schönen Gesang haben &c.
Anfänge der komischen Oper finden sich in Deutschland schon im 17.
Jahrhundert. Als solche können beispielsweise die komischen Gesangspiele von
Gryphius (Das verliebte Gespenst; neu herausgeg. 1855), insbesondere aber
die vaudeville- oder operettenartigen sog. „Komischen Opern von Chr. Felix
Weiße“ (Leipz. 3 Bde. mit Kupfern 1777) betrachtet werden. Aus letzteren
erwähne ich: Lottchen am Hofe, Die Liebe auf dem Lande, Die Jagd, Erntekranz
&c., welche von J. Ad. Hiller in Leipzig komponiert und in ganz Deutschland
mit größtem Erfolg aufgeführt wurden. Auch unter den auf dem Hamburger
Theater gespielten Opern, die uns Mattheson in seinem musikalischen [511]
Patrioten (S. 177─195) aufbewahrte, befinden sich mehrere komische. Doch
hat wohl erst Dittersdorf in Wien 1786 die komische Oper (durch die Opern
Doktor und Apotheker, Hieronymus Knicker, Das rote Käppchen) geschaffen,
worauf Wenzel Müller (Das neue Sonntagskind) und Kauer (Das Donauweibchen)
&c. in seine Fußtapfen traten. ─
Jn der komischen Oper sind die französischen Komponisten vom Anfang
des 19. Jahrhunderts mustergültig, z. B. Adam, Méhul, Boieldieu (Die
weiße Frau), besonders aber Auber mit seinen Opern Fra Diavolo, Maurer
und Schlosser, Der schwarze Domino, Des Teufels Anteil u. s. w.
Als weitere Beispiele der komischen Oper sind zu nennen:
a. Die lustigen Weiber von Windsor, von dem 1849 verstorbenen
Otto Nikolai. Text nach Shakespeare von Mosenthal.
b. Czar und Zimmermann und der Waffenschmied von Lortzing.
c. Maria, oder die Tochter des Regiments von Donizetti.
d. Der Postillon von Lonjumeau, von Adam.
e. Joggeli, von Wilhelm Taubert.
f. Figaros Hochzeit, von Mozart.
g. Der Widerspenstigen Zähmung, von Herm. Götz.
h. Der Rattenfänger von Hameln, von Kretzschmer. Text von
Fr. Hofmann.
i. Dinorah, von Meyerbeer. k. Martha, von Flotow. l. Wanda,
von Franz Doppler. m. Marquis und Dieb, von W. Taubert. n. Der
Barbier von Sevilla, von Rossini.
§ 186. Die Operette.
Der komischen Oper verwandt ist jene, nach Umfang kleine, nach
Jnhalt einfache Opernform, die man kleine Oper oder Operette nennt.
Es giebt ernste und komische Operetten.
Die Operette hat geringere Personenzahl und durchsichtigere Handlung,
als die eigentliche Oper. Jhre Stoffe sind fast ausschließlich dem bürgerlichen
Leben entlehnt; sie hat keine hohen idealen Charaktere, sondern leicht faßliche
Figuren. Jhr kommt es mehr darauf an, leicht den Sinn zu erregen, als
zu fesseln. Jhre Ensembles sind wenig umfangreich, und die Finale ihrer Akte
zeichnen sich nicht durch jene sorgfältige Bearbeitung aus, die wir bei der
Oper finden. Gewöhnlich entbehrt die Operette der Recitative, da sich der
Gang der Handlung durch den gesprochenen Dialog weiterspinnt. Dieser Dialog
tritt in den Vordergrund, und befriedigt schon an und für sich, so daß ihm
nicht selten Arien und Chöre eingewebt sind.
Was die geschichtliche Seite der Operette betrifft, so ist besonders auf
Marmontel in Paris hinzuweisen, welcher von Pergoleses La serva padrona
angeregt, kleine Operntexte schrieb, in denen er schlicht gemütliche, freundliche,
oft ländlich einfache Figuren in französisch tugendhafter Weise schilderte und
vielen Anklang fand. Jn seine Bahnen traten die meisten Operettendichter [512]
bis zum Schöpfer und Begründer eines neuen travestierend=humoristischen Operetten=Genres:
Jaques Offenbach (geb. 1822 in Köln).
Jn Deutschland hatte die Operette schon frühzeitig Fuß gefaßt, und zwar
an den Theatern von Hamburg (unter Reinhard Keiser), Leipzig (unter Hiller,
Neumann &c.), Wien (unter Dittersdorff, Schuster &c.). Es war nur noch ein
kleiner Schritt bis zur komischen Oper gewesen, allein dieser geschah ─ Nicolai's
lustige Weiber und Lortzings Werke ausgenommen ─ nur teilweise. Dafür
trat man in den letzten Dezennien mehr oder weniger in die Bahnen Offenbachs,
so daß die heutige Operette auch in Deutschland ziemlich gleichbedeutend
mit Offenbachiade geworden ist.
Namentlich Johann Strauß jun. hat die Offenbachiade nachgeahmt und
gepflegt; er hat dazu beigetragen, der Operette der Gegenwart ihre eigenartige
Signatur zu geben, indem er zwar (wie Offenbach) die herkömmliche Operettenform
beibehielt, jedoch den leichten, schlüpfrigen, frivolen Jnhalt begünstigte.
(Vgl. z. B. Der Carneval in Rom, Pariser Leben &c.)
Wie der französische Nationaltanz, die Quadrille, auf welcher die französische
Operette sich in naturgemäßer Weise aufbaute, bei Offenbach allmählich
zum raffinierten Cancan sich verwandelte, so liegt den Strauß'schen Operetten
der alte Wiener Walzer zu Grunde, der uns aber hier nicht mehr in der alten
gemütlichen Weise des Wiener Prater-Publikums entgegentritt, sondern der schon
mit Pfeffer von Cayenne gewürzt ist.
Unschuldigerer Natur sind die früheren Operetten Suppés; mit seinem
Boccaccio ist er aber auch in's Lager der Offenbachiade übergegangen.
Einen Weltruf, welcher demjenigen Offenbachs gleich kommt, hat sich auch Charles
Lecocq aus der Schule Halevys (geb. 1832 in Paris) durch seine Operetten erworben.
Wir müssen in unserer Poetik entschieden gegen die modernen, dem niedrigen
Zweck des Gelderwerbs dienenden, auf die Schaulust des niederen Publikums
berechneten Operetten-Libretti Verwahrung einlegen, sofern diese Machwerke
mit ihrem meist bedenklichen Jnhalt die oberflächlichste Zerstreuung und die
allerplumpste Regung der Sinnlichkeit erzielen und mit der giftigen Lauge ihres
Sarkasmus alle socialen Jnstitutionen und Anschauungen höhnend übergießen.
Allbekannte, unzähligemal aufgeführte Beispiele der Operette:
Die schöne Helena, Blaubart, Pariser Leben &c. von Offenbach. Die schöne
Galathee, und Fatinitza von Suppé. Die Fledermaus, Jndigo, Blindekuh,
Prinz Methusalem &c. von J. Strauß u. a.
§ 187. Das Jntermezzo (Zwischenspiel).
Jntermezzo nennt man ein kleines komisches Singspiel (in einzelnen
Fällen auch eine kleine Posse) für zwei oder höchstens drei Personen,
welches zwischen zwei Theaterstücke zur Abwechselung oder zur Gewinnung
einer größeren Pause behufs Erholung der Sänger oder Schauspieler
eingeschaltet wird, ohne mit dem vorhergehenden oder nachfolgenden
Stücke in irgend einer Verbindung zu stehen.
Ein wesentliches Erfordernis desselben ist das Recitativ, ohne
welches es zu einer einfachen Opernscene herabsinkt.
Schon die alten Griechen füllten die Lücken zwischen den Akten ihrer
Tragödien durch Wechselgesänge und Chöre aus, welche freilich mit ihrer Handlung
in engster Beziehung standen. Jhnen folgten zuerst die Jtaliener, welche
die spezifisch italienische Gattung des Jntermezzo schufen. Als erster italienischer
Jntermezzo-Dichter wird Valentini (um 1650) genannt, obwohl Giovanni
Bardis Combattimento d'Apolline col serpente (aufgeführt um 1590)
wahrscheinlich das älteste Jntermezzo ist. Erst als Metastasios Verdienste die
opera seria zur Vollendung hoben, schuf man wieder Jntermezzos, die von
ihren Komponisten genau wie die opera buffa behandelt wurden.
Jn Frankreich ahmte zuerst Racine (in seiner Athalie), und in Deutschland
Cronegk (in der Tragödie Olint und Sophronia) die Sitte der Alten
nach. Jn Deutschland wurden sodann mehrere Jntermezzos geschaffen, aber
sie trugen sämtlich italienisches Gepräge. Eines der bekanntesten und beliebtesten
wurde Pygmalion von dem Sänger Wilhelm Häser, das wir als
Beispiel des Jntermezzo betonen wollen.
(Jn der Neuzeit ist man von der Anwendung des Jntermezzo mehr oder
weniger zurück gekommen. Man läßt die Zeit zwischen den einzelnen Akten
oder Stücken in den Theaterkonditoreien oder in den Foyers zubringen; oder
man füllt sie durch die sog. Entr'akts=Musik aus [Jnstrumentalstücke in Form
kleiner Sinfonien oder Ouvertüren]; oder endlich man schiebt kleine Possen ein,
die ebenfalls Jntermezzo heißen, z. B. Der Salon-Mauschel von Ullmayer;
Das Wundertheater, Zwischenspiel von Cervantes, übersetzt von Herm. Kurtz;
Hinüber=herüber &c. von Nestroy &c.)
§ 188. Entstehung und geschichtliche Entwickelung der
Oper in Jtalien, Frankreich und Deutschland.
Da die Oper die höchste musikalisch=dramatische Kunstform ist
und ihre Eigenart, wie überhaupt ihr Wesen und Gepräge zum Teil
nur durch den Hinblick auf ihre geschichtliche Entwickelung verständlich
wird, wie denn auch erst die Kenntnis dieser Eigenart zum Mitsprechen
und zur Beurteilung der jeweiligen Librettodichtung befähigt, so bieten
wir in scharfen Umrissen das Wissenswerteste über die Oper in Jtalien,
Frankreich und Deutschland, indem wir Folgendes ausführen:
1. Die Oper erblühte der Renaissance. Jhre Heimat ist Jtalien.
2. Frankreich adoptierte die italienische Oper und bildete sie fort.
3. Jn Deutschland ging die Oper aus der Nachahmung der
Jtaliener hervor. Die Geburtsstätte einer deutschen Oper mit deutschem
Text und deutscher Musik ist Nürnberg. Jhre Blütestation wurde
sodann Hamburg unter Reinhard Keiser um 1700; später Wien, wo
sie als komisches Singspiel ein vollendet nationales Gepräge erhielt.
4. Gluck begründete nach 1750 eine eigentlich dramatische Oper,
die mit der bis dahin vorwiegend lyrischen Richtung brechend, den
Schwerpunkt in die Dichtkunst (d. i. in die Macht und Wahrheit des
Ausdrucks) verlegte. Zur Blüte wurde die Oper durch Mozart gebracht,
der italienische Melodik mit deutscher Charakteristik und Tiefe zu verbinden
wußte. Karl Maria v. Weber ist der Schöpfer der romantischen
Oper. Der Vollender der deutschen Oper durch Begründung
eines deutsch=nationalen Musikdramas ist Richard Wagner.
1. Entstehung der Oper in Jtalien. Die Oper verdankt ihr Dasein
keiner organischen, völkerpsychologischen Notwendigkeit, wie das Drama,
sondern der geistreichen Spekulation hervorragender Gelehrter und Künstler der
Renaissance. Als die Menschheit durch Zurückführung auf die klassischen Werke der
Alten wieder neuen Lebensstoff erhielt und sich eine Befreiung des künstlerischen
Anschauens von dem Banne des kirchlichen Dogmas und der Scholastik durch
eine geschmackvolle Verweltlichung der Kunstidee nach dem Muster der Antike
vollzog, waren es vor allem die klassischen Tragödien der Griechen, welche zur
Nachbildung entflammten und Einfluß auf die großartigen Aufzüge an den Höfen
der Sforza und Medici in Jtalien übten und zweifelsohne das erste Experiment
dramatischer Komposition (d. i. eines gesanglichen Dramas, einer ersten Oper)
durch den gelehrten Forscher und Verehrer der Alten, Giovanni Bardi, Grafen
von Vernio veranlaßten (vielleicht auch durch Alfonso della Viola aus Ferrara,
sofern derselbe schon 1541 das musikalische Drama Orbecche zur Aufführung
brachte und dadurch zuerst Deklamation mit Gesang verband). Geistreiche Gelehrte
und Künstler waren es also, welche die zukünftige Oper, die sog. nuova musica
in ihren Anfängen schufen und schon Mitte des 16. Jahrhunderts die Gründung
besonderer Theater für diese Art Musik veranlaßten. (Sie kamen bei Bardi di
Vernio zusammen; Vincenzo Galilei, der Vater des berühmten Astronomen,
war es, der mit Beihülfe Bardis in der Schrift Dialogo della musica antica
e moderna 1581 ein energisches Wort für Erneuerung der antiken
Musik einlegte und von den Komponisten forderte, daß sie auf die Betonung
der Worte achten und lernen möchten, wie der Liebende zur Geliebten, um ihr
Herz zu rühren, wie der Klagende, Furchtsame, Lustige spricht; er begründete
den Einzelgesang oder die nuova musica, die der Sänger Caccini ausführte.)
Als ein erstes Opernsujet wird das von Opitz ins Deutsche übersetzte (I 52),
bekannte Hirtengedicht Dafne vom Dichter Ottavio Rinuccini genannt, das, vom
Sänger Jacopo Peri komponiert, 1597 zu Florenz mit größtem Beifall privatim
zur Aufführung gelangte.
Die erste, öffentlich gegebene, eigentlich große Oper, welche bahnbrechend
auf das übrige Europa gewirkt hatte, war Euridice von demselben Komponisten.
Sie wurde bei der Vermählung Heinrichs IV. von Frankreich mit
Maria von Medici im Jahre 1600 im Theater zu Florenz zum erstenmal
aufgeführt und enthielt bereits alle Teile der heutigen Oper: a. das Recitativ,
dessen Stil durch Giulio Caccini und Jacopo Peri vorbereitet war; b. den
Einzelgesang (Arie), den Galilei veranlaßt hatte, den Carissimi mit [515]
Coloraturen versah, und dessen Ursprung sich aus dem mehrstimmig gesungenen
Madrigal herleitete; ferner Duett, Terzett, Ensemble, Chöre, die man nur den
ersten Kirchenkonzerten (1596─90) des Ludovico Viadana zu entlehnen
brauchte, so daß man in kürzester Zeit den ganzen Apparat der Oper beisammen
hatte; es fehlte nur noch die Ouvertüre, die ursprünglich durch eine Fanfare als
Zeichen des Anfangs ersetzt wurde und deren Anwendung sodann dem großen
Alessandro Scarlatti († 1725) vorbehalten blieb. (Auch Monteverde, der dem
dramatischen Gesang zuerst den Ausdruck wahrer Leidenschaftlichkeit verlieh, wird
als Erfinder der Ouvertüre genannt; er legte ihr freilich den Namen Toccata
bei. Mit ihm und seinem großen Schüler Cavelli [1600─1676] ist die
Erfindung der Oper begründet.) Nach Peri folgte man in Jtalien der Tradition,
nur mythologische Stoffe für die Oper zu verwenden, da dieselben die Entfaltung
großer Pracht ermöglichten. Man nannte die Oper damals noch Melodramma,
Tragedia, Tragicommedia, Dramma per musica &c. Jn der
ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hieß sie Opera in musica. Nur Fürsten
vermochten sie aufzuführen, weshalb sie mit der Zeit der besondere Schauplatz
der größten Öffentlichkeit in der Kunst wurde, die eigentliche Haupt- und Staatsaktion.
Als erste komische Oper nennt man die schon 1597 am Hofe zu Modena
aufgeführte, durchaus in Musik gesetzte Komödie in Versen: Amfiparnasso von
Orazio Vecchi († 1605), von welcher ein Exemplar in der k. k. Bibliothek zu
Wien aufbewahrt wird.
Von da bis zur Gegenwart teilt sich die italienische Oper in eine opera
seria und opera buffa.
Der Entwickelungsgang der italienischen Oper gipfelte infolge der klingenden
italienischen Sprache hauptsächlich in der Pflege der Arie; die Melodie und die
kunstgemäße Verzierung derselben wurde zur Hauptsache und der Komponist wurde
eigentlich mehr oder weniger Handlanger des allmächtigen, den Ruhm erntenden
Sängers. Um den Sänger noch mehr zu heben, verwies man den Tanz in die
Entr'actes und ließ den Chor bis zur Unbedeutendheit herabsinken; selbst Duette,
Terzette, Ensembles &c. dienten nicht mehr der dramatischen Jdee, sondern dem
Virtuosentum des Sängers. So sank die opera seria immer mehr zum hohlen,
charakterlosen Klingklang herab bis zu ihren letzten Ausläufern Bellini († 1835,
dem genialen Komponisten von Norma, Die Nachtwandlerin &c.), und Donizetti
(† 1848, dem Komponisten von Lucrezia Borgia, Lucia von Lammermoor,
Belisar &c.) &c.
Da erstand der italienischen Oper ein Regenerator in Giuseppe Verdi
(geb. 1813), dem bedeutendsten italienischen Opernkomponisten der Gegenwart.
Schon in seinen ersten Opern ging derselbe über die sentimentale, weichliche
Kompositionsweise eines Donizetti und Bellini, wie auch über die tändelnde,
sinnenkitzelnde des Rossini der ersten Periode hinaus, indem er der dramatischen
Stimmung im Gesang wie im Orchester besondere Rechnung trug und sich von
der ärmlichen Harmonisierung uud Jnstrumentierung seiner Vorgänger befreite.
Wahrhaft bahnbrechend für Jtalien wurde er aber besonders in seiner Aida, [516]
indem er die Lösung der dramatischen Aufgabe als Hauptsache in der Oper
proklamierte, ferner die herkömmlichen, abgedroschenen Koloratur-Arien mit ihren
meist banalen Texten fallen ließ, endlich dem Chor eine hervorragende Rolle
einräumte und zu allem ein farbenreiches Orchester bot. Man kann daher mit
allem Recht behaupten, daß Verdi der Hauptsache nach in Jtalien Wagner'sche
Prinzipien insoweit vertritt, als ihm die Durchführung derselben im Lande der
melodischen Kadenzen und der süßlichen Koloraturen möglich erschien.
Freier und origineller hat sich die opera buffa oder die komische Oper
der Jtaliener entwickelt. Von dem bekannten komischen Jntermezzo La serva
padrona des Pergolese (1731 geschrieben) bis zu Rossini's (des Komponisten
von Wilh. Tell, Tankred und Die diebische Elster) unvergänglichem Barbier,
und Donizettis Don Pasquale und seiner dem Stil nach französischen Regimentstochter
sind eine große Anzahl komischer Opern entstanden, welche der
Leistungsfähigkeit der Jtaliener ein schönes Zeugnis ausstellen &c.
2. Die Oper in Frankreich. Der Begründer der französischen Oper
ist der schon im 12. Lebensjahr nach Paris übergesiedelte Florentiner J.
Baptist Lully (1633), dem auch unser Gluck es verdankte, daß seine
Jdeen eine bereite Stätte fanden. Lullys Opern, unter denen Armida die
letzte war, hatten schon Arien, Chöre, Ballete und Anfänge von Ensemblesätzen.
Jm Jahre 1739 war es Rameau, der durch seine Oper Hyppolite
et Aricie und später durch die auch in Dresden gegebene Oper Zoroaster den
italienischen Stil Lullys mit dem nationalen verschmolz, wie er denn auch schon
die Keime der späteren nationalen komischen Oper lieferte. Der spätere Unterschied
in eine große und in eine komische Oper ist aber doch mehr ein äußerlicher, sofern
in der großen Oper alles gesungen wurde, während die Dialoge der komischen
Oper gesprochen werden. Für die Folge wurde das Kriterium der französischen
Nationaloper: eine sorgfältige Ausbildung der Sprach-Accente im Recitativ, eine
feine Jntrigue, der französische Nationaltanz, knappe Form der Vokal- und Jnstrumentalsätze,
leichte flüssige Rhythmen, Witz, Laune und freundliche Melodie.
Wir erwähnen von den bahnbrechenden Franzosen nur diejenigen, welche auch auf
unseren Musikgeschmack einigen Einfluß übten: Méhul († 1818, z. B. Jakob
und seine Söhne); Boieldieu († 1834, z. B. Kalif von Bagdad, Johann
von Paris, Die weiße Dame &c.); Adam († 1856, z. B. der Postillon von
Lonjumeau &c.); Auber (Fra Diavolo &c.); Halévy (Die Jüdin); Herold (Zampa,
Der Zweikampf, Marie &c.) &c. Außerdem ist zu nennen Hector Berlioz, der
Meister der instrumentalen Technik, welchen man den französischen Wagner nennen
könnte, und der durch seine Opern Benvenuto Cellini, die Trojaner, &c. wie ein Phänomen
sich hervorthat, in denen freilich die Bedeutung in der Jnstrumentalmusik liegt,
die das Gesangliche übertönt, so daß er nicht den gewünschten Erfolg finden konnte.
Wir haben hier noch die Jtaliener Cherubini und Spontini zu erwähnen,
die beide ihre Kompositionen in Paris schufen, und von denen der erstere als
Epigone Mozarts betrachtet werden muß, während der zweite in seinen französisch=espritreichen
Werken (z. B. Vestalin, Ferd. Cortez, Olimpia &c.) gewissermaßen
als die Verkörperung der französischen Gloire, als die Verherrlichung der [517]
Kaiserzeit &c. erscheint. Man kann ihn den Begründer der großen modernen
Oper bis zu Meyerbeer nennen.
3. Erste und älteste deutsche Oper. (Nach dem Originaltext nachgewiesen.)
Jn Deutschland hat man zuerst lyrische Stellen aus geistlichen Spielen
mit einfacher Jnstrumentalbegleitung recitiert, so daß eine Art Recitativ den
Keim für unsere Oper bildet. Bald ließ man sodann in den geistlichen Spielen
des deutschen Mittelalters Einzelgesänge eintreten und diese später mit Chören
abwechseln. Jn dieser Weise sollen einige Dramen Ayrers aufgeführt worden
sein. (Sie waren strophisch ─ nach Art der Volkslieder ─ abgefaßt, so daß
sich dieselbe Melodie von Strophe zu Strophe wiederholte.)
Ein epochebildender Fortschritt erfolgte seit Übersetzung der Oper (Schäferei)
Dafne durch Opitz (S. 514 d. Bds.), zu welcher Heinr. Schütz (1585
bis 1672) eine verloren gegangene Musik lieferte. Diese Oper wurde am
Hofe Joh. Georgs I. von Sachsen bei Vermählung seiner Tochter Sophie mit
großem Beifall aufgeführt. Jm selbstbewußten Streben, dieser allgerühmten
fremden Oper eine deutsche Leistung gegenüberzustellen, schrieb nun der Nürnberger
Dichter G. Ph. Harsdörffer (1607─58) das Libretto zur
ersten deutschen Originaloper, nämlich das von dem Nürnberger Organisten
Siegmund Gottlieb Staden (1617─55) komponierte geistliche Waldgedicht
oder Freudenspiel: „Seelewig“ (== ewige Seele). Dasselbe ist uns im 4. Bde.
der Harsdörfferschen „Frauenzimmergesprächspiele“ (Nürnberg, Wolfg. Endtern,
1644) zugleich mit den Stadenschen Musiknoten erhalten. Eine dieser Oper
vorausgehende Scene (Vorspiel) hat folgende Personen: Angelika von Keuschewitz,
eine adelige Jungfrau; Reymund Discretin, ein gereist und belesener
Student (hinter dem sich Harsdörffer mit seinen Ansichten versteckt); Julia
von Freudenstein, eine kluge Matron; Vespasian von Lustgau, ein alter
Hofmann; Cassandra Schönlebin, eine adelige Jungfrau; Degenwert
von Ruhmeck, ein verständiger und gelehrter Soldat. ─ Diese Personen verbreiten
sich über Poeterei und Spiel und sind der Ansicht, daß die aus dem
Welschen übersetzten Schäferspiele bei uns ihre Anmut verlieren; darauf liefert
Reymund sofort seine deutsche Schäferei („Seelewig“), um nachzuweisen, daß
auch unserer deutschen Sprache solche (wegen ihrer Handlung Waldgedichte zu
nennende) Schäfereien nicht unmöglich seien. Hiermit endigt das Vorspiel und
die Oper „Seelewig“ beginnt. Jhre handelnden Personen sind: Der Verstand
Hertzigild, die Sinnlichkeit Sinnigunda, das Gewissen Gwissulda, die
den Kunstkützel darstellenden, vom Satyr Trugewalt angestellten Hirten Künsteling,
Reichimuht und Ehrelob, endlich Trugewalt. Der Kern der Handlung,
die viel zu sehen bietet, ist folgender: Seelewig, die menschliche Seele,
soll auf Antrieb des höllischen Geistes Trugewalt von den Hirten verführt
werden; im entscheidenden Augenblick, als sie mit verbundenen Augen am
Spiel „blinde Liebe“ sich beteiligt, und Trugewalt herzutritt, um sich anstatt
des Hirten haschen zu lassen, wird sie durch das Dazwischentreten ihrer
Gespielin Hertzigild und ihrer Hofmeisterin Gwissulda gerettet.
Harsdörffer, dessen weibliche Figuren seiner Vorschrift gemäß (IV 164) [518]
in Samt und Seide einherschreiten, brachte den Wechsel seiner belebten Scenen
dadurch zu Stande, daß er im Hintergrunde eine in 4 Abteilungen geteilte,
drehbare Scheibe anbringen ließ (IV 165), so daß immer diejenige Abteilung
in den Vordergrund gedreht werden konnte, welche für die Handlung nötig
war. Sein Komponist Staden verpflanzte bereits den ganzen Apparat der
damaligen italienischen Oper auf deutschen Boden; er bot vor jedem der 3 in
je 6 Scenen geteilten Akte eine mit Generalbaß geschriebene, kurze Ouvertüre
(vom Dichter „An- oder Gleichstimmung, Symphonie“ genannt, für Geige, für
Flöte und zuletzt für Pomparton oder Fagot), ferner strophische (liedartige)
Einzelgesänge, Duette, Terzette, Quartette &c. und am Schluß eines
jeden Akts einen Chor. Durch den verdienstlichen Versuch, die einzelnen Personen
nach ihrer Verschiedenheit musikalisch zu charakterisieren, geht Staden
bereits über die Jtaliener hinaus, welche sogar an Frauen Männerrollen übertrugen.
Jn der 1. Handlung (Aufzug 4) läßt er die sentimental angelegte
Seelewig in Moll singen, dagegen die sinnliche Sinnigunda in Dur antworten;
bei der Charakteristik der Gwissulda und der Hertzigild bedient er sich des
Soprans und des Alts, ferner gestaltet er die Partie der Hertzigild melodienreich,
während die der matronenhaft belehrenden Gwissulda mehr recitativisch=deklamatorisch
gehalten ist. Auch der Charakter des schlauen Künsteling, wie der des grobsinnlichen
Trugewalt ist durch die eigenartige Musik gezeichnet. Ferner ist die
Arie der Sinnigunda mit Läufen und Koloraturen geschmückt, um das Tirillieren
und Schmettern der Nachtigall darzustellen; auch der Schmerz der Seelewig ist
durch Anwendung des geraden Zeitmaßes angedeutet &c. Viele Partien (z. B.
3. Aufz. der 3. Handlung) sind entschieden dramatisch gehalten. Außerdem erblickt
der Kenner einzelne Partien als Ensembles, wie aus den Schlußchören jedes
Akts das unsere Oper auszeichnende charakteristische Akt-Finale erwachsen ist.
Als 1678 eine weitere Oper in Hamburg (Adam und Eva, Text von
Richter, Musik von Kapellmeister Johann Theile, einem Schüler Heinrich Schütz')
aufgeführt wurde, erklärte der die Oper verteidigende Hamburger Prediger
Elmenhorst (vgl. Aug. Reißmann, Allg. Gesch. d. Mus. II 168), daß
dieselbe der Stadenschen Oper entspreche: ein Beweis, wie bekannt die
Harsdörffersche Oper Seelewig gewesen sein muß.
Nach alledem war Harsdörffer (der im 5. Bd. seiner Gesprächsspiele
auch noch die alten 7 Kirchentonarten mit den 7 Kardinaltugenden als musikalische
Scene darstellt) der Begründer einer deutschen Oper; und der Meistersängerstadt
Nürnberg gebührt durch ihn der Vorzug, für alle Zeiten
als Geburtsstätte und Wiege der ältesten, deutsch=nationalen Oper
gepriesen zu werden.
Mit Errichtung des Hamburger Theaters (1678) wurde Hamburg die
erste Pflegstätte der deutschen Oper. Zur Eröffnung dieses Theaters
wurde die oben erwähnte Oper „Adam und Eva“ gewählt. Jn demselben
Jahre (1678) ließ Theile (1646─1724) die dem Jtalienischen entlehnte Oper
Orontes folgen, die bis heute sehr mit Unrecht als die erste deutsche Oper
von allen Musik- und Litteraturgeschichten gerühmt wurde.
Auch andere (z. B. Francke, Förtsch, Kusser &c.) schufen nunmehr Opern.
Aber erst Reinh. Keiser (1673─1739), der nicht weniger als 120 Opern
schrieb, war es, welcher der deutschen Oper zur Anerkennung und zum Sieg
verhalf. Doch machte sich nebenbei der Einfluß der italienischen Oper bis zur
Mitte des 18. Jahrh. bemerklich.
4. Weiterentwickelung der Oper. Wie ein Phänomen trat Gluck,
der Schöpfer des von Rich. Wagner genial ausgebauten, tempierten Recitativs
hervor und schuf eine originelle, dramatische Oper in seinen Werken Alceste, Jphigenia,
Armida, Orpheus und Euridice, indem er die zum Sinnenreiz ausgeartete
Opernmusik von den italienischen Schnörkeln zur deutschen Einfachheit zurückführte
und die Musik planvoll zur Hebung des Gedankens und der Handlung verwandte
&c. Man könnte wohl nachweisen, daß schon dieser epochebildende
Genius dieselben Ziele verfolgte und denselben Ansichten huldigte, welche in der
Neuzeit Wagner mit seinem entwickelten Orchester und mit seiner glänzenden
Scenerie und Malerei &c. zur Ausführung zu bringen berufen war. Gluck,
der als deutscher Meister gegen den italienischen Virtuosenstil wirkte, stellte mit
großer Absichtlichkeit und noch größerem Verständnis die dramatische Jdee in
den Vordergrund; er erkannte den Schwerpunkt der Oper in der Dichtkunst,
wobei er leider nur mythologische Stoffe zu verwerten wußte. Als
Ästhetiker und Theoretiker war Gluck noch weit bedeutender, als in der praktischen
Ausführung; der Musiker ließ den Reformator und Ästhetiker zuweilen
im Stich.
Nun erschien als Konsequenz Glucks das hellleuchtende Gestirn Mozart,
den der Musiker nicht im Stich ließ, und der ein weit größeres musikalisches
Genie war als Gluck. Seinem hochgebildeten Genius und seinem künstlerischen
Jnstinkt folgend, hat er zuerst italienischen Wohlklang mit deutscher Charakteristik
zu vereinen gewußt, indem er der Gluckschen Jdee, Wahrheit, Einfachheit, Erhabenheit,
Gediegenheit noch die Anmut und Lieblichkeit der Melodie und den
vollen Jnhalt des deutschen Gefühls vermählte. Die Abhängigkeit Mozarts
von Gluck läßt sich an mancher Stelle nachweisen (vgl. z. B. die Friedhofsscene
im Don Juan mit dem Orakel in der Oper Alceste).
Geringeren Einfluß auf die Oper übte der gewaltige Beethoven; nachdem
er seinen unsterblichen Fidelio geschrieben, zog er sich von der damaligen
Oper, für welche er wenig Sympathie hatte, gänzlich zurück.
Nach Mozart machte sich mehr oder weniger wieder der italienische Einfluß
geltend. Mozarts Nachfolger legten immer mehr den Schwerpunkt in die Musik
und vernachlässigten den Text auf unerhörte Weise; die Worte bildeten häufig
nur die unverstandene notdürftige Unterlage für die Schönheit und Künstlichkeit
der Opern, die in der Regel aus einer Reihe in Kostüm gesungener, locker verbundener
Arien bestanden. Die Operntexte wurden immer kunstloser und unpoetischer,
der Komponist übte immer größere Oberherrschaft über den Dichter aus,
ja, die einzelnen Opernkomponisten suchten sich in Melodien, Tänzen und Dekorationen
zu überbieten; und so war die Oper nahe daran, die Anarchie der
Künste zu werden.
Da war es der reformatorische Karl Maria von Weber, der zum Urquell
aller Kunst, dem Volksliede, niederstieg und ─ den Jnhalt betonend ─ der
Oper eine neue Richtung verlieh. Seine Opern (z. B. Freischütz), in
denen er uns die herrlichsten Volksmelodien bietet, sind insofern national,
als er auch die deutsche Sagenwelt hereinzog. So wurde er der Schöpfer der
romantischen Oper, die außer uns Deutschen kein Volk der Welt
besitzt. Weber hat aber auch noch dadurch eine eminente Bedeutung, daß er
durch seine Euryanthe, die sich durch feine Detailmalerei wunderbar von den
übrigen Opern des Jahrhunderts abhebt, die Anregung zu einer Weiterbildung
oder, wenn man will, Umgestaltung der Oper im Sinne Wagners gab. (Das
Libretto ist von Helmine von Chezy.) Als Ausläufer seiner Richtung können
nach der musikalisch=dramatischen Seite hin genannt werden: Marschner (Hans
Heiling, Vampyr &c.), Konradin Kreutzer (Nachtlager von Granada), Lindpaintner
(Genueserin), Reissiger (Turandot, Nero, Dido, Die Felsenmühle);
nach der sentimentalen Seite kann Spohr (Jessonda, Faust, Berggeist) als
Nachfolger Webers bezeichnet werden &c.
Einen vorübergehenden berauschenden Einfluß übte Meyerbeer, dessen geistiger
Universalismus die Vereinigung französischen und italienischen Stils bewirkte,
ohne indes einen Beitrag für deutsch=charakteristische Stileinheit zu liefern,
wenn auch einzelne Opern (wie der Prophet, Hugenotten, Nordstern, Robert
der Teufel) dem deutschen Geiste Konzessionen zu machen scheinen.
Erst dem großen Richard Wagner, der den deutschen Sagenstoff zur
Grundlage wählte, gelang es, ein deutsch=nationales Musikdrama zu schaffen.
Die gewaltige Wirkung der Meyerbeerschen Oper anerkennend, ging er von
dem Gedanken aus, daß die seitherige Oper ein Jrrtum gewesen sei, da in
diesem Kunstgenre ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zweck gemacht; der
Zweck des Ausdrucks (Drama) jedoch zum Mittel erniedrigt worden sei. Er verlangte,
daß auch die Musik in der Oper dramatisch=charakteristisch werde und
in allen Teilen dem Dialog und der Handlung folge und nur aus dieser hervorgehe;
er erstrebte und schuf musikalische Dramen: Musikdramen. Jedenfalls
ist dieses Ziel gerechtfertigt, wenn auch viele die offene Frage immer wieder
ventilieren, ob Wagner mit der Mythe in seinen Stoffen einen eben so günstigen
Griff gethan habe, als mit der Sage, da selbst die griechischen Götter unserer
heutigen Bildung ästhetischer, verwandter, bekannter erscheinen, als die deutschen
Gottheiten der Edda u. s. w.
§ 189. Das Geheimnis der Wagnerschen Opernreform.
1. Das Geheimnis der Wagnerschen Opernreform besteht darin,
daß Wagner dem deutschen Gedanken durch die dramatisch=charakteristische
Musik lebenswahren Ausdruck zu verleihen wußte, ohne doch die
ästhetische, rein fühlende Basis zu verlassen.
2. Er hat mit großem Verständnis die romantischen Stoffe der
deutschen Sage bearbeitet, und so eine wunderbare Vereinigung des [521]
modernen und romantischen mit dem antiken, klassischen Geist erreicht.
3. Dadurch hat er echt charakteristische deutsche Musikdramen
von bleibendem Werte geliefert.
1. Wagner hat die Musik in der Oper in dem Sinne dramatisch gestaltet,
daß sie die fortschreitende Handlung und deren Entwickelung darstellt und in
Beziehung zu ihr bleibt. Daher mußte er die übliche Form der Oper, die
Komposition der einzelnen Stücke der Oper, aufgeben und mehr oder weniger
ein Verweilen der durch die Handlung hervorgerufenen Stimmung erzielen, um
in bahnbrechender Weise den Jdeenstoff möglichst durch Töne zu versinnlichen
und denselben durch Töne zur ergreifenden Wirkung zu bringen.
Wagner hat die Schöpferkraft und die Fähigkeit bewiesen, den künstlerischen
Stoff unter Anwendung der künstlerischen Mittel tief innerlich zu erfassen und
in einer Weise zu verarbeiten, daß sich sein subjektives Können mit seinem
Objekte verschmolz. Allenthalben war er in seinem Wirken dem Jdeale treu,
ohne sich vom Leben abzuwenden, und sein Streben blieb darauf gerichtet, für
die Kunst den notwendigen Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu gewinnen,
durch welchen sie allein zur Blüte gelangen kann.
2. Es war daher ein berechtigter, glücklicher Wurf, daß er sein Libretto
aus dem deutschen Geistes- und Sagenleben schöpfte. Dadurch kam er dem
Wunsche nach, den unser Ästhetiker Vischer bereits im Jahre 1844 am Schluß
des 2. Bandes seiner Kritischen Gänge (Vorschlag zu einer Oper) aussprach:
„Jch möchte die Nibelungensage als Text zu einer großen heroischen
Oper empfehlen.“ Vischer führte (a. a. O. S. 399 ff.) aus, wie unsere
seitherige Oper das Leben der subjektiven Empfindungswelt zur Genüge ausgebeutet
habe, um endlich an die großen objektiven Empfindungen zu gehen.
Alle Musik ─ ruft er aus ─ ist subjektiv, allein es ist ein Unterschied
zwischen der subjektiven Welt einer frommen Seele oder eines glänzenden Verführers
und eines Helden, es ist ein Unterschied, ob indianische Wilde, erzürnte
Bauern, lustige Jäger, oder ob edle Völkerchöre Lust und Schmerz in Tönen
befreien. Es kann freilich nicht bei Zoll und Linie angegeben werden, wie
eine wahrhaft heroische Musik von dem musikalischen Ausdruck anderer starker
Leidenschaften verschieden sei; der Text, die Fabel, die Charaktere und die Musik
heben und tragen sich gegenseitig. Es muß mich alles trügen, oder es ist noch
eine andere, eine neue Tonwelt zurück, welche sich erst öffnen soll. Die Musik
hatte in Mozart ihren Goethe, in Haydn ihren Klopstock, in Beethoven ihren
Jean Paul, in Weber ihren Tieck: sie soll noch ihren Schiller und Shakespeare
bekommen und der Deutsche soll noch seine eigene große Geschichte in mächtigen
Tönen sich entgegenwogen hören. Die Nibelungensage enthält nicht eigentlich
Geschichte ....., wir halten zuerst das Moment des Heroischen in der besonderen
Bestimmung des Vaterländischen fest .... (S. 403.) Wir haben
die Musik noch nicht gehabt, welche ein solcher Stoff fordert, und wir haben
einen solchen Stoff in unserer Musik noch nicht gehabt, so wie wir in unserer
Poesie noch keinen Shakespeare, so wie wir noch keinen großen nationalen, rein [522]
geschichtlichen Maler gehabt haben. Jch muß nun von meinem Stoff reden ...
Dieser Stoff ist national, das ist das Erste, was von ihm zu rühmen ist ....
Die Nibelungenhelden sind echt deutsche Charaktertypen, wie sich solche ein
Volk in der vorgeschichtlichen Zeit auf der Grundlage nicht weiter erkennbarer
historischer Züge als Spiegelbild seiner besten sittlichen Kräfte dichtet. Die
deutsche Milde und der gefürchtete, anhaltende deutsche Zorn, die deutsche Gutmütigkeit
und Treue, die sich am stärksten in der eisernen Folge der tragischen
Bestrafung einer Untreue ausspricht, der Frühlingsduft der Minne und der
Schwertklang deutscher Tapferkeit, die zarte Schüchternheit und der zähe Eigensinn,
der finstere Trotz, endlich das tiefe Menschheits- und Schicksals-Gefühl,
worin alle diese bestimmten Töne sich wie in ihren Elementen bewegen: dies
ist die weite und volle Brust unserer eigensten Volksnatur, die in diesem ewigen
Gedichte voll und gesund atmet. (S. 410.) Das Nibelungenlied ist für die
Oper wie gemacht, quillt und sprudelt von herrlichen musikalischen Motiven,
wartet schon lange auf seinen Komponisten, fordert ihn gebieterisch: dies ist
meine Behauptung, und diese Behauptung ist bewiesen, wenn ich nur den Jnhalt
des Liedes in einer ungefähren scenischen Ordnung aufführe &c.“ (Vischer hat sodann
den Entwurf eines Libretto in Prosa gegeben, der ─ wenn wir die
späteren Nibelungentragödien recht beurteilen ─ den meisten derselben als Vorlage
diente, für eine Oper jedoch viel zu reich ist, überhaupt den Fehler der
Einteilung in 5 Akte hat. (Vgl. S. 526 3 d. Bds.) Richard Wagner war
der von Vischer ersehnte Dichterkomponist, der sich der Riesenaufgabe unterzog,
nicht nur den von den Urgermanen erdichteten Mythus in eine kunstgerechte
dramatische Form zu gießen, sondern auch die gleichsam zur vollen Entwickelung
gelangte Melodie für die im germanischen Mythos enthaltenen deutschen Empfindungen
und Empfindungsgegensätze in charakteristischer, echt deutscher Weise zu
schaffen. Früher, ehe unsere eigene Kunst und unser eigenes Leben in Deutschland
sich gestaltete, nötigten alle Bestrebungen den Künstler, sich in ein Verhältnis
zum Jdeale der griechischen Kunst zu setzen. Als dem deutschen
Geist in seinem rastlos nach dem Jdeale ringenden Streben das Wesen der
griechischen Kunst ─ die höchste Harmonie aller Seelenkräfte ─ sich erschloß
und er dasjenige in ihr in plastisch schöner Gestalt verwirklicht fand, was er
eben in seinem Jnnern herzustellen bemüht war, da vollzog sich gleichsam eine
geistige Ehe zwischen zwei, bei aller Verwandtschaft verschieden gearteten Nationen.
Die innere Unendlichkeit des deutschen Geistes fand Maß und Form, zur Tiefe
gesellte sich die Klarheit, und die Jnnigkeit seines Gemütlebens umkleidete sich
mit allem Zauber der Anmut. Dem deutschen Volke war es nunmehr vorbehalten,
eine Wiedergeburt jener großen Vergangenheit herbeizuführen, wo der
Mensch zum wahrhaftigsten Erfassen seines Wesens und zur harmonischen Darstellung
desselben gelangt ist. Denn unsere Nation ist berufen, den andern
Nationen gegenüber eine ähnliche Stellung einzunehmen, wie dies bei den Griechen
in der alten Welt der Fall war. Unserem Volke fällt die Aufgabe zu, auf
geistigem Gebiete den Lebensgehalt der fremden Völker in sich aufzunehmen
und von allem Nichtigen und allen Schranken nationaler Einseitigkeit befreit, [523]
wieder aus sich zu erzeugen. Auf dem Gebiete der Poesie nahmen in dieser
Beziehung Lessing, Herder und der Jndogermane Rückert ihre bestimmte
Position ein. Jn der Musik bewiesen Händel, Gluck, Beethoven und
Mozart ihre epochebildende Bedeutung in Erstrebung eines universellen Zieles.
Wie nach langer Jrrfahrt in der Fremde kehrte der Deutsche allmählich in seine
Heimat zurück; immer mehr näherte man sich jenem großen Ziel, das in der
Vereinigung des klassischen, romantischen und deutschen Wesens zu einem
deutschen Kunstwerk besteht. Das Hauptstreben mußte selbstredend darauf
gerichtet sein, eine Jnstitution zu schaffen, deren Aufgabe es war, Drama und
Musik zu vollendeter Darstellung zu bringen. Diese mußte ein einigender Mittelpunkt
werden, in dem die künstlerischen Fähigkeiten des deutschen Geistes zur
Reife und Vollendung gebracht werden konnten. Die dramatische Kunst
mußte dabei im Vordergrund bleiben.
Wagner hat nun dasjenige Kunstwerk, welches den Mittelpunkt des
griechischen Kunstlebens bildet, das lebendig dargestellte Drama, aus eigener
Kraft erzeugt. Er sah ein, daß nicht die Entwickelung des Schönen der
griechischen Formen, wie man es mit den Aufführungen der Antigone versucht
hatte, allein uns helfen konnte, daß vielmehr Schöpfungen, in welchen unser
eigenes deutsches Leben Gestalt gewonnen hat, die Grundlage einer Blüte
der deutschen musikalisch=dramatischen Kunst zu bilden haben.
So erreichte er in jedem seiner einheitlichen auf deutschem Boden (d. i.
aus deutschnationalem Mythus) erwachsenen Kunstwerke, besonders aber im Ring
der Nibelungen, die bisher kaum geahnte, verdienstliche Vereinigung des
modernen und romantischen Geistes mit dem antiken, klassischen
Geiste, was Goethe bereits in der Vermählung des Faust und der Helena
symbolisch dargestellt hatte.
3. Wenn auch manches in der Reform Wagners dem Laien nicht
genügend populär erscheinen wollte, so ist doch nachgerade auch von Wagners
Gegnern der eigentümliche Zauber, die früher nie geahnte Gewalt und Kraft
seiner Musikdramen anerkannt worden. Man giebt immer mehr zu, daß Wagner
im musikalischen Drama den Schlüssel gefunden hat, diese Welt mehr als
früher dem Empfindungsleben zugänglich zu machen. Wagners Musik, die
das Wunderbare dem Gefühl wahrscheinlich machen möchte und durch ihre
gefühlumstrickende Allgewalt das Reich der Symbole lebendig zu machen weiß,
hat uns den Reichtum und Jnhalt der germanischen Welt rascher enthüllt, als
es die Doktrin aller Katheder der Welt vermochte.
Es ist dies eine Thatsache, die weder durch dummdreistes Geschwätz noch
durch geistvolles Raisonnement widerlegt werden kann. Ob auch die „Amazone“
Dingelstedts, oder „Die Sturmflut“ Spielhagens gegen Wagner polemisieren,
der Kundige wird den Eindruck haben, daß diese Dichter durch ihre Bemerkungen
doch nur ihren überlegenen Geist zu dokumentieren strebten, um ihren Romanen
einen pikanten Anstrich zu geben &c.
§ 190. Wagners Tetralogie.
1. Wagners Nibelungen sind eine Tetralogie im antiken Sinn.
2. Sie sind eine epochebildende, musikalische That.
3. Zu ihrem Verständnis gehört ein gebildeter Geschmack,
ähnlich wie ein reines Genießen des Goetheschen Faust ein gesteigertes
Verständnis und hohe Bildung voraussetzt.
1. Jn der Blütezeit der griechischen Tragödie bestand in Athen die
Übung, daß, wenn ein Dichter bei den tragischen Wettkämpfen der Dionysusfeste
eine zusammenhängende Dreiheit von Tragödien (eine sog. Trilogie) vorführte,
noch als viertes ein Satyrspiel beigegeben wurde, wodurch die Trilogie
zur Tetralogie wurde. Ähnlich ist Wagners Trilogie gebaut, welcher ein viertes
Stück (Rheingold; etwa wie Wallensteins Lager von Schiller) als Vorspiel
beigegeben ist.
Es ist Wagner gelungen, in seiner Nibelungentetralogie einen Dramencyclus
zu schaffen, der vielleicht am ersten mit dem Prometheus des Äschylus
verglichen werden darf, soweit nach dem erhaltenen Fragmente des letzteren
Werkes ein Schluß aufs Ganze berechtigt ist. Die eigentliche Vereinigung von
philosophischem Tiefsinn und realistischer Darstellungskunst, welche dem Wagnerschen
Geist eigen ist, gelangt in dieser Dichtung zu einer harmonischen Verschmelzung
mit der Poesie.
2. Die äußere Physiognomie ist dabei nicht etwa einem anderen Volk
abgeborgt, sondern vielmehr aus der innersten Wurzel des deutschen Wesens
emporgewachsen, um als Zeugnis der Tiefe seines Gemütes und der Jnnerlichkeit
seiner Empfindungen dazustehen. Unstreitig liegt der wahrhaft poetische
Wert dieses Musikdramencyklus in der Dichtung, in der poetischen Organisation
des Stoffes und in der dichterischen Neuschöpfung der Charaktere, während
alles, was zur Äußerung des Gedichts gehört: Diktion, Sententiosität, Pathos,
nunmehr in wirksamerer Weise zu ersetzen Aufgabe der berufeneren Schwester Musik
ward. Was aber auch schon an der sprachlichen Äußerungsweise der Dichtung
(also am eigentlichen Texte) von hohem künstlerischen Werte sich zeigt: Rhythmus
und Lautsymbolik, das sind eben nur Dinge, an welchen (wie Wolzogen so schön
in Lautsymbolik S. 6 ausführt) die Musik von vornherein wesentlichen Anteil
hat. Zumal die instinktiv angewandte Lautsymbolik war das Werk eines
musikalisch empfindenden Dichters. Da aber häufig ganz offenbar auch Absicht
gewaltet, so bietet uns Wagners Dramencyklus die Lautsymbolik aus den beiden
möglichen Quellen, poetischer Absicht und musikalischem Jnstinkt, zugleich dar.
3. Wagners Tetralogie setzt zu ihrem vollen Verständnis Vertrautheit mit
dem philosophischen Jdeenkreise des Textes voraus, und Wagner ist daher im Jrrtum,
wenn er meint, daß diese Musik auch auf den Ungebildeten die gleiche Wirkung
übe. Es ist dies der Jrrtum Rousseaus vom reinen Menschen. Der reine
Mensch ist eben der Mensch der entwickelten höchsten Kultur, nicht der Mensch
der Vergangenheit, welchen die Entwickelungsgeschichte in einer so traurigen [525]
Gestalt zeigt, daß man verzweifeln möchte an der Gottähnlichkeit im Menschen
und versucht sein könnte, der Darwinschen Theorie völlig zuzustimmen. Auch
das ästhetische Gefühl nimmt je nach der Nationalität, je nach der Zeit, eine
andere Richtung an, und erreicht einen höheren Gehalt, eine gebildetere Qualität.
Bei häufiger Vorführung tiefer, geistvoller Musik, die als unmittelbarer,
gleichsam träumender Ausdruck des Wortes bezeichnet werden kann, wie diesen
die Musik der neuen dramatischen Oper anstrebt, wird unser Gefühl die
praktische Befähigung erhalten, sich die eigenartigen Wendungen nach und nach
einzuprägen, Sinn für dieselben zu erwerben, sie lieb zu gewinnen.
Als unser größtes spezifisch musikalisches Genie, der musikalische Kosmopolit
Mozart, auftrat, indem er die lyrische Seite der Jtaliener, die epische
Natur Händels, woran sich das dramatische Streben Glucks reihte, mit
allen musikalischen Richtungen zu einem großen organischen Ganzen gestaltete
und zusammenfaßte, da verstand man seine Musik ebensowenig, als man anfänglich
die fortgeschrittene eines Wagner verstehen mag, da bekämpfte man
ihn hart, wie ja auch sein großer Zeitgenosse Haydn von gewisser Seite des
faulen Zopftums angegriffen wurde. Und doch verehrt heute ein jeder in
Haydn den Meister, welcher der Gesangskunst einen richtigen Standpunkt anwies
und die Jnstrumentalmusik ihrer heutigen Vollkommenheit zuführte, in Gluck
den Begründer einer dramatischen Oper und in Mozart den Vermähler italienischen
Wohlklangs mit deutscher Charakteristik &c.
Als Wagners Tannhäuser zum erstenmal in Paris gegeben wurde,
hatte man noch so wenig Sinn für dieses Musikgenre, daß die Oper durchfiel,
ja, der beißende Spott der Pariser erfand das bonmot »je tannhäuse« (ich
langweile mich). Jetzt hat man dort einen ganz anderen Standpunkt erreicht:
Tannhäuser machte in Paris bereits vor dem Kriege volles Haus!
Wie rasch eilt das Jahrhundert und die Bildung auch des Geschmacks
vorwärts! (Vgl. d. Verfassers Arbeit in „Deutsche Theater-Chronik“ Jahrg.
1868 Nro. 30: „Jst die Durchschnitts-Geschmacksbildung der Jahrhunderte die
gleiche? Aphorismen, hervorgerufen durch die neue, dramatische Oper.“)
§ 191. Wagners Stilcharaktere und seine Leitmotive.
1. Jn Wagners weltgeschichtlicher Thätigkeit lassen sich drei verschiedene
Stilcharaktere unterscheiden.
2. Eine wahrhaft philosophische Bedeutung hat er sich durch seine,
allen Perioden angehörigen Leitmotive erworben.
3. Das bedeutendste Leitmotiv ist Versinnlichung der Liebesgewalt.
1. Wagner begann im Streben nach der Herrlichkeit der besonders von
Spontini vertretenen großen (historischen) Oper.
Auf den von ihm selbst später verstoßenen Rienzi folgte die zusammengehörige
Gruppe: Fliegender Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, ─ Opern, in
welchen sich das Kunstwerk der Zukunft noch nicht ostensibel offenbart hatte,
obwohl sie dasselbe ahnen ließen.
Erst in Tristan, den Meistersängern und besonders dem Ring der Nibelungen
wurde der spekulierende Ästhetiker von dem Dichterkomponisten eingeholt
und sein längst geweissagtes Jdeal zur Erscheinung gebracht. Nicht allein in
den Stimmen, sondern auch in der malenden und schildernden Musikbegleitung
liegt hier der Schwerpunkt. Während in den Ersteren der
realistischen Deutung jedes einzelnen Wortes nachgejagt wird, während sie
sich in unendlicher Melodie tummeln, verspinnt hier das Orchester seine wahrhaft
narkotischen Klangeffekte und seine in der Chromatik und Enharmonik
schwelgende Modulation! Die aus der Anspannung des dramatischen Prinzips
sich ergebenden Konsequenzen treten namentlich in Tristan und Jsolde, wie in
den Meistersängern hervor. Tristan und Jsolde gewährte dem Komponisten
freien Spielraum in der Charakterentfaltung: der wichtigste Faktor liegt hier
im Orchester, auf dessen Rechnung kommt, was als musikalische Substanz des
ganzen Werkes zu betrachten ist.
Von großartiger Wirkung im Tristan ist das große Liebesduett des 2. Akts.
Da ist Fluß, Wohllaut, verführerisches Weben und Wogen der Töne, innige
Melodie, die selbst die Gegner anerkennen müssen. Die Jnstrumente deuten
die verborgensten Geheimnisse des dargestellten und gesungenen Liebesgenusses
an. Mit ihren süßesten, wollusttrunkensten Klängen umschmeicheln sie das
Ohr. Genial zeigt sich Wagners Muse in der leidumflorten Erwiderung
Tristans: O König, das kann ich Dir nicht sagen u. s. w. Der 3. Akt ist
besonders großartig wirkend. Das einleitende ausdrucksvolle Vorspiel ist einzig
schön. (Man vgl. das Verlangen des Kranken nach seiner Ärztin, den aufjubelnden
Reigen des Hirten, die malerische Schilderung des an der Klippe
mühsam vorbeisteuernden Schiffes, dessen Flagge und Wimpel die flatternden
Flötenpassagen entrollen, die jauchzende Lust des Orchesters bei der Landung &c.)
Zum Ergreifendsten des ganzen Werks gehört Jsoldens Schwanenlied. Da
ist deutscher Stil, deutscher Charakter, der schon bei nur geringer Bekanntschaft
mit Wagner erwärmen muß.
2. Ein wichtiges Kriterium für Würdigung Wagners sind seine Leitmotive,
welche die innerste Natur der im mythischen Drama auftretenden Gestalten versinnlichen
und die logische Verbindung des musikalischen Dialogs vermitteln.
Sie haben die Bestimmung, die Harmonie für jede einzelne Empfindungsphase
im Leben jeder einzelnen Person zu entwickeln, ebenso wie sich aus
dem feststehenden menschlichen Charakter die Handlungen einzeln entwickeln.
Jm Tristan und Jsolde sind sie selten. Eine so große Fülle von Leitmotiven
wie in den Meistersängern schließt hier schon die einfache Handlung aus. Hier
ist alles auf Entwickelung der auf den Liebestrank deutenden Figur abgesehen.
Trotzdem begegnen wir diesem chromatisch gewundenen, mit prickelndem Vorhalten
und wählerischen Dissonanzen freigebigen Thema sehr häufig: bald unten in
der Begleitung arbeitend, bald siegreich sich in die Melodie schwingend.
Neben demselben finden wir das an den Abendstern im Tannhäuser
erinnernde Motiv, die von der Macht der Liebe erfüllten Töne und die schwermutatmende
Melodie des Hirten, die von besonderem musikalischem Reiz sind. [527]
Der Gesang ist freilich zuweilen in Jnterjektionen der Leidenschaft zerpflückt,
noch dazu in Superlativen, die als Ausdruck der gespanntesten Seelenzustände
gerechtfertigt sind; aber das Leitmotiv kommt doch einer Symbolisierung der
Jdee gleich. Des Meisters Prinzip ist daran schuld, daß es zu eigentlichen
Liebesduetten, die mehr als im recitierenden Drama im Gesungenen fesseln,
selten kommt.
3. Als Gesamtresultat des Wagnerschen Schaffens tritt uns übrigens
allenthalben als vornehmstes dramatisches Leitmotiv die dämonische Elementargewalt
der Liebe entgegen. Von ihr hat der Tannhäuser das spezifische
Stimmungskolorit erhalten, sie durchstrahlt das Verhalten Sentas zum Holländer,
Elsas zu Lohengrin; sie reißt den Bruder in die Arme der Schwester und
treibt Brunhilde zum Sprung in den lodernden Scheiterhaufen &c.
§ 192. Vorschriften, Gesichtspunkte und Winke für die
Librettodichtung, und Beispiele besserer Librettos.
1. Bei der Bearbeitung von Librettos hat der Dichter besondere
Rücksicht zu nehmen auf den eigenartigen Stoff, ferner auf die Charaktere,
wie auf die einzelnen zu komponierenden Teile.
2. Der Stoff der Oper darf romantische Färbung haben.
3. Der Dichter mag sich seinen Librettostoff so gliedern, wie es
Vischer gethan hat (§ 189 d. Bds.), jedoch mit der Rücksichtnahme für
den Komponisten, daß er seine Materie nur in 3, nicht aber in 5
Gruppen einteilt.
1. Die gegensätzliche Beziehung der musikalischen Dramen zu den unmusikalischen
bedingt selbstredend eine abweichende Behandlung in der Gestaltung
der ersteren. Das Opernlibretto muß vor allem eine Handlung wählen, die
sich in Empfindung umsetzen läßt. Aus diesem Grunde darf der Dichter keine
historische Jntrigue wählen, die sich gedanklich abschließt, also auch keine Staatsaktionen.
(Beispielsweise eignen sich Stoffe wie Don Carlos nicht zur Oper.)
Bei den Stoffen ist sodann das Nacheinander, die Gruppierung in der
Scenerie zu berücksichtigen. Wagners Behandlung in dieser Beziehung ist
mustergültig. Man denke an Tannhäuser, wo eines dem andern in dramatischer
Belebung folgt: Venusberg, Verbannung, Wartburg, das Geläute der
Glocken &c. Oder an den fliegenden Holländer mit seinen Kontrasten: hier
die trauliche Stube, dort das Meer &c. Solche Kontraste muß der Dichter
aufsuchen; sie sind dem Komponisten unentbehrlich. Weiter muß der Operntext
Personen bringen, die unserer Gegenwart einigermaßen durch Raum und Zeit
fern gerückt sind. (Beispielsweise kann man Karl den Großen recht wohl als
Opernfigur bringen, nicht aber Napoleon III. &c.)
Was die Teile der Oper betrifft, so hat der Dichter besondere Rücksicht
den Chören zu widmen. Der Chor hat bei uns eine weit höhere Mission,
als z. B. bei den Jtalienern, die sich während der Chöre stets lebhaft unterhalten. [528]
Zur Jllustrierung der Bedeutung des Chors sehe man sich Chöre an,
wie Chor der Gefangenen in Fidelio; das Gebet und die Aufruhrchöre in
der Stummen von Portici von Auber; die Rütliscene in Wilhelm Tell von
Rossini; die Priesterchöre in der Zauberflöte; die dem Volkslied abgelauschten
Chöre im Freischütz; die Aufruhrchöre auf dem Schiffe Ferd. Cortez von Spontini,
wo der Chor selbsthandelnd auftritt; die Chöre der Larven und Schatten im
2. Akt von Glucks Orpheus mit dem berühmten Nein; endlich die grandiosen
Chöre in den Meistersängern, im Fliegenden Holländer, und in Siegfrieds Tod
von Rich. Wagner &c. u. s. w.
2. Da in der Oper die Rede zum Gesang wird, und einer solch ätherischen
Sprache und ätherischen singenden Handlung mehr Zauberwesen eigentümlich
ist, als dem prosaischen Leben, so erhellt, daß der Oper die Romantik nicht
so übel anstehen kann, und daß der Textdichter seinen Texten sprühende,
interessante, romantische Scenen einfügen oder romantische Stoffe wählen darf,
um die Personen in romantischen Situationen zu zeigen und Gelegenheit zur
lyrischen Äußerung zu bieten.
3. Noch möchten wir den Librettodichter darauf aufmerksam machen, daß
die Aktschlüsse dem Komponisten die größten Schwierigkeiten bieten, weshalb
die Librettos nie mehr als 3 Akte haben sollten. Es ist keine kleine Aufgabe,
fünf Finale herauszugestalten. Mozart hat nie eine fünfaktige Oper geschrieben;
selbst sein Figaro, den man in der Regel in vier Akten giebt, ist nur dreiaktig.
Da die Opernlibrettos an allen Theaterkassen zu haben sind, so beschränken
wir uns darauf, nur einige der besseren Librettodichter zu nennen: von den
Jtalienern Metastasio und Goldoni; von den Franzosen Scribe, Barbier, Lafontaine
&c.; von den Deutschen Kind (Freischütz), Holtei, Wolff (Preziosa), Planché
(Webers Oberon), Ed. Devrient (Hans Heiling), Castelli (Weigls Schweizerfamilie),
Gustav zu Putlitz (Flotows Jndra), Fr. Friedrich (Flotows Martha),
Röber, Rodenberg, Groß, Geibel, Felix Dahn, Gustav v. Meyern (Langerts
Fabier), Fritz Hofmann (Rattenfänger von Hameln), besonders aber den vorwärts
drängenden Dichter Peter Lohmann, der bereits seit 1860 sog. Gesangsdramen
lieferte (4. Band der dramatischen Werke. Leipzig 1875. 2. Aufl.),
und dessen Reformideen wo möglich noch weiter gehen möchten, als jene des
von ihm begeistert verehrten Richard Wagner.
II. Kirchlich-musikalische Formen.
§ 193. Einteilung der geistlichen Formen und Begründung
derselben.
1. Die musikalischen geistlichen Formen erwuchsen aus dem Christentum
und seinem Kultus.
2. Jn der Entwickelung dieser Formen zeigt sich der Fortschritt
des christlich gläubigen Gemüts in Hinsicht auf Verinnerlichung und
Vertiefung.
1. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß unsere gesamte abendländische
Musik nur aus dem Christentume erblüht ist. Das Christentum mit seiner auf ein
Jenseits gerichteten Weltanschauung und seinem gemütumfassenden Marienkultus
suchte der Verinnerlichung des Gemüts auch durch Musik einen Ausdruck zu verleihen.
Aus der griechischen Musik mit ihrer auf mathematischer Basis beruhenden
Jntervallenlehre, die beispielsweise die große Terz für eine Dissonanz erklärte,
konnte niemals eine Harmonie und eine Polyphonie sich entwickeln, wie diejenige
der späteren christlichen Zeit; diese entfalteten sich vielmehr lediglich aus
der von der Kirche gepflegten christlichen Musik, d. i. eben aus der immer
kunstvoller gewordenen sog. Kirchenmusik.
2. Der erste Gesang der Christen war mehr eine psalmodierende Deklamation,
wobei wahrscheinlich die alte hebräische Hymnologie die Grundlage
bildete. Beim Bischof Ambrosius († 397) lag der Gesang noch in den Fesseln
der lateinischen Prosodie, aus welcher er sich durch Gregor den Großen befreite.
Wir finden z. B. da schon in den sog. Sequenzen (Hallelujah, Amen &c. I 620)
mehrere Noten auf einem Vokal u. s. w. Das Antiphonar Gregors des Großen
wurde nun zum unabänderlichen Gesetz für die ganze abendländische Christenheit.
(Daher der spätere Name cantus firmus.) Als der Minnesang dem
Meistersang weichen mußte und das eigentliche Volkslied sich verlor, schuf sich
der Volksgeist ein solches, indem man den kirchlichen Sequenzen andere weltliche,
wenn auch immerhin dem Kirchlichen nahe verwandte Texte unterschob.
Daher waren im ganzen Mittelalter die vom Volke gesungenen Weisen dem
Geist und der Form nach sich sehr ähnlich, und daraus erklärt es sich, daß
die niederländischen und italienischen Meister jedes beliebige Volkslied als cantus
firmus in die Komposition der Messe (§ 200 d. Bds.) aufnehmen konnten.
Erst nachdem dieser Unfug einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte, kehrte durch
Palestrina die Kunst wieder zur Einfachheit und Kirchlichkeit zurück. Der schon
zu Gregors Zeiten geschaffene Choral entwickelte sich immer mehr und erreichte
seine Blüte, als die Glaubensfreudigkeit der Lutheraner ihn zum Gemeindegesang
erhob.
Somit war die Basis und die erste Form aller Kirchenmusik der Choral.
Neben demselben entwickelten sich die Motette, und die lyrischen Formen: Psalm
und Kantate. Ganz zuletzt folgten die dramatischen Formen: Passion,
Messe, Oratorium.
§ 194. Der Choral.
1. Der Choral (griech. χορός, latein. chorus, cantus firmus,
cantus choralis, franz. plaint-chant) ist das mit einer leicht faßlichen,
einfachen Melodie versehene, strophische geistliche Chorlied (S. 125
d. Bds.), welches im Gegensatz zu der von einem geschulten Sängerchor
vorgetragenen Motette mit Orgelbegleitung von der ganzen Gemeinde
─ in der Regel unisono ─ gesungen wird.
2. Wenn auch schon die Juden, welche zu Ehren Jehovas ihre [530]
Psalmen im Tempel gemeinschaftlich sangen, eine Art Chorgesang
besaßen, so kam doch unser Choral erst durch das Christentum des
Mittelalters zur Ausbildung.
3. Luther kann der Begründer desselben genannt werden.
4. Auch in der kath. Kirche giebt es deutsche Choräle.
1. Der Choral bewegte sich größtenteils in gleich langen Noten; charakteristisch
war dabei, daß nach jeder Verszeile ein Ruhepunkt, eine längere rhythmische
Pause eintrat, die meist durch Zwischenspiele auf der Orgel ausgefüllt
wurde. ─ Nur in seltenen Fällen wurde der Choral mehrstimmig vorgetragen.
Kocher in Württemberg hat den vergeblichen Versuch gemacht, den mehrstimmigen
Choral in die Kirche einzuführen.
2. Der Choral wurde besonders durch den recitativartigen Gregorianischen
Gesang vorbereitet. Die Hymnen erhielten bei Gregor feststehende Melodie
(cantus firmus, canon, cantus choralis) und wurden einstimmig bereits
vom Sängerchor, nicht aber von der Gemeinde gesungen. Durch die sog. Leiche
(I 619) entwickelte sich sodann eine strengere Form. Man vgl. zum Beleg
das um diese Zeit entstandene geistliche Lied: Christ ist erstanden. Vom 15. Jahrhundert
ab begann der Choralgesang in seiner späteren Form sich allmählich
zu begründen. Schon zur Zeit des Huß hatten die Böhmen einen ausgebildeten,
wertvollen Choral, welchen man den Gesang der Böhmischen und Mährischen
Brüder nannte, der diese Brüder in ihren Glaubenskämpfen anfeuerte, und
welchen Zwonar in neuerer Zeit wieder herausgab.
3. Doch war es erst Luther, welcher den Choral als geistliches Volkslied
und als Gemeindegesang in die Kirche brachte, um der seither vom Kirchengesang
ausgeschlossenen Gemeinde die Beteiligung am Kultus zu verschaffen.
Er ließ den deutschen Choral an die Stelle der von einem Sängerchor ausgeführten
Kirchenmusik treten und ihn von der Orgel mehrstimmig begleiten.
Die erste Sammlung von acht Lutherischen Chorälen erschien 1524. Von
nun an wurde der Choral der starke Baum, an dem sich die ganze protest.
Kirchenmusik bis zu Seb. Bach, dem Gipfel und Schlußpunkt dieser großen
Periode, hinaufrankte. Wir finden ihn in allen kirchlichen Formen bis zur
Passion und zum Oratorium mit Glück verwertet.
Durch das Kantional der Böhmischen und Mährischen Brüder (enthaltend
136 Lieder mit 111 beigedruckten Melodien, herausgeg. 1531 von G. Wylmschweerer
in Jungbunzlau) erhielt der Choralschatz eine große Bereicherung.
Die Blüte des Chorals begann um jene Zeit und dauerte bis Anfang des
17. Jahrhunderts. (Die bedeutendsten Choral-Komponisten sind verzeichnet in
„Geschichte des christlichen, insbesondere evangelischen Kirchengesangs von J. Ernst
Häuser“. Quedlinburg 1834. S. 78─140.)
3. Auch in der kath. Kirche wandte man sich nach den Erfolgen der
Protestanten dem deutschen Choralgesang zu, und es kam soweit, daß man sogar
bei der Messe (z. B. in der Wiener deutschen Messe) deutsche Lieder sang.
Nun dichtete man neue Lieder, nahm auch einige evangelische (besonders von
Gellert) auf. So entstanden die kath. Gesangbücher von Riedel (Wien 1773), [531]
Kohlbrenner (München 1777), Franz (Breslau 1778), Werkmeister (Stuttg.
1784), v. Wessenberg (Konst. 1828) &c.
Als Beispiel und Muster des Chorals erwähnen wir den durch Meyerbeers
Hugenotten auch allen Nichtprotestanten bekannten Choral: „Ein feste
Burg ist unser Gott“, sowie die S. 127 ff. d. Bds. erwähnten Lieder mit
ihren volkstümlichen Melodien.
§ 195. Das deutsch-accentuierende Prinzip und der Choral.
Der Umstand, daß der nach Art reiner Spondeen gesungene
Choral der seitherigen Choralbücher allen Silben ohne Rücksicht auf
ihre Schwere gleichen Wert und gleiche Zeitdauer verlieh, veranlaßte
die bedeutendsten Stimmen der protestantischen Kirche, namentlich in
Bayern, der Einführung des sog. rhythmischen Chorals das Wort
zu reden.
Die Bewegung, welche die Opposition gegen die seitherigen Choralbücher
hervorrief, begann in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts und gelangte
in den fünfziger Jahren zum Sieg. Männer wie Winterfeld, Tucher, K. F.
Becker, Layritz, Umbreit, J. G. Herzog, H. Lützel und besonders der ebenso
verdiente als kenntnisreiche und tüchtige Dr. Zahn in Altdorf haben rhythmische
Choralbücher geschaffen und die Einführung eines rhythmischen Chorals namentlich
in Bayern durchgesetzt.
Wir begrüßen dieses Streben von ganzem Herzen als einen Triumph des
deutschen Sprachgeistes und als ein beredtes Zeugnis dafür, daß der deutsche
Accent nunmehr auch im Kirchengesang nicht mehr niederzuhalten ist.
Es wäre nur zu wünschen, daß Text und Komposition der sog. rhythmischen
Choräle von kenntnisreichen Männern noch besser als seither verglichen werden möchten,
damit die betonten Silben wirklich durch Noten längerer Zeitdauer ausgezeichnet
werden. Wenn gesungen wird: Sü̆nd, Tŏd, Wēlt, oder wenn das Kirchenlied
Hērzlīch thŭt mīch verlānge̐̑n nach der Melodie Jn̄sbrūck ĭch mūß dĭch lāsse̐̑n
(vgl. S. 95 d. Bds.) gesungen wird, oder wenn im rhythmischen Choral
„Thut mir auf die schöne Pforte, führt in Gottes Haus mich ein“ die beiden
Silben „sch̄ön̄e“ gleichmäßig betont werden und die zweite Hälfte vom Worte
„Gōttḗs“ den Hochton erhält, so gewinnen die unverständigen Gegner des
rhythmischen Chorals Beweismaterial, da ja in der That diese Art Ersatz für
den seitherigen Choral (z. B. des Knechtschen Choralbuchs) mit Erfolg nicht
verteidigt werden kann.
§ 196. Die Motette.
Die Motette ist ein mehrstimmiger, fugenartiger oder figurierter,
kirchlicher Chorgesang, welcher von einem Sängerchor ohne Jnstrumentalbegleitung
in der Kirche vorgetragen wurde; den Text (Jnhalt) bildete
ein Bibelspruch, oder auch ein frommer Spruch geistlichen Jnhalts,
Sätze aus den Psalmen &c.
Jhrem Text entsprechend enthält die Motette ein oder mehrere
in den verschiedensten Formen auftretende Hauptmotive &c.
Das Wort Motette (Motetto, Motet) leiten einige von mutare (Mutete)
her, sofern die begleitenden Stimmen die Grundmelodie (cantus firmus) verändern
oder wenden. Andere lassen es vom französischen Worte Mot (Sprüchlein,
Bibelspruch) abstammen, sofern das Bibelwort (nämlich ein kurzer Bibelspruch)
den Text bildete. Die Haltung der Motette und ihre Bewegung war von
jeher ziemlich frei. Alle Künste des Kontrapunkts kamen in ihr zum Austrag,
der Text wurde eine Zeit lang ganz als Nebensache behandelt, weshalb die
Kirche mit Recht diese Art von Figuralmusik ausgeschlossen wissen wollte, bis
Palestrina durch seine würdige Behandlung sie neu zur Bedeutung erhob und
ihr Vollender Sebastian Bach ihr den Platz garantierte, den sie heute einnimmt.
Da die Textsprüche der Motette ein Gemeingefühl ausdrücken, so ist
es begreiflich, daß die Motette (die Zwittergattung der sog. kirchlichen Solo=
Motetten der neueren Franzosen und Jtaliener ausgenommen) nur für Chor
und zwar meist ohne Jnstrumentalbegleitung geschrieben wurde und wir in ihr
hauptsächlich den polyphonen Stil als den geeigneten finden.
Die Motette war schon dem alten Frank (Franco) von Köln bekannt,
der im Jahre 1083 als Scholastikus an der Kathedralkirche zu Lüttich starb.
Er kannte sie als Chor ohne Jnstrumentalbegleitung, welcher den Text aus
der Bibel, seinen als Grundlage dienenden Tenor (cantus firmus) jedoch
aus dem Gregorianischen Kirchengesang entlehnt hatte. Während eine Stimme
diesen Tenor (von tenere) vortrug, führten die übrigen Stimmen ihren Text
zu Motiven aus dem cantus firmus oder auch aus freier Erfindung durch und
umgaben so den ernsten gehaltenen Kirchengesang mit lebhaften Verzierungen,
die in ihrer unkünstlerischen wechselvollen Weise dem Papst Johann XXII.
mit Recht als Verunzierungen auffallen mußten.
Mit um so größerer Vorliebe hat die protestantische Kirche die Motette
aufgenommen, die sich hier treu an das Bibelwort anschließen mußte, wobei
sie sich im Cantus firmus mit einem Liedvers verschmelzen durfte. Luther,
der für die Motetten Ludwig Senfls eine besondere Vorliebe empfand, sagt
zum Preis der Musik in den Motetten: Jn welcher Musika vor allem das
seltsam und zu verwundern ist, daß einer eine schlechte Weis oder Tenor hersinget,
neben welcher 3, 4 oder 5 andere Stimmen auch gesungen werden,
die um solche schlechte, einfältige Weise oder Tenor, gleich als mit Jauchzen
rings herumher um solchen Tenor spielen und springen, und mit mancherlei [533]
Art und Klang dieselbige Weise wunderbarlich zieren und schmücken und gleich
wie einen himmlischen Tanzreigen führen, freundlich einander begegnen, und
sich gleich herzen und lieblich umfangen, also daß diejenigen, so solches ein
wenig verstehen und dadurch beweget werden, sich des heftig verwundern
müssen und meinen, daß nichts seltsameres in der Welt sei, denn ein solcher
Gesang mit viel Stimmen geschmücket.“ Von hier ab war es neben Sebastian
Bach noch Rolle, Wolf, Hiller, Schicht, Späth, welche die Motette pflegten
und vervollkommneten. Heutigen Tages können folgende Formen der Motette
nachgewiesen werden: 1. der durch Singstimmen figurierte Choral, 2. der durch
Singstimmen mit einer Fuge begleitete Choral, 3. eine Reihe aneinander
hängender Fugensätze (Beispiel der erste Chor in Grauns Tod Jesu), 4. ein
Vers für Vers durchkomponiertes Kirchenlied (Beispiel: Bachs Motette zum
Choral Jesu meine Freude).
§ 197. Psalm.
Unter Psalm (niederdeutsch Salm, von ψάλλειν == Psalmen singen)
versteht man ein religiöses Lied, das nie anders als mit Jnstrumentalbegleitung
(Psalter, Harfe, Orgel) gesungen wurde. Der Psalm ist
die Frucht des heiligen Landes, wo die Stimme der Offenbarung und
des Gottvertrauens am lautesten und reinsten erscholl. Die Psalmen
der Griechen waren die Hymnen.
Seit Klopstock schuf man auch bei uns Kirchenmusikstücke (Vokalmusikstücke),
welche den Namen Psalm trugen, ohne Psalmen aus der
Bibel zum Text zu haben; ihre Texte sind vielmehr auf Psalmenart
gedichtete Oden. Auch die religiösen Lieder der reformierten Kirche
nennt man Psalmen.
Der König David war es, der nicht nur eine große Anzahl von Sängern
aus den Leviten auswählte, sondern auch jene unvergänglichen religiösen Gesänge
schuf, welche den Namen Psalmen erhielten und die Muster und Vorbilder
aller ähnlichen Dichtungen bis in die Neuzeit blieben. Alle von ihm,
von Salomo, und aus der babylonischen Gefangenschaft herrührenden Psalmen,
wie selbst die Psalmen bis in die Neuzeit sind lyrische Gesänge, Hymnen oder
Oden, die ein Gefühl oder ein Bild in einem kleineren Kreise sinnig darstellen;
zum Teil sind es auch elegische oder idyllische Wechselgesänge. Die meisten
tragen Gebetsform und atmen Erhebung, Trost, Gottvertrauen, weshalb man
sie jedem christlichen Gesangbuche einverleiben könnte. Jn den Psalmen zeigt
sich kein bestimmter Rhythmus, kein bestimmtes Metrum, keine dem Auge oder
Ohre wahrnehmbare regelmäßige, absichtsvolle Wiederkehr betonter und unbetonter
Silben; vielmehr liegt ihr Rhythmus im Parallelismus der Glieder (I 13. 24
und I 392. 393), in ihren parallelen Sätzen, weshalb man sie nicht selten als
Wechselgesänge (d. h. als Gesänge, bei denen zwei Halbchöre, oder auch Geistlicher [534]
und Gemeinde im Singen abwechseln) komponiert hat. Beispielsweise
zeigt der 38. Psalm in schönster Weise die Einteilung in parallele Halbverse:
- I.
- A. Herr, strafe mich nicht in Deinem Zorn,
- B. Und züchtige mich nicht in Deinem Grimm.
- II.
- A. Denn Deine Pfeile stecken in mir,
- B. Und Deine Hand drücket mich u. s. w.
Man vgl. auch die Mendelssohnsche Übersetzung von Psalm 42 u. 43,31:
- A. Gleich wie lechzet ein Reh nach klarem Quell,
- B. Also lechzet mein Herz nach Dir, o Gott &c.
dann die dreimalige Unterbrechung mit einem Refrain von fünf kurzen Zeilen:
Einige Psalmen des alten Testaments sind dramatisch, z. B. Psalm 20,
118 &c.; andere sind rein episch, z. B. 114 &c.; andere didaktisch; die meisten
sind tief lyrisch.
Durch die musikalische Komposition der Psalmen wurde von jeher eine
große Wirkung erreicht. Diese Komposition erfolgte in der Regel in Motetten=
oder Kantatenform. Man bezeichnete auch das so entstandene Musikstück mit
dem Namen Psalm und unterschied nur je nach dem Jnhalt: Bitt=, Lob=,
Bußpsalmen &c.
Die wirkungsvollsten Psalmen schuf von den Älteren Marcello, von den
Neueren Kapellmeister Fr. Schneider in Dessau († 1853), Mendelssohn-Bartholdy,
Liszt u. a. (Von freien Textbearbeitungen vgl. I 50.)
§ 198. Die Kantate.
1. Kantate (ital. cantate von cantare) ist dem Wortsinn nach jedes
größere elegische, religiöse Gesangsstück. Jm heutigen, bestimmten Sinn
versteht man jedoch darunter eine in Musik gesetzte größere Dichtung
lyrischen Charakters, welche Arien, Duette, Recitative, Chöre &c. enthält
und unter Jnstrumentalbegleitung zum Vortrag gelangt.
2. Es giebt neben den kirchlichen Kantaten auch weltliche.
1. Jn Hinsicht auf Begriffsbestimmung der Kantate herrschte bis zur
Stunde große Unklarheit. Die einen (z. B. Sulzer in feiner Ästhetik) nennen
sie ein kleines Musikstück von rührendem Jnhalt, die andern (z. B. Zedler
in Halle) ein langes Musikstück, dessen Text italienisch sei u. s. w. Wieder
andere bezeichnen jedes größere religiöse oder elegische Gesangsstück als Kantate,
sofern dieses Stück nicht als Motette, Sanktus &c. hinreichend charakterisiert sei.
Jn früherer Zeit nannte man Kantate jedes Werk, das sich nicht direkt an die
Worte der beiden Testamente anlehnte oder seinen Stoff aus denselben entnahm, [535]
aber doch kirchliche Ereignisse in freier poetischer Form darstellte, z. B.
Der Ostermorgen von Ramler (komponiert von Neukomm). Jm Mittelalter
nannte man auch ein Werk religiösen und auch andern Jnhalts Kantate zum
Gegensatz von Sonate (von sonare), die nur für Jnstrumente geschaffen war.
Wir verstehen unter Kantate ein Oratorium (§ 202 d. Bds.) mit durchaus
lyrischem Gehalt ohne jegliche Handlung der Personen. Das unterscheidende
Grundwesen liegt also im vorwaltenden Lyrischen, das nur nicht ein einzelnes
Hauptgefühl für sich in Anspruch nehmen darf, wie das Lied oder der
Choral, sondern das mit kurzer Erzählung oder auch mit einer den Gefühlscharakter
wahrenden Reflexion verbunden ist, so daß der Jnhalt dramaähnlich
wird. Die Kantate hat also lyrischen Charakter und äußerlich dramatische Form;
die Empfindungen des Dichters sind bei ihr verschiedenen Personen in den
Mund gelegt.
Zu bemerken ist, daß verschiedene Komponisten auch noch die Bezeichnung
Kantate für Gesangsstücke wählen, welche für außerordentliche Gelegenheiten
bestimmt sind; sie unterscheiden demnach: Einweihungs=, Friedens=, Hochzeits=,
Erntekantaten &c. Hierher sind Bachs Kirchenkantaten zu rechnen, welche die
besonderen kirchlichen Feste feiern, aber großenteils lediglich lyrischen Jnhalts
und Charakters sind.
Kleine Kantaten, welche nur für eine Singstimme mit zarter Begleitung
geschrieben sind, nennt man Kantatinen, Kantatillen, Kantatilenen &c.
2. Jhren Aufbau ins Auge fassend kann man die kirchlichen und die
weltlichen Kantaten als lyrisch=dramatische Gesangstücke mit Jnstrumentalbegleitung
betrachten, die aus Chor, Recitativ, Arie und Ariette und Ensemble bestehen.
Sie beginnen zunächst mit dem rhapsodischen Vortrage (Recitativ), der
auf das eigentliche Melos vorzubereiten hat und in seinem eingelegten Arioso
die Melodie noch nicht selbständig werden läßt. Die Kavatine (ausgeführter
als das Arioso, ohne Refrain und ohne Sonderung in zwei Hauptteile) geht
der Arie häufig voraus. Diese gestaltet sich nun zum Duett, Terzett, Quartett &c.
Zur Entfaltung höchster Begeisterung tritt noch der Chor hinzu.
Die weltliche Kantate erscheint uns wie ein Mißbrauch der geistlichen, da
die weltlichen Stoffe größere Anforderungen an die Phantasie machen und
die Entfaltung des Gemütslebens erschweren. Zweifellos drängen Stoffe wie
„Der Raub der Sabinerinnen“, oder „Alarich“ nach der Bühne hin und sind
dem Charakter der Kantate wenig zusagend, da das lyrische Element lediglich
auf die musikalische Aufführung hinweist.
Zur Litteratur der Kantate.
Als Erfinder der Kantate hat man Carissimi genannt, der jedoch nur
Verbesserer der Kammerkantate ist. Andere nannten Barbara Strozzi, welche 1653
Kantaten herausgab. Burnay will jedoch Kantaten schon aus dem Jahre 1638
entdeckt haben. Erweislich ist, daß die Kantate stets mit der Entwickelung der
Oper Hand in Hand ging; überall bringt sie in jeder Zeit eine der Oper
gleiche Art dramatischer Recitation und dramatischer Melodieführung.
Als hervorragende Kantatendichter sind von den Jtalienern zu nennen:
Zeno, Rolli, Metastasio; von den Engländern: Pope und Dryden; von den
Deutschen: der oben genannte Ramler (Tod Jesu, komponiert von Graun,
welche Kantate wegen ihrer Ausdehnung und ihrem dramatischen Anhauch zuweilen
auch als Passionsoratorium bezeichnet wird), Tiedge, Goethe (Erste Walpurgisnacht,
komponiert von Mendelssohn), Gerstenberg, Schiller, Bürde,
Niemeyer, Platen (Die Christnacht), J. Jakobi, Krummacher (Geburt Jesu),
Herder (Oster-Kantate), Ebeling, Pölitz, Smets, Meißner, Hamerling (Die
7 Todsünden, eine aus 3 Abteilungen bestehende Kantate), Seidl (Die vier Menschenalter),
Fr. Storck (Oster-Kantate) &c.
Zu den berühmtesten Kantaten zählt Händels Alexanderfest, sowie Seb.
Bachs Saba-Kantate (beste Ausgabe von Rob. Franz), die wir als Musterbeispiel
empfehlen möchten. Sie zeigt die Eigentümlichkeit, daß nicht allein die
Jnnerlichkeit der Stimmen mit ihren subtilsten Regungen bis ins kleinste Detail
in den Tönen sich ausdrückt, sondern auch die sie begleitenden oder begründenden
Vorstellungen von Dingen und objektiven Vorgängen in Tonbildern hingezeichnet
werden. Ein besonderes Gewicht ist freilich auf die richtige Deklamation
und Phrasierung des größten musikalischen Dichters und Deklamators
Bach zu legen.
§ 199. Die Passion.
1. Unter Passion (von patior, Stamm ΠΑΘ == leiden, erdulden)
versteht man eine dramatische Kantate, welche ausschließlich den Tod
Jesu zum Gegenstand hat und mittelbar dem kirchlichen Kultus dient.
2. Anläufe zur Passion wurden schon frühe gemacht. Erst
Heinrich Schütz († 1672) gab ihr eine feste Gestaltung und wurde somit
ihr Begründer.
3. Seb. Bach ist ihr Vollender. Seine Matthäus-Passion ist bis
heute das unerreichte Muster dieser Gattung geblieben.
1. Die Passion ist die musikalische Darstellung des Leidens und Sterbens
Jesu Christi nach den Worten der Evangelisten. Durch einen der Evangelisten
wird das Leiden Christi erzählt, und die Reden desselben, wie die Reden der
beim Leiden gegenwärtigen Apostel und Frauen werden von ebensovielen Personen
gesungen. Somit ist die Passion der Hauptsache nach episch, der Form
nach dramatisch. Sie nimmt alle bekannten Musikformen in sich auf: Motette,
Gemeindegesang und die sämtlichen Teile der Kantate mit dem Recitativ.
2. Das dramatische Element wurde bei Mitteilung des Leidens Jesu
schon sehr frühe in den Gottesdienst gezogen. Anfänglich recitierten Priester
in Meßgewändern die Reden Christi &c., während ein Sängerchor das Volk
darstellte.
Daraus entwickelten sich ebenso die Passionsspiele, wie die musikalische
Passion.
Jm 16. Jahrhundert führte man die Passion durch einen Chor oder
durch 2 Wechselchöre aus.
Stephani (1570), Vopelius (1682) u. a. recitierten die Worte der
Evangelisten und gaben die übrigen Reden 2, 3 und 4 stimmig oder durch
den Chor, setzten Schlußchöre hinzu und begannen mit einem von der Gemeinde
zu singenden Choral.
Erst Heinrich Schütz (1580─1672) gab der Passion (nach Analogie
der neu entstandenen Oper) eine erweiterte Form, indem er die Einzelreden
im ariösen Recitativ einführte, die Gemeinde in lyrisch=epischen Anfangs= und
Schlußchören auftreten ließ und die Reden der Jünger, wie der Nebenpersonen
in Chören zum Ausdruck brachte. Nach ihm wurde der Einzelgesang wesentlich,
und die unterbrechenden Chöre, Recitative und Arien dienten zur dramatischen
Belebung.
So wurde durch Schütz (vgl. S. 517 d. Bds.) die Passion eine
Art geistliche Oper ohne Handlung.
Händel baute darauf weiter und dramatisierte mehr. Die Chöre seines
Messias sind wie für die Ewigkeit gefügt, und deren Lebenskraft ist trotz der
über sie hinübergerollten anderthalb hundert Jahre noch so gut wie unangetastet.
Mit Wohllaut getränkt, bringen auch die Einzelgesänge die Fähigkeit der Stimme
zur freiesten wirkungsvollsten Entfaltung, sprechen sie zugleich durch die Kraft
und Jnnigkeit des Ausdrucks zum Gemüt. Wenn die Sopranstimmen im Messias
den Satz einführen: „Denn es ist uns ein Kind geboren“ ─ ist es, als ob
sie uns wirklich das Christkind mit herzinnigem Wohlgefallen zeigten. Und wie
großartig wirkt heute noch sein feuriges Hallelujah!
3. Wenn auch Händels unvergleichlich pompösen Chöre in ewig frischer
Pracht fortbestehen werden, so ist er doch nach Seite der geistigen Vertiefung, wie
in den schablonenhaften, aus je zwei sich wiederholenden Sätzen bestehenden Einzelgesängen
von Bach übertroffen worden. S. Bach legte in den Passionen
den wortgetreuen Bibeltext zu Grunde, charakterisierte die einzelnen Personen
in ihren Gesängen, fügte dramatisch wirkende Volkschöre ein und gab der Passion
auch für den Protestantismus eine wirklich erbauliche gottesdienstliche Bedeutung.
Gewaltig wirkt seine Johannis-Passion, noch gewaltiger seine Matthäus=
Passion. „Jch war lange vor der Aufführung von dem Werke so erfüllt,
daß ich Tag und Nacht meine Gedanken nicht von ihm lösen konnte“, schreibt
der Kenner Professor Marx in seinen Erinnerungen. „Hier war erfüllt,
was mir längst als Jdeal der Komposition namentlich für Kirchenmusik vorgeschwebt
hatte: ein von der Heiligkeit der Aufgabe ganz durchdrungener, der
Wahrhaftigkeit und Erhabenheit jener wunderbaren Überlieferungen gänzlich und
in Treue hingegebener Geist einer Sprache, die sich nicht genügen ließ am
Durchtönen des Worts, sondern in der Belebung und Umtonung seine Auslegung
und Erfüllung gab, ─ eine Versenkung in jene Vorgänge, welche sich
teilweise in vollendeter Dramatik als gegenwärtig geschehend vor unsere Augen
stellt.“ Das Gedicht zur Matthäus-Passion von unserem deutschen Picander
(mit eigentlichem Namen Henrici) trägt alle Zeichen seiner noch wohl bekannten [538]
Zeit, doch wurde das Wort des Dichters geheiligt durch die Zuthat Johann
Sebastian Bachs, der selbst das, was kein Wort sagt, dem religiösen Herzen,
von dem allein es gefühlt und erraten werden kann, in Tönen der tiefen
Kunst darlegt.
Das Orchester besteht aus zwei Chören der auf beiden Seiten verteilt
stehenden Sioniten und Gläubigen, zwischen welchen der bekannte, das Geheimnis
der Erlösung entfaltende Choral: O Lamm Gottes unschuldig! hervortönt.
Die Sioniten, versammelt, das Leiden ihres Gerechten zu begleiten,
fordern die gläubigen Genossen auf, ein Gleiches zu thun. Dieser Eröffnung
der heiligen Handlung folgt nun die Relation von Wort zu Wort (nach dem
Evangelisten Matthäus); die im Evangelio benannten Personen, durch beide
Chöre unterbrochen, treten indessen selbstredend auf. Als Masse erscheint der
Volkschor (turba), das alte Gesetz. Diesem unduldsam eifernden, kalten, rohen
Haufen gegenüber stehen friedlich, teilnehmend und liebend die Jünger mit
ihrem kleinen Anhange, die erst gegen Ende des ersten Teils lebhaft werden,
da alles verloren ist. Sie bleiben getreu bis zuletzt und begleiten, den Sieg
ihres Glaubens erhoffend, ihren Herrn zum Grabe.
Die Bedeutung der Bachschen Matthäus-Passion reicht weit über das
rein musikalische Gebiet hinaus. Wir erkennen in ihr eine gewaltige kulturgeschichtliche
That, mit welcher der durch die Reformation verjüngte Genius
des Volkes in einer der traurigsten Perioden unserer staatlichen Entwickelung,
allem äußeren Druck und Elend der Zeit zum Trotz, Zeugnis von der unerschöpflichen
Kraft und Fülle seines Wesens ablegt. Jndividuellste Jnnerlichkeit,
quellender Gemütsreichtum, tiefsinniger Ernst, prunklose Strenge und
Schlichtheit der Erscheinung, kurz, was wir als Jnbegriff unserer teuersten,
idealen Habe betrachten, hat hier allgemein gültigen, künstlerischen Ausdruck
gefunden. Von sämtlichen Meistern kirchlicher Kunst hat allein Seb. Bach es
vermocht, die Doppelnatur des Gottmenschen zu vollem musikalischen Leben zu
verkörpern. Was seine Töne wiederspiegeln, ist weder die der Berührung mit
dem Endlichen entrückte Erhabenheit, noch die Schwäche und Gebrechlichkeit
staubgeborener Herzen, sondern die leibhaftige Christusgestalt, die alles Weh
der Erde in sich hineingenommen und durchgelitten, und welche dabei doch
stets als ungetrübter Heiligenschein der Abglanz der himmlischen Heimat umfließt.
Über Bach ist bis in die Neuzeit in der Passion kein Komponist hinausgekommen.
§ 200. Die Messe.
1. Unter Messe (lat. missa, ital. messa) versteht man ebenso den
Hauptteil des katholischen Gottesdienstes, als die Musik und den
Gesang dafür.
Besteht die Musik bloß aus Kirchenliedern oder Chorälen mit oder
ohne Orgel, so nennt man sie Choralmesse; besteht der Gesang aus
polyphon ausgeführten Musikstücken für Chor mit oder ohne Orgel, [539]
so erhält sie den Namen Vokalmesse figurierten Stils; treten zum Gesang
noch Jnstrumente hinzu, so entsteht die Figuralmesse. Wird die
Messe von mehreren Priestern celebriert, so nennt man sie Hochamt,
missa solemnis, eine Bezeichnung, welche man häufig auch den größer
ausgeführten Messen beilegt.
Der Text der Messe (wie auch des Requiem) ist von der Kirche
für alle Zeiten für unabänderlich erklärt.
2. Die musikalische Messe ordnet die drei Abschnitte der
kirchlichen Messe in 7 Abteilungen an.
3. Die bedeutendsten Komponisten pflegten auch die Messe.
4. Ein epochebildender Meister der neu=kirchlichen Figural-Messe
ist Franz Liszt.
5. Eine besondere Art von Messe ist das Requiem (Seelen= oder
Totenmesse, missa pro defunctis).
1. Das Wort Messe (von missa == missio Entlassung) hängt zusammen
mit der alten Gewohnheit, die sog. Katechumenen (d. i. die für den Übertritt
zum Christentum Vorzubereitenden) vor der Messe mit den Worten: »Ite!
missa est«, nämlich concio (Geht, die Versammlung ist entlassen) zu entlassen.
Zum erstenmal finden wir das Wort bei Ambrosius in einer dem
griechischen λειτουργία entsprechenden Bedeutung. Mit Gregor I. beginnt die
Ausbildung der Meßopfervorstellung. Jnnocenz III. (1215) nennt zuerst das
Meßopfer eine Wiederholung des Opfers Christi u. s. w.
2. Die musikalische Messe zerfällt, entsprechend den Anfangsworten des
zu singenden Textes, in 7 Hauptabteilungen: 1. Kyrie, Bitte um Erbarmen,
2. Gloria, Gesang der Engel bei Christi Geburt, Lobgesang zur Ehre Gottes,
3. Credo, nizänisches Glaubensbekenntnis, 4. Sanctus, Lobpreis Gottes,
5. Benedictus, Ehre Gottes, 6. Agnus Dei, Bitte um Erbarmen,
7. Dona, Bitte um göttlichen Frieden.
Jn diesen Einzelabteilungen der Messe können verschiedene Einzelgesänge
mit Chören &c. abwechseln.
3. Das Mystische, Hochpoetische der Messe als Hauptteil des katholischen
Kultus bestimmte die bedeutendsten Komponisten von Dufay bis Liszt sich in
diesem Kunstgenre zu versuchen.
Palestrina war der Vollender des polyphonen, durch die Niederländer
eingeleiteten Vokalstils; in ihm feiert die katholische Kirche die Zeit des höchsten,
aus ihrem Geist entstandenen und durch ihn repräsentierten Kirchenmusikstils.
Dieser Stil wurde in der Folgezeit durch die Neapolitaner süßlicher und dem
Ohre wohllautender, aber er büßte auch den strengeren Ernst ein und näherte
sich immer mehr dem Opernhaften. Seine Verweltlichung vollzog sich mit Einführung
der selbständigen Jnstrumentalmusik. Auch Mozarts und Haydns
Messen, so lieblich und angenehm ihre Musik erklingt, tragen nicht das strenge
Gepräge kirchlichen Stils (einzelne Stücke aus dem Requiem oder das Ave
verum selber vielleicht ausgenommen), vielmehr überwiegt das Weltliche, Opernhafte.
Besser kirchlich ist Cherubini in seinen Messen, wie besonders in seinem Requiem; [540]
aber auch er stellt den Jnstrumental-Effekt, das Äußerlich-Gemachte zu
sehr in den Vordergrund. Dies thaten mehr oder weniger auch Hummel,
C. M. v. Weber u. a. Selbst Beethovens berühmte Missa solemnis in d-dur,
welche ein geistreicher Kritiker das Zwiegespräch eines gewaltigen frei sich fühlenden
Geistes mit seinem Gotte nennt, darf nur vom allgemein=künstlerischen,
nicht aber vom liturgischen Gesichtspunkt betrachtet werden. Die Auffassung
ist ganz individuell und faßt den Messen-Text mehr von der künstlerisch poetischen
Seite auf. Nur des früheren Seb. Bachs hohe Messe (H moll) atmet kirchlich
religiöse Stimmung und erzeugt solche, auch wenn wir sie im Konzertsaal hören.
Bernh. Marx nennt sie daher „einen kostbaren Adelsbrief für deutschen Geist
und deutsche Tonkunst, allen übrigen Nationen bisher unerreichbar,“ und der
preußische Minister Bitter setzt in seiner Bachbiographie hinzu: „Bach erhob sich
in diesem großen Werk über das Konfessionelle der äußeren Form; in ihm trat
das rein absolute Christentum in siegender Größe hervor .... Unser Herz ist
gehoben und erweitert, durch die Macht eines großen Genius geklärt, der in
dem Gemälde, das die vorüberrauschenden Töne uns dargestellt haben, ein
Bild der Unendlichkeit, Größe und Allmacht des Herrn aufzurollen wußte,
wie wenige zu finden sein werden.“
4. Jn der Neuzeit war es Franz Liszt, der in Hinsicht der Messe eine
neue Ära begründete, indem er wieder auf Bach und Palestrina zurückging,
und deren Stil mit unseren modernen musikalischen Errungenschaften zu vermählen
wußte. Als Beispiele sind von ihm zu erwähnen: Die Graner Festmesse,
die ungarische Messe, und seine Vokalmessen. Nohl sagt von Liszt: „Er
war es, der nicht eine Reformation des Bestehenden, sondern eine volle Erneuerung
der Sache, ein Schöpfen aus dem Urborn des Lebens der Religion
wie der Musik gab. Jhm stand der Messentext als solcher fest, er modelte
nicht daran, dachte überhaupt nicht, hier Musik zu machen, sondern er gab sich
eine Vorstellung des Jnhalts des heiligen Vorganges und schuf sich daraus ein
Bild in Tönen, wie ein Fra Bartolomeo und Tizian sich eines in Gesichtsausdruck
und Farbe schufen &c.“
§ 201. Das Requiem.
Eine besondere Messe ist das Requiem (Seelen- oder Totenmesse
== missa pro defunctis), welche dem Andenken an Verstorbene geweiht
ist und daher mit den Worten beginnt: Requiem aeternam dona
eis, domine (Herr, gieb ihnen die ewige Ruhe)!
Das Requiem besteht aus: 1., dem eigentlichen Requiem (Bittgebet für
die Toten um ewigen Frieden), 2., Dies irae (Betrachtung des jüngsten Gerichts),
3., Domine (Gebet für die Verstorbenen), 4., Sanctus (Lobpreis
Gottes), 5., Agnus dei (O Lamm Gottes, gieb ihnen den ewigen Frieden).
Unterabteilungen sind das Benedictus, Lux aeterna und Libera.
Mozarts Requiem ist eine kirchliche Scene.
Jn allerneuester Zeit hat ein Requiem des berühmten Opernkomponisten [541]
Verdi großes Aufsehen erregt. Er hat dabei das Theater von der Scene in
die Kirche verpflanzt. Wunderbar, daß ein Mann, der sein Lebelang der Oper
gedient, plötzlich den Ton des Grabliedes anstimmt. Er, der musikalische Führer
seiner Nation, hat sich dadurch von einseitiger Verfolgung der Wege seiner Vorgänger
Bellini und Donizetti befreit, um sich dem deutschen Stil und
der deutschen Empfindungsweise anzuschließen. Sein Streben war offenbar
auf Entwickelung polyphoner Sätze gerichtet, wie wir diese bei Heinrich Schütz,
Bach, Händel, Haydn und Mendelssohn u. a. finden. Der Schlußchor
„Libera me domine“ zeigt schöne Ansätze zum fugierten Stil in der schwungvollen
Weise unseres deutschen Kirchenstils.
Wenn Verdi auch in Stileinheit, Stimmung und Kunstform das deutsche
Element lange nicht erreicht, wenn sein Werk dem Hauptwerk der Neuzeit, dem
Requiem von Fr. Kiel, auch nicht gleichkommt, so ist er immerhin für sein
Volk (Jtalien) auf dem Durchbruch zur ernsten Kunst (in der vollen Wandlung,
welche sich in der Musikwelt Jtaliens vorzubereiten scheint) ein Bahnbrecher,
so ist sein Requiem jedenfalls eine Schöpfung, welche den Beginn
einer Epoche neuen Strebens, neuer Richtung anzeigt.
Als Requiem in freierem Stil ist Brahms' deutsches Requiem zu nennen;
den katholischen Standpunkt wahrt Franz Lachners Requiem &c.
§ 202. Das Oratorium.
1. Unter Oratorium versteht man eine dramatische Kantate im
großen Stil und von weiter Ausbreitung, oder besser: ein in Musik
gesetztes geistliches, dramatisches Gedicht, dessen Stoff dem Alten oder
Neuen Testament oder dem religiösen Leben entlehnt ist: ein musikalisches
Drama ohne äußerlich sichtbare Handlung.
2. Jm Oratorium ist die Musik von größter Bedeutung: sie ist
episch im Recitativ, lyrisch und dramatisch in den übrigen Formen.
Die Chöre, welche in ihrer dichterischen Bedeutung nicht selten an den
griechischen Chor erinnern, können teils lyrisch teils dramatisch wirken.
Dramatisch sind sie besonders bei den Oratorien Händels.
3. Das Oratorium als höchste Gattung der religiösen Musik und
als Blüte der kirchlichen Formen entkeimte den geistlichen Schauspielen.
Philipp Neri (um 1558) war sein Begründer. Jn Deutschland bildete
es Heinr. Schütz weiter fort. Sein Vollender war Händel.
4. Die Aufgabe des Oratoriumdichters wird durch die Rücksichtnahme
auf den musikalischen Aufbau desselben begrenzt.
1. Der Name Oratorium bedeutet ursprünglich Kirche, Kapelle oder Betsaal,
weil im Betsaal Philippo Neri's in Rom die erste Form des Oratoriums (bestehend
in dialogisierten, biblischen, in Musik gesetzten Geschichten) aufgeführt
wurde. „Man ging ins Oratorium!“ Dies bedeutete, man ging zur Aufführung
in den Betsaal. ─ Von der Kantate unterscheidet sich das Oratorium [542]
durch das Überwiegen des dramatischen Charakters, sowie durch die größere
Bedeutung des Jnhalts, dessen Ausgang Sieg oder Untergang der einen oder
andern Partei ist, wie im Drama.
2. Da die Musik im Oratorium der durch den Stoff verkörperten Jdee
einen malerischen Ausdruck geben soll, so hat sie keine geringere Bedeutung,
als ihr z. B. Wagner für die Oper stellt (vgl. § 189); ihr fällt die psychologische
Motivierung, Charakteristik und die Darstellung der Stimmung zu,
weshalb sie ausgedehnten Gebrauch vom Recitativ und von der Arie, vom
Duett und Ensemble macht und den Chor als Lied, Kanon, Fuge verwertet,
sowie durch die Jnstrumentalmusik alle möglichen, künstlerischen Mittel entfaltet.
Trotzdem das Oratorium keine Bühnenaufführung ist, kann es mit Fug und
Recht als ein geistliches Musikdrama bezeichnet werden.
3. Wie das Drama dem Epos und den lyrischen Gattungen nachfolgte,
so bildet das Oratorium den Abschluß der kirchlichen Formen. Es hat sich
aus den, in den Anfängen mit Gesängen (Volksliedern) verbundenen geistlichen
Schauspielen des 13. Jahrhunderts entwickelt, welche von Pilgern und andern
Darstellern auf Straßen, Kirchhöfen und in den Betsälen der Kirchen (den sog.
Oratorien) aufgeführt wurden. Seine eigentliche Entstehung oder kunstvollere
Behandlung verdankt es ─ wie erwähnt ─ Philipp Neri in Rom, der
dort 1558 die Congregazione dell' oratorio von Animuccia, Nanino, Palestrina
&c. veranlaßte. Jn seiner, der Ausbildung der großen ernsten Oper
fernstehenden Entstehungszeit vertrat es diese und diente im technischen Sinne
zu ihrer Vorbereitung. Je ernster, würdevoller sein Jnhalt ist, desto enger steht
es zur kirchlichen Kunst in Beziehung; je mehr aber in ihm auch weltliche
Dinge neben religiösen ihre Vertretung finden, desto näher kommt es der Oper.
Seine Weiterbildung gab ihm in Deutschland Heinr. Schütz, der Begründer
der Passion und der Oper (vgl. S. 517 und 535 d. Bds.), welcher
die Arie und die instrumentale Begleitung hinzutreten ließ.
Zur Vollendung und Reife nach ideal=kirchlicher Seite wurde das Oratorium
erst durch Händel gebracht, durch den in Verbindung mit Bach die
Epoche der kirchlich protestantischen Tonkunst einen Abschluß erhielt. Händel,
der erst gegen das Ende seines Lebens Oratorien schrieb, lehnte sich an die beweglichen
Formen der ital. Oper und verlieh dem Oratorium durch alle Kunst seines
gewaltigen Kontrapunkts und durch Einfügung seiner unvergleichlichen Chöre
dramatische Kraft, Lebendigkeit und ergreifende Tiefe des musikalischen Ausdrucks.
Sein Samson (1742), sein Judas Maccabäus (1746), sein Josua (1747)
und vor allen sein Messias bedeuten die höchste Meisterschaft auf dem Gebiete
des Oratoriums. (Er soll die Absicht gehabt haben, seine Oratorien in
London auf der Bühne zur lebendigen Darstellung zu bringen, ja, er machte
Versuche damit zunächst durch seine Esther, dem ersten Werke dieser Gattung.)
S. Bach verstand es dazu, den protest. Choral im Oratorium noch für eine
weihevolle gläubige Stimmung zu verwenden. Erreicht hat diese beiden Tonkünstler
Keiner, obwohl Mendelssohn, Kiel, Meinardus und Fr. Liszt
Ausgezeichnetes darin geleistet haben. Der letztere wollte das Oratorium (vgl. [543]
seine bedeutendsten Oratorien Christus und Elisabeth) vom katholischen Standpunkt
regenerieren und mit modernen Formen verschmelzen.
4. Der Dichter von Oratorien sollte dem Oratorienkomponisten seine Arbeit
weder durch zu breite Erzählung, oder verwickelte Handlung, oder zu lang ausgesponnene
Gleichnisse, noch auch durch zu abstrakte didaktische Reflexionen erschweren;
vor allem aber sollte er den psalmartigen Rhythmus vermeiden, da
derselbe die logischen Einschnitte willkürlich setzt und dem Musiker die Anhaltspunkte
raubt. Biblische Figuren sind wegen ihrer Bekanntschaft empfehlenswert.
Oratorientexte in dieser Richtung schufen Ramler, Niemeyer und die
Verf. der im folgenden Paragraphen (203) unter Litteratur genannten kirchlichen
Oratorien.
§ 203. Analyse vorzüglicher Oratorien der Neuzeit, sowie
Litteratur des Oratoriums. Weltliche Oratorien.
1. Um einen praktischen Einblick in den Aufbau einiger der bedeutendsten
Oratorien zu veranlassen, geben wir präzise Analysen derselben.
Jene, welche Oratorien dichten wollen, mögen sich behufs Vergleichung
die leicht zugänglichen Textbücher verschaffen.
2. Den Analysen lassen wir einen Überblick über die wesentliche
Litteratur des Oratoriums folgen.
3. Es giebt auch weltliche Oratorien.
1. Das Oratorium „Paulus“ von Mendelssohn. Dieses herrliche,
aus zwei Teilen bestehende Oratorium ist ebenso für die Aufführung in
der Kirche, wie im Konzertsaal geschaffen. Seit seiner ersten Aufführung im
Jahre 1836 hat es in der gesamten musikalischen Welt ungeteilte Bewunderung
hervorgerufen. Es ist im Geiste der Passion Bachs und des Messias von
Händel geschrieben, wobei es jedoch unserer modernen Melodik Rechnung trägt
und an Stelle der alten strengen Manier Bachs und Händels melodisch weiche,
wohlklingende Formen setzt, wie es auch eine vollkommene, den modernen Anforderungen
Rechnung tragende Jnstrumentation bietet.
Der Text erzählt nach dem Neuen Testament die Bekehrung des Saulus.
Sopran und Tenor übernehmen recitativisch die Erzählung, während der Chor
das handelnde Volk und den Zuschauer darstellt. Eigenartig ist Mendelssohns
Verwertung des vierstimmigen Frauenchors, der von geisterhaft wirkenden Blasinstrumenten
begleitet wird. Er läßt durch diesen Chor dem Zorn Zebaoths
Ausdruck geben, und erreicht so eine hohe Wirkung. Das Schönste des 1. Teils
ist die Arie des Paulus: Gott sei mir gnädig; worauf ein groß angelegter,
gewaltiger Chor (O welch eine Tiefe des Reichtums) diesen Teil schließt.
Der 2. Teil beginnt mit einem Recitativ. Paulus geht zu den Heiden.
Chöre, Ariosos und Recitative wechseln. Dazwischen tritt der innige Choral:
„O Jesu Christe, wahres Licht.“ Paulus wirkt Wunder. Heiden (ein Chor,
der sich ausnimmt, wie ein heidnisches Opferfest) beten ihn an. Juden und [544]
Heiden erheben sich nun gegen ihn. Aber der Herr stärkt ihn in der herrlichen
Kavatine: Sei getreu bis in den Tod. Den Schluß bildet ein
wunderbar ergreifender, großartiger Jubel- und Siegeschor der Kirche Christi
über ihre Gegner.
Das Oratorium „Christus“ von Kiel. Der Text dieses gewaltigen
Oratoriums ist mit Ausnahme von zwei Chorälen aus den Worten der Bibel
zusammengestellt. Christi Einzug in Jerusalem, das Ostermahl, die Nacht auf
dem Ölberge, die Verleugnung durch Petrus, die Scenen vor dem Hohenpriester
und Pontius Pilatus, die Kreuzigung und Auferstehung bilden den Jnhalt.
(Fast den gleichen Stoff behandeln die beiden Passionen von Bach, sowie der
„Messias“ von Händel.)
Kiel, der Komponist der großen Formen katholischen Kirchenstils, der
eine Messe, ein Requiem, ein Tedeum, ein Stabat geschaffen, hat den Stoff
in neuer Weise behandelt. Er hat nunmehr von der spezifisch protestantischen
Gattung des Oratoriums Besitz ergriffen, was für seine Leistungsfähigkeit schwerer
wiegt, als seine übrigen Schöpfungen, da dieses Oratorium, neben großer sicher
waltender Technik, Wärme der musikalisch=religiösen Empfindung zeigt. Sein
Kontrapunkt erscheint als naturgemäße Form musikalischen Denkens und Empfindens.
Ein Vorzug ist, daß das sinnig malende Orchester sich bei ihm nie
in den Vordergrund drängt, sondern selbst nur die Staffage für den Gesang
bleibt. Dies ist überhaupt ein Kriterium für die protestantische Kirchenmusik;
sie will Klanggepränge im Sinn und Geist des katholischen Kultus vermeiden.
Meinardus' protestantisches Oratorium „Luther in Worms“.
Dieses Oratorium wurde durch Liszt angeregt, der zu Meinardus sagte: „Sie
sind Protestant und sollten ein Oratorium: Luther in Worms schaffen.“
Meinardus lieferte nun dieses Oratorium großen Stils. Jm ersten Teil schildert
er Luthers Fahrt nach Worms. Die tiefreligiösen Empfindungen, welche das
deutsche Volk in allen Kreisen erfüllen, die Sehnsucht nach dem Befreier vom
Joche des römisch=kirchlichen Formalismus, die freudige Hingabe an den Reformator,
kommen in den Chorgesängen und Einzelpartien der Pilger und Pilgerinnen,
der Katharina und ihrer Genossinnen, Ulrich von Huttens und seiner
ritterlichen Begleiter zur Geltung, während die innige und selbstlose Glaubensgewißheit
Luthers in seinem Gebet und in der Zurückweisung der Verlockungen &c.
geschildert wird.
Der zweite Teil beginnt mit einer schönen Begrüßung des Kaisers durch
das Volk. Er stellt die Reichsversammlung dar, die Klage der Kirche gegen
Luther, das Verhör, die Acht, den inneren Triumph des Reformators, der die
Ächtung seiner Person mit der Ächtung der Menschensatzung und des Buchstabendienstes
erwidert, und jenseits des Kampfes die Versöhnung feiert. Das
Ganze schließt in der Siegeszuversicht des Liedes: „Ein' feste Burg,“ welches
Luther intoniert, und in welches die Seinigen begeistert einstimmen. Es fehlt
nicht an lebendigen Beziehungen zur Gegenwart. Das Werk ist dabei durchaus
erhaben über jede kleinliche, tendentiöse Färbung. Der Text ist von Roßmann=
Dresden und lehnt sich an die geschichtliche Überlieferung an; die historischen [545]
Worte des Kaisers, des Kurfürsten Friedrich (des Weisen), Freundsbergs, Huttens,
Luthers selbst sind überall beibehalten. Wo der Dichter frei erfinden mußte,
war er redlich bemüht, durch Zurückgreifen auf die Kirchenlieder der Reformationszeit
die Stimmung derselben in unmittelbarster Weise zu vergegenwärtigen.
2. Zur Litteratur des Oratoriums erwähnen wir außer den Genannten:
Händel (Jsrael in Ägypten), Haydn (Schöpfung), Beethoven (Christus am
Ölberge), Schicht (Ende des Gerechten), Rieß (Sieg des Glaubens), Seb. Bach
(Weihnachts-Oratorium), Fr. Schneider (Das Weltgericht, Die Sündflut, Pharao,
Das verlorene Paradies, Christus das Kind, Christus der Meister), Klein
(Hiob, Jephta, David), A. Späth (Judas Jscharioth, Petrus), Spohr (Die
letzten Stunden des Heilands), Graun, Rolle, Homilius, Doles, J. Ad. Hiller,
Naumann, Reißiger, Marx, Rheinthaler, Leonhardt, Mangold, Markull, Rubinstein,
Franz Liszt, Kiel, Meinardus u. a., besonders viele Jtaliener. (Vgl.
Wangemanns Arbeiten über das Oratorium, sowie Köchlys „Pflege der
Musik &c.“) Gewaltigen Erfolg erreichte Mendelssohn-Bartholdy mit seinen
Oratorien Paulus, und Elias, in welchen er mit ergreifender Melodik die
religiöse Stimmung hervorzuzaubern verstand.
3. Neben den geistlichen Oratorien giebt es auch weltliche Oratorien,
z. B. Haydns Jahreszeiten, welche die Vorkommnisse im Winter,
Sommer &c. darlegen und wie das kirchliche Oratorium mit einem religiösen
Chor schließen.
Löwe war einer der ersten, welche nach Haydn den ausschließlich biblischen
Stoff verließen. (Vgl. z. B. Die Siebenschläfer.) Ferd. Hiller (Ver sacrum)
nebst andern, und namentlich in neuester Zeit Vierling, Max Seifriz (Ariadne
auf Naxos) &c. schufen eine Art Oratorium, welches seinen Stoff aus der
Geschichte, aus der Mythologie u. s. w. entnahm. Noch eine andere Gattung
Oratorien aus neuerer Zeit rühren von Bartholom. Ponholzer her; es sind
Oratorien mit Dialog, Deklamation, Chören, lebenden Bildern. Jch erwähne
sein: Die Auferstehung des Herrn (Mus. von Kammerlander); Die Offenbarung
des Herrn (Mus. von Kempter); Das Pfingstwunder (Mus. v. Widmann);
Der verlorene Sohn &c. Auch einige Mischarten sind zu erwähnen, die man
ebensogut den Oratorien als den Kantaten unterordnen kann, und die ihren
Jnhalt aus der Sage schöpften. Jch nenne von den bedeutenderen: Mendelssohns
Walpurgisnacht, Schumanns „Der Rose Pilgerfahrt“, „Paradies und die
Peri“.
Schlußbemerkung. ──────
Mit diesem Bande endigt die Lehre von den Dichtungsgattungen
und der theoretische Teil unserer Poetik. Ein noch folgender, für sich
abgeschlossener, ganz kurzer Supplementteil hat sich die Aufgabe
gesetzt, das in den beiden vorliegenden Bänden Gebotene zu verwerten,
zu vertiefen, praktisch anzuwenden, und in methodisch geordneten
Übungen die Kunstgriffe zu zeigen, deren sich der Dichter bei seinem
Schaffen bedient, mit andern Worten: in die Technik der Poesie
einzuführen und der lernbaren Seite derselben praktisch näher zu
treten.
Appendix A Sach- und Namensregister. ──────
Vorbemerkung. Einzelne, für den wissenschaftlichen Zusammenhang nur
vorübergehend erwähnte Namen dieses Werks, ferner jene der Vollständigkeit wegen
aufgeführten Namen aus fremden Litteraturen (II § 77), endlich aber die sämtlichen
§ 18 des I. und § 178 des II. Bds. verzeichneten Namen mußten zur Vermeidung
allzugroßer Ausdehnung dieses Registers weggelassen werden. Sollte
daher irgend ein Name in diesem Register vermißt werden, so ist derselbe doch
leicht zu finden: in den bestimmten, I S. 42 ff. aufgerollten Perioden, oder
in § 77 S. 153 des II. Bds., ferner unter Litteratur der betreffenden Dichtungsgattungen
im II. Bde., endlich II S. 500─502, wo die im Text dieses Werks nicht
genannten Dramatiker der Gegenwart verzeichnet wurden.
Aar I 462. 502. 635. 661. 682. II 230.
273.
Accent I 215. 249. 253.
Accent und Quantität I 221. 225. 228.
232.
Accentuierende Tonmessung I 217. 219.
Accentuierendes Prinzip und der Choral
II 531.
Accentverse I 361.
─ Heines Accentverse I 365.
─ Schillers Accentverse I 367.
─ Einteilung derselben I 369.
─ symmetrische, I 370.
─ strophisch vereinte, I 373.
─ freie, I 376.
Achart II 368.
Adam II 511. 516.
Adami II 387.
Adelmann II 369.
Adolay II 387.
Adolphi I 177. 700.
Adonischer Vers I 339.
Afzelius II 97.
Aimars II 387.
Akatalektische Verse I 305.
Akrostichon I 577.
Akrostrophe I 577.
Alarçon II 387. 400.
Albert II 353.
Alberti II 504.
Albertini II 126. 131.
Albini II 130.
Albrecht I 673.
Alexander II 104.
Alexandriner I 315.
Alexandrinerstrophen I 583.
Alexis II 94. 102. 372.
Alkäische Strophe I 521.
Alkäischer Vers I 348.
Alkäus II 153.
Allegorie I 173. II 175.
─ metaphorische I 175.
─ anthropomorphische I 175.
Allitteration (Stabreim) I 395. 396. 417.
─ als lautmalende Figur I 403.
─ ihre Formen I 407 ff.
Allitteration, ihre historische Entwickelung
I 412.
Allmers I 663.
Allusion I 169.
Allwey II 388.
Almar II 400.
Alpenburg II 244.
Althochdeutsche Reimpaare I 599.
─ Übergang zur Strophik der mittelhochdeutschen
Zeit I 600.
Alxinger II 321.
Amalie, H. z. Sachsen II 499.
Amaranth II 322.
Amphibrachys I 301.
Amphimacer I 301.
Amthor II 546.
[548]Amyntor II 387.
Anadiplosis I 187.
Anagramm II 182.
Anakoluthie I 214.
Anakreon II 153.
Anapäst I 298.
Anapäste, gemischte I 347.
Anapästische Kompositionen I 274.
Anapästische Verse I 341.
Anaphora I 185.
Andersen II 262.
Äneis II 332.
Angely II 486. 488. 506.
Annominatio I 191.
Antanaklasis I 193.
Anthony II 387.
Antibacchius I 301.
Antiklimax I 204.
Antispast I 301.
Antistrophe I 490.
Antithese I 194.
Antike Maße im Verhältnis zum deutschen
Versbau I 303.
Antonomasie I 169.
Anzengruber II 387. 400. 473.
Äolische Verse I 340.
Apel II 182. 249.
Aposiopesis I 214.
Apostrophe I 181.
Archaismus I 112.
Archilochischer Vers I 361.
Ariosts rasender Roland II 315.
Aristophanes I 100.
Aristoteles als erster Begründer der
Poetik I 3.
─ Nachahmung, das Ziel aller Kunst
I 144.
─ über die Handlung im Drama II 31.
35. 40.
─ über die Charaktere II 413.
─ über die Katharsis II 424.
─ über den Charakter des Helden II
426.
─ über die poetische Darstellung II 451.
Arja II 245.
Armand II 364.
Arndt I 369. 373. 375. 604. 641. 647.
649. 652. 656. 659. 669. 671. 681.
685. II 87. 88. 94. 97. 102. 104.
123. 125. 128. 258.
Arnim I 640. 685. II 262. 400. 473.
Arnulph II 488.
Arsis I 215.
Arsische Behandlung der Tonsilben I 238.
Artner, v. II 218.
Artus I 45.
Asklepiadeische Strophe I 522.
Asklepiadeischer Vers I 333.
Äsop II 165.
Assonanz I 394. 417.
─ geschichtliche Entwickelung I 423.
Ast II 458.
Asteismus I 199.
Ästhetik, Begriff und Entwickelung I 75.
─ Jdeal derselben I 142.
Ästhetisches im Verhältnis zum Ethischen
I 85.
Astow II 400.
Asyndeton, das I 184.
Auber II 516.
Auer, v. II 387. 400.
Auerbach II 232. 348. 352. 355. 364.
371. 375. 400. 499.
Auersberg II 387.
Auffenberg I 196. 327. 329.
Ausklang, siehe Allitteration I 417.
Ausschmückungselemente I 137.
Avé=Lallemantsche Oktaven I 554.
Avé=Lallemant II 335. 387. 400.
Baader II 244. 245.
Babo II 467.
Bacchius I 301.
Bach, S., als Vollender d. Passion II 537.
─ II 400. 532. 536. 538. 545.
Bacher II 363.
Bachmann, II 367.
Baggesen II 341.
Bahn II 499.
Ballade II 262. 268.
Ballestrem II 400. 401.
Baltzer I 538.
Banck I 210. 377. 379. II 68. 139. 144.
Barbarismus I 111.
Barde, Bardiët I 25.
Bardiët II 101.
Bärmann II 506.
Barrière II 483.
Barthel I 608.
Bartsch, über Walthers v. d. V. gespaltene
Weise I 632.
─ I 8. 439. II 279.
Bassewitz II 312.
Bäßler II 328. 346.
Baudissin II 302. 353. 459. 483. 499.
Bauer II 68.
Bäuerle II 486. 491.
Bauermeister II 480.
Bauernfeld I 196. II 191. 480. 481.
499.
Bauhütte I 359.
Baumann II 453. 492.
Baumbach I 586.
Baumgarten I 5. 75.
Bechstein I 667. 757. II 230. 244. 245.
251. 262.
Beck I 593. 596. 733. 736. II 63. 104.
109. 112. 151.
Becker II 63. 102. 322. 367. 400.
Beckmann II 486.
Beda I 227.
Beer II 454.
Beethoven II 504. 509. 540. 545.
Beilhack II 339.
Belani II 387.
Bellini II 510.
Belly II 487.
Belot II 387.
Benda II 504.
Benedix I 7. 304. II 107. 244. 480. 499.
Beneke II 245. 361.
Benzel-Sternau II 399.
Beowulf I 43. 400. II 25.
Bercht I 7. 655. II 139.
Berend I 683.
Berg II 486.
Bergen II 499.
Berger II 387. 400. 498.
Bergk II 285.
Bergsöe II 400.
Berkow II 387.
Berlioz II 516.
Bern 158. 400.
Bernardin II 400. 486.
Bernays, über die Katharsis II 424.
Berthet II 370.
Berthold II 499.
Bertram II 297.
Bertuch II 166. 504.
Beschreibendes Gedicht II 236.
Besseldt I 7.
Besser II 63.
Betonungsprinzip I 231.
Beuthen II 375.
Beyer I 289. II 107. 245. 410. 488. 500.
Bibra II 387. 400.
Biegeleben I 559.
Bienemann II 130.
Biesendahl I 356.
Binder II 154. 192.
Bindewald II 245.
Binzer II 104.
Birch-Pfeiffer II 400. 484. 487.
Birken I 5. 130. II 130.
Birlinger II 96. 97. 245. 246.
Biterolf I 45.
Blanche II 400.
Blanckarts II 63. 64. 107.
Blancke I 762.
Blankvers I 311.
Blechner II 400.
Bloch II 406. 499.
Blondel II 406.
Bluette II 485.
Blum II 367. 498. 506.
Blumauer I 106. 128. 467. 484. 669.
II. 192 195. 207.
Blumenhagen II 245. 400.
Blumenthal II 207. 422. 488. 499.
Blümner II 195.
Blüthgen I 362. 690. II 400. [I S. 70.
Z. 4. v. u. verbessere: 1844 statt 1814.]
Boas II 328.
Bobertag II 388.
Bode I 113.
Bodenstedt I 30. 160. 431. 534. 538.
555. 556. 586. 588. 682. 720. 733.
737. 746. 748. 752. 753. 757. 758.
II 61. 102. 112. 146. 228. 248. 400.
459. 464. 467. 475.
Bodmer I 53. 468. II 323. 325.
Bogatzky II 130.
Bogulawsky II 326.
Böhm II 409. 479. 488.
Böhme II 97.
Bohrmann II 499.
Boieldieu II 511. 516.
Bolanden II 359. 363. 371. 399.
Bolero I 575.
Bonerius I 47.
Bonitz II 285.
Bonnell I 8.
Booch-Arkossy II 334.
Bormann II 78. 148. 387.
Born II 387.
Börne I 6. II 191.
Bornemann I 55. 113. 659.
Börner II 245.
Bornowsky II 253.
Börnstein II 500.
Bosse I 269.
Bothe I 7.
Böttger I 556. 657. II 63. 67. 262.
321. 323.
Bouterweck, v. I 6. 579.
Brachmann, L., I 188.
Brachvogel, Probe des sentiment. Stils
II 28. [II S. 28. Z. 4 v. u. verbessere:
Friedemann Bach, statt Friedemann.
Buch.]
Brachvogel II 354. 358. 368. 371. 399. 450.
Brackel II 387.
Brandes II 504.
Brandrupp II 367.
Brandt II 400.
Brant, S., dessen Narrenschiff II 190.
Braumüller II 101.
Braun II 245. 387. 475.
Braun-Wiesbaden II 399.
Breier II 387.
Breitinger I 5.
Brentano I 127. 202. 459. 507. 663.
II 96. 112. 131. 262. 273. 379. 467.
473. 482.
Bresler II 400.
Bret-Harte II 400.
Bretschneider II 193.
Bretzner II 499.
Brinkmann, über die Metapher I 161.
─ I 8. 174. II 211.
Brinkmeier I 74. 668.
Brockes I 466.
Brog II 387.
Bronner II 235.
Bronislaw I 359.
Brook II 375. 400.
Bruch II 510.
Brühl II 387.
Brunner II 195. 400.
Brunow II 400.
Bube I 682. II 173. 244. 262.
Büchner I 556. II 387. 400.
Bülow, v., II 400.
Bunge II 464.
Bürger I 117. 128. 193. 200. 204. 266.
277. 299. 308. 309. 329. 344. 348.
404. 461. 468. 471. 482. 505. 617.
656. 685. 712. II 63. 90. 121. 151.
171. 263. 272.
Bürger, H., II 464. 499.
Bürkner II 498.
Burmeister II 130.
Burns I 441.
Burow II 373. 400.
Busch I 384. II 387. 499.
Büsching I 650.
Büttner I 7.
Byk, der tragische Monismus in Grillparzers
Ahnfrau II 455.
Byr II 375.
Byron, über die Spenserstanze I 555.
Cäcilie II 317.
Caj. Sil. Jtalikus I 8.
Calderon I 163. 207. 426. II 433.
Calmberg II 421. 499.
Camoëns II 155. 334.
Carrière, über die Allegorie I 174.
─ I 7. 77. 174. 521. II 107.
Castelli I 55. II 185. 195. 230. 528.
Cäsur I 285. 350.
Chamisso I 167. 318. 320. 327. 328.
343. 404. 422. 443. 453. 455. 543.
578. 589. 648. 649. 650. 664. 669.
681. 686. 694. 710. 728. 732. II 16.
63. 112. 113. 151. 171. 178. 230.
243. 244. 273. 366. 409.
Charade II 180.
Charles II 368.
Chemnitz II 481.
Cherubini II 516.
Chezy, H. v., II 253.
Cholevius II 388.
Choliambus I 321.
Chor, der griechische II 457.
Chor in der Oper II 527.
Choral, der II 529.
Choriambus I 301.
Choriambische Verse I 332.
Christen, A. I 377. 634. 658. II 487.
Cicero, Ursprung der Tropen I 149.
Cid II 266.
Claar I 377. II 499.
Clajus I 354.
Claudius I 657. II 77. 123. 145. 150. 510.
Cobb II 370.
Colbe I 515.
Collin II 230. 273.
Collins II 387, 399.
Conard II 373.
Confucius, chines. Volksgedichte I 19.
Conrad II 464. 500. 504.
Contessa II 498.
Cooper II 364. 370.
Cornelius II 68.
Corrodi II 68.
Cosmar II 499.
Costa II 492.
Cramer II 124. 131. 139. 370.
Crecelius II 96. 97.
Cronegk I 53.
Cyriax II 475.
Dach, S., I 51. 634. 640. 657. 688.
690. II 77. 123.
Dahn, F., II 268. 387. 400. 464. 484.
528.
Daktylische Kompositionen I 274.
─ Verse I 333.
Daktylus I 297.
[551]Dante, über den Gegenstand des Gedichts
I 39.
Dantes göttliche Komödie II 323.
Daphne II 235.
Daum II 337.
Daumer I 430. 432. 450. II 116. 157.
173. 250.
Davidsohn I 634.
Daxenberger II 249.
Decime I 565.
Decius II 130.
Dedenroth II 371.
Deecke II 245.
Dehnike II 387.
Deklamieren I 252.
Dekoration bei Aufführung dramatischer
Dichtungen II 59.
Delius II 30.
Delmann II 484.
Demmler II 155.
Denecke II 486.
Denis I 513. 756. 763. II 104. 139.
144. 151.
Detlef II 367. 400.
Devrient II 464. 488. 498. 528.
Dewall II 375. [I 72. Z. 18 v. ob. verbessere:
van, statt von.]
Dialektdichter I 55.
─ deren Provinzialismus I 103.
─ deren Archaismus I 112.
Dialog II 54. 406.
Dialogismus I 182.
Diärese I 285.
Diasyrmus I 201.
Dichter, Etymologisches I 24.
─ wer ein Dichter ist I 25.
─ ob eine besondere Species I 27.
─ Genie, Arbeit, Studium I 27. ff.
─ Zeit und Einfluß I 34.
─ und sein Jahrhundert I 37.
─ Anforderungen an ihn, von J. Rachel
I 33.
Dichterhalle, neue II 110.
Dichterheim, deutsches I 169. 478.
Dichtkunst (s. Poesie).
Dichtungsformen, fremde I 530.
─ französische I 556.
Didaktik, Begriff derselben I 145. II 18.
─ symbolische II 160.
Didaktiker, ein wahrer Dichter II 23.
Didaktische Dichtungen, Einteilung II 159.
─ Gedichte II 200.
─ Poesie, ihre Begründer II 20.
Didaxis, Gesetz derselben II 20.
Dieffenbach I 659. II 239. 400.
Diepenbrock II 154.
Dieterici II 325.
Diez I 649. II 387.
Dijambus I 301.
Dilettantenreime I 454.
Dilettantenstrophe I 641.
Dill II 328.
Dilschneider I 7.
Dilthen II 400.
Dincklage II 354. 358. 400.
Dingelstedt I 180. 323. 330. 331. 560.
634. 649. 681. 714. 718. 750. II
104. 112. 151. 244. 400. 523.
Dipodisches Metrum I 290.
Dipyrrhichius I 301.
Dispondeus I 301.
Disposition, poetische I 41.
Distichon I 358. 518.
Distribution I 176.
Diterich II 131.
Ditfurth II 97. 117.
Dithyrambus II 145.
Ditrochäus I 301.
Dittersdorf II 511. 512.
Dochmius I 302.
Doczi, der Kuß, metrische Behandlung
II 55. Analyse II 496.
─ I 55. 478. 484. 493. II 459.
Dohm, E. II 488. 499.
Doles II 545.
Dominikus II 387.
Donizetti II 511.
Donner II 458.
Donsdorf II 468.
Doppler II 488. 511.
Döring I 7. II 131. 191.
Drama, Handlung, Fabel, Charaktere
in demselben II 31.
─ Lyrisches und Episches in demselben
II 32.
─ Anforderung an die Handlung II 33.
─ die aristotelische Forderung II 35.
─ seine Charaktere II 36.
─ Stoff desselben II 37.
─ Jdee desselben II 38.
─ Tendenz desselben II 40.
─ das Motivieren in demselben II 41.
─ Aktion und Reaktion II 41.
─ seine Dreiteilung II 42.
─ Teile und Umfang II 42.
─ Akte. Prolog. Epilog II 43.
─ Bau des ─ II 46.
─ ─ Gesetze und Regeln hiebei II 47.
─ Sprache und Form II 54.
─ Aufführbarkeit II 58.
[552]Drama, Aufgabe desselben II 61.
─ Verwerflichkeit manierierter Titel
II 491.
Dramatik, Begriff derselben II 29.
Dramatischer Dichter, Anforderung an
denselben II 56.
Dramatische Dichter, Verzeichnis derselben
II 500.
Dramatische Dichtungen II 403.
─ ─ parodistische u. travestierende II 491.
Dramatische Gedichte II 413.
─ ─ ─, Analysen II 416.
Dramatisch=didaktische Dichtungen II 64.
Dramen, Sammlungen solcher II 500.
Drames proverbes II 482.
Dramolet II 410.
Dräxler-Manfred I 330. 691. II 244.
Dreher II 504.
Dreves I 668. 695. II 68.
Drexel I 754.
Droste-Hülshoff I 161. 658. 676. 681.
683. 687. 694. 705. 757. II 131.
Droysen I 198.
Duller II 400.
Dungern II 387.
Dünheim II 400.
Düringsfeld I 211. II 400.
Dusch I 641.
Duttenhofer I 424. II 268. 333.
Dyherrn II 400.
Eber II 130.
Eberhards Hannchen und die Küchlein
II 326.
Eberhard I 6. II 185. 326.
Ebeling II 387. 536.
Ebers II 348. 368. 373. 376. 386. 392. 400.
Ebert I 661. II 244. 273. 321. 328.
Ebner-Eschenbach II 400. 401. 464. 483.
Echo I 193. 436.
Eckardt II 412. 464.
Eckstein I 432. 520. 649. 682. II 199.
200. 218. 341. 369. 399. 499.
Edda, die I 20.
Edel, E. I 742.
Edgar I 183.
Egan II 387.
Eggers II 105.
Eggler II 412.
Ehrlich II 199.
Eichendorff I 421. 501. 654. 655. 666.
681. 690. II 109. 121. 123. 125.
131. 262. 273. 371. 388. 399. 498.
Eichrodt I 112. 221. 384. 426. 484. II
113. 195. 199.
Einteilung der Poesie nach Stoff und
Form II 7.
Eiselin II 212.
Eisenhardt II 492.
Eitner II 323. 334.
Elegeion I 357.
Elegie II 146.
Elision I 133. II 87.
Ellersberg II 484.
Ellipse I 213.
Elliptische Metapher I 169.
Elmar, K. II 387. 487. 490. 498.
Elmar, Herzog von Oldenburg II 488.
Elsholtz II 409. 485.
Elsner II 240.
Elwert II 73. 97.
Elze II 107.
Emphasis I 208.
Endrulat I 663.
Engel II 367. 368. 399.
Engelberg II 399.
Engelhardt, v. I. 682. 685.
Engstfeld II 131.
Eötvös II 375.
Epanalepsis I 187.
Epanodos I 188.
Epigramm II 203.
Epik, Begriff derselben II 24.
Epik, geschichtliche Stellung und Entwickelung
II 25.
Epiker, Anforderungen an denselben II 24.
Epiphora I 186.
Epische Dichtungen, Einteilung II 227.
Episch=didaktische Dichtungen II 63.
Episch=dramatische Dichtungen II 64.
Episch=lyrische Dichtungen II 63.
Epischer Stil II 26.
Episoden, s. Drama II 32. 361.
Epistel II 212.
Epitheton ornans I 137.
Epitrit I 302.
Epizeuxis I 188.
Epoden I 490.
Epos II 274.
─ Einteilung und Geschichtliches II 279.
─ Volksepen II 282. 283.
─ ─ der Griechen II 283.
─ indische Nationalepen II 285.
─ deutsche Volksepen II 289.
─ Volksepen der Finnen, Esten und
Lappen II 291.
─ Vergleichsmomente sämtlicher Volksepen
II 300.
─ altromantisches (höfisches) II 304.
─ neuromantisches II 317.
[553]Epos, religiöses II 322.
─ idyllisches II 325.
─ historisches II 329.
─ komisches, humoristisches und satirisches
II 337.
─ Tierepos II 342.
Erhabene, das I 93.
Erk I 7. II 97.
Erlburg II 387.
Erlkönig II 264. 272.
Ernesti II 368. 383.
Ernst II. Herzog zu Sachsen I 308.
318. 326. 334. 444. II 208. 209.
Ernst, J. II 400. 421.
Erzählung, poetische II 228.
Esche II 400.
Eschenburg II 97.
Ethisches i. Verhältnis z. Ästhetischen I 85.
Ethische Schuld im Gegensatz zur tragischen
I 100.
Etlar II 400.
Ettmüller II 322.
Etymologische Notiz über die Namen
der Poesie I 24.
Eugen II 372.
Euphemismus I 200.
Ewald II 373.
Exposition im Drama II 43.
Fabel im Drama (poetische Erfindung)
II 31.
─ (Dichtungsgattung) II 160.
Falk I 339. 685. II 191. 195. 230.
Falkenstein II 244.
Fastenau II 387.
Fastenrath II 107. 268.
Fastnachtsspiele II 471.
Faust, C., dessen Marsch op. 101 als
Vergleich mit den Zeilen eines Liedes
I 494.
Feldmann II 480. 484. 499. 507.
Fels II 370.
Ferrand II 112.
Ferry II 387.
Feuchtersleben II 77. 121.
Feuillet II 387.
Fichte, über poetische Gerechtigkeit II 431.
Figuren I 148 ff. 180.
─ grammatische I 181.
─ rhetorische I 194.
Firdusi I 344.
Firdusis Schah-Nameh II 329.
Fischart I 106. 112. 215. 230. 592. II
116. 189.
─ als Sprachbildner I 116.
Fischer, Kuno I 7.
─, J. G. I 656. 682. II 64. 68. 139. 235.
─ G. II 337.
Fitger I 502. 683. II 464.
Flammberg II 365. 400.
Flaxland II 400.
Flemming I 51. 533. 656. II 130. 139.
Flotow II 511.
Foglar I 211. 636. II 151. 392. 400. 499.
Follen II 104.
Folnes II 474.
Folz II 497.
Fontane II 63. 68. 107. 123. 268. 273.
Form, die schöne I 12.
Form, Einteilung der Poesie nach Stoff
und Form II 7.
Forster I 549.
Förster II 107. 499.
Fouqué I 48. 329. 397. 404. 406. 412.
415. 565. 640. 708. II 230. 253.
321. 399. 473.
Franck, Mich. I 474.
Franckel II 322.
François, v. II 354. 358. 376. 386. 400.
Frank, Joh. II 131.
Franke, Jos. I 282.
Fränkel II 487. 492.
Frankl II 230. 322. 337.
Franz II 22. 131. 171. 173. 273. 400. 474.
Franzos I 682. 699 II 400.
Französische Dichtungsformen I 576.
Freese I 7.
Freidank I 47.
Freiligrath I 153. 210. 214. 233. 309.
316. 328. 331. 424. 470. 472. 473.
508. 544. 583. 639. 657. 658. 681.
698. 702. 710. 725. II 16. 63. 67.
104. 151. 239. 273.
Freiligraths Erweiterung des dichterischen
Stoffes I 40.
Fremde Dichtungsformen I 530.
Fremdwörter, Betonungsgesetz I 248.
Frenzel II 387. 400.
Fresenius II 499.
Frey II 400.
Freyburger II 399.
Freytag I 7. 168. 200. II 68. 348. 353.
354. 355. 358. 363. 366. 372. 373.
376. 386. 400. 428. 452. 473. 479. 484.
─ über Vergeistigung des rohen Stoffes
II 39.
─ seine Romane II 373.
Friedrich II 368. 399. 452. 467. 474.
487. 488. 498. 528.
Fries II 374.
[554]Friese II 499.
Fritze II 387.
Fritzsche II 410.
Fröbel I 648.
Fröhlich I 664. 677. 757. 758. II 162.
163. 166.
Fuchs II 387. 400.
Fuchs' Muckenkrieg II 345.
Füllborn II 400.
Funk II 131. 192.
Furchtbare, das I 81. 91.
Gäbeler II 499.
Gaboriau II 375.
Gabriel II 113.
Galen II 370. 400.
Gall II 400.
Gallimathias I 108.
Gallwitz II 368.
Ganzhorn I 453. 695.
Gärtner I 682. 685.
Garve I 7. II 126. 131.
Gaßmann II 490.
Gaudy II 104. 230. 400.
Gayette-Georgens II 387.
Gebhard II 244.
Gedankenlyrik, ideale II 200.
Gedicht, lyrisches II 11.
Gehe II 400.
Geib II 245.
Geibel I 12. 25. 126. 156. 159. 161.
168. 171. 175. 181. 232. 233. 298. 309.
316. 319. 331. 344. 357. 360. 369.
375. 500. 505. 506. 518. 519. 520.
523. 524. 525. 526. 527. 538. 575.
578. 583. 586. 605. 634. 658. 659.
666. 668. 669. 671. 682. 683. 684.
685. 687. 694. 697. 698. 699. 704.
710. 717. 722. 725. 728. 755. 757.
763. II 3. 4. 13. 22. 63. 68. 73. 89.
94. 104. 108. 112. 113. 123. 125.
131. 139. 144. 148. 239. 249. 253.
268. 273. 322. 404. 452. 484. 499. 528.
─ antikisierende Strophe I 526.
Geijer II 97.
Gela II 337.
Gellert I 181. 294. 316. 456. II 131.
144. 166. 206. 220. 230.
Geltersberg II 370.
Genast II 464.
Genee II 485. 488. 499. 507.
Genesis der Dichtungsarten II 64.
Genie, ob geborenes I 2.
─ ob dieses aus sich selbst nur Vollgültiges
hervorbringen kann I 27.
Genie, Anlage, Studium und Arbeit I 28
(Schiller), 29. 32 (Goethe), 30 (Kinkel),
30 (Lessing), 30 (Rousseau), 31 (Plato).
Genie, reformatorisches I 37.
Gensichen II 387. 464. 474. 480.
Genthe II 245.
George II 68. 111. 113. 121. 168. 171.
206. 230. 240. 253. 273.
Geppert II 285.
Gerber II 510.
Gerhardt, Kirchenlied II 128.
Gerhardt I 657. 705. 710. 725. II 77.
128. 130.
Gerok I 682. 685. 686. 710. 722. II 68.
107. 125. 131. 144.
Gerstäcker II 360.
Gerstel II 474. 487.
Gerstenberg II 387.
Gesätz I 492.
Geschmack im Schönen I 87.
Gesenius-Rödiger I 13.
Gesky II 499.
Gesner I 134.
Geßler II 475.
Geßner I 211. II 235.
Gewicht und Maß im Schönen I 84.
Ghasel, das I 585.
Ghaselenrefrain (Rückert) I 449.
Giebelhausen II 245.
Giese II 400.
Girndt II 400. 464. 480.
Giseke II 235. 452. 467. 474.
Gita-Gowinda I 338.
Glagau II 480.
Glasenapp II 490.
Glaser I 546. 649. 659. II 400.
Glaßbrenner I 105. 429. 694. II 191.
341. 400.
Glaubrecht II 399.
Gleichklang, Reim I 388.
Gleichnis I 153.
Gleim I 578. II 21. 102. 166. 272.
─ anakreontische Lieder II 118.
Glosse I 567.
Gluck II 514.
─ Entwickelung der Oper. Erkennen
ihres Schwerpunktes in der Dichtkunst
II 519.
Glück, Elisabeth II 266.
Glümer, Claire v. II 68.
Glykonische Strophe I 523.
Glykonischer Vers I 333.
Gnome II 210.
Göckingk I 473.
Gödeke I 585. 710. II 158. 400.
[555]Godin II 399.
Göhren, v. II 370.
Goldhann II 499.
Goldschmidt II 399.
Goltz II 191.
Göppinger II 245.
Görlitz II 487. 488.
Görner II 406. 487. 488. 491. 492.
Görres I 659. II 68. 131. 253.
Goethe, über das dichterische Genie I 29.
─ über den gewordenen Dichter I 32.
─ als Sprachbildner I 117.
─ Vertreter des Realismus I 141.
─ Poesie soll belehrend sein II 8.
─ über die Lyriker II 13.
─ Gelegenheitsgedichte II 12.
─ naiver Stil (Wilhelm Meister) II 27.
─ über das Volkslied im Wunderhorn
II 96.
─ über Roman und Drama als Jugendlektüre
II 415.
─ Clavigo II 463.
─ Egmont II 364.
Goethes Hermann und Dorothea II 327.
─ Jphigenie II 472.
─ Reineke Fuchs II 342.
─ Tasso II 417.
Goethe I 6. 8. 10. 12. 25. 39. 40. 56.
57. 58. 68. 89. 93. 109. 116. 124.
126. 127. 128. 129. 130. 134. 142.
147. 157. 159. 160. 162. 165. 169.
175. 177. 182. 183. 186. 190. 194.
198. 202. 212. 213. 232. 258. 271.
273. 277. 289. 299. 307. 309. 319.
325. 329. 334. 335. 336. 342. 343.
348. 354. 364. 377. 380. 404. 412.
415. 420. 427. 433. 447. 459. 462.
482. 486. 508. 514. 529. 538. 551.
564. 576. 581. 617. 638. 640. 644.
658. 662. 663. 667. 669. 676. 679.
682. 684. 687. 690. 702. 711. 719.
723. 724. 733. 739. 742. 748. 757.
760. II 2. 5. 14. 15. 89. 100. 107.
109. 112. 113. 116. 121. 123. 134.
139. 140. 144. 145. 148. 173. 178.
191. 194. 195. 215. 253. 263. 268.
326. 358. 365. 368. 370. 392. 409.
451. 466. 498. 536.
Gotter I 576. II 215. 268.
Gotthold I 7.
Gottschall, v., über das dichterische Genie
I 29.
─ über die Metapher I 155.
─ I 7. 12. 29. 139. 157. 233. 311.
460. 520. 521. 522. 665. 687. 733.
739. II 16. 22. 68. 107. 109. 112.
139. 158. 226. 322. 336. 341. 373.
375. 400. 409. 452. 464. 480. 500.
Gottsched I 5. 53.
Gottwald II 399.
Götz I 576. II 511.
Götzinger I 384.
Grabbe I 203. II 262. 452.
Grabowski II 368. 400.
Graf I 589.
Grandjean II 406. 488. 492. 499.
Grant II 387.
Grasberger, Hans I 676.
Gräser II 488.
Grässe II 245.
Graßhoff II 480.
Graumann II 130.
Graun II 536. 545.
Grausige, das I 91.
Gravenhorst I 460 II 458.
Graviere II 400.
Gregor, Elly I 509. 660.
Gregorovius I 356. II 452. 464.
Greif II 1. 4. 11. 464. 474.
Greiff I 125. 139. 646. 649.
Grieben II 107.
Griepenkerl II 400.
Gries II 278.
Griesinger II 400.
Grillparzer I 162. II 450. 455.
Grimard II 387.
Grimm, Gebr., Haus- und Kindermärchen
II 86.
─ Sage und Märchen II 256.
─ Jak., über Goethes Sprache II 433.
─ I 7. 116. II 244. 306.
Grimmelshausen, Stilprobe für den Roman
aus dessen Simplicissimus II 375.
Grimminger I 55. 113. II 239. 273.
Grohmann II 244.
Grönland I 210.
Groß II 400. 528.
Grosse I 162. 231. 483. 658. 742. II
68. 107. 322. 342. 400. 464.
Großmann I 576.
Groth I 55. 113.
Grothe I 694 II 387. 400. 452.
Grothefend I 7.
Grötsch II 321.
Grotthus II 387. 400. 499.
Grube I 439.
Grübel I 687. 694.
Grün I 172. 183. 309. 311. 318.
319. 320. 328. 330. 331. 343. 373.
375. 544. 605. II 104. 142. 144. [556]
151. 177. 230. 249. 253. 260. 261.
273. 321.
Grün, A., Nibelungen im Frack II 339.
Grüneisen II 104. 125.
Gruppe I 7. 130. 682. II 191. 337.
Gryphius I 51. 656. II 461.
Gubitz II 400. 504.
Gudrun I 44. II 290.
Gudrunstrophe I 607.
Guest I 460.
Güll II 166.
Gundling II 370.
Günsburg I 748. 750. 752.
Günther J. Ch. I 51. 710. II 190. 215.
Günther, A. II 325. 488.
Günthert II 231.
Guseck, B. v. I 545. II 400.
Gustav vom See II 400.
Gutbier II 499.
Gutzkow I 7. 311. II 107. 353. 354.
368. 374. 386. 400. 451. 467. 473.
480. 493. 498.
─ sein Einfluß auf das Theater II 473.
Habicht II 266. 368. 399.
Häbler II 68. 460.
Hackenschmidt II 107.
Hackländer II 369. 370. 399. 481. 498.
Haffner II 400. 406.
Hag, Julius vom I 669.
Hagedorn I 576. 710. II 163. 166. 191.
195.
Hagemann II 239.
Hagen, v. d. I 7.
Hagen II 399.
Hagenbach I 658. II 131.
Häger II 464.
Hahn, Werner I 8.
Hahn II 387. 486.
Hahn-Hahn II 77. 367. 400.
Haidheim II 387. 400.
Hainau II 400.
Hainbund I 55.
Halevy II 516.
Hall II 249.
Haller I 182. 520. 643. II 21. 22. 144.
151. 191.
Halm I 108. 694. II 400. 405. 421.
464. 478. 482. 498.
Haltreich II 262.
Hamerling, als Repräsentant der Dichtkunst
im Verhältnis zu verwandten
Künsten (Malerei, Musik) I 35.
─ I 154. 172. 208. 233. 311. 356.
369. 373. 375. 377. 560. 605. 676.
682. II. 63. 67. 68. 107. 139. 144.
235. 253. 322. 337. 376. 387. 536.
Hamm II 507.
Hammer I 656. 658. 668. 682. II 22.
68. 211. 387. 499.
Händel II 536. 541. 545.
Händel als Vollender des Oratoriums
II 542.
Hanke I 681. II 370. 400.
Hanschmann I 521. 578.
Häring II 328.
Harmening II 322. 373. 387. 400. 479.
Harms II 194.
Harsdörffer I 5.
Harsdörffer's Libretto zur ersten deutschen
Oper II 517.
Hartmann I 356. 650. II 107. 109.
191. 328. 387. 400.
Hartung II 250. 458.
Häser II 513.
Hassenstein II 130.
Häßliche, das I 90.
Hauff II 77. 184. 185. 195. 262. 373.
392. 400.
Häufung I 205.
Haug I 207. 508. II 185. 191. 207.
Haupt I 356. II 325. 337.
Haushofer I 658.
Hausmann I 484.
Haydn II 545.
Hebbel I 112. 127. 196. 328. 356. 669.
681. II 409. 452. 464. 466.
Hebel I 113. 269. 356. 384. 659. 756.
II 151. 181. 183. 235.
Hebungsverse I 380.
Hedrich II 464.
Heermann II 130.
Heffemer II 68.
Hegel I 6.
Heiden I 318.
Heidenreich II 139.
Heigel II 400. 474. 499.
Heimburg II 387.
Heine I 99. 106. 116. 171. 210. 232.
320. 355. 361. 364. 368. 373. 757.
II 63. 67. 109. 113. 120. 123. 140.
191. 199. 239. 266. 273. 341. 407.
473.
─, dessen Wiedererweckung des altgermanischen
Verses (s. Accentvers) I 365.
─, über das Volkslied II 77.
Heinrichs II 400. 484.
Heinse II 367. 374. 399.
Helbig I 356. II 235. 253.
Heldenepos II 329.
[557]Heliand, altsächsische Evangelienharmonie
I 43. 401.
Hell II 480. 487.
Helm II 387.
Helmboldt II 130.
Hemsen II 387.
Hendekasyllabus I 339.
Henkel II 370.
Henle II 500.
Henne-Am=Rhyn II 244.
Hennings II 285.
Henoumont II 499.
Henrion II 410. 499.
Henry II 387.
Hensel II 131.
Hensler II 400. 485.
Henzen II 475. 499.
Herbert II 387.
Herbst II 367.
Herchenbach II 400.
Herder, Lautnachahmung als Beginn
der Sprache I 119.
─ über das Volkslied II 74. 76. 96.
─ über Paramythie II 172.
─ I 6. 168. 203. 211. 328. 329. 330.
344. 348. 373. 375. 502. 644. 693.
II 22. 63. 85. 97. 125. 131. 139.
171. 175. 178. 204. 230. 253.
Herford I 44.
Herloßsohn I 665. II 191. 400.
Hermann I 7. 760. II 250. 375. 400.
Herodot, über den ältesten Gesang der
Ägypter I 19.
Heroide II 215.
Herrig I 395. II 262. 273. 421. 422.
464.
Herrlein II 245.
Hersch II 480.
Hertz I 10. 139. 305. 682. II 139. 146.
273. 309. 314. 322. 466.
Herwegh I 183. 213. 452. 503. 544.
551. 658. 666. 675. 681. 699. 702.
709. 710. 744. 757. II 104. 121. 155.
178.
Herzenskron II 500.
Herzfeld II 499.
Herzog II 387. 531.
Hesekiel I 693. II 107. 373.
Hesse II 499.
Heßlein II 387.
Heßler II 325. 474.
Heun II 498.
Heusinger II 107. 400.
Hexameter I 348.
─ Litteratur und Geschichte I 353.
Hexameter gereimte I 354.
─ über dessen Verwendbarkeit I 355.
Hey II 131. 166.
Heyden II 230. 498.
Heydrich II 484.
Heyne II 247.
Heyse, K. I 7.
Heyse, P. I 198. 329. 356. 373. 546. 551.
671. 682. II 68. 230. 322. 325. 354.
367. 389. 390. 392. 400. 464. 465.
467. 475. 480.
─ Stilprobe der Novelle aus dessen
l'Arrabiata II 393.
─ dessen Novellen II 401.
Hiatus I 130.
Hildebrandslied I 43. II 290.
Hildebrandstrophe I 680.
Hiller II 131. 487. 512. 545.
Hillern, Wilh. v. II 353. 371. 387. 400.
474. 484. 499.
Hiltl II 373. 375. 399.
Hippel II 131. 399.
Hirsch I 515. 658.
Hirschfeld II 375. 387. 399.
Hirzel II 466.
Hittnau I 55.
Hochwald, A. v. I 428.
Höcker II 375. 387. 400.
Höfer I 658. II 68. 107. 367. 370.
400.
Hoffmann, K. J. I 7.
Hoffmann von Fallersleben I 191. 325.
586. 587. 659. 670. 671. 678. 685.
690. 692. 707. 733. 738. II 97. 102.
109. 112. 117. 121. 123. 188. 273.
Hofmann, E. II 499.
Hofmann, Fr. I 288. 656. 658. 682.
II 107. 166. 337. 400. 412. 511.
528.
─ K. von Nauborn II 320.
Hohenhausen II 370.
Holbein II 468.
Hölderlin I 153. 333. 468. 521. 681.
725. II 107. 139. 144. 151. 369.
Holtei II 77. 113. 385. 400. 474. 486.
490. 507. 528.
Hölty I 181. 308. 472. 520. 681. II
117. 131. 139. 150. 235. 273.
Holtzmann II 286.
Hölzl II 454.
Holzmüller II 166.
Homberger II 400.
Homburg, E. Chr. I 434.
Homer, Jlias und Odyssee II 283.
Homilius II 545.
[558]Homonyme II 184.
Honegger I 324.
Hopf II 400. 486. 487.
Hopfen I 682. II 68. 341. 375. 388.
400. 510.
Hopp II 486. 487.
Horaz I 3. 116. II 213.
Hormann I 679.
Horn I 83. II 63. 67. 387. 400. 491.
Houwald I 327. 329. II 181. 399. 454.
Hoven II 467.
Hub II 273.
Hüffel I 204.
Hugdietrich I 44.
Hugo v. Trimberg I 47.
Hülsen 400.
Humboldt I 355. II 327.
Humor I 105.
Humoristische Dichtungen II 195.
Huß I 8.
Hutterus II 400.
Hymne II 141.
Hypallage I 212.
Hyperbel I 206.
Hyperkatalektische Verse I 306.
Hysteron-Proteron I 212.
Jäger I 430.
Jahn I 729. 732. II 131. 370. 480.
Jakob, v. I 329.
Jakobi II 125. 131. 139. 151. 368. 374.
399. 536.
Jakobsen II 387. 486. 487. 488. 507.
Jambus I 296.
Jambische Kompositionen I 273.
─ Verse I 307 ff.
Jambisch=anapästische Verse I 347.
Jambentragödie I 310.
Janssen II 245.
Jantsch II 467.
Jdeal, Schönheitsideal I 140.
Jdeal der Ästhetik I 142.
Jdeale II 38.
Jdealisieren im Drama II 38.
Jdealisieren im Roman II 360.
Jdealisierung, von Schiller I 141.
Jdealismus in der Poesie I 140.
Jdylle II 231.
Jdyllisches Epos II 325.
Jean Paul, üb. d. Humor I 105.
─ ironischer Stil (Aus dessen Belagerung
der Reichsfestung Ziebingen) II
27.
─ I 6. 106. 107. II 22. 191. 359. 367
368. 376. 399.
Jensen I 292. 503. 544. II 63. 68. 107.
387. 400. 484.
Jffland II 467. 482.
Jhering II 107.
Jken II 262.
Jktus I 292.
Jmmergrün I 701.
Jmmermann I 195. 311. II 321. 362.
400. 420. 473. 495. 498.
Jmmermann Tulifäntchen II 340.
Jncision I 288. 324.
Jntermezzo, das II 512.
Jnversion I 211.
Jnvocation II 278.
Johr II 195.
Jonas, Emil J. I 617. II 262.
Jonas, Justus II 130.
Jonikus, fallender I 301.
steigender I 302.
Jordan, W., über Entstehung d. Poesie I
22.
─ über die Arbeit des Dichters I 27.
─ über Vorhauch und Hiatus I 131.
─ über rhythmische Gesetze der Sprache
I 220.
─ über rhythmische Stimmungsmalerei
I 280.
─ dessen Verdienst um die Hebungsverse
I 381. 415.
─ über die erste Entdeckung des Reims
I 391.
─ über den Stabvers I 413.
─ über den Reim I 459.
─ über die Nibelungenstrophe I 606.
Jordan, W. I 8. 33. 121. 124. 232.
259. 300. 363. 364. 365. 367. 368.
370. 400. 403. 408. 409. 410. 411.
412. 419. 757. II 19. 22. 67. 226.
278. 285. 322. 464. 499.
Jost II 387.
Jronie I 199.
Jtwitz I 47.
Jué II 474.
Julius II 488.
Juncker II 400
Jung-Stilling II 399.
Jwanow II 370.
Jwein I 46. II 311.
Kaffka II 504.
Kähler II 367.
Kaiser II 373. 498.
Kalbeck I 634. 658.
Kalewala, finnisches Volksepos II 291.
Kalewide I 331.
[559]Kalewipoeg, estnisches Volksepos II 294.
Kalidasa, Sakuntala II 468.
Kalisch II 486. 487. 500.
Kaltschmidt I 121.
Kammerlander II 545.
Kämpf I 593.
Kampmann I 649.
Kancion I 574.
Kant, über d. Schöne, I 77.
Kantate, die, II 534.
Kanzone, die, I 558.
Kapri II 371.
Kaspar v. d. Rhön I 48.
Kasside, die, I 585.
Kastropp I 377. 379. 380. 593. 596.
II 244. 249. 262. 278. 279 322. 464.
Katachresis I 179.
Katalektische Verse I 305. 337.
Katastrophe im Drama II 45.
Katharsis II 424.
Katsch II 387.
Kauer II 510.
Kauffer I 682. II 107.
Kaufmann, Alex. I 324. 682. II 68. 111.
112. 113. 121. 173. 199. 230. 245.
250. 273. 366. 367.
Kayser II 154. 458.
Kehrein, J. I 116.
Kehrreim, siehe Refrain I 445.
Keiser II 512. 513. 519.
Keiter I 8. II 359.
─ über d. dichterische Genie I 29.
Kekulé I 559.
Kelle I 222. 492.
Keller, Ad. v. I 48. 613. II 244. 375.
387. 401.
Keller, Gottfr. I 659. 664. 687. 691.
II 16. 63. 99. 253. 348. 358. 363. 364.
366. 368. 376. 386. 392. 400.
─ Stilprobe für den Roman aus dessen
grünem Heinrich II 378.
─ dessen Novellen II 401.
Kellner II 387.
Kempner II 400.
Kempter II 545.
Kern I 467.
Kerner Just. I 634. 694. II 67. 87.
116. 207. 230. 253. 268. 273. 410.
Kerner, Theob. I 660.
Kessel v. II 387. 400.
Kettenacker II 387.
Keyserling II 401.
Kiel II 542. 545.
─ dessen Oratorium Christus II 544.
Kind II 218. 253. 409. 528.
Kinkel I 30. 164. 309. 509. 669. 681.
696. 710. 725. II 68. 102. 109. 139.
151. 244. 253. 262. 464.
─ dessen Otto der Schütz II 319.
Kinkel, Johanna II 400.
Kirchbach II 387.
Kirchhoff I 469. 760.
Kittl II 387.
Kläger II 484.
Klangschönheit I 119.
Klapp, Mich. II 371. 480. 500.
Klassische, das I 88.
Klassische Poesie II 6.
Klaußmann II 371.
Klee II 387.
Klein II 199. 424. 479. 545.
Kleinpaul I 8. II 97.
Kleinsteuber II 388.
Kleist, E. Chr. v. I 54. 96. 171. 207.
213. 309. 311. 345. 553. 644. II 47.
137. 140. 144. 148. 166. 207. 230.
235. 236. 253. 367. 399. 432. 466.
467. 473. 493.
Kleist, Heinrich v. I 311.
Klesheim I 55. 112. 113.
Kletke II 262. 375. 400.
Klimax I 203.
Klopstock I 126. 129. 185. 193. 205.
303. 321. 340. 356. 484. 507. 518.
644. II 128. 131. 133. 134. 139. 141.
144. 148. 204. 278. 303. 461. 504. 533.
Klopstocksche antikisierende Strophe I
525.
Klopstocks Hexameter I 354.
─ Messias I 354. 355. II 322.
Klopstock und die deutsche Ode II 135.
Knack II 131.
Knapp I 640. 656. 669. 685. 701. II
68. 104. 125. 131. 144.
Knauff II 488.
Knebel II 142. 144.
Kneisel II 474. 478. 499.
Kneschke II 158.
Knöpfer II 387.
Knüttel, Aug. I 7.
Knüttelverse I 382. 383.
Kobell I 113. 650. 739. 741. 742. 753.
754.
Köberle II 464. 484.
Koberstein II 464.
Koch, E. II 400.
─, W. II 400.
Köchly II 545.
Kohl I 362.
Kohlenegg II 387. 400. 412.
[560]Kohn II 375.
Kolon, Abwechslung derselben I 507.
Komik, Kant über das Lachen I 102.
Komische, das I 102.
Komisches Lied II 113.
Komödie, s. Lustspiel II 475.
─, die englische II 496.
─, die französische II 496.
─, die griechische II 493.
─, die italienische II 495.
─, die römische II 494.
─, die spanische II 495.
Kompert II 371. 400.
Komposition, poetische I 41.
─, trochäische I 273.
─, jambische I 273.
─, daktylische I 274.
─ anapästische I 274.
Kongruenz I 202.
König I 8. II 359. 371. 372. 399. 400.
Kopal II 467.
Kopisch I 200. 278. 328. 329. 502. 507.
641. 654. 659. 662. 704. 736. II 94.
113. 146.
Köpke II 7.
Koppel-Ellfeld II 499.
Köppen II 337.
Körner I 95. 213. 311. 316. 336. 551.
643. 650. 669. 676. 682. 685. 692.
711. 715. 719. II 88. 97. 102. 104.
151. 180. 183. 185. 268. 420. 498.
Körte II 212.
Kortum I 384. 387.
Kosegarten II 63. 97. 139. 140. 151.
171. 195. 235. 239. 253. 328.
─ Jukunde II 326.
Kossak II 400.
Köster I 581. II 464. 484. 499.
Kösting II 475.
Köstlin I 7. 77.
Kottenkamp II 323.
Kotzebue II 90. 467. 480. 484. 485. 498.
Krabbe II 387.
Krafft I 593.
Krais II 253.
Krane II 387.
Kraus II 387.
Krause I 6. II 387.
Krauß I 534.
Kräuterklauber II 245.
Kretikus I 301.
Kretische Verse I 332.
Kretschmann II 104. 146.
Kretschmar II 370.
Kretschmer I 652. 656. 692. 732.
Kretzschmer II 97. 510. 511.
Kreutzer II 519.
Kreuz, v. II 21.
Kreuzer II 247.
Kreuzwald, v. II 294.
Kreyßig II 388.
Kronau II 387.
Krug von Nidda II 273. 466.
Krüger II 375. 399. 486. 487.
Krummacher I 325. II 131. 171. 178.
536.
Kruse, L. II 400. 464.
Kugler I 482. 578. 579. II 104. 116.
123. 253. 400.
Kuh I 175. 682. II 68. 207. 400.
Kühling II 406.
Kuhn II 245. 409.
Kühn II 244. 262.
Kühne II 371. 400. 499.
Kulemann II 325.
Kulturhistorisches Gedicht II 203.
Kunst, ihre Dauer I 39.
Künste, freie, in gleicher Beziehung I 9.
─ reale I 10.
─ ideale I 10.
─ im Verhältnis zur Poesie I 13.
─ Fortschritt derselben in der Gegenwart
(Hamerling, Makart, R. Wagner)
I 35.
Kunstepen II 302.
─ Gruppen und Arten II 304.
Kunstlied, dessen Mission II 99.
─ dessen Einteilungsprinzip II 100.
Kunstpoesie II 2.
Kunstwerk, das schöne I 142.
Künstler, Zeit und Einfluß I 34.
Künzel I 637.
Kürenberger I 600.
Kürnberger II 400. 464.
Kurtz, Herm. II 315. 352. 359. 400.
512.
Kurz, Heinr., dessen Belehrung über
Versmaß I 329.
─ II 399.
Küster II 387. 399.
Küttner II 207.
Kyaw II 185.
Labes II 107.
Lachbare, das I 81. 92.
Lachmann, der Accent im Althochdeutschen
I 223.
─ II 285. 307.
Laddey II 400.
Lafontaine II 399.
[561]Lampadius I 668.
Landsteiner II 387.
Lang II 262.
Langbein I 687. II 166. 235. 253. 399.
Lange II 131.
Langer, Ant. II 387. 486. 490.
Lanzelot I 46.
L'Arronge II 387. 467. 480. 487. 500.
Laube I 7. II 57. 108. 372. 452. 473.
474. 480. 484. 498.
Laudon I 644.
Lauer II 467.
Laun II 491.
Laurenberg II 190.
Lautmalerei I 119.
Lautsymbolik (Jordan, Kaltschmidt, v.
Wolzogen) I 121.
Lavater II 131. 239. 325.
Layritz II 531.
Lebrun II 498. 506.
Lecocq II 512.
Legende II 250.
Lehmann, Aug. II 400.
─ über Lessings Sprache II 433.
Lehmann, Ernst II 131. 499.
Lehmann, K. II 68. 151.
Lehrgedicht II 219. 222.
Leiche, mittelhochdeutsche I 619.
─ neuhochdeutsche I 376.
─ als Grundlage des Kirchenlieds II
126.
Leitner II 121.
Leixner, Otto v. I 501. 635. II 400.
Lemcke, K. I 7. 77. II 474.
Lenau I 99. 174. 310. 328. 339. 342.
634. 739. 757. 763. II 63. 109. 112.
121. 151. 239. 253. 273.
Lengerke, C. v. I 658. 682. II 109. 112
Lennig I 113.
Lenz II 400.
Lenzen II 388.
Leonhardt II 545.
Leoninischer Vers I 354. 390.
Leoprechting II 244.
Lepel II 139. 273.
Lermontoff I 734.
Lesser II 230. 268. 273. 500.
Lessing, über die Grenzen der Malerei
und Poesie I 14. 16.
─ über das Genie I 30.
─ über die Fabel II 160. 162.
─ über die poetische Gerechtigkeit II 430.
─, über dessen Sprache II 433.
Lessings Emilia Galotti als Beispiel für
die Einteilung der Akte II 43.
Lessing I 6. 54. 183. 188. 201. 207.
232. 310. 314. 576. II 34. 166. 175.
178. 205. 230. 265. 409. 461. 466.
482. 493. 498.
Leuthold I 520. 586. 658. 682. 701.
II 175. 205. 206.
Levassor II 406.
Levitschnigg II 370.
Lewald II 370. 374. 400.
Lexow II 400.
Ley I 392.
Libretto, Vorschriften, Gesichtspunkte II
527.
Lichtenberg II 191. 195. 504.
Lichtwer II 166. 230.
Liebmann, über das Befriedigende der
Tragödie II 423.
Lied, das, und seine Formen II 71.
─ Anforderungen an dasselbe II 72.
geistliches:
religiöses Lied II 123.
Kirchenlied II 125.
weltliches:
Vaterlandslied II 101.
Naturlied II 107.
Liebeslied II 109.
komisches Lied II 113.
geselliges Lied II 116.
elegisches Lied II 119.
idyllisches Lied II 122.
Liederspiel II 505.
Liliencron I 657. 669. 670. 684. 685.
689. 696 698. 699. 714. II 97. 387.
Lindau, P. II 195. 400. 480. 500.
─ dessen Dialog Ersatz für Handlung
II 478.
Lindendorf II 400.
Lindner I 314. II 68. 452. 474. 499.
Lindolf II 499.
Lindpaintner II 504. 519.
Lingg I 200. 318. 538. 550. 551. 647.
656. 658. 709. 710. 763. II 68. 107.
109. 120. 151. 273. 337. 421.
Linos sagenhaft ältester Dichter I 18.
Lippert II 387.
Liszt II 504. 533. 539. 542. 545.
─ schuf eine neue Ära hinsichtlich der
Messe II 540.
Litotes I 208.
Litteratur unserer Poetik I 6.
─ der Allegorie II 178.
─ der Ballade II 272.
─ des beschreibenden Gedichts II 239.
─ des dramatischen Gedichts II 420.
─ der Elegie II 148.
[562]Litteratur des Epigramms II 207.
─ der poetischen Epistel II 215.
─ des historischen Epos II 336.
─ des idyllischen Epos II 328.
─ des komischen Epos II 341.
─ des neuromantischen Epos II 321.
─ des religiösen Epos II 325.
─ des Tierepos II 346.
─ der poetischen Erzählung II 230.
─ der Fabel II 165.
─ des geistlichen Liedes II 130.
─ der Gnome II 211.
─ der Heroide II 218.
─ des Humors II 199.
─ der Hymne II 143.
─ der Jdylle II 235.
─ der Kantate II 535.
─ der Komödie II 493.
─ der Legende II 252.
─ des groß. Lehrgedichts II 225.
─ des wirklichen Lehrgedichts II 222.
─ des Märchens II 260.
─ der Mythe II 249.
─ der Novelle II 399.
─ der Ode II 139.
─ des Oratoriums II 545.
─ der Posse II 487.
─ des Romans II 381.
─ der Romanze II 268.
─ der Sage II 244.
─ der Satire II 189.
─ des Schauspiels II 471 ff.
─ der Tragödie II 458 ff.
─ des Vaterlandsliedes II 106.
─ des Vaudeville II 505.
─ des Volksliedes II 96.
Litteraturgeschichte:
1. Periode. | Älteste Denkmale I 42. |
2. „ | Volksepos, Kunstepos I 44. Minnesang. Blüte der d. Lyrik I 47. |
3. „ | Letzte Minnesinger. Mei= stersänger. Absterben der 1. Blüte deutscher Lit= teratur I 48. |
4. „ | Kirchenlied (Luther). Lehr= gedicht (Hans Sachs) I 49. |
5. „ | Von Opitz bis Klopstock I 50. |
6. „ | Von Klopstock bis Goethe I 53. |
7. „ | Die klassische Zeit. Zweite Blüte der deutschen Lit= teratur I 56. |
8. Periode. | Romantiker, das junge Deutschland I 58. |
9. „ | Bis zum neuen deutschen Reich I 61. |
10. „ | Von 1870 bis zur neue= sten Zeit I 69. |
Littrow I 634.
Lobedanz II 371. 464. 469.
Löbel II 475.
Lödl II 493.
Loën II 367.
Logaödischer Vers I 341.
Logau I 51. II 175. 207.
Logogriph II 181.
Lohde II 368.
Lohengrin I 46.
Lohmann II 388. 400. 452. 464. 528.
Löhn II 235. 367. 399. 488. 499.
Longard II 244.
Löper I 742. 743.
Lorinser I 596. 597.
Lorm, Hieronym. I 156. II 400.
Lortzing II 511. 512.
Lothar II 400.
Löwe, Feod. I 156. 710. 757. II 230.
545.
Lübeck, Schmidt von, siehe Schmidt.
Lubojatzky II 371.
Ludolf II 375.
Ludwig, König von Bayern I 685. 705.
II 68. 400. 454. 499.
Ludwigslied I 43.
Luise II 325.
Lully II 516.
Lustspiel, allgemeines II 475.
─ Anforderung an die Handlung II
478.
─ Einteilung nach der Stoffquelle II
479.
─ ─ nach den Lebenskreisen des Helden,
nach Tendenz und Herkunft II
481.
─ ─ nach Entwicklung und Verwicklung
II 483.
─ ─ nach Form und Ausdehnung II
484.
─ ─ ältestes deutsches II 497.
Luther I 455. 506. 678. 698 II 87.
126. 533.
─ als Sprachneubildner I 116.
─ führt den Choral als geistliches Volkslied
ein II 530.
Luthers Kirchenlied II 126.
Lütolf II 245.
Lützel II 531.
[563]Lyrik, Begriff derselben II 10.
─ ihre Stoffe II 11.
─ das paläontologische Element in derselben
II 15.
─ Stil in der Lyrik II 16.
─ Notiz über die Lyrik aller Litteraturen
II 153 (Griechen); 154 (Römer,
Hebräer, Jtaliener, Spanier und
Portugiesen); 155 (Franzosen, Briten);
156 (Czechen, Serben, Ungarn, Russen,
Neugriechen); 157 (nordische Völker,
Jnder, Perser, Chinesen, Araber, Türken).
Lyriker, dessen Eigenart II 12.
─ Anforderung an ihn II 13.
Lyrische Dichtungen, Einteilung II 70.
Lyrisches Gedicht II 11.
Lyrisches Gedicht, dessen Umfang II 16.
Lyrisch=didaktische Dichtungen II 63.
Lyrisch=dramatische Dichtungen II 63.
Lyrisch=epische Dichtungen II 63.
Madrigal I 576.
Mahabharata, indisches Epos II 285.
Mahler II 387.
Mahlke II 509.
Mahlmann I 131. 151. 195. 659.
Mähly II 356.
Mai II 400.
Makame, die I 589.
─ Rückertsche Nachbildungen I 590. 593.
─ nichtarabische I 592.
Makart als Repräsentant der Malerei
im Verhältnis zu verwandten Künsten
(Dichtkunst, Musik) I 35.
Malagis I 45.
Malaisches Kettengedicht I 589.
Mallachow II 484.
Malß II 486.
Maltan II 499.
Mangold II 545.
Mannsfeld II 370.
Manso I 576. II 215.
Marbach I 56. 75. 682. II 107. 400.
452. 457. 487.
Märchen II 253.
Marggraff, H., über Spott, Witz, Jronie,
Humor I 107.
─, II 400.
Markull II 545.
Marlitt II 359. 364. 400.
Marschner II 509. 520.
Martersteig II 499.
Martin II 387. 400.
Marx I 634. II 537. 545.
Märzroth II 467.
Masing II 428.
Maßmann I 657. 717. II 244.
Mastalier II 104.
Matthesius II 130.
Matthisson I 329. 340. 427. 520. 645.
654. 685. II 139. 151. 181. 238. 239.
Matzerath II 107. 235.
Maurer II 245.
Maurice II 400.
Mauritius I 682.
Maurus I 223.
Mautner II 400. 499.
Mayer II 125. 167. 641.
Meier II 97. 245.
Meinardus II 542. 545.
Meinardus' Oratorium Luther II 544.
Meinecke I 7.
Meinert II 85.
Meinhold II 268.
Meiningen II 54. 59. 473.
Meisl II 486. 487. 493.
Meißner, Alfr. I 650. 656. II 63. 107.
109. 112. 151. 166. 191. 273. 337.
400. 464. 504. 536.
Meister II 131.
Meistersänger I 48.
─ deren Strophik I 628.
Melissus I 543.
Melodrama II 503.
Mels II 387. 475. 499.
Mendelssohn II 499. 504. 534. 542.
545.
─ dessen Oratorium Paulus II 543.
Menger I 685.
Menzel I 80. 229. II 90. 158. 359.
Merkel II 492.
Messe, die II 538.
Messias I 354. 355.
Metapher, vergeistigende I 161.
─ versinnlichende I 162.
─ materiale I 163.
─ geistreiche I 164.
─ ihre Unterarten I 164.
Metonymie I 165.
Metrik I 215. 282.
Metrum I 215.
─ und Metren I 290.
─ und Rhythmus I 262.
─ monopodisches I 290.
─ zwei- und dreisilbige Metren I 273.
─ Klassifikation deutscher Verse nach dem
Schlußmetrum I 305.
Meyer, F. v. II 131.
Meyer, K. Ferd. II 63. 387. 400. 487.
[564]Meyerbeer II 504. 511. 519.
Meyern, G. v. II 107. 466. 528.
Meyr, M. I 193. 748. 749. II 121.
139. 400.
Michaels II 229.
Michel II 474. 482. 499.
Miller II 117. 151.
Miltons verlorenes Paradies II 323.
Mimesis I 201.
Minckwitz I 7. 228. 321. 418. 525. II
138. 139. 142. 144. 151. 458.
Minckwitz, über die Schulregel des Hexameters
I 350.
─, seine antikisierenden Strophen I 528.
─, seine antikisierenden Bestrebungen I
230.
Mindermann II 399.
Minding II 268.
Minnelieder II 109.
Minnesinger, deren Strophik I 608.
Mittler II 97.
Mitzlaff II 387.
Möbius II 464. 484.
Moderne Poesie II 6.
Mohnike II 97.
Molitor II 375. 421.
Möllhausen II 400.
Molossus I 301.
Moltke, M. I 212. 656. 658. 663. II
118. 139. 158.
Monolog II 54. 404.
Monopodisches Metrum I 290.
Moreto II 478.
Mörike I 338. 356. 551. 669. 690. 692.
695. II 4. 109. 112. 121. 122. 151.
260. 262. 273. 392.
─ über freieren Gebrauch unreiner Reime
I 468.
Morin, G. I 685. 686. 712. 763. II 63. 230.
Moris II 245.
Moritz I 7. II 325.
Morländer II 487. 492.
Moscherosch II 190.
Mosen I 311. 452. 503. 544. 656. 662.
669. 673. II 19. 22 63. 102. 109.
121. 253. 268. 273. 325. 400. 420
450. 452. 464.
Mosenthal I 658. II 464. 467. 499.
Moser, G. v. II 488. 499.
Moser, O. II 387. 485.
Moser, v., II 131.
Möser, A. I 154. 198. 213. 578. 586.
634. 658. 685. II 68. 140. 205 235.
239. 268. 273. [I S. 71 Z. 13. v.
u. tilge: † 1877.]
Möser, G. II 399.
Motette die II 532.
Möwes II 131.
Moy II 474.
Mozart II 510. 511. 528.
─ als Konsequenz Glucks II 519.
Müchler II 166. 207.
Mügge, Th. II 370. 373. 400.
Mühlbach II 327. 399.
Mühler II 113. 268.
Mühlfeld II 370. 387. 400.
Müldener II 375. 399.
Müllenhof II 262.
Müller, A. II 321. 464. 487. 499.
Müller, Gottw. II 354. 375.
Müller, Hugo II 474. 499.
Müller, Max I 157.
Müller, Wilhelm I 98. 126. 194. 205.
318. 323. 327. 329. 331. 363. 407.
546. 636. 648. 660. 663. 690. 709.
734. 739. II 113. 116. 123. 125. 144.
273. 400.
Müller, Maler II 77. 146.
Müller, O. II 250. 400.
Müller, Wenzel II 510.
Müller von Königswinter I 166. 426.
659. 669. 681. II 107. 235. 244. 266.
387. 499.
Müller v. d. W. I. 399. 435. 451. 571.
749. II 107. 114. 146.
Müllner I 327. II 399. 402. 454. 455.
Münchhausen II 399.
Mundt I 7. II 400.
Munter II 131.
Murad Efendi II 464.
Murner II 190.
Musäus I 55. II 199. 261.
Muskulus II 130.
Muspilli I 43. 401. 475.
Musset II 480.
Mützelberg II 364. 370. 400.
Mutzl I 226.
Mylius II 387. 400. 490.
Mythologie, Entstehung aus den Tropen
I 150.
Mythus II 246.
Nadler I 113.
Naives I 89.
Nänie II 152.
Nathusius II 369. 400.
Naubert II 400.
Naumann II 545.
Neander I 337.
Negation I 208.
[565]Nennersdorf II 370.
Nentwig II 387.
Neologismus I 113.
Nesmüller II 488.
Nestroy II 486. 487. 492. 498. 513.
Neubeck II 21.
Neuburger I 658.
Neuffer II 235. 239.
Neumann II 144. 387. 412. 499. 512.
Neumark II 130.
Neumeister II 131. 388.
Nibelungenepos I 44. II 289.
Nibelungenstrophe I 601.
─ Anwendung derselben in der Neuzeit
I 603.
─ neue I 640.
Nibelungenvers, der neue I 317.
Nibelungenvers, der geteilte neue I 318.
Nibelungen, der Ring des I 415.
Nicolai I 325. II 130. 321. 511. 512.
Niederhöffer II 245.
Niemann II 370.
Niemeyer II 131. 171.
Niendorf II 68. 400.
Nieritz II 367. 375.
Niggeler I 661. II 138.
Nissel II 452. 482. 490.
Nithart I 612. 647.
Nitzsch II 285.
Noe II 400.
Norden II 387.
Notter II 475.
Novalis I 328. 640. 681. II 124. 131.
144. 151. 178. 399.
Novelle, der Reim in derselben I 459.
─ die II 386.
─ Anforderung an dieselbe II 390.
─ charakteristische Stilproben II 491.
Nürnberg II 497. 513.
Nürnberger II 332.
Nutzhorn II 285.
Objective Poesie II 1.
Ode I 459. II 134.
Offenbach II 512.
Öhlenschläger I 560. II 262.
Ohorn I 582. II 375.
Oktave, die I 550.
Oktavenkranz I 593.
Ölbermann I 656. 681.
Oldenburg II 458.
Ölfers II 400.
Olivier II 387.
Ölkers II 399.
Ölschläger, H. I 682. II 367.
Onomatopöie I 202.
Oper, die, Begriffliches II 508.
─ die große Oper II 509.
─ die komische Oper II 510.
─ Entstehung und Geschichte derselben
II 513.
─ die erste deutsche II 517.
─ R. Wagner u. d. Oper, siehe Wagner.
Operette, die II 511.
Opitz, M., dessen Poeterei I 4.
─ über d. Gebrauch guter Epitheta I 138.
─ Betonungsprinzip I 231.
─ über Strophen I 490.
Opitz I 112. 228. 315. 710. 725. II
151. 517.
Oer I 461. II 244.
Oratorium, das II 541.
Oratorium der Neuzeit, Analysen II 543.
─ weltliche II 545.
Orientalische Formen I 584.
Orpheus II 153.
Ortlepp II 459.
Ortnit I 44.
Oser I 659. 744.
Oskar II., König von Schweden I 617.
652. II 97.
Osterwald I 658. II 337.
Otfried, dessen Metrik I 221. 476.
─ dessen Strophe I 492.
─ dessen Vollreim I 476 und sein Unterschied
von unserm I 479.
─ Evangelienharmonie, bez. des Accentes
I 222.
─ I 43. 402. 413. 423. 454. 600. II
399.
Öttinger II 369.
Otto I 139.
Otto-Peters I 656. 682. II 370. 371.
399. 400. 401.
Overbeck I 435. 455.
Oxymoron I 197.
Paalzow II 401.
Paar, Mathilde II 499.
Pachler, Faust II 121. 123. 367. 480.
Pacuvius II 458.
Palestrina, Vollender des Kirchenmusikstils
II 539.
Palindrom II 183.
Palleske I 8. 258. II 501.
─ über Vortragskunst in großen Räumen
I 255.
─ über Jordans episch. Vers der Germanen
I 259.
Paoli, Betty I 327. 503. 642. 658. II 151.
[566]Päon I 302.
Pape II 501.
Parabel II 167.
Paradoxon I 198.
Parallelismus II 194. 392.
Paramythie II 171.
Parenthese I 212.
Parisius II 401.
Parodie II 193.
Parzival I 46. II 306.
Pasque II 368. 501.
Passion II 536.
Paul II 406.
Paulsen II 474.
Paumgartten, v. II 421. 501.
Pause, rhythmische I 270.
Pegnitzschäfer I 510.
Peiwasch-Parneh, Volksepos d. Lappen
II 283. 297. 298.
Pentameter I 357.
Percy II 75. 97.
Pergolese II 511. 516.
Peri II 514.
Perinot II 489.
Peripetie im Drama II 45.
Perl II 401.
Perrault II 261.
Perron II 501.
Persische Vierzeile I 584. 643.
Personifikationen I 169.
Pessimistenbrevier II 428.
Peter v. Staufenberg I 48.
Petöfi II 156.
Petrarka II 139.
Petri I 7.
Petrik II 501.
Pfarrius I 211. 739. 741. II 387. 401.
Pfeffel II 88. 175. 207. 215. 253.
Pfinzing, Melchior II 178.
Pfitzer G. I 504. II 67. 273.
Pflug II 387.
Phädrus (Fabeldichter) II 165.
Phaläkische Strophe I 524.
Phaläkischer Vers I 339.
Pherekratischer Vers I 340.
Pherekratische Strophe I 523.
Philippson II 387. 400.
Phöbus I 108.
Pichler, A. II 107. 401. 501.
Pichler, Karoline II 235. 253.
Piening II 401.
Pindars Gesänge I 528.
Pindar II 119.
Pinkerton II 97.
Pinzgauer I 672. II 76.
Pirazzi, Emil II 474.
Planché II 528.
Pläschke II 107.
Platen I 117. 210. 320. 323. 325. 327.
329. 331. 332. 341. 342. 344. 359.
423. 428. 430. 431. 435. 464. 465.
489. 500. 512. 567. 578. 580. 585.
634. 639. 647. 661. 679. 757. II 15.
420. 455. 481. 489.
Platens antikisierende Strophe I 525.
Platon I 160. 162. II. 63.
─, über das Schöne I 75. 78.
Platon, Phädrus I 78.
─, Epos und Tragödie II 7.
Plautus II 494.
Pleonasmus I 108.
Plönnies I 551. 682. II 262. 273. 325.
501.
Plotin I 3.
Pocci I 429. II 501.
Poesie, Schwesterkünste ders. im Verhältnis
dazu I 13.
─ schöne Form und schöner Jnhalt I 12.
─ und Prosa I 16.
─ Ursprung und Alter I 18.
─ die ersten Gesänge I 18.
─ Jordans Ansicht über Entstehung I
22.
─ Etymologisches üb. den Namen I 24.
─ ihre Stoffe I 39.
─ ihre Sprache I 107.
─ melische II 11.
Poet, siehe Dichter.
Poetik, Wesen derselben I 1.
─ als Bedürfnis I 2.
─ Geschichte ders. bis Schiller u. Goethe
I 3.
─ Geschichte ders. bis in die Gegenwart
I 6.
─ des M. Opitz I 4.
─ das Verhältnis der Künste zu derselben
I 8.
─ Gegenstand ders. I 10.
─ Einführung ins Stoffliche I 42.
Poetische Erzählung II 228.
Poggel I 7.
Pohl, E. II 488.
Pohl, Richard II 68. 501.
Pölitz II 536.
Polko II 401.
Pollak II 387.
Polyptoton I 189.
Polysyndeton I 184.
Ponholzer II 501.
Ponsard II 501.
[567]Ponte II 501.
Pope 139. 207. 225. 536.
Porphyrius II 268.
Posse, Lokalp., Zauberp. II 485.
Präsensfigur I 210.
Prechtler II 421.
Prel, Karl du I 8. II 18.
Presber II 401.
Priamel II 207.
Priapischer Vers I 341.
Pröhl II 401.
Pröhle, H. I 656. 669. II 97. 501.
Prokeleusmatikus I 301
Prometheus-Mythus II 450.
Proömium II 278.
Proportionalität (goldner Schnitt) I 84.
Prosa und Poesie I 16.
Prosodik I 215.
─ deutsche, im Gegensatz z. altklassischen
I 216.
─ Prinzip, das ursprüngl. deutsche I 231.
─ Grundgesetz unserer gegenwärtigen
I 233.
─ Tongrade I 234.
─ Geist der accentuierenden I 257.
Provençalen II 65. 66.
Provençalisch=italien. Formen I 531.
Provinzialismus I 113. 136.
Prutz I 112. 273. 311. 331. 401. 479.
481. 659. 681. 683. II 22. 68. 102.
112. 273. 401. 479. 481.
Psalm II 533.
Puschkin I 734. II 230.
Püttmann II 140.
Pyrrhichius I 300.
Quantität und Accent I 221. 225. 228.
232. 253. 303. 469.
Quantitätsprinzip, Konsequenzen daraus
I 256.
Quantitierende Tonmessung I 217.
Quellen unserer Poetik I 6.
Quinar I 311.
Raabe II 401.
Rabener I 199. II 195.
Rachel, J., Anforderung an den Dichter
I 33.
─ Schöpfer der Satire II 190.
Raeder II 486. 487.
Raimund II 375. 401. 486. 487. 498.
Ramajana, ind. Epos II 285.
Rambach I 707. II 131. 504.
Ramler I 340. II 139. 140. 150. 166.
504. 536.
Rank II 401.
Raphael II 381.
Rapp II 468.
Rappaport II 325.
Raßmann I 578. II 218.
Rätsel II 179.
Rau II 401. 481.
Raupach II 412. 421. 432. 452. 467.
498.
Rauscher I 669.
Raven II 401.
Realismus in der Poesie I 140.
Rebenstock II 337.
Reche II 499.
Redwitz I 309. 533. 538. 664. 742. II
107. 112. 131. 258. 366. 474.
Redwitz Amaranth II 320.
Refrain I 438. 500.
─ Goethe, Uhland, Rückert &c. 445 ff.
─ Goethescher 483.
Rehfues II 372.
Reichenau II 399. 401.
Reichenbach II 387.
Reichhardt II 506.
Reid II 387.
Reihen, rhythmische I 268. 287.
─ Komposition aller möglichen I 272.
─ längere jambische und trochäische,
deren Schreibweise I 324.
Reim, Grundbegriffe, I 388.
─ Entstehungsgeschichte I 390.
─ Naturnotwendigkeit f. d. Wohlklang
I 392.
─ als Charakteristikum unserer Dichtersprache
I 392.
─ seine Einteilung I 394.
─ der Vollreim I 424.
─ der Vollreim s. Arten I 425.
─ Architektonik I 461.
─ Anforderung an ihn I 463.
─ Reinheit I 463. 464.
─ Unreinheit I 463.
─ Grenze der Zulässigkeit unreiner
Reime I 465.
─ Entwickelungsgeschichte des Vollreims
I 475.
─ mittelhochdtsch., und s. Weiterbildung
I 477.
─ seine Anwendungsfähigkeit I 458.
─ Vorzüge d. dtsch. gegenüber anderen
Sprachen I 486.
─ künstlicher für den Bau längerer
Strophen I 507.
Reimart, ihre Auswahl für den jeweiligen
Stoff I 460.
Reimwetzler I 394.
Reinfels II 387.
Reinhold I 538.
Reinick I 294. 456. 658. 681. 690. II
109. 123. 124.
Reinow II 401.
Reinwald II 401.
Reissiger II 519. 545.
Reizende, das I 92.
Religiöses Epos II 322.
Rellstab II 191. 371. 372. 373. 401.
Remy I 295. 661. II 107.
Requiem, das II 540.
Retcliffe II 364.
Retwisch II 400.
Reusch II. 245.
Reuter I 105. 106. 112. 113. 277. II
199. 354. 358. 359. 369. 386. 401.
Rhapsodie, epische II 231.
─ lyrische II 139.
Rheder II 499.
Rheinisch I 659.
Rheinthal II 545.
Rhode II 328.
Rhythmik I 215. 260.
─ vollkommenere I 258.
Rhythmus I 83. 264.
─ der große I 269.
─ u. Metrum I 262.
─ Prinzip des ursprüngl. deutsch. u. s.
Wandlg. I 266.
─ Rückkehr zu demselben I 267.
─ rhythmische Bewegung I 202.
─ rhythmische Malerei I 275.
─ rhythmische Pausen I 270.
─ rhythmische Reihe I 268.
─ rhythmischer Takt I 263.
Ribbeck II 424.
Richardson II 368.
Richter II 131. 171. 173.
Riecke I 504.
Riehl II 399.
Riese II 204.
Rieß II 545.
Riffert II 499.
Rigis II 268.
Rinckart II 130.
Ring II 401.
Ringwaldt II 130.
Riotte II 401. 474.
Ritornelle I 545.
Ritter I 312 II 480.
Rittershaus I 139. 204. 323. 331. 544.
659. 682. 709. 742. II 68. 103.
107. 109. 151. 230. 273.
Röber II 528.
Robiano II 353.
Rochholz II 245.
Rochlitz II 131.
Rodenberg I 163. 187. 538. 681. II
104. 109. 235. 262. 371. 401. 412.
528.
Rodigast II 130.
Roffhack II 341.
Rogans II 399.
Rogge II 464.
Rolandslied vom Pfaffen Konrad II 313.
Rolle II 545.
Rollenhagens Froschmeuseler II 162.
190. 344.
Roller II 194.
Rollet II 112. 253.
Roman, Begriff, Verbreitung und Bedeutung
II 347.
─ Verhältnis z. Epos II 349.
─ Verhältnis z. Drama II 350.
─ dessen Stoff II 352.
─ dessen Jdee II 353.
─ dessen Bau II 356.
─ dessen Held II 356.
─ sonstige Charaktere II 359.
─ Stilproben II 375.
─ Charakteristisches in der Technik II
361.
─ Stilgesetze II 362.
─ Ästhetische Anforderungen II 364.
─ Grundlage des guten R. II 366.
─ Einteilung der Romane nach Jean
Paul II 367.
─ Einteilung nach Form und Jnhalt
II 367.
─ Einteilung in Tendenz- und Stoffroman
II 371.
─ unsere Einteilung II 372.
─ Charakteristische Stilproben aus:
Grimmelshausens Simplicissimus,
Wielands Agathon, Kellers grüner
Heinrich. II 376.
─ zur Geschichte u. Litteratur desselben
II 381.
Romantische, das I 88.
Romantisches Lustspiel II 482.
Romantische Poesie II 6.
Romanze II 262. 264.
Rondeau, das I 581.
Roos II 184.
Roose II 245.
Roquette I 656. 658. 665. 681. 683.
702. 726. 745. II 63. 68. 107. 109.
262. 337. 401. 452. 464.
Rosegger I 55. II 375. 400.
Rosen II 375. 401. 485.
Rosenkranz I 6. 77.
Rosenthal-Bonin II 352. 362. 364. 370.
389. 401. 409.
Roskowska II 387.
Rossini II 509. 511.
Rost II 464.
Rothenburg II 401.
Rothenfels II 387.
Rotth I 5.
Rubay I 585.
Rubel II 131.
Rubinstein II 545.
Rückert I 12. 15. 17. 19. 39. 52. 56. 73.
89. 93. 113. 124. 130. 137. 145 153.
159. 160. 170. 180─90. 192. 195.
198. 204. 207. 212. 232. 236. 251.
268. 271. 277. 288. 294. 298. 305.
310. 311. 315. 319. 321. 330. 332.
337. 340. 346. 348. 354. 358. 373.
374. 377. 380. 384. 387. 390. 399.
405. 409. 420. 423. 428. 430. 437.
445. 447. 449. 455. 462. 465. 469.
470. 473. 500. 512. 514. 533. 537.
543. 545. 548. 558. 564─66. 575.
─77. 583. 586. 587. 596. 603. 609.
617. 634. 638. 641. 642. 645─58.
665─72. 676. 680. 684. 686. 688.
690. 691. 693. 696. 697. 698. 707.
712. 715. 717. 719. 720─40. 742.
746. 748. 749. 751. 756. 760. 763.
II 13. 14. 19. 64. 100. 103. 107
109. 111. 113. 116. 119. 120. 121.
124. 131. 139. 142. 144. 145. 146.
148. 167. 169. 172. 175. 178. 184.
185. 191. 195. 200. 203. 206. 210.
213. 219. 221. 222. 226. 234. 235.
239. 243. 249. 252. 253. 258. 366.
408. 468. 479.
─ über den Begriff: Dichter I 26.
─ als Sprachbildner I 117.
─ dessen antike Strophen. I 529.
─ Begründer d. didaktischen Poesie II 20.
Rückerts Kaiser Heinrich IV. II 416.
Rückerts Rostem und Suhrab II 331.
Rückerts Makamen I 590. 593.
Rudolf II 499.
Rüffer II 387.
Ruge I 77.
Ruhnken II 321.
Rümelin über die Katharsis II 424.
Rumohr II 347.
Runge I 320.
Ruppius II 370. 401.
Rustige II 478.
Rutenberg II 401.
Saar II 370.
Sacher Masoch II 255. 359. 363. 399.
467.
Sachs I 375. 427. II 130. 477.
Sachse II 131.
Sage II 240. 256.
Sakuntala II 468.
Sales II 375.
Salingré II 486. 487. 506
Salis I 337. 342. 642. 657. 681. II
112. 151. 239.
Sallet I 130. 279. II 21. 22. 64. 222.
224. 262.
Salomon II 401.
Salzbrunn II 401.
Samarow II 374.
Sand II 401.
Sanders I 395. 435. 646.
Sapphir II 188.
Sappho II 153. 191.
Sapphische Strophe I 519.
Sapphischer Vers I 341.
Sardou II 485.
Sardou's Dora II 469.
Sarkasmus I 200.
Satire II 185.
Satori II 401.
Satura (Ennius, Lucilius) II 185.
Saturnischer Vers II 277.
Sauer II 387.
Sauerländer II 402.
Savonarola II 484.
Scaliger I 4.
Scene und Scenenwechsel in d. dramat.
Dichtungen. II 51.
Schachzabelbuch I 47.
Schack I 344. 661. II 329. 349. 479.
495.
Schack v. Jgar II 387.
Schalk II 200.
Schall II 262. 375. 498.
Schalling II 130.
Schaltvers I 453.
Schambach II 245.
Schandein I 113.
Schanz, J. I 538.
Schaumberger II 232. 375.
Schauffert II 493.
Schauspiel, Allgemeines II 465.
─ Einteilung desselben II 466.
─ mit Musik II 507.
Schauspieler, ihre Aufgaben II 59.
[570]Schefer I 159. 664. 682. 720. 728. 733.
II 22. 212. 221. 253. 392 399.
Scheffel I 112. 126 172. 182. 185. 186.
191. 232. 233. 257. 268. 318. 320.
328. 343. 348. 363. 364. 369. 370.
371. 377. 378. 384. 453. 468. 469
484. 605. 658. II 67. 68. 78. 146.
199. 280. 322. 373. 376. 386. 401.
Scheffel, dessen Accentverse I 368.
─ dessen teutoburger Schlacht als Volkslied
II 114.
Scheffler I 51. 697. II 130. 212.
Scheibe II 388. 401.
Scheitlin II 375.
Schelling, über Philosophie der Kunst
I 77.
Schenk II 452.
Schenkel II 94. 95. 158.
Schenkendorf I 327. 515. 640. 685. 701.
II 88. 94. 104. 123.
Scherer I 132. 257. 658. 682. II 75.
97. 139. 151.
Scherenberg, Chr. I 259. 311. 634. 649.
687. II 68. 107.
Scherenbergs Epen II 335.
Scherr II 157.
Scheurlin I 690. 699. 757. II 399.
Schicht II 545.
Schiebeler II 217. 272.
Schiefner II 293.
Schiff II 368.
Schilcher II 469.
Schiller, über den Begriff: Dichter I 26.
─ über dichterische Behandlungsweise I
40.
─ über den Jdealismus I 141.
─ dessen Accentverse I 367.
─ Begründer einer echt didakt. Poesie
II 20.
─ Modernität des Stoffes II 303.
─ dessen gereimte Griechenstrophe I
526.
─ dessen Oktaven I 553.
─ über die poetisch=rhythmische Sprache
II 433.
Schillers Lied von der Glocke. Höhere
Stropheneinheit I 515.
─ Wallenstein. Technik desselben II 439.
─ Fiesko, Analyse II 462.
─ Kabale und Liebe, Analyse II 462.
─ Maria Stuart, Analyse II 462.
─ Jungfrau v. Orleans, Braut von
Messina, Analyse II 463.
─ die Räuber, Analyse II 472.
─ Tell, Analyse II 472.
Schiller I 10. 12. 17. 39. 52. 56. 57. 66.
86. 90. 93. 109. 117. 129. 130 134.
137. 154. 160. 162. 164. 166. 174.
182. 185. 191. 193. 197. 200─232.
257. 268. 270. 277. 281. 299. 306.
312. 321. 336. 337. 343. 347. 354.
356. 362. 364. 366. 368. 371. 373
376. 377. 410. 423. 431. 457. 472.
514. 525. 529. 538. 551. 555. 638.
655. 656. 657. 658. 666. 694. 710.
713. 725. 757. 763. II 2. 87. 88.
100. 112. 139. 140. 144. 145. 146.
151. 152. 171. 173. 175. 178. 179.
191. 200. 203. 206. 210. 231. 236.
239. 249. 263. 268. 376. 392. 409.
432. 451. 452. 466. 467. 484. 498.
Schindel I 546.
Schirmer II 370.
Schlägel, Max v. I 387. 401. 499.
Schlagreim I 456.
Schlegel Fr. I 421. 422. 436. 365. 566.
582. 657. 668. 702. 712. 733. II
125. 131. 191. 249. 253. 268. 407.
─ über den Sloka I 597.
Schlegel, A. W. I 6. 124. 279. 322.
327. 357. 437. 468. 543. 551. 560.
566. 576. 657. 668. 681.
─ über die Tragödie II 422.
Schleich II 475. 486.
Schleiermacher I 6.
Schlencker II 401.
Schlesinger II 337. 412. 490. 499.
Schlieben II 352. 401.
Schlönbach I 503. II 22. 63. 226. 336.
401.
Schlossar I 97. 682.
Schmeling II 370.
Schmid, Herm. I 213. 214. 647. II 375.
400.
Schmid, Christoph II 253.
Schmidt-Cabanis I 105. 189. 667. 668.
II 113. 191. 399. 492. 499. 445.
Schmidt, A. II 64. 401.
Schmidt, Heinrich I 254. II 456.
Schmidt, Elise II 452.
Schmidt, Klamer I 578. 581.
Schmidt, Julian II 390.
Schmidt v. Lübeck I 334 335. 657. 710.
II 47.
Schmidt-Weißenfels I 68.
Schmithoff II 488.
Schmitz II 245.
Schmolke II 131.
Schnaderhüpfln I 385.
Schneckenburger II 102.
[571]Schneegans I 196. 211. 372. II 68. 474.
Schneider II 488. 545.
Schneittheiner II 236.
Schneller II 245.
Schnepper II 207.
Schnezler I 685 II 244. 260.
Scholz II 519.
Schönaich, C. O. v. II 336.
─ Prinz E. zu II 392.
Schöne, das I 12. 78.
─ Erkenntnis des Sch. I 82.
─ Proportionalität I 84.
─ Charakteristisches I 86.
─ Schaffen des Sch. I 90.
─ Gegensätze des Schönen (Häßliches,
Furchtbares, Grausiges) I 91.
─ Erscheinungsformen (Lachbares, Reizendes,
Erhabenes u. s. Unterarten),
Komisches I 106.
─ bei Bildung u. Gebrauch der Wörter
I 116.
─ (siehe Unschöne).
Schöner II 131.
Schönfeld, P. I 300. 520. 521. 522.
617.
Schönhardt I 213.
Schönstein II 492.
Schönwerth II 245.
Schopenhauer II 401. 455.
─ über den Reim I 485.
─ über die Tragödie II 421. 452.
─ über poetische Gerechtigkeit II 429.
─ der tragische Held der christlichen
Anschauung II 436.
Schöpf II 375.
Schoppe II 401.
Schöppner II 244.
Schrader II 253. 370.
Schreiber II 219. 401. 484.
Schreyer II 474.
Schreyvogel II 478.
Schröder II 107. 342. 484.
Schröer II 209.
Schubart I 98. 440. 649. II 131. 139.
144. 146. 236. 253.
Schubert II 387.
Schücking II 361. 370. 387. 400. 499.
Schuhmann II 323.
Schuller II 245.
Schultes, K. I 660.
Schults I 125 II 68. 131. 337.
Schulze I 507. 552. 578. II 63. 144.
151. 178. 215.
Schulzes Cäcilie II 317.
─ bezauberte Rose II 318.
Schumann I 593. II 504. 545.
Schuster II 512.
Schütt II 488.
Schütz II 195 517. 536. 592.
Schütze II 401.
Schwab I 33. 163. 175. 455. 634. 659.
667. 681. II 67. 112. 155. 236.
249. 253. 262. 273.
Schwank II 485. 487.
Schwartz II 401 554.
Schwarz II 245. 387. 401.
Schweichel II 388.
Schwerin II 401.
Scott, W., dessen poetische Malerei I 14.
Scribe II 480. 483. 485.
Seeger I 751.
Seguidilla I 575.
Seidel II 387. 401.
Seidl I 113. 656. 658. 682. 757. II
77. 142. 151. 175. 273. 325. 498.
536.
Seiffert II 113.
Seifriz II 508. 545.
Selnecker II 130.
Senar, der neue I 320.
Senoa II 401.
Sentenz I 209.
Sequenzen I 619.
Sestine I 547.
Seuffer I 112.
Seume II 230.
Seyd, W. I 8.
Shakespeare I 190. II 48. 466.
Shakespeares Hamlet als Beispiel des
Baues eines Dramas II 49.
─ Romeo und Julia Analyse II 460.
─ Hamlet Analyse II 460.
─ Lear. Analyse II 460.
Sheridan II 484.
Siciliane, die I 556.
Sicilianenform I 683.
Siebel I 694. II 121.
Siebenlist II 199. 422. 424. 429. 430.
431. 434. 436.
─ über Schopenhauers Ansprüche, die
Tragödie betreffend II 452. 453.
Siegen II 498.
Sigismund II 68.
Silben, Bedeutung, Zusammensetzung
I 240.
Silbensystem, deutsches I 244. 246.
Silbenzählungsverse I 370.
Silberstein A. I 682. II 388. 400.
Silbert II 253.
Silesius I 51.
[572]Simon I 689.
Simrock I 8. 75. 385. 398. 400. 409.
411. 674. 682. II 76. 85. 91. 95.
97. 104. 244. 245. 253. 262. 273.
322.
Singen, Sänger (Begabung u. Schulung
zum Beruf) I 25.
Singspiel (Vaudeville) II 505.
Sinnbild II 174.
Sinngedicht II 203.
Sivers I 656.
Skansion, skandieren I 291.
Skazon I 321.
Skolion II 118.
Sloka, der I 596.
Smets I 578 II 218. 249. 536.
Snieders II 375.
Solger I 6. II 458.
Solitaire I 683. 401.
Soltau I 698. 714. II 94. 97.
Sommer II 195. 245.
Sondermann II 370.
Sondershausen, K. I 701.
Sonett I 531.
─ Geschichtliches I 535.
Sonettenkranz I 540.
Sonnenberg II 151.
Sonnenburg II 387.
Sonnenschmidt I 757.
Sonntag II 488.
Souchay I 326. 531. 540. 761.
Spanische Formen I 565.
Späth II 533. 545.
Spee I 4. 640. II 130.
Spengler I 710. II 130.
Spenserstanze I 555.
Spielberg II 368.
Spielhagen II 68. 348. 353. 354. 355.
358. 363. 364. 365. 368. 370. 371.
374. 401. 466. 473. 499. 573.
Spieß II 370.
Spindler II 399.
Spitta I 671. 685. II 68. 125. 131.
144. 354. 371.
Spondeus I 299.
Spondeen, damit gemischte Verse I 348.
Spontini II 516.
Sprache, die poetische I 107.
Sprechton I 234.
Sprichwort II 163.
Springer II 370.
Spruchgedicht II 211.
Stabreim (s. Allitteration) I 394.
Stadelmann I 460.
Staden II 519.
Stägemann II 104.
Stahl II 375. 401.
Stanze, die I 550.
Starke II 486.
Stavenow II 399.
Steffens II 245. 370. 389.
Steger II 325.
Steigentesch II 475. 498.
Stein II 307. 401.
Stein-Kochberg II 484.
Stelter, Karl II 228. 230. 244. 258.
268.
Steltzig, II 388.
Stelzhammer I 55.
Stengel II 370. 400.
Stern, Ad. II 68. 107. 325. 371. 399.
387.
Sternberg II 399. 401.
Stettenheim II 487.
Steub II 401.
Stichomythie I 196.
Stichos (griechische Verszeile) I 295.
Stieglitz, Nik II 475.
Stiel II 17.
Stier II 245.
Stifft II 387.
Stifter II 401.
Stil, der I 86.
─ im allgemeinen II 16.
Stinde II 499.
Stix II 488. 490.
Stöber I 364. 656. 658. 659. 682.
II 123. 125. 245. 367.
Stöckhardt II 510.
Stoffe, dichterische I 39.
─ Einteilung in der Poesie nach Stoff
und Form II 7.
Stolberg I 520. II 77. 108. 131. 139.
144. 151. 191. 239. 268.
Stolle I 659. II 401.
Stollen I 400.
Stolterfoth II 107. 245. 262.
Stoltze I 55. II 401. 486.
Storch II 401.
Storck I 559. 562. II 107. 109. 113.
117. 121. 131. 139. 230. 412. 500.
536.
Storm, Th. I 55. 546. II 68. 151.
401.
Strachwitz I 586. 662. 682. 694. 704.
725. 763. II 102. 104. 268.
Strackerjan II 245.
Straß, H. II 87. 98.
Strauß I 328. 682. II 68. 131. 151. 401.
Strecker I 47.
[573]Strodtmann I 295. 647. 681. II 63.
81. 104.
Strophen, Alter derselben I 489.
─ Analogie derselben I 493.
─ Bau derselben I 497.
─ Jnhaltsabgrenzung I 498.
─ symmetrische und unsymmetrische I
509.
─ Doppelstrophen I 513.
─ Einteilung der Strophen I 517.
─ antike und antikisierende I 517. 518.
524.
─ über Verwendbarkeit und Reim I 257.
─ deutschnationale der Gegenwart I 633.
─ althochdeutsche und mittelhochdeutsche
I 599.
─ Nibelungenstrophe I 601.
─ Gudrunstrophe I 607.
─ der Minnesinger I 608. s. unter Ton.
─ Strophenglieder I 512.
─ Strophenbau, Gesetz der Dreiteiligkeit
im mittelhochdeutschen I 614.
─ Strophenbau, Dreiteiligkeit b. neueren
Dichtern I 616.
─ strophisches Charakteristikum I 499,
als: Zeilenverschiedenheit I 500, Reimverschiedenheit
I 503; Wechsel im Tongrad
I 504; Wechsel des Reimvokals I
504; Wechsel des Rhythmus I 504;
Abwechslung der Kola I 507.
Stubenbrock II 488.
Studenmund II 245.
Stuhlmann II 407.
Sturm, Christ. II 131.
Sturm, Jul. I 277. 634. 656. 658. 710.
711. II 63. 68. 107. 109. 121. 124.
131. 139. 167. 230. 253. 273.
Stutz I 55.
Subjektive Poesie II 1.
Sulzer I 6.
Süß II 97.
Symploke I 190.
Synekdoche I 167.
Takt, rhythmischer I 263.
─ Verstakt I 284. 285.
─ Satztakt I 284. 285.
Tarnow II 387. 491.
Tassos befreites Jerusalem II 333.
Taubert II 511.
Taura II 400.
Tautologie I 108.
Tegner I 404.
Tellkampf II 328.
Telmann II 401.
Temme II 399.
Tempeltey I 195. 288. II 239. 484.
Tenelli II 478.
Tenger II 400. 401.
Tenzone I 571.
─ Uhland-Rückerts I 572.
Tersteegen II 130.
Terzine I 543.
─ falsche I 637.
Tetrameter I 360.
Tettau I 20. II 242.
Teuscher II 321.
Thalhaus II 370.
Tharau II 401.
Theater, das erste stehende II 471.
Theile II 518.
Thesis I 215.
Thetische Behandlung v. Tonsilben I 237.
Thiele II 245.
Thiersch I 7.
Thill I 753.
Thomas II 464. 484.
Thümmel II 215. 341.
Tieck, Stilprobe für die Novelle aus
dessen Zauberschloß II 392.
─ über dramat. Gedicht II 414.
─ I 6. 193. 328. 423. 436. 437. 565.
567. 640. 727. 752. 755. 763. II 109.
112. 123. 146. 151. 178. 249. 253.
262. 374. 391. 392. 414. 420. 473.
476. 481. 482. 498.
Tiedge I 578. 693. 756. 763. II 21.
151. 166. 210. 215. 223. 239. 536.
Tierepos II 342.
Tierkomödie II 488.
Tirade I 108.
Titurelstrophe, alte I 648.
─ neue I 669. II 308.
Tobler II 337.
Told II 487.
Ton, Sprechton I 243.
Tongrade I 234.
Tonmessung I 216 (s. Prosodik).
Tonstärke, Prinzipien u. Ursachen I 240.
Tonsilben, thetische Behandlung der I 237.
─ arsische Behandlung I 238.
Ton (Strophenbau) der Minnesinger:
─ Titurelton I 609.
─ Marners Ton I 610.
─ Frauenehrenton I 610.
─ Abgespitzter Ton I 611.
─ Boppes Ton I 611.
─ Guldenton I 612.
─ Frauenlobs Ton I 612.
─ Liechtensteins Tanzweise I 612.
[574]Ton, Eine Reihe Nitharts I 612.
─ Hildebrandston I 613.
─ Bernerton I 614.
Töpfer II 498.
Trabnitz II 488.
Träger I 266. 658. 682. II 68. 107.
273.
Tragödie II 421.
─ deren Held II 425.
─ die poetische Gerechtigkeit II 428.
─ Eigenartiges in der Technik II 431.
─ die griechische im Vergleich mit der
unsrigen II 434.
─ ihre Fabel II 435.
─ die Technik der Tragödie II 439.
─ ihre Benennung und Einteilung II
449.
─ Litteratur und Entwickelung, Chor
II 456.
Tragödie, altklassische II 450.
philosophische II 451.
heroische II 451.
bürgerliche II 452.
Schicksalstragödie II 454.
Tragische Schuld, im Gegensatz zur
ethischen I 101.
Trauerspiel, s. Tragödie.
Traun, v. d. II 401.
Trautmann II 487.
Travestie II 191.
Trebitz II 400.
Treumann II 492.
Tribrachys I 301.
Trimeter I 321.
Triolet I 578.
Tristan und Jsold II 308.
Trochäus I 297.
─ spanischer I 327.
─ serbischer I 329.
Trochäische Kompositionen I 273.
Trochäische Verse I 324 ff.
Trochäisch=daktylische Verse I 339.
Trochäisch=jambische Verse I 332.
Tromlitz II 399.
Tropen (Bilder) I 147 ff. 152.
─ ihre Gesetze I 178.
Tschabuschnigg II 401.
Tucher, v. II 531.
Übergangsformen in den Gattungen der
Poesie II 62.
Überhorst II 337.
Übersichtstafel sämtlicher poetischer Formen
II 68.
Üchtritz II 401.
Uhland I 117. 127. 165. 296. 298. 309.
310. 311. 317. 319. 320. 345. 348.
373. 375. 407. 422. 423. 427. 435.
446. 455. 551. 565. 572. 576. 635.
638. 643. 648. 649. 658. 669. 670.
681. 687. 693. 712. 725. 753. II 3.
11. 63. 67. 77. 83. 100. 102. 109.
112. 122. 123. 151. 178. 191. 195.
244. 245. 253. 262. 266. 268. 273.
341. 410. 420.
─ über die wissenschaftliche Erkenntnis
des Dichters I 33.
Uhlig II 63.
Ulfilas Bibelübersetzung I 42.
Ullmayer II 512.
Ulrich II 22.
Umbreit II 531.
Ungern-Sternberg II 374.
Unschöne, das I 130.
Usteri II 83. 117.
Utz I 315. 353. II 22. 131. 133. 136.
139. 144. 213.
Vacano II 370. 375. 401.
Vaudeville II 505.
Vega, Lope de, König Wamba II 468.
Velde, v. d. II 353. 373.
Veldekes Vollreim, Ende 12. Jahrh. I 476.
Veldeke I 475. 476. 478. 646.
Veltheim II 387.
Vely II 387.
Verdi II 515. 541.
Verdi, Regenerator der ital. Oper II
515.
Verena II 387.
Vergils Äneis II 332.
Vernaleken II 244.
Vers, Verslehre I 282.
─ Versbau I 294.
─ seine Elemente I 296.
─ griech.=römischer I 300.
─ Verszeile I 293.
─ Versnamen, ob Übertragung der
griechischen I 296.
─ Verseinteilung I 306.
─ Versarten, freie (Accentverse) I 361.
─ Blankvers I 311.
─ Verse, deutsche, Klassifikation derselben
nach dem Schlußmetrum I 305.
─ die verschiedenen, siehe unter ihrer
speziellen Benennung.
Vetter I 403.
Vida I 3.
Viehoff, über die ital. Stanze I 554.
─ I 7. 582. II 107.
[575]Vierzeile, die I 564.
─ persische I 584. 643.
Vilmar I 8. II 76.
Vincke II 107. 245. 499.
Vischer, Fr., über die Katachresis I 179.
─ Einteilung der lyrischen Poesie II 71.
─ über die Fabel II 160.
─ über Schicksalstragödie II 454.
─ über eine nationale Oper II 521.
─ I 7. 75. 77. 94. 102. 157. 199.
Voget II 474.
Vogl I 55. 307. II 253. 273.
Volger II 488.
Volksepen s. Epos.
Volkslied II 73.
─ Begriff, Charakter und Dichter desselben
II 73.
─ als Beweis poetisch=schöpferischer
Volkskraft II 78.
─ als Naturpoesie II 81.
─ Geheimnisse in der Bildung desselben
II 82.
─ Wanderungen durch s. geograph. Bezirke
II 94.
─ das geistliche V. II 95.
─ Geschichte und Litteratur II 96.
─ das, in den letzten Decennien II 98.
Volkslieder und volkstümliche Kunstlieder
II 87.
Volkspoesie II 2.
Volksverse (Knüttelverse) I 382.
Vollmer II 387.
Vonbum II 245.
Vorhauch s. Jordan.
Voß, über das Quantitätsprinzip I 229.
Voß, Luise II 325.
Voß, J. H. v. I 7. 124. 228. 304. 321.
333 341. 359. 429. 454. 470. 473.
576. 659. 667. 669. 670. 672. 710.
II 24. 131. 139. 145. 146. 154. 171.
195. 207. 235. 325. 458.
Voß, Jul. v. II 486.
─ Rich. II 475.
Vulpius II 370.
Wachenhusen II 364. 370. 401. 485.
Wachsmann II 401.
Wacht I 313. 416. II 474. 499.
Wackernagel, Phil., dessen Nibelungenstrophe
I 317.
Wackernagel, Wilh. I 8. 354. 359. 667.
II 96. 125. 131.
─ über die Leiche I 620.
Wagner, E. II 399.
Wagner, R., als Repräsentant der Musik
im Verhältnis zu verwandten Künsten
(Dichtkunst, Malerei) I 35.
Wagner, R., sein Verdienst um die
Hebungsverse I 381. 415.
─ dessen Ring des Nibelungen I 122.
─ seine Opernreform II 520.
─ seine Tetralogie II 524.
─ seine Stilcharaktere II 525.
─ seine Leitmotive II 526.
─ Schöpfer eines deutsch=nationalen
Musikdrama II 520.
─ I 8. 107. 121. 124. 132. 382. 400.
412. II 58. 67. 510. 516. 519. 522. 533.
Waiblinger II 230. 401.
Waldau, M. I 183. 189. 309. 560. 682.
II 68. 244. 322. 401.
Waldmann II 499.
Waldmüller II 107. 230. 373. 401. 464.
474. 499.
Waldow II 371. 491.
Walesrode II 369.
Wallo II 195.
Walter I 693. 694. II 89.
Walthari-Lied I 43.
Walther II 387.
Wander II 212.
Wangemann II 545.
Wangenheim I 322. II 401.
Wartenburg II 370.
Weber, K. M., Schöpfer der romant.
Oper II 520.
Weber II 81. 244. 322. 388.
Wechßler II 480. 499.
Weckherlin I 531. 690. II 139.
Wegener I 661.
Wehl, F. v. I 658. II 107. 400. 401.
412. 421. 464. 488. 498.
Weichselbaumer II 475.
Weidmann II 341.
Weil II 262.
Weilen I 658. II 474.
Weill II 400.
Weinzierl, Stilprobe für die Novelle aus
„Durch Freud und Leid“ II 396. 399.
401.
Weirauch II 486. 507.
Weise II 370.
Weiß I 331. II 130.
Weißbrodt II 325.
Weiße, Chr. F. I 5. 311. 328. 473.
II 487. 498.
Weiße, Herm. I 6.
Weißer II 206.
Welcker, über das Märchen II 257.
Weller II 387.
[576]Welten I 634. 690. II 499.
Wendt I 557. II 274. 474.
Wens I 538.
Wenzig II 211.
Werner II 375. 420. 452. 454.
Wernick I 578.
Werther II 474.
Wesenfeld II 467.
Wessobrunner Gebet I 43. 475.
West II 478.
Westphal, über den Vers (Stichos) I 295.
─ über die griechischen Versnamen I
296.
─ über jambische Verse I 297.
─ über d. deutsch. Hexameter I 356.
─ I 8 253. 352. 476. 515. II 388.
Wetzel II 249. 253.
Weyermüller II 131.
Whicky II 370.
Wichert II 370. 388. 464. 475. 484.
499.
Wickede II 370. 389. 400.
Wickenburg-Almasy I 426. 690.
Widdern II 387.
Widmann II 545.
Wieland I 54. 470. 507. 601. II 191.
195. 215. 218. 230. 262. 317. 321.
325. 341. 367. 368. 375. 399. 461.
Wieland'sche Oktaven I 552.
Wielands Oberon II 317.
Wieland, Stilprobe für den Roman aus
dessen Agathon II 377.
Wienbarg I 6.
Wiese I 509. II 258. 370.
Wießmann II 195.
Wigalois I 46.
Wigamur I 46.
Wilbrandt I 314. 372. II 68. 400. 458.
464. 500.
Wilcken II 375.
Wildenhahn II 399.
Wildermuth II 401.
Wilferth II 474. 499.
Wilhelm v. Oranse I 45.
Wilhelmi II 498.
Willatzen I 685.
Willkomm II 245. 371. 401.
Winckler II 107.
Windisch I 365.
Winkler I 163. 682. II 110. 181. 498.
Winsbecke I 47.
Winter II 401.
Winterfeld II 325. 400. 499 531.
Wintterlin II 480. 499.
Wirth II 325.
Wittmann II 401.
Wittstock II 227.
Witz I 103.
Woermann I 647.
Wohlfahrt II 499.
Wolf I 7. 130. 226. 308. 352. II 244.
245. 322. 341. 388. 401. 474. 499.
Wolfdietrich I 45.
Wolff I 694. II 97. 122. 528.
Woltersdorf II 131.
Wolzogen, v., Lautsymbolik I 121. II
401. 468.
Wortbildung und Gebrauch (bei Luther,
Fischart, Goethe, Heine, Platen, Rückert
I 116.
Wunderhorn I 437. 642. 650 653.
Wüstemann II 211.
Wyß II 235.
Xenien II 209.
Young II 499.
Zachariä II 151. 236.
Zahn II 531.
Zarnke über den Blankvers I 312.
Zedlitz I 327. 329. 420. 554. 560. II
102. 104. 262. 420. 459.
Zeise I 647. II 68. 104.
Zeising I 7. 77.
Zell II 412.
Zelle II 151.
Zelle, über d. deutsch. Hexameter I 355.
Zellner II 131.
Zesen I 51. 132. 434. 567.
Zettel II 230. 268. 337.
Zetter II 370.
Ziegler II 401. 499.
Ziehnert II 245.
Ziel II 634.
Ziemssen II 387. 401.
Zimmermann I 77. 635. 658.
Zingerle II 245. 262.
Zinzendorf II 131.
Zirklaere I 47.
Zistler II 387.
Zöllner II 244.
Zschokke II 370. 375. 399. 400.
Zumsteeg II 504.
Zwischenspiel II 512.
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- TextGrid Repository (2016). ePoetics_Beyer2. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7AB-6