1829, 25. August.
Mittag bei Goethe
Ein prächtiger Indian mit Trüffeln auf dem heutigen Mittagstische! Beinahe wie ein Symbol der Gespräche Goethes beim Essen. Auch der Gegenstand war darnach. David, dabei möglicherweise nichts denkend, erhob oder berührte vielmehr die Frage der nationalen Sympathien und Antipathien, indem er darlegte, welchen Einfluß die Dichtungen Byron's, Goethe's und Schiller's auf die gebildeten Classen in Frankreich hinsichtlich ihrer Anschauungen über die Engländer und Deutschen geübt hätten. Goethe sagte darauf freilich nichts derartiges, was das Blut und den Athem zum Stocken gebracht hätte, – was bei Adam's Reden häufig der Fall ist – aus allem aber, was er sprach, war ein so tiefer, durchgebildeter und klarer Geist zu spüren, daß man vom bloßen Anhören ganz bestimmt an Weisheit zunahm. Er wies nämlich nach, wie die angebornen [130] Verschiedenheiten der Begriffe und Gefühle, oder, besser gesagt, der Weise zu begreifen und zu fühlen, welche sowohl ganzen Stämmen, als einzelnen Menschen eigenthümlich und die Folge von Neigungen und Stolz, oder verkehrten Ansichten, oder leidenschaftlichen Überhebungen sind, sich mit der Zeit bei der blinden Menge zu unübersteiglichen Gränzen gestalten, welche die Menschheit so zertheilen, wie Gebirge oder Meere die Landschaften abgränzen. Daraus gehe nun für die Höhergebildeten und Besseren die Pflicht hervor, ebenso mildernd und versöhnend auf die Beziehungen der Völker einzuwirken, wie die Schifffahrt zu erleichtern, oder Wege über Gebirge zu bahnen. Der Freihandel der Begriffe und Gefühle steigere ebenso wie der Verkehr in Producten und Bodenerzeugnissen den Reichthum und das allgemeine Wohlsein der Menschheit. Daß das bisher nicht geschehen sei, liege an nichts anderem, als daran, daß die internationale Gemeinsamkeit keine festen moralischen Gesetze und Grundlagen habe, welche doch im Privatverkehre die unzähligen individuellen Verschiedenheiten zu mildern und in ein mehr oder minder harmonisches Ganze zu verschmelzen vermögen. Goethe gab freilich nicht an, woher diese Grundlagen und Gesetze kommen sollen, für mich aber war's klar, daß nirgends anderswoher, als aus dem Glauben – dem Glauben an einen gemeinsamen Vater im Himmel – und aus der Nächstenliebe auf Erden .....
[131] Aus diesem Gespräche entspann sich ein zweites, über die jetzige Lage der Welt und namentlich Europas. Goethe meint, daß unser neunzehntes Jahrhundert nicht einfach die Fortsetzung der früheren sei, sondern zum Anfang einer neuen Aera bestimmt scheine; denn solche große Begebenheiten, wie sie die Welt in seinen ersten Jahren erschütterten, könnten nicht ohne große, ihnen entsprechende Folgen bleiben, wenngleich diese wie das Getreide aus der Saat langsam wachsen und reifen. Goethe erwartet sie nicht früher, als im Herbste des Jahrhunderts, das ist: in seiner zweiten Hälfte, wenn nicht sogar erst in seinem letzten Viertel. Er behauptete dabei, die Vergangenheit zum Zeugen nehmend, daß alle großen weltgeschichtlichen Begebenheiten, alle großen Weltentdeckungen und Erfindungen, endlich die großen Männer meist nach der zweiten Hälfte, oder zum Schlusse eines Jahrhunderts gekommen wären. Goethe wurde in demselben Jahre und zwar einige Monate nach der Erfindung der Blitzableiter geboren. Es ist schwer anzunehmen, daß er, das sagend, sich selber als einen großen Mann bezeichnen wollte, im Gegentheil muß man eher zugeben, daß ihm so etwas gar nicht in den Sinn kam.
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