1827, 8. bis 18. September.
Mit Wilhelm Zahn
Nach dem ausdrücklichen Willen Goethes kam ich an den folgenden Tagen wieder, und jedesmal mußte ich nach dem Essen meine Zeichnungen zum besten geben. Als ich dies am vierten Tage unterließ, fragte Goethe: »Wo bleiben denn Ihre Bilder?« »Excellenz haben jetzt alles gesehen, was ich besitze, und bereits zu wiederholten Malen.« »Ach!« entgegnete er, »was man alle Tage sehen sollte, kann man doch wenigstens zwei- oder dreimal sehen;« worauf ich meine Mappe von neuem öffnen mußte.
An einem Tage, als ich wieder bei Goethe speiste, erschien eine Armbrustschützengilde, welche schon seit dreihundert Jahren in Weimar besteht, und lud die Excellenz, wie sie's alljährlich zu thun pflegte, feierlichst zu ihrem Feste ein. Goethe hatte diese Einladung bisher immer ausgeschlagen, aber diesmal nahm [208] er sie nach einigem Besinnen an, was allgemein überraschte. »Gut!« erklärte er: »werde kommen, aber Zahn muß mit.« Goethe war immer ein Glückskind; auch bei diesem Feste traf er mit der Armbrust das Centrum, worauf wir uns auf dem Schützenplatze zu einem brillanten Frühstück niedersetzten. Goethe war überaus heiter und lud zu einem solennen Diner ein. Eine große Gesellschaft war versammelt, und der edle Wein floß in Strömen. Mit innigem Behagen sah er einen nach dem andern matt werden und kläglich abfallen. Ihm allein konnte der Wein nichts anhaben. ....
[Folgen ein paar ganz unwahrscheinliche Geschichten über Goethes Trinken.]
Die schönsten Stunden, die ich mit Goethe verlebte, waren einige Abende, an denen wir ganz allein waren. Dann führte er mich in das Allerheiligste, in sein überaus schlicht meublirtes Arbeitszimmer, das aber eine gewählte Handbibliothek enthielt. Eine größere war in einem besonderen Saale aufgestellt. Dann sah ich den großen Mann auch im Schlafrock. Wir aßen kalten Braten, tranken dazu eine Flasche nach der andern und zuweilen wurde es Mitternacht und darüber, ehe Goethe mich entließ, obwohl er sonst zwischen 9 und 10 Uhr zu Bett zu gehen pflegte. Er war unerschöpflich in Fragen und wußte das Beste und Geheimste aus mir herauszulocken, sodaß ich oft über mich selbst in Verwunderung gerieth. In diesen kostbaren [209] Stunden versenkte er sich in die goldenen Erinnerungen seines goldenen Lebens und ließ mich ganz in sein großes, schönes Herz blicken. Dieses Herz war ebenso groß wie sein Geist. Es kannte nicht den Schatten von Neid, sondern es umfaßte die ganze Menschheit mit warmem Wohlwollen, und es hat Hunderten mit Rath und That ausgeholfen, aber immer in der Stille, im Verborgenen.
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