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Der schönste Sommermorgen begünstigte die Fahrt, die ich [Caroline Freifrau v. Egloffstein] mit einigen [303] Freunden [v. Müller, Julie v. Egloffstein] unternommen hatte .... Einer meiner Begleiter meinte... [unter anderem]: Goethe sei äußerst tolerant mit dem Verstande, jedoch nicht mit dem Gemüthe, daher widersprächen seine Schriften den Handlungen im täglichen Leben, durch welche er intolerant erscheinen müsse.
Was mir bisher in Goethes Benehmen räthselhaft gewesen, lösten diese wenigen Worte und klärten mich über den Charakter des großen Meisters auf. Auch vertiefte ich mich so sehr in diese Betrachtung, daß ich erst wieder daraus erwachte, als wir in Dornburg anlangten, wo nach kurzem Verweilen in dem uns angewiesenen Zimmer Goethe erschien und uns mit ungewöhnlicher Freundlichkeit begrüßte. Auf den ersten Blick erkannten wir, wie wohlthätig der Aufenthalt in jener reizenden Umgebung, die Ruhe und Freiheit, die ihm hier zutheil geworden, auf Geist und Körper bei ihm eingewirkt. Sein großes Auge strahlte in milderm Glanze und über seine schönen classischen Züge war die reinste Heiterkeit verbreitet. Die starre Maske, welche er aus Verlegenheit und Convenienz vorzuhalten pflegte, hatte er abgelegt und stand nun in seiner ganzen Erhabenheit vor uns.
Nach manchen scherzhaften Äußerungen ging er allmählig auf die wichtigsten Anliegen der Menschen über. Mit der größten Klarheit und Wärme sprach er von Religion und sittlicher Bildung als den Hauptzwecken der Staatsanstalten. Er sagte unter andern: »Das [304] Vermögen jedes Sinnliche zu veredeln und den todtesten Stoff durch Vermählung mit der geistigen Idee zu beleben, ist die sicherste Bürgschaft unsers überirdischen Ursprungs, und wie sehr wir auch durch tausend und abertausend Erscheinungen dieser Erde angezogen und gefesselt werden, so zwingt uns doch eine innige Sehnsucht den Blick immer wieder zum Himmel zu erheben, weil ein unerklärbares tiefes Gefühl uns die Überzeugung gibt, daß wir Bürger jener Welten sind, die so geheimnißvoll über uns leuchten und wir einst dahin zurückkehren werden. Die Religion soll Frieden zwischen den Gesetzen jenes geistigen Reiches und der Sinnlichkeit des Menschen stiften; die Moral war nur ein Versuch dies zu bewirken, sie ist jedoch schlaff und knechtisch geworden, als man sie dem schwankenden Calculo einer bloßen Glückseligkeitstheorie unterwerfen wollte. Kant hat sich ein unsterbliches Verdienst erworben, indem er die Moral in ihrer höchsten Bedeutung aufgefaßt und dargestellt hat. Sie sollte den Charakter der Roheit mildern, der nur nach eigenen Gesetzen leben, in fremde Kreise nach Willkür eingreifen will. Dieser Rohheit und Willkür Schranken zu setzen, wurden Staatsvereine geschlossen, und alle positiven Gesetze sind nur ein mangelhafter Versuch, die Selbsthülfe der Individuen gegeneinander zu verhüten. – Wenn man das Treiben der Menschen seit Jahrtausenden überschaut, so erkennt man darin einige, unter mannigfachen Verbrämungen sich wiederholende Formeln, [305] die mit Zauberkraft auf ganze Nationen wie auf die Einzelnen eingewirkt, und als das untrügliche Zeichen einer höheren, alles leitenden Macht betrachtet werden müssen.«
Diese Äußerungen prägten sich meinem Gedächtniß so kräftig ein, daß ich sie bei der Rückkehr nach Weimar niederschreiben konnte.