1826, 18. Juni.


Mit Friedrich von Müller

Von 6 bis 9 Uhr Abends war ich bei ihm ganz allein. Er machte mir den Vorwurf, daß von Hoff's Gabe zum 7. November »Fiedler's Portrait« nicht mit angezeigt worden sei. Ich antwortete: Goethe sei selbst schuld, ich habe ja gar nicht gewußt, wessen Bild es [293] sei und von wem? Er sprach über der Gräfin Julie Portrait des Bracebridgischen Ehepaares, und wie sie sich dabei in die verruchte Manier der Nazarener verirrt, kalt, trocken, flach, ohne gehörige Rundung und Schatten, mit übler Farben-Wahl gemalt habe.

Der Irrthum jener Schule bestehe darin, daß sie ihre Muster in der Periode vor dem Culminationspunkt der Malerei aussuche, vermeinend, daß sie dabei historisch ascendiren könne.

»Die Mathematik,« sagte er, als ich von Pestalozzi's Selbstgeständnissen erzählte, »die Mathematik steht ganz falsch im Rufe, untrügliche Schlüsse zu liefern. Ihre ganze Sicherheit ist weiter nichts als Identität. Zweimal zwei ist nicht vier, sondern es ist eben zweimal zwei, und das nennen wir abkürzend vier. Vier ist aber durchaus nichts Neues. Und so geht es immer fort bei ihren Folgerungen, nur daß man in den höhern Formeln die Identität aus den Augen verliert.

Die Pythagoräer, die Platoniker meinten Wunder, was in den Zahlen alles stecke, die Religion selbst; aber Gott muß ganz anderswo gesucht werden.«

Als ich ihm ein scharfes Witzwort (Riemer's?) eines unsrer Freunde mittheilte, wurde er ganz aufgebracht und zornig. »Durch solche böswillige und indiscrete Dichteleien macht man sich nur Feinde und verbittert Laune und Existenz sich selbst. Ich wollte mich doch lieber aufhängen, als ewig negiren, ewig in der Opposition sein, ewig schlußfertig auf die Mängel [294] und Gebrechen meiner Mitlebenden, Nächstlebenden lauern. Ihr seid noch gewaltig jung und leichtsinnig, wenn ihr so etwas billigen könnt. Das ist ein alter Sauerteig, der den Character inficirt hat und aus der Revolutionszeit stammt.« In solcher Heftigkeit ward Goethe immer beredter, immer geistreicher, immer aufrichtiger und dabei wohlmeinender in der Richtung seiner Aussprüche, so daß es mir ganz lieb war, durch jene Mittheilung seine Explosion provocirt zu haben.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1826. 1826, 18. Juni. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A4A9-B