1831, 22. März.


Mit Gustav Stickel

Gerade an demselben Monatstage, an welchem ein Jahr später der größte Dichtergeist unseres Volkes dieser Erde entschwebte, am 22. März 1831, war ich zum letzten Mal bei Goethe, indem ich, wieder nach damaliger Sitte, mich als neuernannten außerordentlichen Professor der Theologie dem Herrn Staatsminister glaubte vorstellen zu müssen. Auf meine Anmeldung brachte der Bediente die Antwort: Se. Excellenz sei zwar unwohl, ich möge aber heraufkommen.

Ich wurde in das etwas enge Gemach geleitet, welches nach dem Garten hinausgeht. Das Meublement mit dem Schreibtisch und dem Bücherregale darauf, das eine einzige Bücherreihe enthielt, war in hohem Grade einfach ausgestattet. Goethe saß seitwärts davon auf einem Stuhl und hatte das leidende Bein gerade ausgestreckt über einem zweiten Stuhl ruhend.

Meine leider allzukurze Aufzeichnung aus jener Zeit lautet unter dem angeführten Datum folgendermaßen: [58] ›Eine lange Zeit bei Goethe zugebracht; in seiner Studirstube saß er, an einem bösen Fußleidend. Er belobte die Weise, wie ich meine Wissenschaft trieb, und gab mir zum Abschied die Hand. Die letztere Erklärung der Siegelinschrift hatte ihm zugesagt.‹

Das Nähere ist mir von diesem letzten Beisammensein in guter Erinnerung geblieben. Die Unterhaltung bezog sich nämlich zunächst auf meine akademischen Vorlesungen, über deren Erfolg er mich befragte. Ich durfte berichten, daß mein Auditorium in den exegetischen Vorträgen gewöhnlich mit sechzig Zuhörern gefüllt sei, und daß ich mich bemühe, nach drei Gesichtspunkten das Alte Testament zu erläutern: zuerst durch genaue grammatisch-historische Interpretation des hebräischen Textes, dann den religiösen, theologischen Gehalt der einzelnen Stellen erörternd, und endlich Sach- und Gedankenparallelen aus den verwandten Literaturkreisen des Orients heranziehend; dieses, um den jungen Theologen einen freiern, weitern Blick über den engbeschränkten Horizont nur ihrer Fachstudien hinaus zu gewähren.

Die Unterhaltung wendete sich dann auf den ›Westöstlichen Diwan‹, über dessen Entstehung Goethe mittheilte: es seien Mißhelligkeiten eingetreten, die ihn zu dem Entschluß gebracht hätten, in ein fernes Land zu ziehen; so habe er sich nach Jena begeben und jene Schrift zubereitet. Er erzählte, daß er sich in seiner Jugend auch mit dem Hebräischen und ein wenig mit [59] Arabisch beschäftigt habe. Als ich dann meiner Bewunderung Ausdruck gab, wie vortrefflich und mustergültig seine Übersetzung des arabischen Heldengedichtes im ›Diwan‹ sei, richtete sich sein Haupt empor; obwohl sitzend, war es doch, als ob seine Gestalt größer und größer würde; in majestätischer Hoheit, wie ein olympischer Zeus, hob er an:

Unter dem Felsen am Wege
Erschlagen liegt er,
In dessen Blut
Kein Thau herabträuft. –
Mittags begannen wir Jünglinge
Den feindseligen Zug,
Zogen die Nacht hindurch,
Wie schwebende Wolken, ohne Ruh.
Jeder war ein Schwert,
Schwert umgürtet;
Aus der Scheide gerissen,
Ein glänzender Blitz.
Sie schlürften die Geister des Schlafes;
Aber wie sie mit den Köpfen nickten,
Schlugen wir sie,
Und sie waren dahin!

Während er diese Strophen mit volltönender Stimme recitirte, – für einen Greis in seinen Jahren welch' bewundernswürdig treues Gedächtniß! – war es, als ob sie sich ihm, wie einem vom poetischen Raptus Ergriffenen, neu erzeugten; seine Augen waren groß und weit geöffnet, Blitze schienen aus ihnen hervorzusprühen.[60] – Der Eindruck war in Wahrheit überwältigend und wird mir, so lange ich athme, unvergeßlich bleiben ....

Nachher bat er mich noch, ihm von Zeit zu Zeit etwas über meine Studien und Forschungen mitzutheilen. Aber wie ich beim Abschied seine dargebotene Hand zum ersten Mal berührte, sollte es auch zum letzten Mal sein.

[61]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1831. 1831, 22. März. Mit Gustav Stickel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A497-4