1827, 11. April.
Mit Johann Peter Eckermann u.a.
Ich ging diesen Mittag um 1 Uhr zu Goethe, der mich vor Tische zu einer Spazierfahrt hatte einladen lassen. Wir fuhren die Straße nach Erfurt. Das Wetter war sehr schön, die Kornfelder zu beiden Seiten des Wegs erquickten das Auge mit dem lebhaftesten Grün; Goethe schien in seinen Empfindungen heiter und jung wie der beginnende Lenz, in seinen Worten aber alt an Weisheit.
»Ich sage immer und wiederhole es,« begann er, »die Welt könnte nicht bestehen, wenn sie nicht so einfach wäre. Dieser elende Boden wird nun schon tausend Jahre bebaut, und seine Kräfte sind immer dieselbigen. Ein wenig Regen, ein wenig Sonne, und es wird jeden Frühling wieder grün, und so fort.« Ich fand auf diese Worte nichts zu erwiedern und [90] hinzuzusetzen. Goethe ließ seine Blicke über die grünenden Felder schweifen, sodann aber wieder zu mir gewendet, fuhr er über andere Dinge folgendermaßen fort:
»Ich habe in diesen Tagen eine wunderliche Lectüre gehabt, nämlich die ›Briefe Jacobi's und seiner Freunde‹. Dies ist ein höchst merkwürdiges Buch, und Sie müssen es lesen, nicht um etwas daraus zu lernen, sondern um in den Zustand damaliger Cultur und Literatur hineinzublicken, von dem man keinen Begriff hat. Man sieht lauter gewissermaßen bedeutende Menschen, aber keine Spur von gleicher Richtung und gemeinsamem Interesse, sondern jeder rund abgeschlossen für sich und seinen eigenen Weg gehend, ohne im geringsten an den Bestrebungen des andern theilzunehmen. Sie sind mir vorgekommen wie die Billardkugeln, die auf der grünen Decke blind durcheinander laufen, ohne voneinander zu wissen, und die, sobald sie sich berühren, nur desto weiter auseinanderfahren.«
Ich lachte über das treffende Gleichniß. Ich erkundigte mich nach den correspondirenden Personen, und Goethe nannte sie mir, indem er mir über jeden etwas Besonderes sagte.
»Jacobi war eigentlich ein geborener Diplomat, ein schöner Mann von schlankem Wuchs, seinen vornehmen Wesens, der als Gesandter ganz an seinem Platz gewesen wäre. Zum Poeten und Philosophen fehlte ihm etwas, um beides zu sein.
Sein Verhältniß zu mir war eigener Art. Er [91] hatte mich persönlich lieb, ohne an meinen Bestrebungen theilzunehmen oder sie wohl gar zu billigen. Es bedurfte daher der Freundschaft, um uns aneinanderzu halten. Dagegen war mein Verhältniß mit Schiller so einzig, weil wir das herrlichste Bindungsmittel in unsern gemeinsamen Bestrebungen fanden und es für uns keiner sogenannten besondern Freundschaft weiter bedurfte.«
Ich fragte nach Lessing, ob auch dieser in den Briefen vorkomme. »Nein,« sagte Goethe, »aber Herder und Wieland.
Herdern war es nicht wohl bei den Verbindungen; er stand zu hoch, als daß ihm das hohle Wesen auf die Länge nicht hätte lästig werden sollen, sowie auch Hamann diese Leute mit überlegenem Geiste behandelte.
Wieland, wie immer, erscheint auch in diesen Briefen durchaus heiter und wie zu Hause. An keiner andern Meinung hängend, war er gewandt genug, um in alles einzugehen. Er war einem Rohre ähnlich, das der Wind der Meinungen hin- und herbewegte, das aber aus seinem Wurzelchen immer fest blieb.
Mein persönliches Verhältniß zu Wieland war immer sehr gut, besonders in der frühern Zeit, wo er mir allein gehörte. Seine kleinen Erzählungen hat er auf meine Anregung geschrieben. Als aber Herder nach Weimar kam, wurde Wieland mir ungetreu; Herder nahm ihn mir weg, denn dieses Mannes persönliche Anziehungskraft war sehr groß.«
[92] Der Wagen wendete sich zum Rückwege. Wir sahen gegen Osten vielfaches Regengewölk, das sich ineinanderschob. »Diese Wolken,« sagte ich, »sind doch so weit gebildet, daß sie jeden Augenblick als Regen niederzugehen drohen. Wäre es möglich, daß sie sich wieder auflösten, wenn das Barometer stiege?« – »Ja,« sagte Goethe, »diese Wolken würden sogleich von oben herein verzehrt und aufgesponnen werden wie ein Rocken. So stark ist mein Glauben an das Barometer. Ja, ich sage immer und behaupte: wäre in jener Nacht der großen Überschwemmung von Petersburg das Barometer gestiegen, die Welle hätte nicht herangekonnt.
Mein Sohn glaubt beim Wetter an den Einfluß des Mondes, und Sie glauben vielleicht auch daran, und ich verdenke es euch nicht; denn der Mond erscheint als ein zu bedeutendes Gestirn, als daß man ihm nicht eine entschiedene Einwirkung auf unsere Erde zuschreiben sollte, allein die Veränderung des Wetters, der höhere oder tiefere Stand des Barometers rührt nicht vom Mondwechsel her, sondern ist rein tellurisch.
Ich denke mir die Erde mit ihrem Dunstkreise gleichnißweise als ein großes lebendiges Wesen, das im ewigen Ein- und Ausathmen begriffen ist. Athmet die Erde ein, so zieht sie den Dunstkreis an sich, sodaß er in die Nähe ihrer Oberfläche herankommt und sich verdichtet bis zu Wolken und Regen. Diesen Zustand nenne ich die Wasserbejahung; dauerte er über alle Ordnung fort, so würde er die Erde ersäufen. Dies [93] aber giebt sie nicht zu, sie athmet wieder aus und entläßt die Wasserdünste nach oben, wo sie sich in den ganzen Raum der hohen Atmosphäre ausbreiten und sich dergestalt verdünnen, daß nicht allein die Sonne glänzend herdurchgeht, sondern auch sogar die ewige Finsterniß des unendlichen Raums als frisches Blau herdurchgesehen wird. Diesen Zustand der Atmosphäre nenne ich die Wasserverneinung. Denn wie bei dem entgegengesetzten nicht allein häufiges Wasser von oben kommt, sondern auch die Feuchtigkeit der Erde nicht verdunsten und abtrocknen will, so kommt dagegen bei diesem Zustande nicht allein keine Feuchtigkeit von oben, sondern auch die Nässe der Erde selbst verfliegt und geht aufwärts, sodaß bei einer Dauer über alle Ordnung hinaus die Erde auch ohne Sonnenschein zu vertrocknen und zu verdörren Gefahr liefe.«
So sprach Goethe über diesen wichtigen Gegenstand, und ich hörte ihm mit großer Aufmerksamkeit zu.
»Die Sache ist sehr einfach,« fuhr er fort, »und so am Einfachen, Durchgreifenden halte ich mich und gehe ihm nach, ohne mich durch einzelne Abweichungen irreleiten zu lassen. Hohes Barometer: Trockenheit, Ostwind; tiefes Barometer: Nässe, Westwind; dies ist das herrschende Gesetz, woran ich mich halte. Weht aber einmal bei hohem Barometer und Ostwind ein nasser Nebel her, oder haben wir blauen Himmel bei Westwind, so kümmert mich dieses nicht und macht meinen Glauben an das herrschende Gesetz nicht irre, [94] sondern ich sehe daraus blos, daß auch manches Mitwirkende existirt, dem man nicht sogleich beikommen kann.
Ich will Ihnen etwas sagen, woran Sie sich im Leben halten mögen. Es giebt in der Natur ein Zugängliches und Unzugängliches. Dieses unterscheide und bedenke man wohl und habe Respect. Es ist uns schon geholfen, wenn wir es überall nur wissen, wiewohl es immer sehr schwer bleibt, zu sehen wo das eine aufhört und das andere beginnt. Wer es nicht weiß, quält sich vielleicht lebenslänglich am Unzugänglichen ab, ohne je der Wahrheit nahe zu kommen. Wer es aber weiß und klug ist, wird sich am Zugänglichen halten, und indem er in dieser Region nach allen Seiten geht und sich befestigt, wird er sogar auf diesem Wege dem Unzugänglichen etwas abgewinnen können, wiewohl er hier doch zuletzt gestehen wird, daß manchen Dingen nur bis zu einem gewissen Grade beizukommen ist und die Natur immer etwas Problematisches hinter sich behalte, welches zu ergründen die menschlichen Fähigkeiten nicht hinreichen.«
Unter diesen Worten waren wir wieder in die Stadt hereingefahren. Das Gespräch lenkte sich auf unbedeutende Gegenstände, wobei jene hohen Ansichten noch eine Weile in meinem Innern fortleben konnten.
Wir waren zu früh zurückgekehrt, um sogleich an Tisch zu gehen, und Goethe zeigte mir vorher noch[95] eine Landschaft von Rubens, und zwar einen Sommerabend. Links im Vordergrunde sah man Feldarbeiter nach Hause gehen; in der Mitte des Bildes folgte eine Heerde Schafe ihrem Hirten dem Dorfe zu: rechts tiefer im Bilde stand ein Heuwagen, um welchen Arbeiter mit Aufladen beschäftigt waren, abgespannte Pferde grasten nebenbei; sodann abseits in Wiesen und Gebüsch zerstreut weideten mehrere Stuten mit ihren Fohlen, denen man ansah, daß sie auch in der Nacht draußen bleiben würden. Verschiedene Dörfer und eine Stadt schlossen den hellen Horizont des Bildes, worin man den Begriff von Thätigkeit und Ruhe auf das anmuthigste ausgedrückt fand.
Das Ganze schien mir mit solcher Wahrheit zusammenzuhängen und das Einzelne lag mir mit solcher Treue vor Augen, daß ich die Meinung äußerte: Rubens habe dieses Bild wohl ganz nach der Natur abgeschrieben.
»Keineswegs!« sagte Goethe, »ein so vollkommenes Bild ist niemals in der Natur gesehen worden, sondern wir verdanken diese Composition dem poetischen Geiste des Malers. Aber der große Rubens hatte ein so außerordentliches Gedächtniß, daß er die ganze Natur im Kopfe trug und sie ihm in ihren Einzelheiten immer zu Befehl war. Daher kommt diese Wahrheit des Ganzen und Einzelnen, sodaß wir glauben, alles sei eine reine Kopie nach der Natur. Jetzt wird eine solche Landschaft gar nicht mehr gemacht, diese Art zu empfinden [96] und die Natur zu sehen ist ganz verschwunden, es mangelt unsern Malern an Poesie.
Und dann sind unsere jungen Talente sich selber überlassen, es fehlen die lebendigen Meister, die sie in die Geheimnisse der Kunst einführen. Zwar ist auch von den Todten etwas zu lernen, allein dieses ist, wie es sich zeigt, mehr ein Absehen von Einzelheiten als ein Eindringen in eines Meisters tiefere Art zu denken und zu verfahren.«
Frau und Herr von Goethe traten herein, und wir setzten uns zu Tische. Die Gespräche wechselten über heitere Gegenstände des Tages: Theater, Bälle und Hof, flüchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder auf ernstere Dinge gerathen, und wir sahen uns in einem Gespräch über Religionslehren in England tief befangen.
»Ihr müßtet wie ich,« sagte Goethe, »seit funfzig Jahren die Kirchengeschichte studirt haben, um zu begreifen, wie das alles zusammenhängt. Dagegen ist es höchst merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohammedaner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Überzeugung, daß dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit längst bestimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines Weitern.
Ich will nicht untersuchen, was an dieser Lehre[97] Wahres oder Falsches, Nützliches oder Schädliches sein mag, aber im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen, auch ohne daß es uns gelehrt worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht; und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Muth und Heiterkeit behalten! Die Lehre des christlichen Glaubens: Kein Sperling fällt vom Dache ohne den Willen eures Vaters, ist aus derselbigen Quelle hervorgegangen und deutet auf eine Vorsehung, die das Kleinste im Auge behält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann.
Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre: daß nichts existire, wovon sich nicht das Gegentheil sagen lasse, und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß.
Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegentheil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewißheit hervorgeht, welches das [98] Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet.
Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt, und daß wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind, und daß überhaupt niemand weiter gelangen kann.«
»Ich werde dadurch,« sagte ich, »an die Griechen erinnert, deren philosophische Erziehungsweise eine ähnliche gewesen sein muß, wie uns dieses ihre Tragödie beweist, deren Wesen im Verlauf der Handlung auch ganz und gar auf dem Widerspruch beruht, indem niemand der redenden Personen etwas behaupten kann, wovon der andere nicht ebenso klug das Gegentheil zu sagen wüßte.«
»Sie haben vollkommen recht,« sagte Goethe; »auch fehlt der Zweifel nicht, welcher im Zuschauer oder Leser erweckt wird, sowie wir denn am Schluß durch das Schicksal zur Gewißheit gelangen, welches sich an das Sittliche anschließt und dessen Partei führt.«
Wir standen von Tische auf, und Goethe nahm mich mit hinab in den Garten, um unsere Gespräche fortzusetzen.
»An Lessing,« sagte ich, »ist es merkwürdig, daß er in seinen theoretischen Schriften, z.B. im ›Laokoon‹, nie geradezu auf Resultate losgeht, sondern uns immer erst jenen philosophischen Weg durch Meinung, Gegenmeinung und Zweifel herumführt, ehe er uns endlich zu einer Art von Gewißheit gelangen läßt. Wir sehen mehr die Operation des Denkens und Findens, als [99] daß wir große Ansichten und große Wahrheiten erhielten, die unser eigenes Denken anzuregen und uns selbst productiv zu machen geeignet wären.«
»Sie haben wohl recht,« sagte Goethe. »Lessing soll selbst einmal geäußert haben, daß, wenn Gott ihm die Wahrheit geben wolle, er sich dieses Geschenk verbitten, vielmehr die Mühe vorziehen würde, sie selber zu suchen.
Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Maßstab, den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe geistiger Tugend man denn eigentlich stehe.
Lessing hält sich, seiner polemischen Natur nach, am liebsten in der Region der Widersprüche und Zweifel auf; das Unterscheiden ist seine Sache, und dabei kam ihm sein großer Verstand auf das herrlichste zustatten. Mich selbst werden Sie dagegen ganz anders finden: ich habe mich nie auf Widersprüche eingelassen, die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen gesucht, und nur die gefundenen Resultate habe ich ausgesprochen.«
Ich fragte Goethe, welchen der neuern Philosophen er für den vorzüglichsten halte.
»Kant,« sagte er, »ist der vorzüglichste, ohne allen Zweifel. Er ist auch derjenige, dessen Lehre sich fortwirkend erwiesen hat und die in unsere deutsche Cultur am tiefsten eingedrungen ist. Er hat auch auf Sie gewirkt, ohne daß Sie ihn gelesen haben. Jetzt brauchen [100] Sie ihn nicht mehr, denn was er Ihnen geben konnte, besitzen Sie schon. Wenn Sie einmal später etwas von ihm lesen wollen, so empfehle ich Ihnen seine ›Kritik der Urtheilskraft‹, worin er die Rhetorik vortrefflich, die Poesie leidlich, die bildende Kunst aber unzulänglich behandelt hat.«
»Haben Euer Excellenz je zu Kant ein persönliches Verhältniß gehabt?« fragte ich.
»Nein,« sagte Goethe. »Kant hat nie von mir Notiz genommen, wiewohl ich aus eigener Natur einen ähnlichen Weg ging als er. Meine ›Metamorphose der Pflanzen‹ habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre. Die Unterscheidung des Subjects vom Object, und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein selbst willen existirt, und nicht etwa der Korkbaum gewachsen ist, damit wir unsere Flaschen pfropfen können, dieses hatte Kant mit mir gemein, und ich freute mich, ihm hierin zu begegnen. Später schrieb ich die Lehre vom Versuch, welche als Kritik von Subject und Object und als Vermittelung von beiden anzusehen ist.
Schiller pflegte mir immer das Studium der Kant'schen Philosophie zu widerrathen. Er sagte gewöhnlich, Kant könne mir nichts geben. Er selbst studirte ihn dagegen eifrig, und ich habe ihn auch studirt und zwar nicht ohne Gewinn.«
Unter diesen Gesprächen gingen wir im Garten auf und ab. Die Wolken hatten sich indes verdichtet und[101] es fing an zu tröpfeln, sodaß wir genöthigt waren uns in das Haus zurückzuziehen, wo wir denn unsere Unterhaltungen noch eine Weile fortsetzten.
[102]