1821, Mai.


Mit Nikolaus Großfürst von Rußland

Jüngst kam... die Kaiserin Alexandra Feodorowna in Gegenwart des Kaisers auf die Thatsache zu reden, daß das russische Volk seine großen Dichter so wenig kenne und schätze. Das sei erstaunlich; in Deutschland verfahre man ganz anders, da lerne man seinen Schiller und Goethe auswendig. Der Kaiser hatte diesen Bemerkungen zugehört und knüpfte daran eine Mittheilung über seine Begegnung mit Goethe, die in Weimar stattfand, im Salon der Großfürstin Maria Pawlowna, [103] jener bekannten Gönnerin der Künste und Wissenschaften. Die äußere Erscheinung des alten Olympiers muß Nikolaus außerordentlich imponiert haben; denn der Kaiser bemerkte darüber: ›Ein prächtiger Kopf, der Kopf eines Jupiter Stator.‹ Weiter meinte der Kaiser: ›Er hat durch seine göttliche Ruhe und durch sein ernstes, gehaltenes Wesen einen ganz gewaltigen Eindruck auf mich gemacht. Er erweckte Achtung durch diese Ruhe und durch seine schlichte Haltung. Als ich ihn sah, war ich noch sehr jung, mochte mich noch nicht in ein Gespräch mit ihm ein lassen und hörte der Unterhaltung der Älteren zu. Nie vernahm ich von ihm eine inhaltslose Äußerung; über alles wußte er mit der Ursprünglichkeit eines Genies, eines Menschen voller eigener, nicht erborgter Ideen zu reden. Goethe fragte mich, was ich über »Werther's Leiden« und über Werther selber dächte. Diese Frage, ich gestehe es, kam mir nun ein wenig unerwartet. Ich, ein junger Mann, wie hätte ich einem Goethe mein Urtheil über sein Werk mittheilen sollen! Er bestand aber auf seiner Frage und so meinte ich denn: ich hielte den Werther für einen schwächlichen Charakter, der sich einbilde, stark zu sein. Charlotte wäre wol unglücklich mit ihm geworden, da sie eine Frau war, die zugleich achten und lieben wollte; diese Seelenstimmung erhebe sie in meinen Augen. – Meine Antwort befriedigte Goethe vollkommen. Im Fortgange der Unterhaltung drückte Goethe seine eigene Meinung über Werther aus und [104] bemerkte unter anderem, daß er nie die Absicht gehabt, den Selbstmord als interessant hinzustellen, daß er ihn vielmehr als ein sittliches Vergehen beurtheile.‹

[105]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1821. 1821, Mai. Mit Nikolaus Großfürst von Rußland. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A479-8