b.

Wir [v. Müller u. a.] fuhren bei heiterster Frühlingssonne gegen 8 Uhr Morgens von Weimar aus nach Dornburg.

– – – – – – – – – – – – – – – –

Gegen 11 Uhr langten wir an .... Eilig durchflogen wir die Zimmer rechts und links... und fixirten uns dann sofort an das Eckfenster im Zimmer der Frau Großherzogin Louise, damit unsere eifrige Zeichnerin von hier aus einen Theil der Gegend, vom alten Schlosse gegen die Brücke hinab, aufnehmen könne. Wir mochten so etwa eine halbe Stunde am offenen Fenster gesessen haben, als durch den kleinen Garten unter dem Fenster ein stattlicher Mann ernst und feierlich aus den Gebüschen heranschritt.

Es war Goethe, der hochverehrte Meister, den ein Brief von mir gestern Abend von unserer Hierherreise benachrichtigt und zu uns eingeladen hatte! – Jubelnd flogen wir ihm entgegen, und sein heiteres Auge lohnte unserer herzlichen Bewillkommnung. Alsobald mußte [306] das Zeichnen fortgesetzt werden, mit der zärtlichsten Sorgfalt machte er auf alle kleinen Vortheile in Aufnahme und Behandlung des Gegenstandes aufmerksam und förderte so das begonnene Werk zum allerheitersten, bald lobend, bald scheltend. »Ach! wärst Du mein Töchterchen, rief er scherzend aus, wie wollt ich Dich einsperren, bis Du Dein Talent völlig und folgerecht entwickelt hättest! Kein Stutzer sollte Dir nahen, kein Heer von Freundinnen Dich umlagern, Convenienz und gesellige Ansprüche Dich nimmer umgarnen; aber copiren müßtest Du mir von früh bis in die Nacht, in systematischer Folge, und dann erst, wenn hierin genug geschehen, componiren und selbstständig schaffen. Nach Jahresfrist ließe ich Dich erst wieder aus meinem Käfig ausfliegen, und weidete mich dann am Triumphe Deiner Erscheinung.« Unsre Zeichnerin zeigte aber keine sonderliche Lust, sich einer solchen Kunstdiät zu unterwerfen, obwohl sie mit der muntersten Laune den alten Meister beschwor, ihr seine strengen Lehren auch auf ihrem gewohnten Lebensgange nicht zu versagen. Er schüttelte skeptisch den Kopf, vermeinend: solche hübsche Kinder horchten gar freundlich auf die Lehren der alten Murrköpfe, weil sie sich stillschweigend den Trost gäben, nur so viel davon zu befolgen, als ihnen gerade beliebte. »Willst Du aber, mein Engelchen,« fuhr er fort, »hierin wirklich eine Ausnahme machen, so fordere ich zur Probe dreißig Copien von Everdingens in Kupfer gestochenen kleinen Landschaften, [307] die ich Dir zum Beginn eines folgerechten Portefeuille geben werde und setze Dir sechzig Tage unerstreckliche Frist.«

Die Freundin schrie hoch auf über die gewaltige Aufgabe; aber Goethe blieb unerbittlich und setzte wie ein wahrer Imperator hinzu: »wie Du es ausführst, das ist Deine Sache; genug, ich fordere es und weiche kein Haar breit von meinem Gebote ab.«

So verstrich unter Scherzen und Neckereien der Rest des Vormittags; unterdessen war im zierlichen Saale das kleine Mittagsmahl aufgetischt und das fröhliche Quartett ließ sich nicht lange mahnen .....

Doch bald nahm das Gespräch eine höhere Richtung. In solcher Naturherrlichkeit, in solchem Freiheitgefühl von allem Zwang der Convenienz schließt der edlere Mensch sein Inneres willig auf und verschmäht es, die strenge Maske der Gleichgültigkeit vor sich zu halten, die im täglichen Leben den Andrang der lästigen Menge abzuhalten bestimmt ist. So auch unser Goethe! Er, dem über die heiligsten und wichtigsten Anliegen der Menschheit so selten ein entschiedenes Wort abzugewinnen ist, sprach diesmal über Religion, sittliche Ausbildung und letzten Zweck der Staatsanstalten mit einer Klarheit und Wärme, wie wir sie noch nie an ihm in gleichem Grade gefunden hatten. »Das Vermögen, jedes Sinnliche zu veredeln und auch den todtesten Stoff durch Vermählung mit der Idee zu beleben,« sagte er, »ist die schönste Bürgschaft unsres [308] übersinnlichen Ursprungs. Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht mit ihren tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den Blick forschend und sehnend zum Himmel auf, der sich in unermeßnen Räumen über ihn wölbt, weil er es tief und klar in sich fühlt, daß er ein Bürger jenes geistigen Reiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen noch aufzugeben vermögen. In dieser Ahnung liegt das Geheimniß des ewigen Fortstrebens nach einem unbekannten Ziele; es ist gleichsam der Hebel unsres Forschens und Sinnens, das zarte Band zwischen Poesie und Wirklichkeit.

Die Moral ist ein ewiger Friedensversuch zwischen unsern persönlichen Anforderungen und den Gesetzen jenes unsichtbaren Reiches; sie war gegen Ende des letzten Jahrhunderts schlaff und knechtisch geworden, als man sie dem schwankenden Calcul einer bloßen Glückseligkeits-Theorie unterwerfen wollte; Kant faßte sie zuerst in ihrer übersinnlichen Bedeutung auf, und wie überstreng er sie auch in seinem kategorischen Imperativ ausprägen wollte, so hat er doch das unsterbliche Verdienst, uns von jener Weichlichkeit, in die wir versunken waren, zurückgebracht zu haben. Der Charakter der Rohheit ist es, nur nach eignen Gesetzen leben, in fremde Kreise willkürlich übergreifen zu wollen. Darum wird der Staatsverein geschlossen, solcher Rohheit und Willkür abzuhelfen, und alles Recht und alle positiven Gesetze sind wiederum nur[309] ein ewiger Versuch, die Selbsthülfe der Individuen gegen einander abzuwehren.

Wenn man das Treiben und Thun der Menschen seit Jahrtausenden überblickt, so lassen sich einige allgemeine Formeln erkennen, die je und immer eine Zauberkraft über ganze Nationen, wie über die Einzelnen ausgeübt haben, und diese Formeln, ewig wiederkehrend, ewig unter tausend bunten Verbrämungen dieselben, sind die geheimnißvolle Mitgabe einer höhern Macht ins Leben. Wohl übersetzt sich jeder diese Formeln in die ihm eigenthümliche Sprache, paßt sie auf mannichfache Weise seinen beengten individuellen Zuständen an und mischt dadurch oft so viel Unlauteres darunter, daß sie kaum mehr in ihrer ursprünglichen Bedeutung zu erkennen sind. Aber diese letztere taucht doch immer unversehens wieder auf, bald in diesem, bald in jenem Volke, und der aufmerksame Forscher setzt sich aus solchen Formeln eine Art Alphabet des Weltgeistes zusammen.«

Wir lauschten aufmerksam jedem Worte, das dem theuren Munde beredt entquoll, und waren möglichst bemüht, durch Gegenrede und Einwurf immer lebendigere Äußerungen hervorzulocken. Es war als ob vor Goethes innerem Auge die großen Umrisse der Weltgeschichte vorübergingen, die sein gewaltiger Geist in ihre einfachsten Elemente aufzulösen bemüht war. Mit jeder neuen Äußerung nahm sein ganzes Wesen etwas Feierlicheres an, ich möchte sagen, etwas Prophetisches. [310] Dichtung und Wahrheit verschmolzen sich in einander und die höhere Ruhe des Weisen leuchtete aus seinen Zügen. Dabei war er kindlich mild und theilnehmend, weit geduldiger als sonst in Beantwortung unserer Fragen und Einwürfe, und seine Gedanken schienen wie in einem reinen ungetrübten Äther gleichsam auf und nieder zu wogen.

Doch nur allzurasch entschlüpften so köstliche Stunden. »Laßt mich, Kinder, sprach er plötzlich vom Sitze aufstehend, laßt mich einsam zu meinen Steinen dort unten eilen; denn nach solchem Gespräch geziemt dem alten Merlin sich mit den Urelementen wieder zu befreunden.« Wir sahen ihm lange und frohbewegt nach, als er in seinen lichtgrauen Mantel gehüllt feierlich ins Thal hinabstieg, bald bei diesem, bald bei jenem Gestein, oder auch bei einzelnen Pflanzen verweilend, und die erstern mit seinem mineralogischen Hammer prüfend. Schon fielen längere Schatten von den Bergen, in denen er uns wie eine geisterhafte Erscheinung allmählich entschwand.

[311]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1818. 1818, 29. April.: In Dornburg. b.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A3E6-9