1823, 3. Februar.
Mit Friedrich von Müller
Ich traf ihn gegen 6 Uhr Abends ganz allein; nur sein kleiner Enkel blätterte in Bilderbüchern und ward bei seinem lebhaften Wesen und öftern Fragen von dem alten Herrn auf's geduldigste von Zeit zu Zeit beschwichtigt, endlich aber durch allerlei Persuasion vermocht, sich aus das Bett im Cabinet schlafen zu legen.
Die wichtige Tagesneuigkeit des Krieges mit Spanien gab unserm Gespräch die erste Unterlage. Goethe hält sich überzeugt, daß zu Verona bereits ein fester Plan der Unterstützung Frankreichs durch Nachrücken der Armeen verabredet sei, daß man Spanien, es koste was es wolle, bezwingen werde, und daß viel ernsthaftere Maßregeln, als man sich irgend träumen lasse, ehestens zum Vorschein kommen würden. Die Opposition der [208] Württemberger gegen Osterreichs Allgewalt erscheint ihm absurd, wie jede Opposition, die nicht zugleich etwas positives anstrebe.
»Hätte ich das Unglück in der Opposition sein zu müssen, ich würde lieber Aufruhr und Revolution machen, als mich im finstern Kreise ewigen Tadels des Bestehenden herumtreiben. Ich habe nie im Leben mich gegen den übermächtigen Strom der Menge oder der herrschenden Princips in feindliche, nutzlose Opposition stellen mögen; lieber habe ich mich in mein eigenes Schneckenhaus zurückgezogen und da nach Belieben gehauset. Zu was das ewige Opponiren und übellaunige Kritisiren und Regiren führt, sehen wir an Knebeln: es hat ihn zum unzufriedensten, unglücklichsten Menschen gemacht; sein Inneres, gleich einem Krebs, ganz unterfressen; nicht zwei Tage kann man mit ihm in Frieden leben, weil er alles angreift, was einem lieb ist.«
Wir kamen aus die Landtagswahlen und auf die Glieder des Regierungscollegiums zu sprechen, die ich ihm nach ihrer Individualität schildern mußte. Riemer's gegenwärtige Verstimmung gab Anlaß sich über ihn auszusprechen. »Er hat mehr Talent und Wissen,« bemerkte Goethe, »als er nach dem Maße seiner Charakterstärke ertragen kann.«
Ich suchte Goethen vorsichtig dahin zu bringen, daß er zu Riemer's Ermuthigung durch freundliche Attention beitragen möge, was denn auch seine gute Wirkung hatte. Da kam er aus eine förmliche Theorie der Unzufriedenheit. [209] »Was wir in uns nähren, das wächst; das ist ein ewiges Naturgesetz. Es gibt ein Organ des Mißwollens, der Unzufriedenheit in uns, wie es eines der Opposition, der Zweifelsucht gibt. Je mehr wir ihm Nahrung zuführen, es üben, je mächtiger wird es, bis es sich zuletzt aus einem Organ in ein krankhaftes Geschwür umwandelt und verderblich um sich frißt. Dann setzt sich Reue, Vorwurf und andere Absurdität daran, wir werden ungerecht gegen andere und gegen uns selbst. Die Freude am fremden und eignen Gelingen und Vollbringen geht verloren ; aus Verzweiflung suchen wir zuletzt den Grund alles Übels außer uns, statt es in unsrer Verkehrtheit zu finden. Man nehme doch jeden Menschen, jedes Ereigniß in seinem eigentlichen Sinne, gehe aus sich heraus, um desto freier wieder bei sich einzukehren.«
Gegen 8 Uhr verließ ich ihn, und gerne, schien es, hätte er noch länger mich bei sich behalten.
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