1794, Sommer.


Mit Johann Daniel Falk

Den folgenden Morgen besuchte ich den Geheimen Rath Goethe ..... Er ist von mittlerem Wuchse, hat ein männlich braunes Antlitz, schwarze [!] funkelnde[147] Augen, einen tieffassenden Blick, einen starken schwarzen Bart und genialische, aber regelmäßige Züge. Sein Anzug war bürgerlich einfach – ein simpler blauer Überrock – sein Anstand kunst- und anspruchslos. Ein mehr angeborner, als angenommener Ernst erweckt in jedem, der mit ihm spricht, ein gewisses Gefühl von Hochachtung, ich möchte beinahe sagen von Ehrfurcht, das aber keineswegs zurückstoßend ist. Ich hätte ihn eher für einen biederherzigen Amtmann, als für den großen Schriftsteller gehalten, auf den unser Vaterland nicht ohne Ursache stolz sein darf. Er empfing mich freundschaftlich, und wir sprachen über eine Stunde miteinander. Goethe erzählte mir, daß Schiller mit unsäglicher Anstrengung arbeite. Als Schiller sich noch in Weimar befand, verschloß er sich oft acht Tage lang und ließ sich von keiner Seele sprechen. Abends um acht stand noch sein Mittagsessen vor seinem Studirpult. Doch glaubte er nie die strengen Forderungen der Kunst befriedigt zu haben; denn seine Begriffe von dem Ideal, nach dem er hinaufarbeitete und alle seine Geistesgeburten abmaß, waren zuweilen etwas überspannt und abenteuerlich. Deshalb hielt es auch ebenso schwer, die Psychologie aus seinen Stücken, als aus seinem Gesichte herauszufinden. Der »Don Carlos« ließe sich besser lesen, als aufführen, und die darin verwebte Psychologie der Charaktere sei auch selbst bei der Lectüre und der angespanntesten Aufmerksamkeit nicht immer bemerkbar. Die übergroße Anstrengung, mit der [148] Schiller arbeitete, glaubte er auch in seinen flüchtigsten hingeworfenen Stücken zu entdecken. Selbst an den »Briefen über den Don Carlos« im »Teutschen Merkur« sähe man die Schweißtropfen hängen, die sie dem Verfasser gekostet. Wie Goethe glaubte, sei der Kampf, den Schwärmerei, Vernunft und Einbildungskraft, die in der Seele dieses Dichters gekämpft, mit unverkennbaren Zügen seinem Gesicht eingegraben, und daraus entstehe in demselben die sonderbare Mischung von Schwermuth, Freundlichkeit. Ernst und Zerstreuung. Kurz, auf ihn passe ganz, was er einst in seinen Werken zur Charakterisirung eines Dritten sagte: »In seiner Phantasienwelt verschlossen, war er ein Fremdling in der wirklichen. Sein Körper, mitten aus der Zerrüttung hervor, verräth einen hohen männlichen Geist gleich den Ruinen eines ehrwürdigen alten Tempelgebäudes: Ihr ahnt aus dem Schauer der Ehrfurcht, der Eure Seele ergreift, daß einst eine Gottheit hier wohnte, aber erkennen könnt Ihr es jetzt nur aus Trümmern und Uberbleibseln, die der Zahn der alles zerstörenden Zeit verschonte.«

Noch sprach Goethe viel von Italien, wo er sich lange Zeit aufgehalten ..... Von den schönen Gegenden und selbst von den Einwohnern dieses Landes sprach er mit vielem Enthusiasmus. »Die Luft ist lauer, reiner, der Himmel blauer und unbewölkter, die Gesichter offen, freundlich und lachender, die Formen und Umrisse der Körper regelmäßig und anlockender. [149] Selbst das Grün der Wiesen und Bäume nicht so kalt und todt, sondern höher, heller, mannigfaltiger, als in den nördlichen Himmelsstrichen. Alles scheint zum lieblichen Genusse einzuladen, und Natur und Kunst bieten sich wechselseitig die Hand. Nirgends oder selten finden Sie in Italien solche zurückstoßende, kolossale Gestalten wie in unsern Gegenden, nirgends so verkrüppelte und zusammengeschrumpfte Figuren. In unsern Gesichtern verlaufen die Züge regellos durch-und ineinander, oft ohne irgend einen Charakter anzudeuten, oder es hält wenigstens schwer, das Original herauszufinden; man kann sagen: in einem deutschen Gesichte ist die Hand Gottes unleserlicher, als auf einem italienischen. Bei uns ist alles verkritzelter und selten selbst in der Form etwas Vollendetes. Kopf und Hals scheinen bei jenen Menschen gleichsam unmerklich ineinander gefügt, bei uns sind sie größtentheils eingeschoben und aufgestülpt. Die sanft geblähte Brust schwellt allmälig in ihren Umrissen; nicht solche kugel- und muskelhafte Massen von Fleisch, die das Auge mehr beleidigen, als einladen. Ich habe in Italien unter der gemeinsten Menschenklasse Körper gesehen gleich den schönsten Antiken und andere, die entkleidet dem Künstler durch die Regelmäßigkeit ihres Baues den vollkommensten Torso vertraten. Kurz: in Italien wohnen schöne Körper und schöne Seelen unter Einem Dach und Fach in brüderlicher Eintracht beisammen; bei uns wohnen sie durch verschiedene Stückwerke abgesondert und ungesellig; jedes treibt seine [150] Wirthschaft für sich. Ich bedaure einen großen Künstler wie Herrn Lips in Deutschland, wo ihm das Studium der Formen in seiner Kunst keinen Vorschub thut; er muß unaufhörlich aus seiner Phantasie hervorarbeiten. Die Römerinnen sind die reizendsten Gestalten, die ich je erblickte: ein schlanker Wuchs, regelmäßige, majestätische Gesichtszüge, große gewölbte Augenbrauen, die wie abgezirkelt einen Halbbogen bilden, sind unter dem männlichen und weiblichen Geschlechte nichts Ungewöhnliches. Auch herrscht unter ihnen weit mehr Künstlergeschmack, als in Deutschland, wozu freilich der frühe Anblick der unsterblichsten Meisterstücke der Kunst in Tempeln und öffentlichen Gebäuden viel beitragen mag. Bei uns ist der gute Geschmack größtentheils in Studirstuben eingeschlossen. Freilich herrschen dagegen Luxus und Üppigkeit, diese von den schönen Künsten unzertrennlichen Übel, ausgebreiteter, als bei uns, in Italien. Doch muß man auch hier nicht zu vorschnell die Wirkungen des wollüstigen Klimas dem Einfluß der schönen Künste und Wissenschaften beimessen. Sowie Pflanzen und Blumen unter der milden Sonne Italiens sich schneller und üppiger entfalten, aber auch rascher dahinwelken, so ist es auch vielleicht der Fall mit den Einwohnern dieses Himmelstrichs selbst: früher und reizender aufblühend und reifend, sind ihre Körper wollüstiger, idealischer, aber auch hinfälliger und vergänglicher, als die unsrigen.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1794. 1794, Sommer. Mit Johann Daniel Falk. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A369-5