1823, 4. December.
Mittag bei Goethe
Diesen Morgen brachte mir [Eckermann] Secretär Kräuter eine Einladung bei Goethe zu Tische. Dabei gab er mir von Goethe den Wink, Zeltern doch ein Exemplar meiner ›Beiträge zur Poesie‹ zu verehren. Ich that so und brachte es ihm ins Wirthshaus.
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Darauf um 2 Uhr kam ich zu Tische. Ich fand Zelter bereits bei Goethe sitzen und Kupferstiche italienischer Gegenden betrachten. Frau von Goethe trat herein, und wir gingen zu Tische. Fräulein Ulrike war heute abwesend, desgleichen der junge Goethe, welcher bloß hereinkam, um guten Tag zu sagen, und dann wieder an Hof ging.
Die Tischgespräche waren heute besonders mannigfaltig. Sehr viel originelle Anekdoten wurden erzählt, sowohl von Zelter als Goethe, welche alle dahin gingen, die Eigenschaften ihres gemeinschaftlichen Freundes Friedrich August Wolf zu Berlin ins Licht zu setzen. [328] Dann ward über die Nibelungen viel gesprochen, dann über Lord Byron und seinen zu hoffenden Besuch in Weimar, woran Frau von Goethe besonders theilnahm. Das Rochusfest zu Bingen war ferner ein sehr heiterer Gegenstand, wobei Zelter sich besonders zweier schöner Mädchen erinnerte, deren Liebenswürdigkeit sich ihm tief eingeprägt hatte und deren Andenken ihn noch heute zu beglücken schien. Das gesellige Lied ›Kriegsglück‹ von Goethe ward darauf sehr heiter besprochen. Zelter war unerschöpflich in Anekdoten von blessirten Soldaten und schönen Frauen, welche alle dahin gingen, um die Wahrheit des Gedichts zu beweisen. Goethe selber sagte, er habe nach solchen Realitäten nicht weit zu gehen brauchen, er habe alles in Weimar persönlich erlebt. Frau von Goethe aber hielt immerwährend ein heiteres Widerspiel, indem sie nicht zugeben wollte, daß die Frauen so wären als das »garstige« Gedicht sie schildere.
Und so vergingen denn auch heute die Stunden bei Tische sehr angenehm.
Als ich darauf später mit Goethe allein war, fragte er mich über Zelter. »Nun,« sagte er, »wie gefällt er Ihnen?« Ich sprach über das durchaus Wohlthätige seiner Persönlichkeit. »Er kann,« fügte Goethe hinzu, »bei der ersten Bekanntschaft etwas sehr derb, ja mitunter sogar etwas roh erscheinen. Allein das ist nur äußerlich. Ich kenne kaum jemand, der zugleich so zart wäre wie Zelter. Und dabei muß man nicht [329] vergessen, daß er über ein halbes Jahrhundert in Berlin zugebracht hat. Es lebt aber, wie ich an allem merke, dort ein so verwegener Menschenschlag beisammen, daß man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muß, um sich über Wasser zu halten.«
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