1810, April und vorher (?).


Mit Franz Passow

Sie wissen wohl, daß die bewegliche und geschwätzige Madame Schopenhauer alle Winter gewisse Repräsentationsthees hält, die sehr langweilig sind, besonders seit Fernows Tod; zu denen sich aber alles Gebildete oder Bildung vorgebende drängt, weil Goethe häufig dort zu sehen war. Als ich nach Weimar kam, besuchte ich denn diese Dame auch; sie lud mich zu ihren Thees, und ich besuchte sie den ganzen Winter, aller Langenweile zum Trotz, weil ich Goethe dort zu sehn und ihn zuweilen sprechen und erzählen zu hören mich erfreute, selbst wenig Theil nehmend, weil der ewig mit aufgesperrtem Maul lachende und jachternde frivole Ton des Thees nicht in mein Fach gehört. Als im Herbst darauf (1808) die Thees wieder angehen sollten, kommt die Schopenhauer zu meiner Luise, und nach einigen Umschweifen eröffnet sie ihr: sie bedaure gar sehr, mich [309] nicht wieder zu ihren Thees laden zu können, denn Goethe habe ihr erklärt, er würde in keine Gesellschaft kommen, wo er mich wisse, und aus ihren Thees ein für allemal wegbleiben, wenn ich käme. Was die Schopenhauer bei diesem Zumuthen hätte thun sollen, will ich nicht urgiren, dafür ist sie Madame Schopenhauer. Zugleich bat sie um Gottes Willen, Luise möchte verhindern, daß ich Goethen nicht zur Rede setzte etc., die ganze Sache solle unter uns bleiben. Das versprach Luise gleich in meinem Namen, weil sie über meine Meinung keinen Augenblick im Zweifel war, und verbat die Thees fortan auch für sich. Als ich zu Hause kam, erfuhr ich die wunderliche Geschichte, und sie kränkte mich tiefer als ich damals selbst glaubte, weil ich das Verfahren immer unedel fand, und Goethe Leute um sich duldete, mit denen ich mich in aller Rücksicht vergleichen durfte. Aber ich war lange gewohnt, Goethen nicht nach dem Gesetz zu denken, das uns andern Erdensöhnen unsern Werth oder Unwerth streng zumißt: weil ich in so vieler Hinsicht den Außerordentlichen bewunderte, so gestand ihm mein Gefühl, alle persönliche Kränkung unterdrückend, auch hier, wiewohl mit einigem Widerstreben, das Recht anders zu verfahren, als die gewöhnlichen Zweifüßler, die die Frucht der Erde essen, ruhig zu. Ihn zur Rede zu setzen, wäre mir auch ohne die gegebene Zusage nicht eingefallen: ich glaubte, ihm mißfalle etwas an mir, das er vielleicht selbst nicht aussprechen könnte, und daß er das so bestimmt und [310] entschieden aussprach, konnte ich seiner herrschenden Natur gerade nicht verargen. Hinfort auf Discretion hoffend, zog ich mich, um ihn nirgends durch Zusammentreffen mit mir zu verletzen, ganz auf mich selbst und auf 2, 3 vertraute, bewährte Freunde zurück, von aller guten Gesellschaft ohnehin durch dieß Pröbchen aus der besten zurückgeschreckt. Ich verschloß die Sache übrigens in mir, und erzählte sie niemandem, als Schulzen, und – wo ich nicht irre – dem guten, mir von Kindheit aus befreundeten Plüskow; selbst Abeken weiß sie von mir noch nicht. In dieser Passivität und gänzlichen Zurückgezogenheit, wodurch ich die Verehrung, die ich gegen Goethe bewahrte, jetzt am richtigsten auszudrücken glaubte, vergingen ungefähr anderthalb Jahre. Im vorigen Jahre kam ein alter Freund meines Vaters, der auch mir schon seit längerer Zeit wohl wollte, der Oberst von Hintzenstern, vormaliger Gouverneur des Prinzen Bernhard, nach Weimar und ließ sich hier nieder. Dieser vortreffliche Mann wurde einer der wenigen, mit denen ich umging, der mich näher kennen lernte, und mich lieb gewann. Er wünschte, daß ich mehr Theil nehmen möchte am geselligen Leben, was ich ablehnte, ohne doch mich berechtigt zu fühlen, ihm den Grund zu sagen. Vor einigen Wochen kommt er zu mir, als ich gerade aus bin, und zwischen ihm und meiner Luise entspinnt sich ein Gespräch über mein verschlossenes und zurückgezognes Leben. Da er sich so gar liebevoll über mich äußerte, fühlt Luise sich getrieben, [311] ihm zu eröffnen, was wir als Geheimniß behandelt hatten, und sie erzählt ihm den ganzen Hergang. Hintzenstern ist außer sich, kann dergleichen von Goethe nicht begreifen, und hält alles für Erfindung der Schopenhauer, beschließt indeß der Sache auf den Grund zu kommen, es koste was es wolle. Er horcht hie und da auf, und hat die Freude zu sehn, daß das, was uns als Geheimniß übergeben, und von uns mit der äußersten Schonung behandelt war, in allen adligen Häusern längst bekannte und angenommene Sache war (ob durch das Goethesche Haus, ob durch die Schopenhauer verbreitet, weiß ich nicht, verlang es auch nicht zu wissen), und dazu weiß man auch den Grund jenes meines Bannes, den die Schopenhauer nicht zu wissen sich gegen uns gestellt hatte: »Goethe sei deshalb aufgebracht auf mich, weil ich öffentlich in der Schule seine Gedichte getadelt und auf sie geschimpft habe.« Hintzenstern sagte mir, wie weit er in seinen Nachforschungen gediehen war. Als dieser schöne Grund aber hervorkam, da weiß ich nicht ob ich das höchst lächerliche oder das ganz nichtswürdige einer solchen Lüge am stärksten fühlte. Mir stieg das Blut aber auch vor Freude zu Kopf, daß der Grund nicht in mir selbst, daß er ganz außer mir, daß er in einer Unmöglichkeit lag. Denn daß ich anders, als mit höchster Liebe von einem Goethischen Gedicht sprechen könnte, ist pure Unmöglichkeit. Ich sagte Hintzenstern, soviel ich wußte und konnte, und soviel es zu meiner vollsten Rechtfertigung [312] bedurfte; und das war mit wenig Worten gethan, denn Hintzenstern kennt mich. Nun aber versprach er, alles dran zu setzen, Goethen über seinen Irrthum aufzuklären: er fühlte sich und mich und alles Recht und alle Sitte gekränkt, und das könnte der wohlbesonnene, aber tief und starkfühlende unermüdliche Mann nicht so mit ansehn. Er mußte alles Mißverständniß lösen; Einsiedel und einige andere riethen ihm zaghaft ab, aber er ließ sich nichts einreden. Im Vertrauen auf Goethes rechten Sinn und auf die gute, reine Sache, für die er sprach, ging er zu Goethe, erzählte ihm die ganze Sache, wie man mich in steter Unwissenheit mit der Hauptsache erhalten habe, wie ich die ganze Sache aus ruhigem Selbstgefühl, nicht aus schuldigem Bewußtsein auf sich habe beruhen lassen, wie er den ganzen Vorgang erfahren habe, und wie sehr unrecht mir geschehen sei. So wie Hintzenstern erwartet hatte, nahm Goethe die Sache, äußerte sich freundlich über mich, und wie sehr es ihn freue, ein solches Mißverständniß so, und durch einen solchen Mann gelöst zu sehn, und versprach ihm, mir zu zeigen, daß ihn nichts mehr von mir entferne. Hintzenstern kam ganz außer sich vor Freude angelaufen, und da ich nicht zu Hause war, erzählte er Luisen, wie gut sich Goethe gezeigt und geäußert habe. So verging wieder eine Zeit von 8 Tagen; endlich am letzten Mittwoch ließ Goethe mich und Luise zu Tisch bitten. Es war sonst niemand geladen, und er ließ es sich recht sichtbar [313] angelegen sein, mir auf jede Weise auf's deutlichste zu zeigen, daß keine Spur der alten Mißstimmung und Entfremdung in ihm übrig sei. Die drei Stunden, die wir mit ihm zubrachten, waren mir freilich in mancher Rücksicht peinlich; es war mir alles so fremd und neu und unerwartet: aber es ist auch wieder ein gar süßes Gefühl, sich von einem immerwährend bewunderten und verehrten Manne nach so langer Zwischenzeit nicht mehr verkannt zu sehn, zu sehn, wie der einzig verehrte Mann es sich selbst angelegen sein läßt, jede Spur natürlicher Scheu durch Freundlichkeit und Milde und Hervorsuchen solcher Dinge, die mir die nächsten, liebsten sein mußten, wegzutilgen. So zähl ich diese drei Stunden auch wieder den schönsten meines Lebens bei. Ich kehrte heitrer, als ich gehofft hatte, recht innerlich befriedigt und in schöner Genüge wieder heim, nun auch der ganzen Zwischenzeit, obgleich sie mir erst jetzt recht dumpf und bänglich erscheint, nicht mehr zürnend. Gestern Nachmittag bin ich wieder allein bei ihm gewesen und habe ihm meinen Persius gebracht, von dem ich ihm schon am Mittwoch allerlei hatte sagen und erzählen müssen. Er sprach ganz herrlich über das Alterthum: es wird in seinem Munde jedes Wort so bedeutend, und was er sagt, ist so unaussprechlich wahr, daß man es selbst schon, nur nicht so klar, gedacht zu haben glaubt. Aber, lieber Voß, da schreib ich Ihnen im Strom der Freude lauter Sachen hin, die Sie eben so gut und besser wie ich wissen. Morgen geht Goethe [314] nach Jena auf eine ganze Zeit; aber er hat mir selbst den Anlaß und die Erlaubniß gegeben, ihm dorthin zu schreiben, und in den Osterferien marschir ich selbst nach Jena, und seh ihn dort wieder, und den alten biedern, energischen Knebel, der mir herzlich wohl will.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1810. 1810, April und vorher (?). Mit Franz Passow. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A256-8