1821, 5. September.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Goethe forderte mich dann auf, ihn in das Egerthal zu begleiten. Meinem Vorschlage zufolge gingen wir zum Mühlthore hinaus. Ich stieg beim ersten Thore links den Felsen hinauf, um einige an der Ecke der Schloßruinen eingemauerte schwarze Steine zu betrachten, und berichtete, daß es die nämliche Steinart sei, woraus der sogenannte schwarze Römerthurm erbaut ist.

»Diese Burg ist jedenfalls viel später gebaut, 1« sagte Goethe; »es werden noch einige vorräthige Steine davon umhergelegen sein, die man zum Thurmbau benutzen wollte, allein nicht mehr hiezu brauchen konnte.«

Der Weg führte in Windungen zwischen den Gärten, in welchen die Tuchmacher ihre Tuchrahmen aufgestellt haben. Davon nahm Goethe Veranlassung [124] zu Fragen über die Anzahl der Tuchmacher zu Eger, über die Tucherzeugung und über den Absatz der Tuche. Ich befriedigte seine Wißbegierde und fügte hinzu, daß ehemals die hiesige Tuchmacherzunft sehr bedeutend gewesen sein müsse; denn aus den Chroniken gehe hervor, daß die Egerer Tuchmacher das Raubschloß Graslitz mit gestürmt, und vom Thurme den goldenen Stern erbeutet hatten, welcher dann dem ehemaligen alten Rathhausthurm aufgesetzt wurde. Für diese That wurde den Tuchmachern die damals große Auszeichnung zu Theil, bei ihren öffentlichen Aufzügen sich der Trompeter bedienen zu dürfen. Die Tuchknappen hielten auch zu gewissen Zeiten den Laternentanz; worin dieser bestand, konnte ich nirgends auffinden. Sie mußten, wenn sie diesen Tanz halten wollten, um Bewilligung ansuchen, welche ihnen nicht immer vom Rathe ertheilt wurde. Es muß ein ganz besonderer Tanz gewesen sein, da sie sich bei Anwesenheit höchster Herrschaften damit produciren mußten. Jedenfalls dürfte er interessanter gewesen sein als unsere Walzer und Galopps, denn es wird mir immer unwohl, wenn ich dieses wüthend schnelle Drehen, dieses zwecklose, der Gesundheit schädliche Toben und Rasen ohne alle Kunst und Grazie ansehen muß.

Darauf Goethe: »Lassen wir sie austoben, sie werden bald zur Kunst zurückkehren und eine Menuette zierlich wieder aufführen. In höheren Cirkeln wird die Tanzkunst ohnedies fortwährend cultivirt.«

[125] Als ich ihn Abends in Folge seiner Einladung besuchte, erkundigte er sich näher über die Lage des Schülers, dem er das erste Prämium überreicht hatte. Ich sagte ihm, daß derselbe der Sohn eines armen Taglöhners sei, und seinen Lebensunterhalt hier durch Kosttage und Ertheilung von Privatunterricht gefunden habe. So würden von den hiesigen Bürgern und Klöstern viele arme Schüler unterhalten. Gar mancher derselben sei nachher zu hohen Ehrenstellen gelangt.

»Die Egerer sollen dieserwegen gelobt werden,« sagte Goethe, nahm ein für die Ertheilung des Unterrichtes in den Gymnasien vorgeschriebenes Lehrbuch der Geschichte zur Hand, blätterte es durch und äußerte: »Nun sehen Sie, wie geschickt das Geschichtsbuch für die Jugend eingerichtet ist. Die Marginalanmerkungen sind gut, und die Application der aus der Geschichte herausgehobenen Facta zur Belehrung der Jugend ist zweckmäßig; es ist nichts dagegen zu sagen.«

Dann ging er die deutsche Chrestomathie durch. Da sein Name so selten darin vorkömmt, so war ich begierig, ob nicht in seinen Mienen einiger Unmuth zu lesen sein werde. Er aber legte das Buch ganz unbefangen weg, und sagte nach einer Pause:

»Als Muster für die Jugend bin ich weniger als Gellert, Lichtwer, Hagedorn zu gebrauchen.«


Note:

1 Sc. als der schwarze Thurm.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1821. 1821, 5. September. Mit Joseph Sebastian Grüner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A0BA-7