1792, 23. März.


Im Weimarer Gelehrten-Verein

Nun überraschte uns Goethe mit einem Aufsatz, dessen Ankündigung ebenso befremdend, als die Ausführung hinreißend und unterhaltend war. Es ging ein, auf einen Bogen gezeichneter Stammbaum herum und zugleich kündigte uns Goethe an, er wolle uns etwas über Cagliostro's Stammbaum und die Familie dieses Wundermannes vorlesen.

»Als ich,« fing er an zu erzählen, »im Jahre 1787 mich auf meinen Reisen einige Zeit zu Palermo in Sicilien aufhielt, wurde in allen Gesellschaften vom Grafen Cagliostro, als einem gebornen Palermitaner, dessen nächste Blutsfreunde noch in kümmerlichen Umständen in Palermo lebten, gesprochen. Man sagte mir in einer Gesellschaft, ein sehr geschickter Advocat habe auf Requisition des französischen Hofes die Familienumstände des Herrn Landsmannes genau untersucht und darüber ein Memoire nach Paris geschickt, wo sich damals der berühmte Halsbandpro ceß für Cagliostro [129] damit geendigt hatte, daß dieser freigelassen wurde und nach England ging. Meine Neugier, diesen Advocaten selbst kennen zu lernen, wurde durch die Dienstfertigkeit Eines aus der Gesellschaft bald befriedigt, der mich schon des andern Tags bei diesem Manne einführte. Dieser legte mir hierauf den ganzen Stammbaum des Abenteurers und zugleich eine Abschrift des Memoires vor, das er nach Frankreich zur Entlarvung des Herrn Balsamo geschickt hatte. Sein mütterlicher Großvater hatte wirklich Joseph Cagliostro geheißen, unter welchem Namen sich noch Verwandte in Messina befinden. Sein Vater war ein Kaufmann, der insolvent geworden und bald gestorben war. Der junge Balsamo hatte einige Zeit in einem Kloster der barmherzigen Brüder zugebracht, wo er eben sein bischen empirische Medicin gelernt hatte, weil dieser Orden die Krankenpflege in den Spitälern besorgte. Als er dieser Klosterzucht entlaufen war, lernte er alle Hände meisterhaft nachmachen, kam dieser Kunst wegen in's Gefängniß und entkam diesem durch eine Flucht nach Rom, wo er seine Seraphine, eine Gürtlerstochter, heirathete, durch ihren Erwerb nun die Rolle eines Grafen Pellegrino zu spielen anfing, und unter diesem Namen selbst die Unverschämtheit hatte, wieder nach Palermo zu kommen. Aber hier wurde er erkannt und zum zweiten Male festgemacht. Aber auch diesmal wußte er sich seine Freiheit durch die Schönheit seiner Frau zu verschaffen, deren erklärter Liebhaber, ein roher junger Principe, den [130] Advocaten, der gegen Balsamo diente, so mißhandelte, daß dieser aus Angst nun selbst die Loslassung des Gefangenen bewirkte. Nun verließ unser Held Palermo zum zweiten Male, nahm seines Großvaters Cagliostro Namen an und durchstrich, wie bekannt, Europa. Dies und vieles Andre lernte ich aus jenem Memoire, das ich vom Advocaten zum Ansehen erhielt, sowie ich mir auch den dabei befindlichen Stammbaum copirte. Der Advocat hatte die Data zu dem letzteren von Balsamo's noch lebender Mutter und Schwester auf eine gute Art zu erhalten gewußt.

Dies machte mich neugierig, diese Familie selbst kennen zu lernen. Es hielt schwer, da es arme Leute waren, die jeden Besuch eines Fremden sehr verdächtig finden mußten. Aber der Schreiber des Advocaten, der mir die Sache communicirte, erbot sich doch, mich als einen Engländer dort bekannt zu machen, der genaue Nachricht von der Befreiung Cagliostro's aus der Bastille und seiner glücklichen Ankunft in England zu überbringen habe. Der Anschlag glückte.«

Nun erzählte Goethe mit seiner unnachahmlichen Kunst zu erzählen und Familienscenen zu malen, seinen Eintritt in die kleine Wirthschaft dieser armen Bürgerfamilie. In der Küche wusch Cagliostro's Schwester eben das Eßgeschirr auf und deckte sogleich beim Eintritt des Fremden, der hier durch die Küche in die Wohnstube passiren mußte, durch Ueberschlagen der Schürze den noch weniger abgetragenen und verschossenen [131] Vordertheil ihres Rockes auf. In dem Wohn- und Familienzimmer – die ganze Familie hatte nur dies einzige – sah alles ärmlich, doch reinlich aus. Schwarze Heiligenbilder hingen an den Wänden, die einst gefärbt gewesen waren. Die Rohrstühle waren einst vergoldet gewesen. Ein einziges Fenster erleuchtete das Zimmer, an dessen einem Ende die alte harthörige Mutter, an dem andern eine kranke schlafsüchtige Frau saß, die man in der Familie, trotz alles eignen Mangels, aus Barmherzigkeit unterhielt. Goethe mußte nun der alten Mutter die Nachricht von ihrem Sohne weitläufig verdolmetschen lassen, da er des gemeinen Dialects der Sicilianer nicht ganz kundig war. Die Schwester, die selbst schon drei erwachsene Kinder hatte und eine arme Wittwe war, erzähtte, wie es ihr kränkend sei, daß ihr Bruder, der große Schätze besitzen sollte, nicht einmal die 13 Once d'oro (Dukaten) wiederschicke, womit sie ihm bei seiner letzten Abreise aus Palermo seine versetzten Sachen eingelöst habe. Fragen an Goethe, ob er nicht das Rosalienfest in Palermo abwarten wolle, ob er einen Brief an ihren Bruder in England bestellen wolle. Die alte Mutter fragte, ob er wohl ein Ketzer sei u.s.w. Beim Abschied, der schon sehr traurig war, verspricht Goethe, morgen wieder zu kommen und den Brief selbst abzuholen. Er kommt auch den andern Tag wirklich wieder und erhält einen Brief und einen pathetischen (rührend geschilderten) mündlichen Auftrag von der alten Mutter, die keinen[132] ganzen Mantel mehr hat, um in die Messe gehen zu können. Beim Abschiede rührende Zunöthigung, das Fest der heiligen Rosalia noch in Palermo und in Gesellschaft dieser guten armen Leute zu feiern. – Hätte es Goethe's Reisekasse auf der Stelle erlaubt, er hätte seinen kleinen Betrug sogleich dadurch gut gemacht, daß er unter dem Vorwand, er wolle sich das Geld in England vom Bruder wiedergeben lassen, der Schwester noch vor der Abreise die 13 Dukaten geschickt hätte, die sie für ihren Bruder ausgelegt hatte. Was indessen damals nicht geschehen konnte, ist später von Deutschland aus geschehen.

Goethe hatte diese Auftritte in einigen Zirkeln seiner Freunde erzählt. Diese setzten ihn in den Stand, der armen Familie noch mehr zu schicken, als jenes betrug. Der englische Kaufmann Corf in Palermo, an den es Goethe spedirte, händigte es ohne alle Adresse ein. Die guten Leutchen meinten, dies käme wirklich von ihrem Bruder aus England und dankten ihm schriftlich. Auch diesen Brief, den dann Goethe von jenem Kaufmann zugeschickt bekam, las er uns jetzt vor. Er war sehr rührend, die Gabe war gerade zum Weihnachtsfeste angelangt. Die Mutter schrieb die Rührung des Herzens ihres Sohnes dem heiligen Mutter-Gottes-Kinde zu. Noch hat Goethe eine Summe in den Händen, die er der armen Familie, welche durch Cagliostro's neueste Schicksale in Rom aller Hoffnung beraubt sein muß, noch zuschicken wird. – Einer aus der Gesellschaft [133] glaubt, es sei das Honorar, welches Goethe von Unger in Berlin für das Manuscript des »Großkophta« erhalten hat. Mir ist's auch aus andern Gründen wahrscheinlich; und so wäre es in der That höchst sonderbar, daß eine Summe Geldes, die durch ein Schauspiel erworben wurde, das Cagliostro's Betrügereien und stirnlose Frechheit geißelt, dieses nämlichen Caglistro's alter Mutter und hilfloser Schwester in Palermo zur Erquickung gereicht, und daß Beides ein und derselbe Deutsche that.

Vergeblich würde ich mich übrigens bemühen, die Schilderungen und kleinen, entzückenden Details wiederzugeben, die Goethe in die Erzählung dieses kleinen Reiseabenteuers zu verweben gewußt hatte. Enfin, la sauce valait bien la viande. So schwebt mir jetzt gleich noch das Gemälde vor Augen, wie beim ersten Besuch bei der Familie Goethe mit seinem Begleiter in's große Gemach eingewiesen worden war, so verweilte die Schwester, die sie in der Küche angetroffen hatten, noch etwas in derselben. »Als sie her eintrat,« erzählte Goethe, »hatte sie eine reine weiße Schürze umgethan und statt der klappernden Korkpantoffeln Schuhe mit einem rothen Bändchen angezogen. Sie setzte sich mir schief über, stemmte beide Hände auf die Knie und befühlte nun, so vorwärts gebogen mit arglosem unbeleidigendem Blicke jede Muskelbewegung des ihr fremden Mannes.«

Vieles, was später in den zu Rom aus dem Verhöre [134] gedruckten Nachrichten von Cagliostro stand, war noch ausführlicher in jenem Memoire des palermitanischen Advocaten, das Goethe blos darum nicht gang copirte, weil er gewiß glaubte, man würde es in Paris selbst sogleich drucken lassen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1792. 1792, 23. März. Im Weimarer Gelehrten-Verein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A05B-C