1826, 27. December.


Mit Johann Peter Eckermann

Dem Phänomen des blauen und gelben Schattens hatte ich nun zu Hause fleißig nachgedacht, und wiewohl es mir lange ein Räthsel blieb, so, ging mir doch bei fortgesetztem Beobachten ein Licht auf, und ich ward nach und nach überzeugt, das Phänomen begriffen zu haben.

[333] Heute bei Tische sagte ich Goethen, daß ich das Räthsel gelöst. »Es wäre viel,« sagte Goethe; »nach Tische sollen Sie es mir machen.« – »Ich will es lieber schreiben,« sagte ich; »denn zu einer mündlichen Auseinandersetzung fehlen mir leicht die richtigen Worte.« – »Sie mögen es später schreiben,« sagte Goethe, »aber heute sollen Sie es mir erst vor meinen Augen machen und mir mündlich demonstriren, damit ich sehe, ob Sie im rechten sind.«

Nach Tische, wo es völlig hell war, fragte Goethe: »Können Sie jetzt das Experiment machen?« – »Nein,« sagte ich. »Warum nicht?« fragte Goethe. »Es ist noch zu hell,« antwortete ich; »es muß erst ein wenig Dämmerung eintreten, damit das Kerzenlicht einen entschiedenen Schatten werfe; doch muß es noch hell genug sein, damit das Tageslicht diesen erleuchten könne.« – »Hm!« sagte Goethe, »das ist nicht unrecht.«

Der Anfang der Abenddämmerung trat endlich ein, und ich sagte Goethen, daß es jetzt Zeit sei. Er zündete die Wachskerze an und gab mir ein Blatt weißes Papier und ein Stäbchen. »Nun experimentiren und dociren Sie!« sagte er.

Ich stellte das Licht auf den Tisch in die Nähe des Fensters, legte das Blatt Papier in die Nähe des Lichts, und als ich das Stäbchen auf die Mitte des Papiers zwischen Tages- und Kerzenlicht setzte, war das Phänomen in vollkommener Schönheit da. Der Schatten [334] nach dem Lichte zu zeigte sich entschieden gelb, der andere nach dem Fenster zu vollkommen blau.

»Nun,« sagte Goethe, »wie entsteht zunächst der blaue Schatten?« – »Ehe ich dieses erkläre,« sagte ich, »will ich das Grundgesetz aussprechen, aus dem ich beide Erscheinungen ableite.

Licht und Finsterniß«, sagte ich, »sind keine Farben, sondern sie sind zwei Extreme, in deren Mitte die Farben liegen und entstehen, und zwar durch eine Modification von beiden.

Den Extremen Licht und Finsterniß zunächst entstehen die beiden Farben gelb und blau: die gelbe an der Grenze des Lichts, indem ich dieses durch ein getrübtes, die blaue an der Grenze der Finsterniß, indem ich diese durch ein erleuchtetes Durchsichtige betrachte.

Kommen wir nun,« fuhr ich fort, »zu unserm Phänomen, so sehen wir, daß das Stäbchen vermöge der Gewalt des Kerzenlichts einen entschiedenen Schatten wirft. Dieser Schatten würde als schwarze Finsterniß erscheinen, wenn ich die Läden schlösse und das Tageslicht absperrte. Nun aber dringt durch die offenen Fenster das Tageslicht frei herein und bildet ein erhelltes Medium, durch welches ich die Finsterniß des Schattens sehe, und so entsteht denn, dem Gesetz gemäß, die blaue Farbe.« Goethe lachte. »Das wäre der blaue,« sagte er; »wie aber erklären Sie den gelben Schatten?«

[335] »Aus dem Gesetz des getrübten Lichts,« antwortete ich. »Die brennende Kerze wirft auf das weiße Papier ein Licht, das schon einen leisen Hauch vom Gelblichen hat. Der einwirkende Tag aber hat so viele Gewalt, um vom Stäbchen aus nach dem Kerzenlichte zu einen schwachen Schatten zu werfen, der, so weit er reicht, das Licht trübt, und so entsteht, dem Gesetz gemäß, die gelbe Farbe. Schwäche ich die Trübe, indem ich den Schatten dem Lichte möglichst nahe bringe, so zeigt sich ein reines Hellgelb; verstärke ich aber die Trübe, indem ich den Schatten möglichst vom Lichte entferne, so verdunkelt sich das Gelbe bis zum Röthlichen, ja Rothen.«

Goethe lachte wieder, und zwar sehr geheimnißvoll. »Nun,« sagte ich, »habe ich recht?« – »Sie haben das Phänomen recht gut gesehen und recht hübsch ausgesprochen,« antwortete Goethe, »aber Sie haben es nicht erklärt. Ihre Erklärung ist gescheit, ja sogar geistreich, aber sie ist nicht die richtige.«

»Nun so helfen Sie mir,« sagte ich, »und lösen Sie mir das Räthsel, denn ich bin nun im höchsten Grade ungeduldig.« – »Sie sollen es erfahren,« sagte Goethe, »aber nicht heute und nicht auf diesem Wege. Ich will Ihnen nächstens ein anderes Phänomen zeigen, durch welches Ihnen das Gesetz augenscheinlich werden soll. Sie sind nahe heran, und weiter ist in dieser Richtung nicht zu gelangen. Haben Sie aber das neue Gesetz begriffen, so sind Sie in eine ganz andere Region [336] eingeführt und über sehr vieles hinaus. Kommen Sie einmal am Mittag bei heiterm Himmel ein Stündchen früher zu Tische, so will ich Ihnen ein deutlicher Phänomen zeigen, durch welches Sie dasselbe Gesetz, welches diesem zum Grunde liegt, sogleich begreifen sollen.

Es ist mir sehr lieb,« fuhr er fort, »daß Sie für die Farbe dieses Interesse haben; es wird Ihnen eine Quelle von unbeschreiblichen Freuden werden.«

Nachdem ich Goethe am Abend verlassen, konnte ich den Gedanken an das Phänomen nicht aus dem Kopfe bringen, sodaß ich sogar im Traume damit zu thun hatte. Aber auch in diesem Zustande sah ich nicht klarer und kam der Lösung des Räthsels um keinen Schritt näher.

[337]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1826. 1826, 27. December. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A019-F