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An Ernst Heinrich Friedrich Meyer

Ew. Wohlgeboren

sehr werthe Blätter bestätigen meine Gefühle und Gedanken, die sich bey Abfassung meines Schreibens zu [248] regen begonnen, daß man nämlich die Art und Weise, wie eine in's Leben tretende Idee fortgewirkt habe, eigentlich historisch nicht werde darstellen können: denn sie weckt sogleich die Eigenheiten der Individuen auf, wirkt psychisch, wirkt moralisch und kommt daher in den Fall, anstatt einer reinen gesunden Entwicklung zu genießen, vom rechten Wege krankhaft abgeleitet zu werden. Wird ja ebnermaßen die Geschichte der Kirchen und Nationen dadurch so verwirrt, daß der Hauptgedanke, der höchst rein und klar den Weltlauf begleiten mag, durch den Augenblick, das Jahrhundert, durch Localitäten und sonstigen Besonderheiten getrübt, gestört und abgelenkt wird.

Wenn wir aus uns selbst etwas Echtes, Würdiges gewahr werden, ist es die angenehmste Empfindung; auch eine wichtige Überlieferung, indem sie unsere bereiten Fähigkeiten aufschließt, veranlaßt ein freudiges Auffassen; und doch sind wir in beiden Fällen nicht sicher, das Gewonnene recht zu gebrauchen, das Erlangte gehörige durchzuführen und zu benutzen.

Herzlichen Dank deshalb für die ausführliche Ableitung der verschiedenen Sprossungen jenes Samenkorns! Ich werde weiter darüber denken und mir alles anzueignen suchen. Dann melde wieder und frage weiter an. Es ist der Mühe werth sich hierüber aufzuklären.

Sonderbarer ist es, daß der Mensch nicht so leicht begreift, wie räthlich und nützlich es sey, die einmal anerkannten [249] Anfänge getrost gelten zu lassen, indem wir uns in der Anwendung doch immer unendlich abzumüden haben. Mäkelt man doch nicht am Einmal-Eins und rechnet in Gottes Namen lebenslänglich weiter.

Mir war dieses wunderliche Bestreben der Menschen, immer auf ihre eigne Weise von vorn anfangen zu wollen, desto auffallender, als ich für mich selbst und um mein selbst willen auf das Erste hinzudringen strebte und, wo ich es auch finden mochte, in der Natur oder Überlieferung, nachher unbesorgt blieb, wie sich Leben aus und auf Leben enthüllen mochte. Anstatt aber das Einfachere sich und andern fruchtbar zu entwickeln, dreht man sich um den Anfang herum, dem man doch eher nichts abgewinnt, als wenn man auf ein lebendiges Fortschreiten aufmerkt.

Wenn daher Ihr wackrer Respondent sagt und dar auf beharrt: die Catyledonen seyen

Primi nodi folia,

so hat er alles Mögliche ausgesprochen, Folia und nodus sind die ganze Pflanze, die lasse man nun wachsen und sich entwickeln, und alles wird congruiren.

La nature est une redite perpetuelle.

An der Mannichfaltigkeit der Welterscheinungen freut sich der Lebemensch, an der Einheit dieser Mannichfaltigkeit der höhere Forscher.

Auch die stockende Wirkung meiner Farbenlehre hat mich hierüber denken lassen. Wenn die Herren[250] vom Fach sie ablehnen und verrufen, so ist es natürlich; sie müssen dem Borstbesen fluchen, der ihre Gespinnste bedroht. Daß aber vorzügliche, gute, wohlsinnige Männer, jüngere und ältere, die mit Eifer und Überzeugung daran gingen, doch gar bald an gewissen Puncten stockten und stecken blieben, mußte mir auffallen. Ich sah's mit Bedauern. Weniges von solchem Bestreben ist in's Publicum gekommen. Ich habe mir im Stillen Mühe gegeben mit diesen schätzbaren Personen, und ich mußte doch zuletzt auf das alte Wort wieder zurückkommen:

Longe aliter utimur propriis quam alienis.

Sie sehen, daß ich mich nach einer langen Abwesenheit wieder ganz bey Ihnen zu Hause finde. Lassen Sie mich so fortfahren und sagen mir auch einiges, was man gewöhnlich nicht sagt, von Zeit zu Zeit.

Gegenwärtiges sollte eigentlich nur ankündigen, daß mit dem heutigen Postwagen an Sie abgeht: eine Rolle, umwunden mit der Abbildung des Anthericum comosum, einem dazu gehörigen Druckblatt und einem geschriebenen zu fernerer An- und Umsicht.

Sodann ist am Ende dieses Stabes angebracht: ein hohler Pappenraum, in welchem zwey Stolonen gedachter Pflanze sich befindet. Bringen Sie solche sogleich in die Erde, und die Andeutungen der Luftwurzeln werden sich bald in Erdwurzeln verwandeln und sodann die haargleichen Stengelchen mit Büscheln[251] geendigt hervortreten. Die Fortpflanzungsgabe dieser species ist ganz gränzenlos, jeder Knoten ist ein unerschöpflicher Quirl von Augen, und hiezu denke man sich, daß die zahllosen Blüthen, die sich freylich auf heimischen Boden nach lebhafter und häufiger entwickeln mögen, auch alle Samen tragen.

Ein vierecktes Paquet, wie jenes in Wachspapier, enthaltend die beiden letzten Stücke von Kunst und Alterthum, in welchen Sie das liebenswürdige Gedicht freundlich anblicken möge!

Übrigens fahre zu guter Stunde mit dergleichen Betrachtungen fort, um, wenn ich die Nachricht von der Ankunft meiner Sendung erhalte, sogleich wieder einiges erwidern zu können.

Gründlich theilnehmend

ergebenst

Weimar den 23. April 1829.

J. W. v. Goethe.


Wir lesen von großem Unglück, das die Weichsel auf ihrem Laufe bis Danzig angerichtet hat; da der Pregel einen ungleich kürzern Weg durchläuft, so wird wohl Königsberg von dergleichen Unglück verschont geblieben seyn?

Nun aber lege ich noch ein Blättchen bey, um auszusprechen, was Sie mir ohnehin zutrauen, daß ich mich herzlich freue über das Ihnen neuerlich gewordene Gute. Hängt doch unser inneres Thun so sehr mit unsern äußern Zuständen zusammen, daß [252] eins durch das andere gefördert oder gehindert wird.

Mit Ungeduld erwart ich Ihre Schrift über die Vegetation von Labrador, und da tritt die Frage wohl wieder auf; inwiefern in Absicht auf Begünstigung des Pflanzenwachsthums die mittlere Temperatur oder die höchste des Jahres zu beachten sey.

Sodann aber lassen Sie mich nicht lange auf die allgemeine Morphologie der Pflanze warten. Meine Freunde haben sich zu eilen, wenn sie mich von den Resultaten ihrer Forschungen wollen genießen lassen. Nun aber, da noch Raum übrig ist, wird es Sie gewiß interessiren, zu erfahren, wie es mit der Pflanzenwelt bey uns aussieht: die Schneeglöckchen wuchsen etiolirt unter dem Schnee und gaben keine erfreuliche Blüte; die Crocus kamen zu rechter Zeit, wurden aber durch gewaltsame Regen niedergeschlagen. Den 7. April zog ein großes Gewitter herauf; der Regen wüstete gar sehr, ein Wandernder ward auf freyem Felde erschlagen. Jetzt stehen die Kaiserkronen, mit denen ich etwas chinesisch meinen Garten verziert habe, in völliger Pracht; sie kamen nicht zu früh und litten nicht im Wachsthum. Die gelbrothen stehen in völliger Blüthe, die hellgelben noch nicht, wie diese denn überhaupt einen schwächern Wachsthum zeigen (wobey ich bemerke, daß die violetten und weißen Crocus später als die hochgelben hervortreten; die mehr energische Farbe deutet auf ein rascheres, ja selbst mehr charakteristisches Leben). [253] Dieß alles ereignet sich vor meinem Fenster, wo denn auch Knospen der Zwergmandel sich zu röthen anfangen. Die grünen Wunderhäupter der monstrosen Tulpen fangen an sich zu färben, und die Knospen der Birnbäume sind im Begriff sich aufzuschließen. Zugleich kommt der alte Pflanzen- und Kräutermann von Ziegenhayn und bringt die Rediten der Flora Jenensis von Ruppe's Zeiten und wer weiß wie lange her, welche mich noch jedes Frühjahr seit mehr als 50 Jahren heimsuchen. Zum scherzhaften Zeugniß der heutigen Lection lege seine Zettelchen bey; sie mögen zum Beweis dienen, daß die Pflanzenluft noch immer um mich her lebendig ist.

treulichst

Weimar den 23. April 1829.

G.


[Beilage.]
Adonis vernalis, 13, Böhmisch Christwurz.
Pulmonaria officinalis, 5, Lungenkraut.
Thlaspi montanum, 15, Täschelkraut.
Veronica triphyllos, 12, Ehrenpreis.
Lamimum purpureum, 14, Traube Nessel.
Primula veris elatior, 5, Waldschlüsselblume.
Adoxa moschatellina, 8, Bisamkraut.
Primula officinalis, 5, Schlüsselblume.
Salix fragilis, 22, Bruchweide.
Brassica napus, 15, Rapssame.
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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1829. An Ernst Heinrich Friedrich Meyer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-98DA-F