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An Antoine Leonard de Chézy
Sie werden nicht zweifeln, verehrter Mann, daß ich mit dankbarem Herzen die schöne Gabe empfing, die Sie mir auf das geneigteste zudachten. Unerwartet erfolgt jedoch gleich darauf die große Epoche, die uns für unsere werthen Freunde in Paris besorgt machen mußte. Jetzt aber, da sie den allgemeinen Wünschen gemäß vorübergegangen, und ich mich vergewissern kann, daß sie keinen der Männer, die mir zunächst am Herzen liegen, schädlich berührt hat, kann ich mich desto freyerem Geiste Gegenwärtiges erlassen und darf aussprechen, welch ein ganz vorzügliches Geschenk Sie mir durch die Übersetzung der Sakuntala verliehen haben.
Das erste Mal als ich dieses unergründliche Werk gewahr wurde, erregte es in mir einen solchen Enthusiasmus, zog mich dergestalt an, daß ich es zu studiren nicht unterließ, ja sogar zu dem unmöglichen Unternehmen mich getrieben fühlte, es, wenn auch nur einiger Maßen, der deutschen Bühne anzueignen. Durch [284] diese wenn gleich fruchtlosen Bemühungen bin ich mit dem höchst schätzbaren Werke so genau bekannt geworden, es hat eine solche Epoche in meinem Lebensgange bestimmt, es ist mir so eigen geworden, daß ich seit dreyßig Jahren weder das Englische noch das Deutsche je wieder angesehen habe.
Nun aber begrüßt Ihre unmittelbare durchstudirte Übersetzung mich in hohen Jahren, wo der Stoff eines Kunstwerks, welcher sonst den Antheil meistens bestimmt, für die Betrachtung fast Null wird, und man der Behandlung allein, aber in desto höherem Grade, Ehre zu geben sich befähigt fühlt.
Soll ich meine Betrachtungen hier im Kurzen zusammenfassen: Ich begreife erst jetzt den überschwenglichen Eindruck, den dieses Werk früher auf mich gewann. Hier erscheint uns der Dichter in seiner höchsten Function, als Repräsentant des natürlichsten Zustandes, der feinsten Lebensweise, des reinsten sittlichen Bestrebens, der würdigsten Majestät und der ernstesten Gottesbetrachtungen: zugleich aber bleibt er dergestalt Herr und Meister seiner Schöpfungen, daß er gemeine und lächerliche Gegensätze wagen darf, welche doch als nothwendige Verbindungsglieder der ganzen Organisation betrachtet werden müssen.
Dieses alles wird uns nun erst recht eingänglich durch die anmuthige, in so hohem Grade gebildete französische Sprache, und es ist uns im Augenblick zu Muthe, als wenn wir alles Heitere, Schöne, [285] Kräftige, was wir jemals in diesem Idiom vernommen, nochmals anklingend empfänden.
Ich könnte noch lange fortfahren und gar manches Bedeutende hier anknüpfend; allein ich will abbrechen und nur noch wiederholt versichern: daß Ihre Sakuntala unter die schönsten Sterne zu rechnen ist, die meine Nächte vorzüglicher machen als meinen Tag.
Ich schreibe Gegenwärtiges in der Sprache, in der ich am sichersten Gedanken und Empfindungen ausdrücke. Ich würde es thun, wenn ich auch nicht vermuthen müßte, daß das schöne, von Ihnen so zart und bedeutend ausgesprochene Verhältniß zu einer werthen, schmerzlichen vermißten Gattin, die zu den unsern gehörte, Sie auch mit unsrer Sprache, unsrer Art und Wesen näher befreundet habe.
Dankbar, hochachtungsvoll
verpflichtet
J. W. v. Goethe.