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An Carl Friedrich Zelter
So will ich denn auch vermelden daß unsere wandernde Nachtigall Sonntags den 11. Abends angekommen und, durch ein nicht zu entzifferndes Brouillamini, das aus Versehen, Versäumniß, Unwillen und Intrigue entstanden, nicht zur öffentlichen [176] Erscheinung gekommen. Sie sang Montags bey einem Frühstücke, welches die Frau Erbgroßherzogin veranstaltete, und erntete den größten Beyfall; nachher besuchte sie mich und gab einige Musterstückchen ihres außerordentlichen Talentes; für mich insofern hinreichend, daß ich den Begriff, den ich von ihr hegte, wieder an- und aufgefrischt empfand. Das hiesige Publicum schiebt die Ursache dieses Mißgeschicks auf unsern Capellmeister, welcher denn diese Last gar wohl zu tragen Schultern zu haben scheint.
Die Straflosigkeit der niederträchtigsten Handlungen, besonders wenn sie ganz außer Maßen und Geschick sind, haben wir der Läßlichkeit unserer Criminalisten zu danken, welche eigentlich nur berufen und angestellt zu seyn scheinen, um Mord und Todtschlag zu entschuldigen.
So ist bey uns die Infamie eines Zahnarztes, der einer jungen verstorbenen Frau im Leichenhause die Zähne heimlich ausbrach, ganz ohne weiteres mit heiler Haut davon gekommen. Dergleichen wird wie euer Fall endlich zur Erneuerung der Selbsthülfe gedeihen. Leidenschaftliche Gatten und Brüder werden sich in's Unglück stürzen, um der Rache nicht zu ermangeln.
Dieß ist denn doch wohl ein ziemlicher Mißklang auf jene lieblichen Anfänge. Um wieder einzulenken, ersuche dich ja, mir irgend etwas Schriftliches für Kunst und Alterthum mitzutheilen. Thust du es [177] nicht bald, so redigire das was du mir früher über die Einwirkung der Atmosphäre und deren mehr oder weniger elastischen Zustand aus die Stimme so bedeutend schriebst, sende dir es aber erst wieder zu, damit es ganz in deinem Sinn zucht- und ordnungsgemäß erscheine. Siehst du Geh. Rath Streckfuß, so erinnere ihn an meinen Wunsch; ich sende ihm dagegen auch einige Italica, die zwar nicht neu sind, aber doch jetzt erst durch die Franzosen zur Sprache kommen.
Unserm Leibmedicus hab ich zum vorläufigen Abtrag deiner vel quasi Schuld die Hälfte der übersendeten Rübchen in deinem Namen verehrt. Schickest du bey eintretender Kälte mir einige Sanders, so geb ich ihm auch einen Theil davon; durch solche successive culinarische Attentionen wird mit dem Mann auch die Frau zufrieden gestellt, und so käme man auf eine freundliche und schickliche Weise über diese Angelegenheit hinweg.
Welch eine große Gabe Napoleons Leben von Walter Scott für mich seyn würde, habe ich seit der ersten Ankündigung gefühlt und deshalb die Menschen, wie sie auch sind, erst ausreden und ausklatschen lassen; doch enthalte ich mich nunmehr nicht länger und nehme das Buch getrost vor. Er ist 1771, gerade bey'm Ausbruch der amerikan'schen Revolution, geboren, ihm ist, wie mir das Erdbeben von Lissabon, so der Theekasten-Sturz bey Boston ein Jugendeindruck [178] geworden, und wieviel Wundersames hat er als Engländer bey sich müssen vorüber gehen lassen. Meine Betrachtungen darüber theil ich gelegentlich mit.
Auch schon vorläufig fand ich das Publicum sich betragend wie immer. Die Kunden erlauben wohl dem Schneider hier oder dort ein gewisses Tuch auszunehmen, den Rock aber wollen sie auf den Leib gepaßt haben, und sie beschweren sich höchlich, wenn er ihnen zu eng oder zu weit ist; am besten befinden sie sich in den polnischen Schlafröcken des Tags und der Stunden, worin sie ihrer vollkommensten Bequemlichkeit pflegen können; da sie, wie du dich wohl erinnern wirst, sich gegen meine Wahlverwandtschaften wie gegen das Kleid des Nessus gebärdet haben.
Der zweyte Theil des Faust fährt fort sich zu gestalten; die Aufgabe ist hier wie bey der Helena: das Vorhandene so zu bilden und zu richten, daß es zum Neuen paßt und klappt, wobey manches zu verwerfen, manches umzuarbeiten ist. Deshalb Resolution dazu gehörte, das Geschäft anzugreifen; im Fortschreiten vermindern sich die Schwierigkeiten.
Sey also hiermit zum schönsten gegrüßt, ermahnt und ermuntert, im Tüchtigen zu verharren, wozu uns mitten im Frieden das widerwärtige Weltgetreibe aufmahnt und nöthiget. Helfen wir uns selbst, so wird uns Gott helfen.
In Treu und Glauben verharrend
Goethe. [179]