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An Carl Friedrich Zelter

»Was den freylich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus meinem Leben Wahrheit und Dichtung betrifft, so ward derselbige durch die Erfahrung veranlaßt, daß das Publicum immer an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege. Diesem zu begegnen, bekannte ich mich zu einer Art von Fiction, gewissermaßen ohne Roth, durch einen gewissen Widerspruchs-Geist getrieben, denn es war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrucken. Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung, und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt, gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, [241] so ist es klar daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelnheiten, wie sie sich damals ereigneten, ausstellen und hervorheben werde. Bringt ja selbst die gemeinste Chronik nothwendig etwas von dem Geiste der Zeit mit, in der sie geschrieben wurde. Wird das vierzehnte Jahrhundert einen Kometen nicht ahnungsvoller überliefern als das neunzehnte? Ja ein bedeutendes Ereignis wird man, in derselben Stadt, Abends anders als des Morgens erzählen hören.

Dieses alles was dem Erzählenden und der Erzählung angehört habe ich hier unter dem Worte: Dichtung begriffen, um mich des Wahren, dessen ich mir bewußt war, zu meinem Zweck bedienen zu können. Ob ich ihn erreicht habe überlaß ich dem günstigen Leser zu entscheiden, da denn die Frage sich hervorthut: ob das Vorgetragene congruent sey? ob man daraus den Begriff stufenweiser Ausbildung einer, durch ihre Arbeiten schon bekannten, Persönlichkeit sich zu bilden vermöge.

In jeder Geschichte, selbst einer diplomatisch vorgetragenen, sieht man immer die Ration, die Parthey durchscheinen, wozu der Schreibende gehörte. Wie anders klingen die Mittheilungen der Franzosen über englische Geschichte als die der Engländer.

So ist mir auch in der letzten Zeit höchst merkwürdig geworden der Herzog von St. Simon in seinen Memoiren; diese ausführlichen Berichte eines [242] durchaus unterrichteten, Wahrheit liebenden Mannes sind nicht völlig genießbar, wenn man nicht zugibt es sey ein Duc und Pair der das niederschreibt. Es ist jene Zeit die sich in einem Vornehmen abspiegelt, der weniger zu gewinnen findet als er zu verlieren befürchten muß.«

Vorstehendes, mein Theuerster, habe einer verehrten Person, auf eine ähnliche Anfrage wie die deine, zu erwidern Pflicht geachtet, und theile dir sie, als diesmal auch zweckerreichend mit. Man bedenke daß mit jedem Atemzug ein ätherischer Lethestrom unser ganzes Wesen durchdringt, so daß wir uns der Freuden nur mäßig, der Leiden kaum erinnern. Diese hohe Gottesgabe habe ich von jeher zu schätzen, zu nützen und zu steigern gewußt.

Wenn also von Schlägen und Püffen die Rede ist, womit uns das Schicksal, womit uns Liebchen, Freunde, Gegner geprüft haben, so ist das Andenken derselben, bey'm resoluten guten Menschen, längst hinweggehaucht.

Solche, nach deiner Anfrage, in einem gewissen Fall zu specificiren würde mir schwer, ja unmöglich fallen; doch will ich mich dir zu Liebe erinnern: daß unser Schulmeister schwankes Lineal, als ein sonst nicht unbrauchbares Majestätszeichen, zu führen pflegte, hiemit gab es zu Zeiten strafende und aufmunternde Klapse. Jedoch war in jenen Tagen kräftiger Pädagogik schon ein milderndes Auskunftsmittel[243] gefunden und deutete auf das was nachher in unsrer Criminal-Justiz seit Beccaria so anmuthig einwirkte: die zu Strafenden waren nämlich genöthigt ein Pfötchen hinzuhalten und mehr oder weniger stärkere und wiederholte Klapse auszudauern. Dieß gab Gelegenheit die Hand wie Mucius Scävola kühn auszustrecken und mit unverwandtem Gesichte einen heroischen Märtyrerkranz zu erwerben.

Wie es nun mit den zu gewinnenden oder zu verlierenden Flaschen Champagner auch aussehen mag, so hab ich solches nach möglichster Erinnerung, scheinbarster Wahrheit und vermiedener Dichtung hiedurch bezeugen und vorlegen wollen.

So weit waren wir gekommen als uns ein zwar gefürchtetes, aber durch Hoffnung abgelehntes Übel überfiel; davon dir die Nachricht schon zugekommen ist, welches mein schwarzes Siegel leider bekräftigt. Hiebey wirst du manches zu denken haben, als Mitgenosse unsres Denkens und Empfindens.

Versäume nicht zu schreiben wie es um dich aussieht, wie es zugeht und auch wohl wie dieses und jenes gelingt. Auch ich verfehle nicht manches zu vermelden, wenn gleich nicht in den ersten Tagen. Und somit fahren wir fort gemeinschaftlich zu handeln und einander davon Kenntniß zu geben, so lange es gegönnt.

und so fort an

beharrlichst

Weimar den 15. Februar 1830.

J. W. v. Goethe. [244]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1830. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-87AA-2