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An Ottilie von Goethe

Heute Sonntags den 11. Juli, am Tage des Vollmonds, sind wir endlich wieder allein, beysammen und fast ohne Weh. Graf Sternberg ging heut frühe fort, sein Hierseyn war wohlthätig für ihn und uns; August litt an einer Blutbewegung, die sich jedoch bald wieder herstellte; Ulrike trägt Unheil und Entbehrung ganz bewundernswürdig; Walther war einige Tage in Dornburg und mag sich gut betragen haben; Wolf kommt jeden Morgen bey Zeiten und holt sich was zu schnabeliren, da ich denn große schmackhafte Erdbeeren immer bereit halte. Ich selbst darf nicht klagen, da ich meiner Thätigkeit, insofern ich sie von mir fordern darf, nicht gehindert bin.

Nach Dornburg rutscht alles hin und wieder; der Canzler ist thätiger als je und legt auch die Strecke[193] zwischen hier und dem Luftschloß mehrmals zurück. Nicht weniger theilt er, meist über'n andern Tag, einen neuen Roman mit, der denn jederzeit großen Effect thut und in schönen Herzen die Wirkung des kurz vorhergehenden aufzehrt.

Seit Ourika habe ich alles abgelehnt. Sie wollten mir auch einen Poeten de la Vigne aufdringen und dessen Gedicht: L'école des vieillards; ich improvisirte dagegen Folgendes:


Was reimt der Junge, der Franzos,
Uns alte Herren zu belehren!
Die Zeit ist wie der Teufel los
Die weis allein uns zu bekehren.

und so hoffe ich denn auch jenes Gedicht los zu seyn, da ich die Materie besser zu verstehen glaube als der Gelbschnabel von Verfasser.

Die drey Stücke von Lope de Vega sind alles Dankes werth; sie lassen uns abermals in jene früheren spanischen Zustände hineinschauen und beleuchten die gegenwärtigen. Der Übersetzer soll gepriesen werden.

Sehr angenehm war mir auch das Werk: Chants populaires de la Gréce moderne, par Fauriel; die allgemeine Einleitung ist trefflich, besonders aus dem französischen Gesichtspunct; die besonderen Argumens vor jedem einzelnen Gedicht hinreichend, die Übersetzung klar und richtig und wir müssen uns der Aufklärung über diese Gegenstände wohl erfreuen; sonst aber ist der Gewinn nicht groß, denn die schönsten bedeutendsten [194] Gedichte finden sich schon unter denen die ich übersetzt habe.

Vielleicht verzeihst du mir wenn ich sage, daß der sittliche Antheil den wir an den Griechen und ihrem Kampf nehmen hier als poetischer Werth mit in Anschlag gebracht ist, denn wer weiß das zu sondern. Und so will ich nur noch hinzusetzen daß die serbischen Überlieferungen als eigentliche Poesie sehr viel höher stehen; doch wird es für uns schwerer seyn, mit den sonderbaren Zuständen, die gar zu weit abliegen, uns näher zu befreunden.

Und nun noch zum Schluß die Bemerkung, daß Herr Graf Sternberg, freylich vielleicht erst in 14 Tagen, in jene Gegenden kommt; er gedenkt Herrn Minister v. Stein in Nassau zu besuchen. Dieß merke dir, sey aufmerksam und das Übrige gib dem Glück anheim.

Gewiß nähert sich ein Brief von dir in diesem Augenblick mit der Post. Dieses Blatt soll fort um dich von allen Seiten schönstens zu begrüßen

treulichst

Weimar den 11. Juli 1824.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1824. An Ottilie von Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7F78-F