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An Johann Gottfried Herder

[Frankfurt, Ende 1771.]

Das Resultat meiner hiesigen Einsiedelei kriegen Sie hier in einem Skizzo, das zwar mit dem Pinsel auf Leinewand geworfen, an einigen Orten sogar einigermaßen ausgemalt, und doch weiter nichts als Skizzo ist. Keine Rechenschaft geb' ich Ihnen, lieber Mann, von meiner Arbeit, noch sag' ich meine jetzige Empfindungen darüber, da ich aufgestanden und in [10] die Ferne getreten bin; es würde aussehn, als wollt ich Ihr Urtheil leiten, weil ich fürchtet', es wandelte an einen Platz, wo ichs nicht wünschte. Das aber darf ich sagen, daß ich recht mit Zuversicht arbeite, die beste Kraft meiner Seele dran wendete, weil ichs that, um Sie drüber zu fragen, und wußte, Ihr Urtheil wird mir nicht nur über dieses Stück die Augen öffnen, sondern vielmehr über diesem Stück dich lehren, wie Oeser, es als Meilensäule pflanzen, von der wegschreitend du eine weite, weite Reise anzutreten, und bei Ruhestunden zu berechnen hast.

Auch unternehm' ich keine Veränderung, bis ich Ihre Stimme höre; denn ich weiß doch, daß alsdann radicale Wiedergeburt geschehen muß, wenn es zum Leben eingehn soll.

Jetzo studir' ich Leben und Tod eines andern Helden, und dialogisir's in meinem Gehirn. Noch ist's nur dunkle Ahndung. Den Sokrates, den philosophischen Heldengeist, die »Eroberungswuth aller Lügen und Laster, besonders derer, die keine scheinen wollen,« oder vielmehr den göttlichen Beruf zum Lehrer der Menschen, die exousian des metanoeite die Menge, die gafft, die wenigen, denen Ohren sind zu hören, das Pharisäische Philisterthum der Meliten und Anyten, die Ursache nicht, die Verhältnisse nur der Gravitation und endlichen Uebregewichts der Nichtswürdigkeit. Ich brauche Zeit, das zum Gefühl zu entwickeln. Und dann weiß ich doch nicht, ob ich von der Seite mit Aesopen und La Fontanien verwandt [11] bin, wo sie nach Hamannen mit dem Genius des Sokrates sympathisiren; ob ich mich von dem Dienste des Götzenbildes, das Plato bemalt und verguldet, dem Xenophon räuchert, zu der wahren Religion hinaufschwingen kann, der statt des Heiligen ein großer Mensch erscheint, den ich nur mit Liebenthusiasmus an meine Brust drücke, und rufe: Mein Freund und mein Bruder! Und das mit Zuversicht zu einem großen Menschen sagen zu dürfen! – Wär' ich einen Tag und eine Nacht Alcibiades, und dann wollt' ich sterben! –

Vor wenigen Tagen hab' ich Sie recht aus vollem Herzen umfaßt, als säh' ich Sie wieder und hörte Ihre Stimme. Ich sah den gepeitschten Heliodor an der Erde, und der himmlische Grimm der rächenden Geister säuselte um mich herum. Sie würden diese Tropen vielleicht entziffern, wenn ich Ihnen auch nicht den Wandsbecker Boten und den Biographisten nennte. Ich kann nicht läugnen, daß sich in meine Freude ein bißchen Hundereminiscenz mischte, und gewisse Striemen zu jucken anfingen, wie frisch verheilte Wunden bei Veränderung des Wetters; ich merkt's zwar erst eine Zeit lang hintendrein, und streichelte meinen Genius mütterlich mit Trost und Hoffnung.

Vor einiger Zeit bracht' ich auch einen reichen Abend mit Mercken zu. Ich war so vergnügt, als ich sein kann, wieder einen Menschen zu finden, in [12] dessen Umgang sich Gefühle entwickeln und Gedanken bestimmen.

Und nun, hochwürdiger Priester, vergiß über der Pflege des Altars der Zucht der Akoluthen nicht, deren Phantasie natürlich nach deinem Meßgewande geizt, deren Kraft aber leider in der Adjunctus – und Küstermannsstelle meistentheils ans non plus ultra anrennt. Den Schluß mache der Schluß des Platonischen apologisirenden Sokrates. Kai ean dokôsi ti einai mêden ontes oneidizete autois, hoti ouk epimelountai hôn dei, kai oiontai ti einai ontes oudenos axioi. Kai ean tauta poiête dikaia peponthôs egô es omai hyph hymôn.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1771. An Johann Gottfried Herder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-70C6-6