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An Charlotte von Stein

Kaltennordheim d. 9ten Apr. 82.

Ich habe dir lange nicht geschrieben, nun bin ich hier angekommen und schreibe dir in eben der Stube wo wir dir vor anderthalb Jahren die Verse mit den Ochsen abfertigten, wie anders seh ich alles seit der Zeit, da ich weis welch eine Liebe drüben über den Bergen meiner wartet.

Über dein leztes Blat sind mir viel traurige Gedancken [302] aufgestiegen, ich habe in einer Nacht recht bitterlich geweint da ich mir vorstellte daß ich dich verlieren könnte. Gegen alles was mir wahrscheinlich begegnen kann, hab ich ein Gleichgewicht in mir selbst, gegen das einzige nicht. Die Hoffnung hilft uns leben, nun denck ich wieder du bist wohl und wirst wohl seyn wenn du dies Blatt erhälst.

Die ersten Veilgen und ein Stück altes Moos leg ich zwischen dies Papier, die ersten sind nicht weit von den Ruinen gepflückt die ich gezeichnet mitbringe. Es ist alles vergebens ich bringe nichts vor mich im Zeichnen, ietzo seh ich täglich mehr wie eine anhaltende mechanische Übung endlich uns das geistige auszudrucken fähig macht, und wo iene nicht ist, bleibt es eine hohle Begierde dieses im Flug schiesen zu wollen.

In Barchfeld fand ich die guten Ehleute recht wacker und gefällig. Sie fragte nach dir, klagte daß sie lang keinen Brief von dir habe, und sagte du schriebst nicht gern, worüber ich mich heimlich freute, denn ich hatte deine lezten in der Tasche.

Von Barchfeld ritt ich auf die Probstey Zelle wo ich mich hatte beym Probst anmelden lassen, um einmal fremde Menschen zu sehen, und von fremden Verhältnissen reden zu hören.

Er ist iung, erst ein Jahr an diesem Platz, ein Herr v. Warnsdorf, gefällig, offen, unbefangen und unverfänglich wie einer der reich gebohren ist. Einen [303] katolischen national und familienschnitt. Seine Mutter eine behägliche verständige Frau. Unsre Diskurse führten uns nach Fulda, Würzburg, Bamberg, Maynz. Die Verfassung dieser Provinzen bildet ganz andre Menschen als die unsrige, und ich erreichte meinen Zweck.

Ich habe zwar nichts auserordentliches doch vielerley Betrachtungen gesammelt die ich gerne mit dir theilen will. Wenn ich vor mir allein bin, erzähl ich mir was ich gesehn habe als wenn ich dir's erzählen sollte und es berichtigt sich alles. Liebste was bin ich dir nicht schuldig. wenn du mich auch nicht so vorzüglich liebtest, wenn du mich nur neben andern duldetest, so wär ich dir doch mein ganzes Daseyn zu wiedmen verbunden. Denn hätt ich wohl ohne dich ie meinen Lieblingsirrthümern entsagen mögen. Doch könnt ich auch wohl die Welt so rein sehn, so glücklich mich drinne betragen, als seitdem ich nichts mehr drinne zu suchen habe.

Ostheim d. 10ten. Endlich am weitsten Punckt [darüber: Aphelio] meiner Reise, so nah meinem Vaterlande als dir, und doch von ienem hundert Meilen in Gedancken entfernt und dir so nah als wenn Hand zu Hand reichte.

Morgen ist mir ein lieber Tag denn ich werde jagen können: in acht Tagen werd ich sie wiedersehn. Bis dahin werd ich noch manchmal Berg auf und [304] ab müssen. Morgen auf Meinungen wo die zwey Herzoge allein sind, dann (und will's Gott bald) nach Barchfeld wo die Prinzessinnen sich aufhalten. Über den Türinger Wald hernach auf Illmenau und dann meiner Geliebten entgegen. In dieser Erwarwtung will ich recht artig seyn, denn da du dich nun einmal meiner angenommen hast, so mögt ich daß iedes, wie unsre Gräfinn, dir zulispelte: pour celui la, on Vous le pardonne.

Ich schäme mich dir zu wiederhohlen, wie und wie immer ich an dich dencke. Du bist mir in alle Gegenstände transsubstanziirt, ich seh alles recht gut und sehe dich doch überall, ich bin weder abwesend noch zerstreut und doch immer bey dir und immer mit dir beschäfftigt.

Heute unterweegs hielt ich eine Philippikam gegen den Pontius Pilatus, stille vor mich hin. Das beste davon will ich dir aufbewahren. Wenn nur der May schön wird daß wir glückliche Spaziergänge machen können.

Ostheim d. 11ten endlich ist der erwünschte Donnerstag gekommen, der nächste wird noch erwünschter seyn. Ich gehe auf Meiningen und hoffe dort Briefe von dir zu treffen. Es graut mir vor dem Anblick zweyer iunger erst freygelassner Prinzen, und noch dazu solcher. Die Hofmeister iunger Fürsten die ich kenne vergleiche ich Leuten denen der Lauf eines Bachs [305] in einem Thal anvertraut wäre, es ist ihnen nur drum zu thun daß in dem Raum den sie zu verantworten haben alles fein stille zugehe, sie ziehen Dämme queer vor und stemmen das Wasser zurück, zu einem seinen Teiche, wird der Knabe Majorenn erklärt, so giebts einen Durchbruch und das Wasser schiest mit Gewalt und Schaden seinen Weeg weiter und führt Steine und Schlamm mit fort. Man sollte Wunder dencken was es für ein Strom wäre, bis zulezt der Vorrath ausfliest und ein ieder zum Bache wird, gros oder klein, hell oder trüb wie ihn die Natur hat wer den lassen, und er seines gemeinen Weeges fortfliest. Verzeih mir das lange Gleichniß. Gilt es doch auch von der strengen Privaterziehung. Adieu liebste. Grüse Steinen, Fritzen, die Waldner, Carolingen. Ernsten.

Empfiel mich dem Herzoge und der Herzoginn.

Dieser Brief wird erst spät zu dir kommen von hier aus gehen die Posten nicht sehr regelmäsig. Grüse die kleine Schwägerinn.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1782. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6FCC-3