43/62.
An Carl Jacob Ludwig Iken
Ew. Wohlgeboren
auf Ihren freundlichen Brief zu antworten habe bisher gezögert, weil ich die Ankunft her beiden verkündeten [80] Werke Vorerst erwartete. Da sie aber wahrscheinlich später mit Meßgelegenheit ankommen, so benutze einen freyen Augenblick, vorläufig schönstens zu danken und einiges zu vermelden. Zuerst also lege die gewünschte Erklärung zweyer Ausdrücke bey, welche, seltner vorkommend, allerdings einiger Auslegung bedürfen. Ich thue dieses gegenwärtig um so lieber, als das nächste Stück von Kunst und Alterthum sich verzögern wird. Die Ausgabe meiner Werke erfordert viele Aufmerksamkeit, besonders da ich in der Folge manches Neue fernerhin zu geben gedenke.
Lassen Sie mich nun zuerst das Vergnügen ausdrücken, welches Sie durch den Antheil an Helena mir gewährt haben. Bey der hohen Cultur der Bessern unsres Vaterlandes konnte ich zwar ein solches beyfälliges Eingreifen gar wohl erwarten, allein die Erfüllung solcher Hoffnungen und Wünsche bleibt doch immer das Vorzüglichste und Nothwendigste. In solcher Aussicht habe ich denn diese längst intentionirte und vorbereitete Arbeit vollendet und den Aufwand von Zeit und Kräften, das strenge Beharren auf diesem einen Puncte mir schon während der Arbeit zum Gewinn gerechnet.
Ich zweifelte niemals, daß die Leser, für die ich eigentlich schrieb, den Hauptsinn dieser Darstellung sogleich fassen würden. Es ist Zeit, daß der leidenschaftliche Zwiespalt zwischen Classikern und Romantikern [81] sich endlich versöhne. Daß wir uns bilden ist die Hauptforderung; woher wir uns bilden wäre gleichgültig, wenn wir uns nicht an falschen Mustern zu verbilden fürchten müßten. Ist es doch eine weitere und reinere Umsicht in und über griechische und römische Literatur, der wir die Befreyung aus mönchischer Barbarey zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert verdanken! Lernen wir nicht aus dieser hohen Stelle alles in seinem wahren, ethisch – ästhetischen Werthe schätzen, das Älteste wie das Neuste!
In solchen Hoffnungen einsichtiger Theilnahme habe ich mich bey Ausarbeitung der Helena ganz gehen lassen, ohne an irgend ein Publicum noch an einen einzelnen Leser zu denken, überzeugt, daß wer das Ganze leicht ergreift und faßt, mit liebevoller Geduld sich auch nach und nach das Einzelne zueignen werde. Von einer Seite wird dem Philologen nichts Geheimes bleiben, er wird sich vielmehr an dem wiederbelebten Alterthum, das er schon kennt, ergötzen; von der andern Seite wird ein Fühlender dasjenige durchdringen, was gemüthlich hie und da verdeckt liegt:
Eleusis servat quod ostendat revisentibus
und es soll mich freuen, wenn dießmal auch das Geheimnißvolle zu öfterer Rückkehr den Freunden Veranlassung gibt. Hiebey darf nicht unerwähnt bleiben, daß ich mit der vierten Lieferung meiner Werke zu Ostern die ersten Scenen des zweyten Theils von Faust mitzutheilen gedenke, um aus manche Weise ein frisches [82] Licht aus Helena, welche als der dritte Act des Ganzen anzusehen ist, zurückzuspiegeln.
Auch wegen anderer dunkler Stellen in früheren und späteren Gedichten möchte ich Folgendes zu bedenken geben: Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direct mittheilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.
Da alles, was von mir mitgetheilt worden, auf Lebenserfahrung beruht, so darf ich wohl andeuten und hoffen, daß man meine Dichtungen auch wieder erleben wolle und werde. Und gewiß, jeder meiner Leser findet es an sich selbst, daß ihm von Zeit zu Zeit bey schon im Allgemeinen bekannten Dingen noch im Besonderen etwas Neues erfreulich aufgeht, welches denn ganz eigentlich uns angehört, indem es von einer wachsenden Bildung zeugt und uns dabey zu einem frischen Gedeihen hinleitet. Geht es uns doch mit allem so, was irgend einen Gehalt darbietet oder hinter sich hat.
Die angekündigten Werke sollen mir willkommen seyn, um so mehr als Ihre frühere schriftliche Sendung mir genügsames Interesse abgewonnen. Leider, nach so vielen Seiten hingezogen, ja hingerissen, versäumt ich in Kunst und Alterthum daran zu gedenken; in einem nächsten Stücke, dessen Erscheinung ich möglichst zu beeilen gedenke, kann es dagegen im Zusammenhange [83] geschehen. Die Aufschlüsse die uns das interessante Werk: Cours de la littérature grecque moderne, par Jacovaky Rizo Néroulos, Genève 1827, verleiht, geben hiebey die beste Richtschnur.
Und so will ich mich denn für dießmal Ihrer ferneren geneigten Theilnahme bestens empfohlen haben; denn durch das Mitwirken solcher jüngerer Männer kann ich allein aufgeregt werden, meine höhern Jahre, statt in Ruhe und Genuß, mühsam und bewegt hinzubringen. Bey der Herausgabe meiner Werke hätte ich freylich voraussehen sollen, zu welchen Obliegenheiten ich mich verpflichtete, indem ich nicht nur das Bekannte zu wiederholen sondern auch Unbekanntes hervor[zu]suchen und Unvollendetes zu vollenden unternahm. Indessen da es mir mit Helena geglückt ist, daß diese Production aus den Gebildeten einen guten Eindruck macht und selbst von scharfsichtigen Kritikern als aus Einem Gusse hervorgegangen angesprochen wird, so möchte es an dem Übrigen auch nicht fehlen. Ich habe so oft in meinem Leben auf ein für meine neuen Productionen stumpfes Publicum getroffen, daß es mich dießmal höchlich erfreut, so schnell und unmittelbar aufgefaßt worden zu seyn.
Und so sey denn dieses, durch mannichfaltige Zerstreuung unterbrochene Blatt endlich geschlossen und unter Versicherung wahrhafter Theilnahme fortgesendet.
ergebenst
J. W. v. Goethe.
[84] [Beilage.]
[Concept.]
Aureole ist ein im Französischen gebräuchliches Wort, welches den Heiligenschein um die Häupter göttlicher oder vergötterter Personen andeutet. Dieser kommt ringförmig schon auf alten pompejanischen Gemählden um die göttlichen Häupter vor. In den Gräbern der alten Christen fehlen sie nicht; auch Kaiser Constantin und seine Mutter erinnere ich mich so abgebildet gesehen zu haben. Hiedurch wird auf alle Fälle eine höhere geistige Kraft, aus dem Haupte gleichsam emanirend und sichtbar werdend, angedeutet; wie denn auch geniale und hoffnungsvolle Kinder durch solche Flammen merkwürdig geworden. Und so heißt es auch in Helena: