[219] Moralische Erzählungen« und »Idyllen«
von Diderot und S. Geßner
Zürch 1772. 8°. 273 S.
Was beiden würdigen Männern Anlaß gegeben, in Gesellschaft aufzutreten, erklärt die zur Pränumeration auf die französische Ausgabe dieses Werks unsern Blättern angehängte Nachricht, so daß wir ohne weitere Vorrede zur Sache schreiten können.
[219] »Idyllen« von Geßner
»Die Schönheiten der Natur«, sagt der Verfasser in dem angehängten Brief an Fueßlin, »und die guten Nachahmungen derselben von jeder Art taten immer die größte Würkung auf mich; aber in Absicht auf Kunst war's nur ein dunkles Gefühl, das mit keiner Kenntnis verbunden war, und daher entstand, daß ich meine Empfindungen und die Eindrücke, welche die Schönheiten der Natur auf mich gemacht hatten, lieber auf eine andre und solche Art auszudrücken suchte, welche weniger mechanische Übung, aber die gleichen Talente, eben das Gefühl für das Schöne, eben die aufmerksame Bemerkung der Natur fordert.«
Geßner war also zum Landschaftmaler geboren, ein pis aller machte ihn zum Landschaftdichter, und auch nun, da er zu seiner Bestimmung durchgedrungen, da er einen ansehnlichen Rang unter den Künstlern erworben, genießt er in Gesellschaft der Gespielin seiner Jugend, der ländlichen Muse, manchen süßen Augenblick. Malender Dichter! dazu charakterisiert sich in angeführter Stelle Geßner selbst, und wer mit Lessingen der ganzen Gattung ungünstig wäre, würde hier wenig zu loben finden. Doch wir wollen hier nicht unbillig sein. Wir kennen die Empfindungen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft in die Einsamkeit führen, aufs Land, wo wir dann nur zum Besuch sind, nur wie bei einer Visite die schöne Seite der Wohnung sehn, und ach! nur sehn – der geringste Anteil, den wir an einer Sache nehmen können!
Und so ist es Geßnern gegangen. Mit dem empfindlichsten Auge für die Schönheiten der Natur, das heißt für schöne Massen, Formen und Farben, hat er reizende Gegenden durchwandelt, in seiner Einbildungskraft zusammengesetzt, verschönert, und so standen paradiesische Landschaften vor seiner Seele. Ohne Figuren ist eine Landschaft tot, er schuf sich also Gestalten aus seiner schmachtenden Empfindung und erhöhten Phantasie, staffierte seine Gemälde damit, [220] und so wurden seine Idyllen. Und in diesem Geiste lese man sie! und man wird über seine Meisterschaft erstaunen. Wer einen Malerblick in die Welt hat, wird mit inniger Freude vor seinen Gegenden verweilen, ein herrliches Ganze steigt vor unsern Augen auf, und dann das Detail, wie bestimmt, Steine, Gräschen. Wir glauben, alles schon einmal gemalt gesehen zu haben, oder wir möchten's malen. Da sagt uns aber ein Feind poetischer Malerei: Was ist's? Der Vorhang hebt sich, wir sehen in ein Theater, das für uns, von der Seite zu beschauen, ebenso künstlich hintereinandergeschoben, so wohl beleuchtet ist, und wenn wir einige Minuten Zeit gehabt haben, Ah! zu sagen, dann treten Junggesellen und Jungfrauen herein und spielen ihr Spiel.
Wir zweifeln nicht, daß sich darauf antworten ließe; aber die Leute sind nicht zu bekehren, sie verlangen, daß alles von Empfindung ausgehn, alles in sie zurückkehren soll. Wenn wir als Maler Geßners Figuren betrachten, so sind es die edelsten, schönsten Formen; ihre Stellung so ausgedacht, so meisterhaft empfunden, ihr Stehen, Sitzen, Liegen, nach der Antike gewählt –
Was geht mich das an? sagt der Gegner! Im Gedicht ist mir nicht drum zu tun, wie die Leute aussehn, wie sie Hände und Füße stellen, sondern was sie tun, was sie empfinden. Nach der Antike mögen sie wohl studiert sein, wie Geßner seine Landschaft mehr nach seines Herrn Schwähervaters Kupferstichsammlung als nach der Natur ausgebildet zu haben scheint.
Ich will, fährt er fort, von dem Schattenwesen Geßnerischer Menschen nichts reden. Darüber ist lange gesagt, was zu sagen ist. Aber zeigt das nicht den größten Mangel dichterischer Empfindung, daß in keiner einzigen dieser Idyllen die handlenden Personen wahres Interesse an- und miteinander haben? Entweder ist es kalter erzählender Monolog oder, was ebenso schlimm ist, Erzählung, und ein Vertrauter, der seine paar Pfennige quer hinein dialogisiert, und wenn denn einmal zwei was zusammen empfinden,[221] empfindet's einer wie der andre, und da ist's vor wie nach.
Wer wird aber einzelnen Stellen wahres Dichtergefühl absprechen? Niemand. Einzelne Stellen sind vortrefflich, und die kleinen Gedichte machen jedes ein niedliches Ganze. Hingegen die größern; so trefflich das Detail sein mag, so wenig zu leugnen ist, daß es zu gewissen Zwecken wohl geordnet ist, so mißt ihr doch überall den Geist, der die Teile so verwebt, daß jeder ein wesentliches Stück vom Ganzen wird. Ebensowenig kann er Szene, Handlung und Empfindung verschmelzen. Gleich in der ersten tritt der Mond auf, und die ganze Idylle ist Sonnenschein. Der Sturm ist unerträglich daher. Voltaire kann zu Lausanne aus seinem Bette dem Sturm des Genfer Sees im Spiegel nicht ruhiger zugesehen haben, als die Leute auf dem Felsen, um die das Wetter wütet, sich vice versa detaillieren, was sie beide sehn. Das mag sein! In dieser Dichtungsart ist der Fehler unvermeidlich; dagegen zu wie viel Schönheiten gibt er Anlaß? Muß man dem Theater nicht auch manche Unwahrscheinlichkeit zugute halten? und dennoch interessiert es, rührt es. Und von der »Schweizer-Idylle« habt ihr kein Wort gesagt! Wie ich anfing, sie zu lesen, rief ich aus: O hätt er nichts als »Schweizer-Idyllen« gemacht! Dieser treuherzige Ton, diese muntre Wendung des Gesprächs, das Nationalinteresse! »Das hölzerne Bein« ist mir lieber als ein Dutzend elfenbeinerne Nymphenfüßchen. Warum muß sie sich nur so schäfermäßig enden? kann eine Handlung durch nichts rund werden als durch eine Hochzeit? Wie lebendig läßt sich an diesem kleinen Stücke fühlen, was Geßner uns sein könnte, wenn er nicht durch ein zu abstraktes und ekles Gefühl, physikalischer und moralischer Schönheit, wäre in das Land der Ideen geleitet worden, woher er uns nur halbes Interesse, Traumgenuß herüberzaubert.
(Von Diderots »Moralischen Erzählungen« nächstens.)
[222]