22. Die wunderthätige Einfalt.

(Nach Montanus Bd. II. S. 196.)


Ein Mönch Namens Conrad, zwar von sehr vornehmer Geburt, aber von so großer Einfalt, daß er nicht bis drei zählen konnte, ward vom Convente des Klosters Altenberg darum zum Verwalter der Speisekammer gemacht, weil man glaubte, daß unter seiner gottgefälligen Einfalt alle Schätze derselben am besten verwahrt würden. Gleichwohl ward in der Abtei gar Manches gestohlen, namentlich bemerkte man an dem getrockneten Fleische, welches in einer Rauchkammer neben dem Kapitelhause aufgehängt war, allzuhäufiges Wenigerwerden. Der Kaibach fließt dort unter einem gewölbten Kanale bis in die Dhün, und durch dieses Kanalgewölbe, welches die Diebe im Kapitelhause durchbrochen und mit einem großen Steine bedeckt hatten, wurden die Schinken und Speckseiten weggeholt. Vorsichtig merkte sich nun der Hausverwalter die Zahl der einzelnen Vorrathstücke, aber da er in der Kunst zu zählen nur bis Paar und Unpaar gekommen war, so zählte er also: ein Schinken und sein Genoß – wieder ein Schinken und sein Genoß etc., bis es endlich auf ein Paar auslief. Andern Tags, als er den Vorrath nachzählte, war wieder ein Schinken entwendet, und da Conrad doch wußte, daß Zwei mehr war als Eins, und die Zahl also nicht mehr auf ein Paar ausging, so wehklagte er den ganzen Tag um den Verlust. Am andern Tage aber, als wieder ein Stück weggenommen und die Zahl also wieder zum Paar geworden war, frohlockte er über die vermeintliche wunderbare Mehrung, und der Dieb, der ihn behorcht hatte, stahl fortan immer zwei Stücke, welches der fromme Conrad nach seiner Zählweise nicht entdeckte, bis endlich blos noch das letzte Paar übrig war und zu neuem Vorrathe [26] wieder geschlachtet werden mußte. Doch da gewahrte man, wie Gott die Hintergehung der frommen Einfalt räche.

Wie dies zu geschehen pflegt, waren die geschlachteten Schweine an einem sogenannten Krummholze, das durch die aufgeschlitzten Hinterfüße gesteckt war, in der Fleischkammer aufgehängt, und bei Nacht kam der Dieb wieder und holte ein solches Schwein, zog es durch den Kanal des Kaibachs in's Freie und trug es nun Rücken auf Rücken, indem er das Krummholz jochweise vor der Stirne trug. Nun führte ihn aber der Weg zu einer Brücke des Dhünbachs, und als er die Lehne derselben benutzte, die Last darauf zu legen und etwas zu verschnaufen, behielt er, zum Fortschreiten bereit, das Tragjoch vor der Stirne. Da aber rutschte der Leichnam des Schweins durch des Diebes unvorsichtige Bewegung über die Lehne dem Bache zu, das Krummholz glitt bis unter das Kinn herab und die über dem Bache schwebende Leiche des Schweines drückte den Hals des vergeblich zappelnden Diebes so fest an die Lehne, daß er elendiglich davon erwürgt ward. Als man am Morgen den vom todten Schweine erdrosselten Mann mit demselben auf der Brückenlehne hängen sah und in ihm einen Nahewohnenden erkannte, suchte man in dessen Wohnung nach und fand dort alle dem Kloster kürzlich entwendete Sachen.

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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Zweiter Band. Die Rheinprovinz. 22. Die wunderthätige Einfalt. 22. Die wunderthätige Einfalt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-5077-4