329) Der hungrige Wolf. 1
Eine Viertelstunde von der Berliner Chaussee abwärts, eine Stunde von Burg und 11/2 Meile von Magdeburg liegt ein ohngefähr 18-20 Morgen enthaltendes Torfmoor, welches sonst aus lauter Waldung bestand und mit dem Biederitzer Forst in Verbindung stand. Diese Gegend heißt noch jetzt im Volksmunde »der hungrige Wolf«. Der Sage nach ist nun aber diese Benennung aus folgender Begebenheit hervorgegangen. Gegen das Ende des Mittelalters drangen einst bei einem sehr kalten Winter die wilden Thiere bisweilen sogar bis in die benachbarten Dörfer und Flecken und hatten nicht selten, wenn sie nicht in die wohlverwahrten Schafställe dringen konnten, sich an Kinder oder gar Halberwachsene gewagt, sie mit ihren scharfen Zähnen gepackt und in den nahen Wald entführt. Es war wunderbar, daß man, so oft und vielfach man auch nach den Ueberresten der Unglücklichen suchte und nicht selten dem Raubthiere mit seiner Beute auf den Fersen war, nie einen Leichnam, nie ein Gebein davon, auch kein Kleidungsstück oder sonst eine Spur davon entdecken oder auffinden konnte. Fast immer war es ein eisgrauer, ungeheuer großer Wolf, welchen man mit solcher Verwegenheit sich den menschlichen Wohnungen nähern sah, allein trotzdem daß die Jäger und Bauern sich alle mögliche Mühe gaben, ihn zu fangen und zu umstellen oder wenigstens die Fährte seines Lagers zu finden, gelang es doch nie, seiner habhaft zu werden; er überfiel gewöhnlich einen der am Saume des Waldes aufgestellten Jäger, riß ihn nieder und verschwand in dem Dickicht. Dadurch ward aber die Gegend um den Wald selbst so verrufen, daß kein Reisender allein oder bei anbrechender Dämmerung es mehr wagte, den gefährlichen Weg am Rande desselben zu betreten. Da geschah es eines Sonntags Nachmittags, daß ein junger armer Schäfer aus Biederitz mit seiner Geliebten, einer ebenso armen Magd aus Külzau, eine Zusammenkunft in der Nähe jenes verrufenen Waldes verabredet hatte. Beide setzten sich unter einen am Saum desselben stehenden dichtbelaubten Baum und besprachen sich über ihre Zukunft und während dessen weidete die Heerde des Schäfers ruhig auf der vor dem Walde befindlichen Wiese. Auf einmal wurde das Liebespaar durch ein heftiges Hundegebell aufgeschreckt, der Schäfer sprang in die Höhe und sah, wie sein Hund einen unbändig großen Wolf verfolgte, der eben einen Hammel fortschleppte. Furchtlos stürzte er sich ihm nach und es gelang ihm auch bald, sich ihm zu nähern, da die Bestie wegen des Gewichts des Hammels nicht schnell laufen konnte; muthig schlug der Schäfer mit seinem Stabe auf den Wolf los und derselbe ließ auch wider Erwarten seine Beute fallen und eilte dem Walde zu. Erfreut hob der Schäfer das sonst nicht weiter [285] beschädigte, aber furchtbar erschreckte Schaf auf und trug es zu seinen Kameraden zurück, da er natürlich den Wolf für immer entflohen dachte, allein wie ward ihm, als er plötzlich ein klägliches Wehegeschrei vernahm; die Bestie war umgekehrt, hatte das arglos sitzen gebliebene Mädchen ergriffen und schleppte dasselbe dem Walde zu. Mochte nun diesmal die Entfernung eine größere oder die Jungfrau eine leichtere Bürde sein, genug, ehe der Schäfer zur Hilfe herbeieilen konnte, war der Wolf im Walde spurlos verschwunden. Zwar verfolgte Jener mit seinem Hunde so gut es gehen wollte ohngefähr die Richtung im Walde, welche der Wolf eingeschlagen hatte, allein da es bald völlig Finsterniß ward, mußte er die Verfolgung aufgeben und zu der ihm anvertrauten Heerde zurückkehren. Er trieb selbige so schnell er konnte nach Biederitz zurück, erzählte was ihm begegnet war und brach dann sofort wieder mit seinem Hunde auf, um seine Nachforschungen von Neuem in dem ungeheuren Walde zu beginnen. Freilich konnte er sich nur auf die gute Spürnase seines Hundes verlassen, dieser eilte auch rastlos durch das dichte Gestrüpp und Unterholz und sein Herr rastlos hinter ihm drein, ohne sich an ein bis dahin ihm völlig unbekannt gebliebenes Getöse und Lärm, wie wenn das wilde Heer neben ihm herjage, zu kehren, allein als der Morgen graute, fand er, daß er förmlich im Kreise umhergelaufen war, denn er stand plötzlich an derselben Stelle, wo er des Nachmittags zuvor mit seinem Mädchen gesessen hatte. Zum Glück fand er seine gestern in der Eile hier vergessene Schäfertasche und in derselben etwas Brod und Milch, womit er seinen quälenden Hunger und Durst – er hatte sich zu Hause nicht einmal Zeit genommen etwas zu sich zu nehmen – stillen konnte und dann legte er sich neben seinem Hunde ins Gras, um etwas auszuruhen, denn er konnte vor Ermüdung nicht weiter. Schnell überkam ihn ein fester Schlaf und erst am Nachmittage erwachte er wieder, hatte aber leider die Stimmen seiner Mitknechte, die ihn gesucht und gerufen hatten, verhört und fand sich abermals allein. Indessen machte er sich doch von Neuem auf, um die Spur seiner geraubten Geliebten zu suchen und diesmal war er glücklicher als am Abend vorher; er fand nämlich eine kleine Strecke weit im Walde, da wo der Wolf durch das Gebüsch gebrochen war, ein Stück Brod wie zufällig hingeworfen, bald darauf ein zweites und so in einzelnen größeren Zwischenräumen noch einige andere Brocken, welche das Mädchen jedenfalls absichtlich weggeworfen hatte, um bei etwaigen Nachforschungen gewissermaßen als Wegzeiger zu dienen. Endlich hörten jedoch auch diese schwachen Merkmale wieder auf, weil das Mädchen wahrscheinlich kein Brod mehr zum Verbrocken gehabt hatte, und schon wollte der arme Bursche wieder eine andere Richtung in seiner Verfolgung einschlagen, obwohl er kaum noch die Gegenstände um sich herum erkennen konnte, da es wieder dunkel geworden war, da sah er an einem Brombeerstrauche das roth- und gelbgestreifte Tuch flattern, welches, wie er sich erinnerte, sein Mädchen den Tag zuvor um den Kopf gebunden gehabt hatte. Es war dies unmittelbar am Fuße eines sich lang und steil hinziehenden Berges, so daß er entweder umkehren oder hier die Nacht über bleiben mußte, um nicht abermals die Spur zu verlieren. Er entschloß sich zum Letzteren, setzte sich unter jenen Strauch nieder und entschlief auch sehr bald wieder aus völliger Ermüdung. Mitten in der Nacht ward er aber durch das heftige Bellen seines Hundes erweckt und glaubte gleichwohl noch zu [286] träumen, denn er befand sich nicht mehr in einem dunkeln Walde, sondern dicht vor dem Thore einer alten Burg. An beiden Seiten des großen Eingangsthores brannten lodernde Pechpfannen und in dem grauen Gestein über der Pforte spiegelte sich in der hellen Beleuchtung ein großes stattliches Wappen, in dessen Mitte ein Wolf, dessen Kopf mit einem Ritterhelm geziert war, aufrecht auf den Hinterfüßen stand. Sonst war Alles todtenstill und sei es aus Neugierde, sei es aus Mitleid mit seinem Hund, für den er einige Nahrung im Schlosse zu finden hoffte, drückte der Schäfer an der gewaltigen Klinke des Thorschlosses, dasselbe sprang auf, aber eben so schnell schloß sich die Pforte wieder hinter ihm, als er mit seinem Hunde eingetreten war. Er befand sich in einer großen Eingangshalle, aus der eine breite Treppe in's obere Stockwerk führte, allein er stand bald sprachlos vor Schrecken, denn aus einer Ecke trat eine ungeheure Wölfin mit fünf jungen Wölfen auf ihn los und machte Miene auf ihn zuzuspringen. Zwar versuchte er die Pforte wieder zu öffnen, um zu entfliehen, allein vergebens, sie war verschlossen und es blieb ihm nichts übrig als an den Bestien vorbei nach der Treppe zu eilen. Dies that er auch, er sah sich ängstlich nach ihnen um, jeden Augenblick ihres Angriffs gewärtig, aber derselbe fand nicht statt, zwar verfolgten sie ihn mit ihren glühenden Augen, allein sonst ließen sie ihn ruhig die Treppe hinaufsteigen. Oben angekommen stand ihm abermals eine gewaltige Thüre entgegen, hier besann er sich jedoch nicht lange, er drückte auf das Schloß, dasselbe öffnete sich auch und die Thüre fiel sofort hinter ihm zu, wodurch er denn auch von seiner gefährlichen Nachbarschaft getrennt ward. In dem hohen Zimmer, welches er jetzt betrat, war eine Tafel gedeckt, mit wohlduftenden Speisen und Getränken besetzt, aber kein Mensch war zu sehen. Erst wagte er allerdings nichts zu berühren, als ihm aber eine starke freundliche Stimme zurief, er möge sich nicht fürchten, sondern nur dreist zulangen, da griff er beherzt zu und stärkte sich und seinen vierfüßigen Begleiter mit Speise und Trank. Hierauf ließ er sich auf ein nahestehendes Ruhebett nieder und sank bald in sanften Schlummer. Als er erwachte, befand er sich auf einmal in einer andern Welt. Er selbst war in einen schöngekleideten Rittersmann verwandelt, neben ihm aber saß als seine Gemahlin und ebenfalls mit den schönsten Kleidern angethan seine ehemalige Geliebte, die Bauermagd, sonst aber saßen noch viele schöngekleidete Herren und Damen an festlicher Tafel und außerdem auch ein alter Ritter mit langem Barte und eine würdige Matrone. Von dieser erfuhr er, daß er wirklich nicht träume, sondern daß er es sei, der die Mutter seiner Geliebten und den Vater derselben nebst ihren Geschwistern von einem schlimmen Banne erlöst habe. Es hatte nämlich einst der alte Ritter von Wolfseck seinen einzigen Sohn mit einem Ritterfräulein verheirathen wollen, sein Sohn aber hatte heimlich eine Liebschaft mit einer gewöhnlichen Bauerdirne angefangen, ja nachdem er die ihm von seinem Vater bestimmte Braut zurückgewiesen, sich gar heimlich mit seiner Geliebten trauen lassen und ihr ein tief im Wald gelegenes altes Jagdschloß, wo sein Vater niemals einkehrte, zum Wohnsitz eingeräumt, wo er selbst oft hinkam und nach und nach mit ihr fünf Kinder zeugte. Da fügte es sich, daß einst der vielen Wölfe wegen, die dort hausten, eine große Jagd angestellt wurde, bei der sich auch sein Vater betheiligte. Bei dieser Gelegenheit kam derselbe auch zufällig auf jenes Schloß und fand [287] daselbst die Gemahlin seines Sohnes mit ihren fünf Kindern. Er verlangte nun zuerst von seinem Sohne, er solle sich augenblicklich von dieser seinen Stand so sehr erniedrigenden Gattin trennen und seine mit ihr erzeugten Kinder verstoßen, und als derselbe das nicht thun wollte, sprach er den furchtbaren Fluch aus, sein Sohn solle so lange als hungriger Wolf der Schrecken des Volks und sein Weib mit ihrer Brut so lange eine gefürchtete Wölfin sein, bis ein frommer Jüngling in der grausen Mitternachtsstunde vor der Wolfsburg erscheinen und Einlaß begehren werde. So hatte denn der arme Schäfer den Bann gelöst, denn seine Geliebte war die älteste Tochter des Ritters Wolf von Wolfseck, der alte Wolf der hungrige Wolf und dessen Gemahlin mit ihren Kindern die Wölfin mit ihrer Brut gewesen. Zufälliger Weise war aber der arme Schäfer eigentlich auch kein Schäfer, sondern der Sohn eines gewissen Ritters von Schwarzenfels gewesen, der einst das früher dem Ritter von Wolfseck bestimmt gewesene Edelfräulein geheirathet hatte, mit selbiger aber weit weggezogen war, nachdem sie ihm einen Sohn geboren hatte, den sie einstweilen bis zu ihrer Rückkehr einem Schäfer zur Pflege anvertraut hatten. Da nun aber seine Eltern nie zurückkehrten, hatte letzterer den jungen Pflegling als seinen eigenen Sohn aufgezogen und erst jetzt erfuhr derselbe von seinem Pflegevater die Geschichte seiner Herkunft. Derselbe ließ nun aber die Wolfsburg als den Sitz eines so unheimlichen Geheimnisses niederreißen – was mit seinen Schwiegereltern und ihren Kindern geworden, darüber schweigt die Sage – und zog mit allen den Seinigen ins Böhmerland, wo er von dem König Ottokar II. eine schöne Burg erhalten und dort das Geschlecht der Edlen von Schwarzenfels begründet haben soll.
Fußnoten
1 S. Relßieg Bd. I. S. 404 etc.