921. Der Graf von Ziegenhain.
(S. Bechstein, Deutsches Sagenbuch S. 625 nach Dilich, Hess. Chronik S. 116.)
Die hessische Stadt Ziegenhain hatte vor Zeiten eigene Grafen, welche jedoch ausgestorben sind. Sie stammten von Ludwig dem Eisernen, Landgrafen zu Thüringen ab. Der letzte dieser Grafen hieß Johann, zubenannt der Starke. Und in Wahrheit war er ein starker Hans. Eines schönen Tages geruhte Graf Hans von Ziegenhain zu Frankenberg, auch einem oberhessischen Städtlein, mit seiner Frau Mutter, einer Tochter des Grafen Friedrich von Epstein, spazieren zu gehen, und sie kamen durch eine etwas enge Gasse, mitten in welcher ein Fuder Wein auf einem Wagen stand. Dieses versperrte die Gasse so auf beiden Seiten, daß man, ohne sich an Wand oder Wagen zu beschmutzen, nicht wohl vorbeikonnte, was die Frau Gräfin schwer verdroß. Da griff Graf Hans herzhaft an und hob und schob mit einem Ruck vorn und einem Ruck hinten das ganze Fuder sammt dem Wagen zur Seite, daß die Wände der Häuser krachten und die Leute dachten, es sei ein Erdbeben. Das war aber der Frau Mutter wieder nicht recht und sie hub an zu schelten: »Ist das nun nothwendig, seine Leibeskraft also anzustrengen und so liderlich zu vergeuden?« Darauf sagte Graf Hans von Ziegenhain bescheidentlich: »Die Frau Mutter ereifere sich doch ja nicht und sei nicht ungnädig! ich habe es gut gemeint, indem ich ihr Platz zum Vorbeigehen machen wollte. Da ich es nun damit nicht getroffen, so will ich meinen Fehler gleich wieder gut machen!« Sprachs und rückte alsbald, ohne Antwort abzuwarten, mit zwei Rucken den Wagen wieder so, wie er zuvor gestanden, und nun mußte die gestrenge Frau Gräfin umwenden und sich eine andere Gasse zum Durchspazieren aussuchen. Dies ist geschehen um das Jahr 1453.