151) Der Hirsch und die Wundertannen zu Stendal. 1

An einem schönen Sonntagsmorgen des Jahres 1618 hat es auch einmal sehr heftig an die sogenannte Nothpforte, eine in der Stadtmauer zu Stendal befindliche Oeffnung, welche mit einer Thüre versehen war, die nur im Nothfall sich aufthat, gepocht. Nun war aber die Umgegend der Stadt in jener Zeit sehr wald-und wildreich, und die genannte Pforte lag dicht auf dem linken, dem Mönchenkirchhofe ganz nahen Uchte-Ufer. Der Pförtner wollte anfänglich nicht öffnen, weil er fürchtete, es sei Raubgesindel draußen, welches in die Stadt dringen wollte. Allein als die Schläge immer heftiger wurden, wagte er doch nicht länger zu widerstehen, sperrte also die Pforte auf, und siehe, keine Räuber standen vor ihm, sondern ein großer Edelhirsch von 16 Enden. Der ließ aber dem erschrockenen Pförtner keine Zeit zu schreien oder nach ihm zu greifen, er flog durch die Pforte hindurch, lief über den Mönchenkirchhof in die Weberstraße, und da er just die Thüre des Hauses eines Tuchmachermeisters geöffnet sah, stürmte er durch die Hausflur, durchrannte mehrere Gärten, deren Zäune er übersprang, und kam so in den Hof eines andern Meisters derselbe Gilde, wo er aber in der Eile in einen offenen Brunnen, der in der Mitte des Hofes war, stürzte, aber ohne sich Schaden zu thun. Von dem Lärmen erschreckt eilte der zufällig im Hause befindliche Meister mit seinen Leuten herbei; allein es war ein mitleidiger Mann, flugs entschloß er sich, dem armen Hirsch zu helfen, seine Gesellen holten Seile herbei, die warf man dem Hirsch um Leib und Geweihe und so zogen sie das geängstigte Thier aus der Tiefe heraus. Allein ehe sie sich noch überlegen konnten, was mit demselben anzufangen sei, sprang der Hirsch über die Köpfe der Gaffenden hinweg und jagte die Weberstraße hinab nach dem Dome zu. Vor dem Portale der Thürme dieses Gotteshauses stand aber damals eine Kapelle, in welcher die zu ordinirenden Priester examinirt wurden. Gerade mußte einer derselben die Stelle aus dem Psalm lesen: »Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu Dir«, als die Thüre der Kapelle sich leise öffnete und der Hirsch sanftmüthig in dieselbe hineintrat, dem Altare sich nahete und die Augen, wie wenn er Gott danken wollte, zum Heilandsbilde erhob, das auf dem Altar stand. Das hat den Priester gewaltig ergriffen und er hat das arme Geschöpf in seinen Schutz genommen und nicht geduldet, daß dasselbe eingefangen würde. Man hat ihm also wieder die Thüre der Kapelle geöffnet und so ist er [140] ungehindert zum Tangermünder Thore hin aus wiederum in den Stendalschen Stadtbusch, der damals ein großer dichter Wald war, zurückgeeilt. Seit jenem Tage aber sind aus dem Gemäuer jener Kapelle plötzlich junge Tannen emporgewachsen, ganz so, wie sie in dem genannten Stadtbusche stehen, und die Tannen sind von Jahr zu Jahr höher geworden und haben frisch gegrünt bis zum Jahr 1637. Da stürzte die Kapelle mit dem Dache ein, allein das Gemäuer blieb unversehrt, erst einige Jahre nachher haben ruchlose Soldatenhände die Tannen mit der Wurzel niedergerissen und so dieses Denkmal wunderbarer Rettung für immer vernichtet.

Fußnoten

1 Nach Weihe, Bd. II. S. 66 etc.

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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Erster Band. Die Marken. 151. Der Hirsch und die Wundertannen zu Stendal. 151. Der Hirsch und die Wundertannen zu Stendal. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-3BD6-3