472. Die Pommerschen Menschenfresser.

(S.I. Prätorius, Unerhörte Brodsverwandelung, Madigwerdung, Blutung, Verschwindung, Stärkung und Ermangelung etc. im Wunder Jahr 1678 o.O.u.I. in 4°. Bogen B.)


Im Dorfe Wolsin, welches anderthalb Meilen Weges von Lippen gegen Stettin zu liegt, ist ein Mann, der vor diesem als fromm und aufrichtig und eines guten Gemüthes bekannt war, mit Namen Joachim Burckhard, von großen Hungers wegen, weil er etliche Jahre lang von seinen Gütern und Aeckern nichts genießen, noch einernten können, nach dem Städtlein Lippen zu gegangen mit zweien Söhnen, Adam und Fritzchen, bei seinem Weibe vorgebend, er wolle in die Stadt gehen und sich mit beiden Söhnen unterhalten lassen, sie aber solle sich fertig machen und nachkommen, weil sie Hungers halben keine Mittel mehr hätten, daß sie das Leben erhalten könnten. Weil sie aber so matt waren, daß sie Schwachheit halber die Stadt nicht erreichen konnten, sind sie zu Klein-Brödene, welches hart neben der Straße gelegen ist, eingekehrt, allda sein Bruder Christoph Burckhard gewohnt, und mit allen [499] den Seinen in der Pest aufgegangen ist, ohne seiner leiblichen Schwester Tochter, welche bei ihrem Vetter gewohnt hat und erst vor drei Tagen eines jungen Söhnleins genesen war. Diese hat er gegrüßt, ihr Glück gewünscht und sie haben einander also mit Trauern und Weinen ihre Noth geklagt. Weil sie nun aber in eilf Wochen kein Brod und rechte Speise gegessen, sondern nur Wurzeln und zu Zeiten etliche Eicheln, des jüngsten Sohnes Aussage nach, welche sie nur zur großen Noth und im äußersten Hunger als ein Labsal gebraucht, hat sich gleichsam das Gemüth und Geblüt verwandelt und aus menschlicher Natur ist eine grimmige Wolfsart geworden. Indem tritt obgemeldeter Burckhard vor das Bettlein und elende Lager, darinnen seine Muhme und Schwestertochter gelegen, und redet sie mit grimmigen Worten an: »Liebe Muhme, hast Du nichts zu essen? Ich muß mit den Meinen heute etwas essen oder wir können das Leben nicht erhalten!« Auf dieses reicht die Sechswöchnerin einen Schlüssel und spricht, er solle nachsehen, er werde nichts finden, als ein wenig gekochte Blätter von Lattich. Dieses wäre ihre Speise gewesen bis zum Anfang ihrer Genesung und Entbindung, seit derselben Stunde hätte sie sich bis dato ohne Speise befunden. Als er es nun so befunden, wird er mit beiden Söhnen eines Sinnes und Rathschlags, die kranke Sechswöchnerin zu erschlagen und sich mit ihrem Fleische des Hungers zu erwehren. Er läuft wieder auf das Bett zu, fängt an gräßlich zu heulen und zu brüllen, nebst beiden Söhnen, und spricht: »Liebe Muhme, bete und rufe Gott an, jetzt mußt Du sterben und unsere Speise werden!« Die kranke Frau erschrickt, siehet auch nirgends eine Hilfe, sondern fängt an: »Lieber Vetter, mich wohl, nur mein Kind nicht, ich muß ohnedies verschmachten. Gott ich befehle mich Dir!« Auf dieses fahren sie mit ihren Messern zu, stechen und schneiden in die Gurgel und den Hals mit solcher Grimmigkeit, daß sie nur bald sterben soll, wie auch bald geschehen, und sie ohne alles Zappeln und Schreien verschieden. Nach diesem weiden sie die Leiche aus, schneiden und schälen das Fleisch ab und weil sie ein Tönnlein, darin grob Steinsalz, das in Heringen gewesen, gefunden, haben sie es eingesalzen und etliches eines Theils roh, eines Theils ein wenig gebraten gegessen, das Meiste aber mit zurück nach Hause genommen und also von dem ersten Vorsatz abgelassen, in die Stadt zu gehen. Wie er nach Hause kommt, spricht er: »Liebes Weib, hier bringe ich Fleisch, ich habe unterwegs ein wildes Schwein bekommen, das habe ich gemetzigt und bringe Dir auch etwas davon. Vielleicht wird es auch ein Mittel sein, das Leben zu erhalten!« Die Frau, welche auch hungerte, fuhr mit großer Begierde zu, sott es nur auf und aß es. Es sind aber die vier Personen, weil die Sechswöchnerin voll der Pestilenz gewesen, innerhalb vier Tagen alle gestorben, bis auf den jüngsten Sohn Friedrich Burckhard, der hernach im Amte zu Lippen solches ausgesagt hat und den zwölften Tag in gefänglicher Haft gestorben ist. Die Todtengräber haben darnach Haussuchung halten müssen und von dem Fleische mehr als die Hälfte gefunden, welches auf dem Kirchhofe selbigen Ortes nebst dem kleinen Kindlein, welches auch todt gefunden worden ist, begraben worden und ist den 2. Junius 1678 zu Lippen eine Tafel, darauf dieser Vorgang geschrieben, in die Kirche zum ewigen Gedächtniß aufgehängt worden.

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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Zweiter Band. Pommern. 472. Die Pommerschen Menschenfresser. 472. Die Pommerschen Menschenfresser. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-38B4-5