Oliviers Erzählung
Das Schicksal begünstigte mich eben damals, als es mit meiner Vernunft zum Durchbruch kam, ganz besonders. Mein Vater, dessen Vermögensverhältnisse durch unmäßigen Aufwand zerrüttet waren, hatte mir nach seinem Tode nur ein mäßiges Erbteil hinterlassen. Allein ich hatte die Aussicht, nach dem Tode meines Oheims ein ansehnlicher Gutsbesitzer zu werden. Diese Aussichten waren aller Welt bekannt. Dazu kam noch, daß ich mit dem Freifräulein von Mooser, der Tochter des Kammerpräsidenten, verlobt war. Sie war, wie man zu sagen pflegt, eine der [328] ersten Partien im Lande, das heißt, sie war hübsch, sehr reich und eine Nichte des Kriegsministers. Die Heirat wurde von meinen Verwandten und ihrem alten Oheim eingefädelt; ich mußte, dem Laufe der Welt gemäß, einwilligen. Nur die Kränklichkeit meines Oheims, der bei mir Vaterstelle vertrat, verzögerte die Vermählung. Major war ich schon; bei der nächsten Beförderung sollte ich Oberstlieutenant werden. In ein paar Jahren konnte mir das Regiment nicht fehlen.
So standen die Sachen zu jener Zeit. Freilich fand ich nun, da ich zur Vernunft gekommen war, daß die Sachen wirklich recht übel standen. Es war mir unbehaglich, daß ich freier Mann mein Dasein durch Verwandte, wegen Geldes, Herkunft und Protectionen, an ein Mädchen hatte verkuppeln lassen, ohne zu wissen, ob das Mädchen mit seinen Eigenheiten, Ansichten, Fehlern und Neigungen zu mir passe? Die Freiin war allerdings hübsch und gut, allein nicht um ein Haar anders, wie Fräulein von solcher Erziehung sind und sein können: gutmütig von Natur; aber durch Verkünstelung eitel, vergnügungssüchtig, leichtsinnig, stolz auf Verwandtschaft, auf Rang und Schönheit; witzig, aber auf Unkosten des Besten in der Welt; in allem mehr französisch als deutsch. Ob sie mich wirklich liebe, wußte ich nicht; daß ich für sie nicht mehr, als für jedes andere gebildete und hübsche Mädchen fühlte, das wußte ich sicher.
Ein durch Eilboten gesandter Brief rief mich zu meinem kränklichen Oheim. Ich erhielt Urlaub vom General, schied von meiner Verlobten und ihren Eltern und reiste ab. Als ich ankam, war der Oheim schon gestorben und begraben. Ein alter Verwalter übergab mir die Schlüssel zu den Schränken und das Testament. Ich entrichtete die wenigen kleinen Legate an die Dienerschaft, zog den Verwalter in mein Geheimnis, und erklärte öffentlich, daß ich arm, alles Vermögen meines Oheims mit Schulden belastet sei.
So kehrte ich in meine Garnison zurück und machte mein Märchen bekannt. Es war mir nur darum zu tun, die Denkungsart [329] meiner Verlobten zu prüfen, und ob sie Mut genug haben werde, an meiner Seite der Welt zu entsagen und zu werden wie ich. – Um die Sache noch auffallender zu machen, verkaufte ich, was ich entbehren konnte, um meine eigenen Schulden in der Stadt zu bezahlen; denn ich hatte deren in der Tat, alte und neue, eine ziemliche Menge. Meine Kameraden lachten mich aus, und besonders, wenn ich vorgab, wenigstens ein ehrlicher Mann bleiben zu wollen. Selbst der Kammerpräsident und seine Gemahlin rieten mir's ab: ich müsse keinen Eclat machen, ichblamiere mich und ihr Haus; ich gäbe mir und ihnen ein Ridicule usw.
Ich blieb bei meinem Entschluß: Redlichkeit gehe über Glanz, und Armut sei keine Schande. Wer viel entbehren könne, sei reich. – Diese Redensarten, wie man es nannte, gefielen am allerwenigstens dem Freifräulein. Ihre Eltern gaben mir zu verstehen, ihr Kind sei an gewisse Aisances gewöhnt, sie selbst wären nicht reich genug, noch während ihres Lebens mir und der Tochter ein anständiges Sort zu machen. Kurz, nach wenigen Tagen traute man ganz unumwunden meinem eigenen Zartgefühl zu, daß ich die Verbindung freiwillig aufgeben werde. Ich nahm gar keinen Anstand, es zu tun und zu erklären, ich fände es billig, weil hier keine gegenseitige Wahl der Herzen, sondern nur eine Übereinkunft und Geldabrechnung der Verwandten stattgefunden habe.
Meine vorgebliche Armut hatte aber noch ganz andere Wirkungen guter Art; nämlich die alten Freunde und lustigen Brüder suchten mich weniger auf. Doch tat mir's wohl, daß mich einige ihrer Hochachtung noch immer wert hielten; die meisten wurden kälter und seltener. Also mit dem Gelde hatte ich für sie das höhere Interesse verloren. Desto besser! dachte ich: und desto wahrer darfst du reden und sein.
Ich machte aber, und das war vorauszusehen, mit der Wahrheit so wenig Glück, wie jeder andere vor mir. Seit einigen Wintern pflegte ich dem Offizier-Corps Vorlesungen über wissenschaftliche [330] Gegenstände zu halten. Ich war noch jetzt damit beschäftigt, sprach aber nun mein Inneres frei aus. Als ich aber mit folgenden Sätzen hervortrat: Jeder Krieg, der nicht für die Unabhängigkeit und Sicherheit des Vaterlandes gegen fremde Unterdrücker geführt werde, sondern für persönliche Launen des Fürsten, Intrigen der Minister, Ehrgeiz der Höfe, um zu erobern, um sich in die Angelegenheiten anderer Völker zu mengen, um Rache zu üben, sei ungerecht; stehende Heere seien die Plage der Länder, der Ruin der Finanzen, die Schergen des Despotismus, wo der Fürst Despot sein wolle; – der Soldat sei Bürger; – der Erb- und Briefadel heute ein Unsinn, der nur unter Wilden und Barbaren eine Art Sinn gehabt habe; – ich hoffe, noch die Zeit zu erleben, daß alle Könige Europas sich durch ein Konkordat über Aufhebung der ungeheuren stehender Heere verständigen, dagegen alle waffenfähigen Bürger zu Soldaten machen würden; – Duellanten gehören ins Irren- oder Zuchthaus; – als ich mit diesen oder ähnlichen Sätzen hervortrat und ihre Richtigkeit, an welcher der gesunde Menschenverstand nicht zweifeln könne, erwies, wurden die Vorlesungen verboten, und der General gab mir einen derben Verweis. Ich widersprach und bekam Arrest.
Das alles tat mir nicht weh, denn ich hatte es erwartet. Doch überall erfüllte ich meine Pflicht. Seit der Ungnade, in die ich beim General gefallen war, fingen auch die höheren Offiziere an, sich von mir zurückzuziehen. Man lachte und spöttelte viel, und einige der witzigsten hielten mich für verrückt und meinten, das sei die Folge des Schreckens, den ich bei meiner vereitelten Hoffnung auf die große Erbschaft gehabt haben sollte. Bald wurde ich so verlassen, daß selbst mein bisheriger Bedienter nicht mehr bei mir bleiben wollte, weil ich mich und ihn mit zu karger Kost nährte, den Kaffee abschaffte, selten Wein trank, und ihm statt der bisherigen reichen Livrée eine einfache, bequeme Tracht machen lassen wollte, ungefähr wie die, in der du mich jetzt siehst.
[331] Dagegen erhielt ich zu derselben Zeit einen Brief, der mir für alles Ersatz bot. Ich hatte nämlich vor Jahren ein armes Bettlermädchen weinend vor der Scheu er eines Bauernhauses gefunden. In der Scheuer lag auf Heu und in Lumpen die sterbende Mutter des Mädchens. Ich erfuhr von dem Weibe, das selbst noch sehr jung war, sie sei aus dem südlichen Deutschland, von armen, aber rechtschaffenen Eltern, in den Dienst einer reichen Herrschaft getreten, dort vom Sohn des Hauses verführt, dann mit einem Stück Geld aus dem Hause gewiesen worden; sie habe nach ihrer Entbindung einen Dienst gesucht, aber wegen des Kindes nirgend ein dauerndes Unterkommen gefunden, sei fortwährend umhergestrichen, habe zuletzt nur von Almosen gelebt und könne nun für ihre Tochter nur noch beten. – Ich lief in das Bauernhaus, ihr Erfrischungen zu kaufen; denn der Bauer hatte ihr kaum den Ruheplatz in der Scheuer gestatten wollen. Als ich zu ihr zurückkam, lag sie schon entseelt auf dem Heu, und das kleine Mädchen jammernd über dem Leichnam der Mutter. Ich tröstete, so gut ich konnte; bestritt die Begräbniskosten, und schickte das verwaiste Mädchen, welches nicht einmal den Familiennamen seiner Mutter kannte, in eine weibliche Erziehungs-Anstalt nach Rastrow. Es hieß Amalia, und nach dem Fundort gab ich ihm noch, als Almosen, den Beinamen Scheuer.
Jetzt eben, da alles von mir wich, erhielt ich aus der Anstalt Rastrow von dieser Amalia Scheuer jenen Brief, der noch zu meinen Kleinodien gehört. Du sollst ihn lesen. Er rührte mich damals zu Tränen. Der Inhalt war ungefähr folgender: Sie habe mein Unglück vernommen, und glaube nun ihrem Vater, so pflegte sie mich zu nennen, nicht länger zur Last fallen zu dürfen. Sie werde suchen, als Erzieherin in einem guten Hause, oder durch Stickerei, Putzmachen, Unterrichten im Klavierspiel, oder auf irgendeine Weise ihren Unterhalt selbst zu erwerben. Ich möge ihretwegen unbekümmert sein; nun sei die Reihe an ihr, Sorge für mich zu tragen. Du mußt den Brief [332] selbst lesen, mit den schönen Eingebungen der Dankbarkeit, der Abspiegelung der frömmsten, reinsten Seele. Sie bat noch um die Erlaubnis, ein einziges Mal ihren Wohltäter sehen zu dürfen, dessen Bild seit dem Todestage ihrer Mutter ihr nur dunkel im Gedächtnis geblieben sei. – Ich schrieb ihr zurück, lobte ihre Gesinnungen, aber versicherte, sie habe keine Ursache, sich zu übereilen; ich würde für sie sorgen, bis sie eine angemessene Stellung gefunden habe.
Eines Tages, da ich von der Wachtparade zurückgekommen, wurde an die Tür meines Zimmers gepocht. Ein unbekanntes Mädchen mit einem lieblichen Gesicht trat herein. Lilien und Pfirsichblüten mischten ihre Farben im Strauße nie schöner, als auf diesem Antlitz unter einer Lockenfülle des Haares. Sie fragte mit Erröten und zitternder Stimme nach mir; dann fiel sie in Tränen zerfließend nieder, umarmte meine Knie, und als ich erstaunt sie aufrichten wollte, bedeckte sie meine Hand mit ihren Küssen. Was mir ahnte, bestätigte endlich ihr Ruf: O mein Vater! o mein Vater! o mein Schutzgeist! Ich beschwor sie, aufzustehen. Sie bat mich, sie in dieser längst ersehnten Stellung verharren zu lassen, und sagte: Ach, ich bin so selig, daß mein Herz bricht!
Es währte lange, bis sie sich erholte und aufstand. Dann schloß ich sie an mein Herz, drückte einen Kuß auf ihre freie Stirn und befahl ihr, mich als ihren Vater zu betrachten und du zu heißen. Sie gehorchte, doch mir hatte der väterliche Kuß etwas die Sinne verwirrt. Sie war in einem Gasthof abgetreten; dort ließ ich sie einige Tage; aber diese Tage waren genug, über meine Gemütsruhe zu entscheiden. Als Amalia in ihre Anstalt zurückreisen wollte, gab ich ihr den Rat, in einer bürgerlichen Wohnung der Stadt zu bleiben und Stickereien für Geld zu übernehmen. Es war mir zu schwer, mich von ihr zu trennen; doch, ihr verraten, daß ich reich sei, das wollte ich auch nicht. Ich mußte sie prüfen. Darauf mietete ich ihr einige Zimmer, nahm eine Magd zu ihrem Dienst, versorgte sie mit Flügel, Harfe, Büchern [333] und nach wenigen Tagen auch mit Aufträgen zu Stickereiarbeiten, freilich alle auf meine eigenen Kosten, unter dem Vorgeben, sie kämen von fremder Hand. Ich besuchte sie wöchentlich nur ein- oder zweimal, um Aufsehen oder üble Deutung zu vermeiden.
Jeder Besuch war mir ein Fest. Du kannst dir's denken, wie süß es mich durchdrang, zu wissen, es lebe unterm Monde ein Wesen, das mir alles schuldig sei; das keinem in der Welt angehöre als mir; das von meiner Fürsorge alles erwarte, und dies Wesen sei von allem, was die Natur mir jemals Schönes, Frommes, Edles gezeigt, das Auserlesenste. – Amaliens Schönheit und geringer Stand waren bald in der Stadt kein Geheimnis; denn sie zog die Blicke auf sich. Man sprach zu mir davon, und ich verhehlte nicht, daß ich ihr Pflegevater sei, und sie ein armes Kind von unehelicher Geburt. Man brachte ihr bald Arbeiten über Arbeiten; denn ich hatte ihr untersagt, je in ein fremdes Haus zu gehen. Damen kamen zu ihr, weniger der Stickereien wegen, als die Vielgepriesene in der Nähe zu sehen.
Eines Tages, als ich Amalia besuchte, hörte ich, indem ich vor der Tür ihres Zimmers stand, daß sie mit einem Mann in heftigem Wortwechsel war. Ich erkannte die Stimme meines Oberst-Lieutenants, und als ich die Tür öffnete, wollte er ihr einen Kuß rauben. Ich warf ihm sein unanständiges Betragen vor, und da er Umstände machte, flog er durch meine Hände zur Tür hinaus, die Treppe hinab. Er glaubte, ich habe seine Ehre verletzt, und forderte mich zum Duell; doch ich wies ihn mit seiner Narrheit ab. Das Offizier-Corps drohte, nicht mehr mit mir dienen zu wollen, weil ich ein Feigling wäre. Das war ich nicht, ich ging unbewaffnet auf den bestimmten Kampfplatz und sagte dem Narren, wenn er Lust habe zu einem Meuchelmorde, so gäbe ich ihm Erlaubnis dazu. Jetzt wurden er und die Offiziere wütend; sie glaubten, nach ihren barbarischen Vorstellungen, meine Ehre tödlich zu verletzen, während sie sich selbst durch ihr Betragen entehrten. Ich dagegen fragte sie, [334] ob Gassenbuben, die einen achtbaren Mann auf der Straße mit Kot bewürfen, dadurch achtbar, der achtbare Mann aber dadurch ein Gassenbube würde?
Bei der Parade am andern Morgen übergab mir, ganz unerwartet, der General einen vom Hofe erteilten Orden. Dieser war noch Spätfrucht meiner ehemaligen Verbindung mit dem Freifräulein von Mooser und das Werk ihres Oheims, des Kriegs-Ministers. Ich konnte das Bändchen, nach meinen Begriffen von Verdiensten, gar nicht annehmen, und hätte ich wirklich ein Verdienst um den Staat gehabt, würde ich mich doch geschämt haben, die Anerkennung desselben alle Tage prahlerisch an mir selbst zur Schau zu stellen. – Meine standhafte Weigerung, das Bändchen mit dem Sternchen anzunehmen, war in den Jahrbüchern der Monarchie unerhört. Meine Äußerung: Pflicht und Tugend lassen sich nicht belohnen, sondern nur anerkennen; aber auch nicht anerkannt, tue der Biedermann seine Pflicht; am wenigsten aber lasse er sich zwingen, vor andern Leuten mit dem, was er geleistet, groß zu tun; – diese Äußerung galt für Jakobinerei und Unsinn. Der General ward wütend. Nun traten die Offiziere wegen ihrer, wie sie meinten, verletzten Ehre gegen mich auf. Ich bekam Verhaft und nach einigen Wochen den Abschied vom Regiment.
Damit war ich wohl zufrieden. Jetzt kleidete ich mich bürgerlich, wie ich wollte; gerade nicht nach der herrschenden Mode, aber bescheiden, bequem und naturgemäß, wie du uns alle hier in Flyeln siehst. Die Leute sperrten die Augen auf und hielten mich für närrisch, und das um so mehr, als sie erfuhren, ich sei nichts weniger als arm, sondern einer der begütertsten Männer des Landes. Nur Amalie wußte, warum ich so handle; denn ich hatte sie mit meinen Ansichten über die heutige Welt und mit meinen Grundsätzen vertraut gemacht. Sie selbst ein Naturkind, einfach und geistvoll, billigte meine Gesinnung und lebte ganz in derselben. Freilich auf Malchens Urteil konnte ich nicht stolz sein, denn es war nur mein eigenes. Sie dachte, sie empfand [335] nichts, als was ich dachte und empfand; ihr Wesen hatte sich in dem meinigen aufgelöst. Ihre ehrfurchtsvolle, töchterliche Liebe war, ohne ihr Wissen, in die reinste, verschämteste und innigste Liebe der Jungfrau übergegangen, und ich selbst schien mir für die Vaterrolle etwas zu jung.
Als ich eines Tages ihr davon sprach, daß ich auf meine Güter zurückzugehen gedenke, bat sie, mir folgen zu dürfen; sie wäre glücklich, mir dort als Magd dienen zu dürfen; und als ich stockend sagte, ich gedenke mich zu vermählen, senkte sie mit gefalteten Händen ihr Haupt, und sie sprach: Desto besser, deine Gemahlin wird keine getreuere Dienerin finden als mich! – Aber, sagte ich, meine künftige Gemahlin denkt schon jetzt nicht so vorteilhaft von dir, als du verdienst. – Was habe ich bei ihr schon verschuldet? antwortete sie mir mit erhobenem Antlitz und allem Stolz der Unschuld. Zeige mir deine Braut, ich werde um ihre Huld und Achtung werben! – Ich führte Malchen vor den großen Spiegel des Zimmers, zeigte hinein und sagte stammelnd: Da siehst du sie! – Sie machte bei diesen Worten eine Bewegung des Schreckens, sah mich erblassend mit ihren großen blauen Augen an, worin eine Frage erstarb und sagte dann zitternd: Mir ist nicht wohl! Sie sank wie tot nieder. Ich rief der Magd, war aber vom Entsetzen fast gelähmt.
Als Amalia genas und nach dem Schlummer, welcher der Ohnmacht gefolgt war, ihre Wangen sich färbten und sie die Augen aufschlug, war ihr erstes ein sanftes Lächeln gegen mich, dann Verwunderung über meine und der beschäftigten Magd Sorge. Erst allmählich kehrten ihre Erinnerungen zurück. Sie glaubte geschlafen zu haben, und ich wagte kaum von dem Vorgefallenen zu reden. Als wir wieder allein waren, sagte ich: Amalia, warum erschrakst du vor dem Spiegel? Warum darfst du nicht meine Braut sein? Rede offen, ich bin gefaßt, alles zu hören! – Sie errötete, und blieb lange stumm, den Blick auf den Boden geheftet. – Warum darfst du nicht? fragte ich noch einmal. Da seufzte sie und sah gen Himmel: Dürfen? o Gott, dürfen? [336] Was darf ich anders, als was du willst? Kann ich denn selig sein, kann ich denn atmen, ohne dich? Ob deine Magd, ob deine Braut, alles eins, denn ich habe nur eine Liebe für dich!
Während ich in den Vorhallen des Himmels lebte, war die Stadt vor Erstaunen außer sich; waren meine Verwandten väterlicher- und mütterlicherseits, in Grausen und Verzweiflung, als ich meine nahe Vermählung mit Amalien ankündete. Ein Freiherr, aus altadeligem Geschlecht, dessen Altvordern im Dienst der Könige die höchsten Würden bekleidet hatten, ein hof-, turnier- und stiftsfähiger Baron, mit den ersten Familien des Landes blutsverwandt, geht die heilloseste Mesalliance ein, nicht einmal mit einer Briefadeligen, nicht einmal mit einer vornehmen Bürgerlichen, nicht einmal mit einer ehrlichen Handwerkertochter, nein, mit einem Bettelmädchen von unehelicher Abkunft! – Von meiner ganzen Verwandtschaft erhielt ich Drohbriefe; man werde sich meiner schämen müssen; drohte mich von künftigen Erbschaftsfällen ausschließen zu wollen und mich durch Verwendungen allerhöchsten Orts zu zwingen wissen. Es kam alles zu spät, denn schon nach vierzehn Tagen war mir Amalia vor dem Altar förmlich angetraut worden.
Was soll ich dir von den Torheiten erzählen, welche die mit Vorurteilen behafteten Menschen begannen, sobald ich's darauf anlegte, als ehrlicher, natürlicher Mensch zu leben; streng, der Wahrheit gemäß, mit Verbannung allen Unsinns, aller Tanzmeisterhöflichkeiten, aller Ausländereien, aller sogenannten Konvenienzen, ohne jedoch deswegen ein würdiges und anständiges Betragen aus den Augen zu setzen. Mein einfaches Du, mit dem ich jeden anredete und von jedem angeredet zu werden bat, schreckte sogleich jeden von mir, als wäre ich mit Pestbeulen bedeckt. Mein Bart wurde zum Gespött; mein freundliches Grußerwidern ohne spießbürgerliches Hutabziehen auf der Straße hieß Grobheit. Ich ließ mich nicht irre machen; einmal mußte Bahn gebrochen werden. Ich wollte sehen, ob es im [337] neunzehnten Jahrhundert erlaubt sei, in einer europäischen Stadt mit Wegwerfung aller Schnurren, aller verschrobenen Begriffe, zu leben? Weit entfernt, jemanden durch irgendeine Unart zu kränken, jemanden wegen seines Vorurteils, seiner moralischen Verzerrung Vorwürfe zu machen, wurde ich im Gegenteil gefälliger gegen jeden. Ich suchte die Menschen, von welchen ich jetzt äußerlich so verschieden war, wie ich es schon in meinem Innern gewesen, durch Güte, durch Wohltun mit mir zu versöhnen – es war fruchtlos.
Ich begab mich auf meine Güter, hierher nach Flyeln, und ich fand Vergnügen daran, mit meinen Gutsinsassen bekannt und vertraut zu werden. Sie waren damals Halbwilde; denn sie waren Leibeigene. Sie krochen vor ihrem Erbherrn sklavisch. Keiner konnte lesen und schreiben; sie waren träge und unsittlich; Faulenzen, Saufen und Raufen schien ihr Himmel; Aberglaube war ihre Religion; tote, abgöttische Werkheiligkeit ihre Religiosität und Lug und Trug ihre Klugheit. Ich beschloß, aus diesem Vieh Menschen zu machen; ließ das Gefängnis verbessern und ein großes Schulhaus bauen; ich und Amalia besuchten alle Hütten, es waren kotige Ställe. Ich gebot, bei schwerer Strafe, die strengste Reinlichkeit. Wer nicht gehorchte, bekam Gefängnisstrafe, den Gehorsamen hingegen beschenkte ich zur Aufmunterung mit Tischen, Spiegeln, Sesseln und anderem Hausgerät. Bald war alles in den Häusern wohlgeordnet und sauber. Ich verbot Kartenspiel, Branntewein, Kaffee, Raufereien, Fluchen und Schwören usw. Wer fehlte, wurde bestraft; wer gehorchte und einen Monat lang nie Ursache zum Tadel gab, dem erließ ich die Frondienste. Ich gab dem alten Pfarrer ein Gnadengehalt; wählte an dessen Stelle einen jungen, gelehrten, trefflichen Geistlichen, der ganz in meine Idee einging; ernannte einen im wechselseitigen Unterricht geübten, in der Schweiz bei Pestalozzi erzogenen Jüngling zum Schullehrer mit gutem Gehalt, und vollendete mit diesen beiden Gehilfen die Reformation. Ich selbst hielt mit den erwachsenen Jünglingen [338] und jungen Männern wöchentlich zweimal Schule: Amalia mit den Jungfrauen, des Pfarrers Frau mit den Müttern. Ich ließ alle Kinder auf meine Kosten neu kleiden, so wie du sie noch jetzt siehst, und Amalia änderte auf unsere Kosten die unkleidsame Tracht der Mädchen.
Schule und Gefängnis wirkten; noch mehr der Eigennutz. Sich bei mir einzuschmeicheln, ließen die jungen Männer den Bart wachsen. Ich verbot das den Leibeigenen; nur den Freien war erlaubt, den Bart zu tragen. – Sklaven mußten barbiert gehen. Ich tat die Pforte zur Freiheit auf. Wer seine Felder nach meiner Vorschrift am besten bebaute, erhielt dieselben Ende des Jahres gegen geringen, doch loskäuflichen Bodenzins, zum Eigentum und wurde außerdem vom Frondienst befreit. Wer im zweiten Jahre der Sparsamste, Fleißigste, Verständigste war, empfing seine Freiheit, sein Haus eigen, einen Vorschuß an Geld, ein nach meiner Tracht gemodeltes Ehrenkleid, und durfte den Bart wachsen lassen. Schon am Ende des ersten Jahres hatte ich Anlaß und Recht, ja sogar Verpflichtung, mehrere Familien frei zu geben, die sich ausgezeichnet hatten; sie gehörten schon vor meiner Ankunft zu den bessern. Dies erweckte bei vielen Neid, bei allen Anstrengung zur Nacheiferung, um so mehr, als ich an den Gerichtstagen einige von den Freien mit mir zusammen über die Angeschuldigten richten ließ. Die Beisitzer des Gerichts wurden aus der Mitte der Freien, von ihnen selbst, erwählt.
Während ich mich hier um die übrige Welt wenig bekümmerte, tat es diese desto mehr um mich. Ganz unerwartet erschien auf ministeriellen Befehl, den meine Verwandten erwirkt hatten, eine außerordentliche Kommission, um meine Gesundheits- und Vermögensumstände zu untersuchen. Man hatte mich für wahnsinnig ausgeschrien und daß ich mein gesamtes Vermögen auf die tollste Weise verschwende. Die Herren der Kommission taten sich ein paar Monate lang gütlich bei mir. Ich weiß nicht, welchen Bericht sie abgestattet haben, aber vermutlich [339] den unvorteilhaftesten, weil ich vergaß, ihnen Gold in die Hand zu drücken; denn ohne Rücksicht auf meine Beschwerden und Rechtsverwahrungen wurde ich wie ein Blödsinniger behandelt und durfte meine Güter nicht mehr verlassen. Es wurde mir ein Administrator meines Vermögens gesetzt, der zugleich mein Betragen beobachten, und jeden Besuch von Fremden abhalten sollte. Zum Glück war der Administrator ein rechtschaffener und nicht unverständiger Mann; darum wurden wir bald einig und Freunde. Als er meine Rechnungen durchgesehen hatte, erstaunte der gute Mann über die Strenge der Ökonomie und begriff, daß ich durch die allmähliche Aufhebung der Leibeigenschaft und der Frondienste eher gewänne als verlöre. Aus langer Weile half er selbst mir bei den Vermenschlichungsversuchen meiner Sklaven. Er hatte dabei noch einige gute Einfälle, wie z.B., daß die Freigelassenen fünf Jahre lang über ihre Ausgaben und Einnahmen Rechnung vor Gericht ablegen mußten, um versichert zu sein, daß sie sich nicht verschlimmerten und insgeheim nicht nachlässig würden. Der gute Mann wurde zuletzt ganz begeistert von unserer Flyelner Wirtschaft; denn er sah, wie von den wohlberechneten Schritten selten einer vergebens getan war. Schon im zweiten Jahre meines Hierseins zeichneten sich die Landleute in unseren Ortschaften vor allen der ganzen Gegend durch Häuslichkeit, Kenntnisse und Ehrbarkeit aus. Man hieß sie anderwärts nur Herrnhuter, und in den benachbarten Dörfern glaubt man noch heutigen Tages, die Flyelner hätten eine andere Religion angenommen.
Der Administrator und Vormund fand meine Ansicht über die Welt in den Hauptsachen vollkommen richtig. Er wünschte sogar, daß man allgemein auf eine Vereinfachung und größere Wahrhaftigkeit in Sitte, Wandeln und Leben zurückkommen möchte. Nur der Bart war ihm zuwider, und seinen steifen Zopf im Nacken und den Puder im Haare verteidigte er auf Tod und Leben; auch das Du war ihm anstößig, und er konnte es gegen [340] Amalien und mich, trotz aller Anstrengung, nicht über die Lippen bringen. Inzwischen hatte sein Bericht über mich, nach dem ersten Jahre seiner Administration, und nachdem er der Regierung über die Gesamtverwaltung meines Vermögens die befriedigendsten Aufschlüsse gegeben hatte, die gute Folge, daß ich wieder in die Selbstadministration eingesetzt wurde, aber mit der einstweiligen Verpflichtung, jährlich davon Rechenschaft abzulegen. Das war das Werk meiner Verwandten. Sie ließen sich nicht ausreden, ich habe einen guten Teil des gesunden Menschenverstandes verloren, obgleich mich mein bisheriger Vormund nur für einen wunderlichen Sonderling hatte geltend lassen wollen. Eben deswegen und damit ich durch meine neuerungssüchtigen Irreden, nämlich durch mein unverhohlenes Aussprechen dessen, was Natur und Vernunft gutheißen, kein Ärgernis gäbe, wurde mir verboten, mich ohne besondere höchste Erlaubnis über die Grenzen meiner Güter hinaus zu begeben, das heißt, geboten: das große europäische Irrenhaus nicht zu besuchen, sondern es bloß aus den Zeitungen kennenzulernen. Dabei konnte ich nur gewinnen.
Es sind nun beinahe fünf Jahre, daß ich hier in meiner glückseligen Einsamkeit wohne. Gehe hinaus, betrachte meine Felder und die Felder unserer Bauern, und unsere Waldungen, unsere Herden und Wohnungen! Du wirst einen aufblühenden, vorher hier ungekannten Wohlstand erblicken. Alle meine Leibeigenen sind frei. Ein einziger Trunkenbold und ein anderer träger, roher Kerl schienen unverbesserlich. Der Trunkenbold starb; den andern bekehrten weder Hoffnungen noch Strafen. Als aber alle Flyelner einen Bart trugen und er und der Pfarrer nur allein glattkinnig gingen, machte das auf den Kerl eine wunderbare Wirkung. Auch der Pfarrer wagte es endlich, den Bart stehen zu lassen, und so blieb der Leibeigene allein der Geschorene. Das konnte er nicht ertragen; er besserte sich, um unter ehrlichen Leuten ehrlich zu sein.
Dem guten Pfarrer verursachte sein Bart beim Konsistorium [341] vielen Verdruß. Umsonst bewies er, daß der Bart weder für noch wider den wahren Glauben sei; umsonst berief er sich auf die heiligen Männer des alten und neuen Bundes; umsonst zeigte er, daß er, indem er sich seiner Gemeinde in allem gleich mache, am besten wirken könne; daß er eben dadurch wirklich einen für unverbesserlich gehaltenen Menschen gebessert habe. Der Bart gab zu vielen Konsistorial-Verhandlungen Anlaß. Erst als mein Pfarrer ärztliche Zeugnisse beibrachte, daß er, sonst immer an Zahn weh leidend, nur durch den Bart gegen diese Not geschützt sei, wurde ihm derselbe, um seiner Gesundheit willen, doch unter Beschränkungen, gestattet.
Ich besetze jetzt nicht nur mit meinen freien Leuten das Dorfgericht, sondern habe ihnen auch das Recht erteilt, sich aus ihrer Mitte Vorsteher zu ihrer Gemeinde-Verwaltung zu wählen. Ihr Ehrgefühl ist geweckt; sie fühlen ihre Menschenwürde. Von Zeit zu Zeit speisen ausgezeichnet wackere Leute mit ihren Frauen an meinem Tische. Ich bin ihresgleichen. Die Gleichförmigkeit der Kleidertracht stellt eine gewisse Vertraulichkeit her, ohne die Ehrfurcht zu schwächen. Vor alten Leuten müssen die Kinder aufstehen und das Haupt entblößen; aber keiner entblößt vor seinesgleichen das Haupt. Jede erwiesene boshafte Lüge gehört bei uns zu den Verbrechen, wie der Diebstahl. Die Leute, nun sie sich selbst richten, sind strenger, als ich es ehemals war, und ich muß ihre Urteile oft mildern. Unsere Schulen sind gut; die fähigen Knaben lernen auch Weltgeschichte, Erd-, Völker- und Staatenkunde, so wie Feldmeßkunst und etwas vom Bauwesen. In der Kirche haben wir einen schönen vierstimmigen Chor.
Doch, lieber Norbert, besser, du bleibst einige Tage bei uns, und siehst selber; kannst du, so verweile einige Wochen!