Anton Wildgans
Mein Leben
(um 1910)

[Motto]

Der Tod könnte eintreten ohne anzuklopfen.

Aus Beethovens Testament.

1.

[15] I.

Wenn ich daran gehe, mein Leben aufzuzeichnen, so tue ich es aus Dankbarkeit gegen die Natur, die mich mit reichen Gaben ausgestattet hat. Sei es nun, daß sie mir nicht auch die Kraft gab, diese Gaben zu verwalten, sei es, daß widrige Schicksale mich in der Entfaltung hemmten – eines ist gewiß, daß ich niemals geworden bin, was meine Anlagen versprachen. Wie aber alles mit mir kam, will ich aufschreiben und das Leben, das ich erhalten, will ich den Menschen zur Kenntnis bringen, damit es nicht umsonst gelebt sei, sondern eine schaffende Kraft werde, die das Denken anderer beeinflußt und der Natur bei der Formung künftiger Individuen behilflich sei.

So nehme ich denn alle Kraft und allen Mut zusammen, um ehrlich an mein Werk zu gehen. Denn wahrlich es gehört viel Kraft und Mut dazu, in die Dunkelheiten des eigenen Lebens hineinzuleuchten. Es wird manche Schuld, bisher anderen Menschen und äußeren Umständen zugeschoben, im Laufe der Betrachtungen dem eigenen Charakter [15] zur Last fallen. Und vielleicht denke ich am Ende dieser Aufschreibungen gänzlich anders über mich als jetzt am Anfang. Auch dies muß gewagt werden und kann vielleicht zu einem Bankerotte führen. Freilich nur dann, wenn er jetzt schon latent vorhanden ist. Dies kann ich heute nicht wissen. Denn wenn ich mir auch stets die wahrheitsgetreueste Selbstkritik auferlegt habe und bei jeder meiner Handlungen mich geprüft habe, welchen inneren Beweggründen sie entsprangen, so ist man oft im Drange einer Leidenschaft oder Erregung außer Stande, aus der richtigen Kritik die richtigen handelnden Konsequenzen zu ziehen. So wird man allmählich von seiner Erkenntnis abgedrängt, unsere Handlungen schicken sich an, ein Leben auf eigene Faust, unbekümmert um unser Urteil, zu führen. Wir können sie nicht mehr beeinflussen und blicken ihnen nach, so wie ein Herr seinem Diener nachblickt, dem er einen Auftrag gegeben, und von dem er sieht, daß er seine eigenen Wege geht und des Befehles vergessen hat. Der Herr möchte ihn zurückrufen und beschuldigt sich selbst in der Verzweiflung, den Auftrag nicht richtig und deutlich gegeben zu haben. Jener aber ist außer Hörweite und der Auftraggeber von den Ereignissen so verwirrt, daß er nicht die Kraft hat, jenen einzuholen. So kann es geschehen, daß der Diener hingeht und eine Untat begeht. Und wenn man ihn verhört, [16] wird er möglicherweise sagen, der Herr habe sie ihm anbefohlen. Und dieser wird keine Beweise dagegen haben.

So – glaube ich – kann es uns mit unseren Handlungen ergehen, wenn wir es auch nur einmal versäumt haben, ihnen von unserer Erkenntnis klaren Auftrag geben zu lassen. Wie oft habe ich dieses erlebt. Und vielleicht – indem ich dies bekenne – habe ich schon den Finger auf die Wunde gelegt, aus der mein Leben allmählich verblutet.

Ich habe vor Zeiten daran gedacht, aus meinem Leben einen Roman zu machen, wie dies schon viele vor mir getan haben. Es ist aber viel Lüge in solchen Büchern und sie dienen meistens nur dazu, die klare Anschauung vom Leben zu verwirren. Der Roman gehört der Kunst an; aber die Kunst hat eigene Gesetze, die mit denen des Lebens längst nicht mehr übereinstimmen. Wenn sich der menschliche Geist eines Gegenstandes bemächtigt, so ist er leicht geneigt, ihn nach Gut und Böse in sein Inventar aufzunehmen und danach seine Beschreibung des Gegenstandes zu geben. So kommt es, daß auch in jenen Büchern, welche das Leben des Autors zum Gegenstande haben, viel von Gut und Böse die Rede ist und demnach auch von einem Dritten, in Bezug auf welches eben jenes Gut und Böse gilt. Dieses Dritte heißen sie verschieden: Zweck, Ideal, Gott. Es gibt aber jenes Dritte unter diesem Namen nicht, [17] ebensowenig wie es dergleichen für die übrige Natur gibt, von der wir nur durch ein höheres Bewußtsein unterschieden sind. Auch für uns gilt nur das Gesetz der Ursachen und Wirkungen, freilich mit der Zugabe, daß wir darum wissen, während wir davon überzeugt sind, daß die übrige Kreatur über dieses Wissen nicht verfüge. Aber dieses ist auch der einzige Unterschied zwischen uns und jener. Und auch diesen kennen wir nicht genau.

Indem also viele ihr Leben in Bezug auf jenes Dritte aufschrieben, haben sie Wahrheit und Wirklichkeit gefälscht und sich verdorben und zum wirklichen Leben untauglich gemacht. Ich aber will, daß man durch meine Aufzeichnungen tauglicher werde zum Leben. Darum lasse ich Gut und Böse und jenes Dritte beiseite und spreche nur von Geschehenem, ohne ihm eine Richtung zu geben, die nur in meinen Wünschen oder in einer vorausgesetzten Moralität alles Geschehenden liegt. Außer, ihr wollet unter Moralität jene Gesetzlichkeit verstehen, welche als das Wechselspiel von Ursachen und Wirkungen in uns lebendig ist. Da kann es freilich unserer inneren Wirklichkeit ungemäß sein, wenn wir Wirkungen wollen, deren Ursachen wir nicht in uns tragen aber vorgeben, oder wenn wir Ursachen ableugnen, deren Wirkungen klar zutage liegen. Denn beides sind Lügen, und die Lüge ist die einzige Sünde, schwerer denn [18] Mord. Indem nämlich einer seine Hand bewaffnet und den anderen umbringt, hat er nur eine Wirklichkeit in die andere umgewandelt, einen wirklichen Menschen in einen wirklichen Leichnam. Er ist dafür nur den anderen verantwortlich, welche den Mord wegen der Gesellschaft nicht dulden. Vor sich selber und manchem Weisen mag er ein Heiliger sein. Wer aber lügt, der hat ein Etwas erzeugt, das es nicht gibt, vielleicht auch ein Wirkliches in ein Nichtwirkliches verwandelt bei dem, der im guten Glauben ist. Und daraus kann Jammer kommen ohne Ende.

Ich aber habe viel gelogen in meinem Leben.

2.

II.

Am Ostersonntage des Jahres 1881 wurde ich zu Wien unter den Weißgärbern geboren. Mein Vater sowohl als auch die anderen männlichen Vorfahren bis zum Urgroßvater meines Vaters hinauf waren Beamte, teils bei den staatlichen Zentralstellen, teils im Dienste der Residenzstadt. Ein früherer Ahnherr betrieb jedoch einen Bierschank auf dem heutigen Hohen Markt. Er war noch Wiener Bürger und besaß das Haus, in dem er sein Gewerbe hatte. Später mußte – zu Ende des 18. Jahrhunderts – anläßlich einer strittigen Erbteilung das Haus verkauft werden. Da der Teilenden mehrere waren, entfiel nur ein Geringes [19] auf die einzelnen. Und auch dies verlor sich im Wechsel der Generationen, so daß mein Vater nur von dem Gehalte eines kleinen Ministerialbeamten lebte, als ich zur Welt kam. Da meine Mutter gleichfalls eine blutarme Person war und meinem Vater nichts anderes in die Ehe mitgebracht hatte als eine verwitwete Schwester und deren Kind, die mein Vater aus gutem Herzen gleichfalls erhielt, so dürfte die Not damals ziemlich groß gewesen sein und jene Zeit, in welcher mein Vater bei strenger geistiger Arbeit oft den Tag über hungerte und nur des Abends ein wenig warme Suppe und meistens kalte Wurst zu sich nahm, viel zu dem raschen Verfall seiner Kräfte in späteren Jahren beigetragen haben, so daß er als ein Mann in den Vierzigern elend dahinzusiechen begann. Freilich mag damals, als die Katastrophe seiner Verwirrung eintrat, auch eine Liebe mitgespielt haben, die dem Frühgealterten, von der Herzenseinfalt eines Jünglings, begegnete und vielleicht die erste große und erschütternde seines Lebens war.

Denn, ob er auch meine leibliche Mutter sehr geliebt haben mochte, so viel ich aus Erzählungen anderer von ihr weiß, scheint sie eine mehr derbe Person gewesen zu sein, nicht so sehr, was ihr Herz, als was ihre Lebensart betrifft. Sie war als ein junges, blühendes Landmädchen aus ihrer mährischen Heimat nach Wien gekommen und hatte sich bei meinem [20] damals schon verwitweten und greisen Großvater als Wirtschafterin verdingt. Mein Vater, der ein zärtlicher und ehrfurchtsvoller Sohn war, lebte mit dem alten Herrn in gemeinsamer Wirtschaft. Später, als dieser zu kränkeln anfing, pflegte ihn meine Mutter mit viel Aufopferung bis zu seinem Tode. Mein Vater hat mir ihr damaliges, beispielloses Betragen immer als einen Hauptgrund dafür angegeben, weshalb er meine Mutter heiratete. Mochte übrigens auch viel mitgespielt haben, daß er sich nach dem Tode seines Vaters sehr einsam fühlte und daß ihm das Nächstliegende lieber war als das, was er erst hätte suchen müssen. Darüber will ich nicht urteilen.

Als ich vier Jahre alt war, starb meine Mutter an der galoppierenden Schwindsucht. Ich erinnere mich jedoch genau der Zeit, da sie noch gesund war, als auch an ihr Kranksein bis zu dem Zeitpunkte, wo man mich von ihr, der Ansteckungsgefahr wegen, wegnahm.

Meine Eltern hatten damals eine kleine Wohnung in der Radetzkystraße inne. Ich könnte die Einrichtung und Einteilung der Räumlichkeiten zeichnen, obwohl ich sie seit meinem vierten Lebensjahre nicht mehr gesehen habe. Ein Zimmer und ein Kabinett gingen auf die Straße, ein großes Zimmer mit einem breiten, lichten Doppelfenster hatte die Aussicht in ein Gartengeviert, das durch das [21] Aneinandergrenzen mehrerer Hofgärten gebildet war. Dieses Zimmer war mein Lieblingsaufenthalt.

Damals war auch meine seligste Kinderzeit. Das spüre ich noch aus dem süßen Dämmer heraus, der über allem von damals in mir liegt. Im Grunde war ich freilich auch in dieser Zeit schon meistens allein, aber nichts gab es in meiner Einsamkeit, was gegen mich war. Ich hatte meine Bausteine, mit denen ich ganze Tage lang auf dem Fußboden herumrutschend baute. Durchs Fenster sah ich geradeaus in den Himmel, den ich nur in lichter, sonniger Erinnerung habe. Stieg ich manchmal, was mir allerdings verboten war, auf das Fensterbrett, so sah ich auch die Wipfel vieler Bäume und ferne schimmernde Dächer. Auch gab es Musik in Fülle. Werkelmänner und Musikanten wechselten im Hofe ab, und es war einer meiner Hauptspäße, wenn ich ihnen in Papier gewickelte Kreuzer hinunterwerfen durfte, wobei mich die Mutter freilich fest am Zipfel hielt und dem schwachen Schwunge meines Wurfes mit einem kräftigen Ruck nachhalf, damit die Münzen nicht am Fenstersimse liegen blieben. Und dann, welch eine Welt waren die vielen Mandlbogen, die ich mit Wasserfarben nach Vorlage kolorieren durfte, und die dann von meinem Vater auf Pappendeckel aufgeklebt und ausgeschnitten wurden, wenn sie nicht ganz und gar verklert waren. Da gab es Soldaten, ganze Bataillone, [22] marschierende und solche, die kerzengerade dastanden, das Gewehr nach der alten Weise präsentierend. Dann waren wieder Bogen mit Wäldern, Räubern und Ungeheuern. Alles dies richtete mir mein Vater, daß ich es aufstellen konnte. Und so war ich, auf dem Boden sitzend, immer umgeben von solchen bunten Völkern, denen ich wunderliche Städte und Festungen baute – oft bis tief in die Dämmerung. Da wachte dann ein anderes, viel unbestimmteres Leben um mich auf, das mich ängstigt jedoch ohne mich zu schrecken. Aber nur solange, als ich mich an die Dunkelheit nicht gewöhnt hatte. In solchen Stunden verfiel ich darauf, mir Schuhe und Strümpfe auszuziehen und lange Zwiegespräche mit meinen Füßen zu halten. Es war recht wunderlich, was ich trieb. Ich gab meinen Füßen Namen, wie ich sie aus den Märchen wußte, die mir mein Vater erzählte. Sie mußten miteinander zärtlich sein und sich bekämpfen. Schließlich verliebte ich mich buchstäblich in meine Füße und küßte sie, sobald ich nur allein war und sie ohne Furcht vor Entdeckung entblößen konnte. Denn das war mir natürlich aus Besorgnis vor Erkältung verboten worden. Ich glaube demnach daß ich die ersten angedeuteten Beziehungen erotischer Natur zu meinen eigenen Füßen gehabt habe. Auch später haben meine Füße, und Füße überhaupt, eine Rolle in meinem [23] Seelenleben gespielt, wovon ich an seinem Orte erzählen werde.

Auch eine andere Vorliebe, die für mein Leben wichtig werden sollte, habe ich in jener Zeit gefaßt. Die Wohnung meiner Eltern war nicht weit von jenem Stadtteile entfernt, wo sich damals noch die Franz-Josefskaserne mit ihrem großen Exerzierplatz befand. Da führte mich nun die Mutter tagtäglich vormittags hin und ich durfte den Übungen der Soldaten nach Herzenslust zusehen. Von dem Anblicke der mächtigen Kaserne und ihrer roten Mauern, Zinnen und Türme, von der Betrachtung der Soldaten nahm ich viel in die Phantasien meiner einsamen Stunden und in spätere Zeiten hinüber, was zu vielerlei Konflikten mit meinem Vater führte, der aus mir einen Juristen und keinen Soldaten machen wollte.

Inzwischen fand dieses Vergnügen bald ein Ende, denn meine Mutter erkrankte im Frühjahr des Jahres 1885 und niemand führte mich mehr zu der Kaserne. Nun verlegte sich auch der Schauplatz meiner Spiele aus dem Hofzimmer in das vordere Kabinett, wo meine Mutter lag und mich anfangs, als man die Natur der Krankheit noch nicht kannte, immer bei sich haben wollte. Ich erinnere mich nun, daß ich ihr nicht gerade gerne Gesellschaft geleistet habe und sie mich nur dadurch länger an sich zu fesseln vermochte, [24] daß sie mir von dem Chaudeau, den sie mehrmals im Tage zu sich nahm, ein Weingläschen voll zukommen ließ. Um diesen Preis blieb ich.

Der Zeitpunkt, wann ich von meiner Mutter weggenommen wurde, ist mir nicht mehr im Gedächtnis, wohl aber jener Nachmittag, an dem ich von ihr Abschied nahm. Ich war da eben in meinen Spielen auf dem Fußboden des Hofzimmers begriffen, als mein Vater auf mich zukam, mich bei der Hand nahm und in das Kabinett meiner Mutter führte. Es waren da die grünen Jalusien heruntergelassen, so daß der ganze schmale Raum in einem feierlichen Dämmer lag. Mein Vater führte mich nun zu dem Bett meiner Mutter und sagte zu mir: »Küß der Mutter die Hand.« Da reichte sie mir ihre weiße abgezehrte Hand hin und ich küßte sie. Dann aber drehte sie sich so rasch als es gehen mochte von mir weg der Wand zu. Ich habe das Antlitz meiner Mutter von damals gar nicht in Erinnerung, unvergeßlich aber ist mir jene rasche Bewegung des Wegdrehens geblieben und der Anblick ihres schmalen Rückens in dem verknitterten Hemd und ihrer Haare, die in verwirrten Strähnen auf dem weißen Kissen lagen.

An diesem Tage starb meine Mutter. Ich habe sie kaum gekannt. Es hat mir auch niemand mehr von ihr Näheres erzählt. Ich weiß daher nicht, was ich ihr außer meinem [25] Leben zu verdanken habe. Vielleicht hätte sie mich nicht allein lassen sollen und manches wäre besser geworden mit mir. Vielleicht auch nicht. So bin ich freilich einer geworden, der nirgends daheim ist und dem lange nichts heilig war in einer Zeit, da wir der Zuflucht und des Heilighaltens bedürfen. So mußte ich mir freilich alles erst erkämpfen, was sonst den Kindern als Erbtum ihrer Vorfahren mühelos und unversehens übermittelt wird, und dieser Kampf hat vielleicht mehr Kräfte gebraucht, als dies meiner Entwicklung gut tat. Mag es sein. Bleibt mir doch so auch der Trost, daß sich in mir alles so entwickeln durfte wie es mochte. – Denn später, als ich aufschoß, war kein Gärtner da, der meine Triebe beschnitt. Und so wucherten sie, wie es Gott wollte.

3.

III.

Am Tage, da meine Mutter nachmittags begraben wurde, blieb mein Vater, der einer Erkältung wegen am Leichenbegängnisse nicht teilnahm, bei mir zu Hause. Er schritt während des ganzen Nachmittages im Hofzimmer, wo ich spielte auf und ab und weinte. Es war das erstemal, daß ich einen Menschen weinen sah; die Ursache begriff ich freilich nicht. Erst als die Dämmerung hereingebrochen war, ließ er sich auf ein Kanapee im Zimmer nieder. Von dort her [26] hörte ich ihn schluchzen, ohne diese Laute zu begreifen, die mich ängstigten. Da nahm ich wieder zu meinen Füßen Zuflucht und redete mit ihnen leise. Mein Vater mochte es aber doch gehört haben und plötzlich hielt sein Schluchzen ein und es wurde totenstill im Zimmer. Da fürchtete ich mich zum erstenmal in meinem Leben und fing zu schreien an. Mein Vater zündete Licht an und trug mich in mein Gitterbett und legte mich schlafen. Da ich aber Hunger hatte, so ging er in die Küche, in der er lange herumsuchte, bis er mir endlich ein wenig Milch und Semmel brachte. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Später abends kam dann die Schwester meiner Mutter und sang mir ein Schlaflied. –

Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, nachdem mein Vater die Wohnung in der Radetzkystraße verlassen hatte und mit mir und meiner Tante in die Josefsstadt übersiedelt war. Da hub nun freilich eine Zeit an, die ich niemals vergessen werde.

Unter Tags war ich auch hier meistens allein. Des Abends aber legte sich mein Vater früh zu Bett und zwar war mein Gitterbett an das seine angeschoben. Da pflegte er nun bei dem Lichte eines kleinen Petroleumlämpchens zu lesen und mir einzelne Gedichte Schillers laut vorzusagen. Da ich ein empfängliches Gedächtnis hatte, redete ich ihm bald einzelne [27] Verse nach und es dauerte nicht lange, so konnte ich Hektors Abschied und den Handschuh auswendig. Nun brachte mir mein Vater eine Art Vortrag bei, indem er mich anleitete, die Worte Hektors mit anderer Betonung und Stimme zu sprechen als die der Andromache. Er war dabei sehr liebevoll und ohne Strenge. Auch belohnte er jedes Gedicht, das ich neu auswendig konnte, mit einem Geschenk in Form farbiger Bleistifte und vieler Bilderbogen.

Wenn wir nicht gerade Gedichte auswendig lernten, so hatte mein Vater eine andere Beschäftigung mit mir. Er gab mir Wörter auf, zu denen ich ihm die Reimwörter sagen mußte. Dieses Spiel liebte ich bald besonders.

So deuteten sich damals in mir zwei Anlagen an, die zur Malerei und jene zum poetischen Ausdruck. Die erste ist mir inzwischen ganz abhanden gekommen, die zweite ist mir treu geblieben und wurde viel schuld an meinem unruhigen Leben, weil ich sie von vorneherein nicht richtig abzugrenzen vermochte. Vielleicht verdanke ich ihr aber auch alles Glück, das mir zuteil geworden, und ich will nicht undankbar sein gegen sie, weil sie nicht hielt, was Einbildung und Ehrgeiz mir versprachen.

Zwei Jahre nach dem Tode meiner Mutter verheiratete sich mein Vater wieder und gab mir eine Stiefmutter. Diese legte eine übertriebene Zärtlichkeit für mich an den Tag, solange [28] sie mit meinem Vater bloß verlobt war, und ich verliebte mich regelrecht in sie, die eine noch jugendliche blonde Person war. Meine Zärtlichkeit für sie war so groß, daß ich ihr nicht von der Falte wich und jeden Zipfel, den ich von ihr erwischte, in der ungestümsten Weise küßte. Dies wurde dem herzlosen Weibchen bald lästig und wenn wir allein miteinander waren, stieß sie mich des öfteren rauh weg. In Gegenwart meines Vaters ließ sie meine Liebkosungen geschehen; darüber fing ich an nachzudenken, ohne der Sache damals auf den Grund kommen zu können. Ich wurde aber sehr verschlossen gegen sie.

Übrigens fing ich auch an, gegen meinen Vater alle Zutunlichkeit zu verlieren. Denn bei ihm war das Umgekehrte der Fall. Er liebkoste mich nur im Geheimen und zankte mit mir in Gegenwart des Weibchens. Auch hatte er aufgehört, sich mit mir zu beschäftigen wie in der Zeit unseres Alleinseins.

Im Hause meines Vaters lebte auch die Mutter meiner Stiefmutter, die es gut mit mir meinte. Wenigstens war sie damals die einzige, die sich mit mir abgab, wenn die Eltern, wie dies oft geschah, des Abends außer Hause waren. Da durfte ich ihr zusehen, wenn sie nach dem Nachtmahle ihre Patiencen auszählte. Sie brachte mich auch zu Bett und lehrte mich mein erstes Gebet: Müde bin [29] ich, geh zur Ruh. Auch das »Vaterunser« und das »Gegrüßet seist du Maria« habe ich von ihr gelernt. Auch in leiblicher Beziehung verdanke ich ihr manches, indem sie mich ordentlich nährte und mir zu essen gab, was mir schmeckte. Denn mein Vater hatte mich in dieser Richtung, aus übertriebener Besorgnis, ich könnte mir leicht den Magen verderben, verzärtelt.

Inzwischen wuchs der Widerwillen, den meine Stiefmutter gegen mich hegte, immer mehr. War ich ihr früher durch meine Zärtlichkeit zur Last gefallen, so erboste sie sich jetzt über mein stilles und verschlossenes Wesen. Die wahre Qual begann aber erst, als ich schulpflichtig wurde und meine Stiefmutter es unternahm, mich im ersten Volksschuljahre selbst zu unterrichten. Ich will mich darüber nicht verbreiten, weil ich mir vorgenommen habe, in diesen Aufzeichnungen niemanden anzuklagen außer mich. Denn ich habe so vieles gegen mich verschuldet, daß die Verschuldungen anderer an mir dagegen gering zu bemessen sind. Auch verdanke ich es hauptsächlich meiner Stiefmutter, daß ich mich ganz auf mich zurückziehen lernte. Und ich habe noch immer gefunden, daß dies der beste Hort in meinem Leben war.

In vielen der nächsten Jahre, die ich nun beschreiben will, brauchte ich allerdings, wenigstens außer dem Hause, zu jenem Horte nicht Zuflucht zu nehmen. Denn gleich im [30] ersten Jahre, da ich die öffentliche Schule besuchte, lernte ich Karl Satter kennen. Er war mir während meiner ganzen Jugend Vater, Mutter und Bruder – bis das Leben auch zwischen uns seine ehernen Keile trieb.

4.

IV.

Ich erinnere mich noch genau, wie ich ihn zum erstenmale sah. Er kam erst drei oder vier Wochen nach Schulanfang in den Unterricht. Er hatte ein Augenübel zu überstehen gehabt, wovon die leicht entzündeten Lider in seinem schmalen blassen Gesichte noch zu sehen waren. Sofort fiel mir auch die eigentümliche Form seines von wirren blonden Haaren bedeckten Spitzschädels auf. Unter den banalen und stupiden Bubengesichtern war er auf den ersten Blick eine Erscheinung, die mich anzog. Er hatte überdies eine ganz eigentümliche Art, den Kopf hoch zu halten, so als ob er über alles, mit sich beschäftigt und nicht aus Hochmut, hinwegsähe. Dabei schien ihm der Kopf nicht fest auf dem Halse zu sitzen, er befand sich bei jeder Bewegung außer dem Gleichgewichte. Diese Art, das Haupt zu tragen, war einem Balancieren nicht unähnlich, und es hatte den Anschein, als wenn der Knabe dadurch von allen Dingen abgezogen würde.

Wie wir miteinander vertraut wurden, kann ich eigentlich nicht mehr sagen. Jedenfalls waren wir bald unzertrennlich [31] und trafen einander auch während der freien Stunden, sei es, daß wir einander zu Hause besuchten oder gemeinsam in öffentliche Gärten und Parkanlagen gingen, wo wir uns abgesondert von den lärmenden Spielen anderer Kinder auf das mannigfachste unterhielten. Vor allem spielten wir mit kleinen Kugeln, deren Karl eine stattliche Anzahl hatte. Es waren da solche aus Glas, die alle Farben zu enthalten schienen und andere einfarbige, die kristallhell waren, dann wieder aus Marmorrestchen hergestellte und schließlich die gewöhnlichen billigen Kittkugeln.

Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß dieser Besitz nicht im geringsten meinen Neid erregte. Ich hätte aber auch gerne farbige Glaskugeln besessen und diesen Wunsch fühlte ich in mir mit aller Leidenschaftlichkeit meines kindlichen Temperamentes. Ich hätte ja meine Eltern bitten können. Dies fiel mir aber damals schon nicht leicht. Denn von allem Anfang her war bei mir jede Vorliebe für eine Sache eine Art heimlicher Verliebtheit, verbunden mit der schamhaften Angst, sie zu verraten. Insbesondere vor denen, die mir meine Freude hätten verbieten können. Ob man dies damals schon durch die Erziehung an mir bewirkt hatte, oder ob dies in meinem Wesen beschlossen lag, weiß ich nicht anzugeben. Jedenfalls trug mir diese Eigenschaft manche ungerechte Beurteilung in meiner Kindheit ein und [32] war eine der Brücken, die mich zur Verschlossenheit und auch Verlogenheit hinüberbrachten. Allmählich kam ich dazu, jede Freude als etwas Verbotenes zu empfinden.

Um aber auf jene Kugeln zurückzukommen: ich hätte also meine Eltern um nichts auf der Welt darum gebeten, mir welche zu kaufen und auch Karl verriet ich meine Wünsche nicht. Aber er – heute noch tausend Dank dafür – mochte er mich erraten, mochte er im wunderbar edlen Instinkte des liebenden Kameraden mich besser gekannt haben als alle anderen – er schenkte mir ein paar von den glitzernden Dingern. Freilich wollte ich sie nicht nehmen. Denn damals schämte ich auch vor ihm mich meiner Freude und ich schämte mich, daß er mich für so arm halten könnte, daß meine Eltern mir die Bagatellen nicht kaufen könnten. Mit dieser doppelten Scham habe ich dann noch oft zu kämpfen gehabt in meinem Leben – damals aber habe ich sie diesem einen einzigen Menschen gegenüber überwunden und seither war alle meine Freude nur mehr mit ihm, und nur ihm gegenüber mochte ich mich so geben wie ich war. – Er hat dann in späteren Jahren alles mit mir geteilt, was er hatte – kein Mensch wußte es – und von ihm habe ich alles angenommen ohne Angst, ohne Scham, ohne Reue. Damals aber, als er mir die Kugeln schenkte, ging ich nach Hause, wo ich – da meine Eltern Gottseidank nicht zu Hause [33] waren – wie ein schuldbewußter Hund in den Winkel eines finsteren Zimmers kroch und weinte. Nicht weil ich die ersehnten Gegenstände besaß, sondern weil mich das Glück, einen Menschen zu haben und Mensch sein zu dürfen, zum erstenmal leise berührt hatte.

Wenn auch nicht infolge, so doch in Gefolgschaft dieses Ereignisses entwickelte sich in mir ein Charakterzug, der mir bis heute treu geblieben ist, selten zu meinem Vorteile, denn das alltägliche Leben, jenes mittlere Niveau, auf welchem sich Tätigkeit und Erlebnisse eines Menschen von mäßiger Energie abspielen, kann die Eindeutigkeit – um diese handelt es sich hier – nicht brauchen. Und diese Eindeutigkeit war mir immer oder wurde mir zu eigen. Ich konnte mich von jeher immer nur einer Sache hingeben und vertrug weder sachlich noch zeitlich ein Nebeneinander von Bestrebungen oder Neigungen. Bei mir schloß immer eines das andere aus und es mußten das eine oder das andere nicht gerade Gegensätze sein, wenn es auch häufig genug die Extreme waren, in die ich abwechselnd und ausschließlich verfiel. Später freilich, wenn man müde wird, versucht man, ob das Zünglein nicht schön in der Mitte zu halten wäre, und ob, wenn man schwarz und weiß mischte, nicht doch ein ganz erträgliches Grau herauskäme – und fängt an zu lügen.

[34] In genannter Eindeutigkeit gab es für mich nunmehr keinen andern Menschen auf Erden als Karl und außer ihm hatte ich niemanden lieb – auch meinen guten Vater nicht; dies kam erst später, als ich fürchten lernte, ihn zu verlieren. Mit ihm war es überhaupt lange eine rätselhafte Sache, über die ich erst im Verlaufe Klarheit geben will.

Was meines Vaters Frau anbelangt so war ich ihr durch die fortgesetzten Gehässigkeiten, die sie mir – wenigstens nach meiner Meinung – zuteil werden ließ, und hauptsächlich durch folgendes Ereignis vollkommen entfremdet.

Es geschah, als ich neun Jahre alt geworden und zum erstenmal bei der Beichte gewesen war. Der Beichtgang war von der Schule aus angeordnet und geleitet worden. Es war vor Weihnachten. Früh morgens – es war noch finster – versammelten wir uns im Klassenzimmer, in dem die offenen rötlichen Gasflammen brannten nnd sangen. Dann wurden wir paarweise auf den dunkeln, in blaugrauem Morgendämmer fröstelnden Gängen aufgestellt und warteten, bis wir uns dem nächsten Zug, der vor der nebenliegenden Klassentür rangiert wurde, anschließen durften. Dann ging es durch die langen Schulgänge unter möglichst leisem Schlürfen so und so vieler andächtiger oder furchtsamer Knabenschritte hinunter über die breiten Steinstiegen, [35] wo das gedämpfte Schlürfen sofort in ein etwas mutigeres Klappern vieler kleiner Stiefelabsätze überging.

Während dieses lärmenden Hinabsteigens konnte man sich auch ein paar Worte zum Nachbar oder einen kleinen Ulk am Vordermann gönnen. Manche ältere Buben, die die Sache schon kannten, trieben auch insgeheim ihre Späße, ich aber hatte ein solches Bangen vor dem unbekannten Kommenden, daß ich in meiner Beklommenheit kaum etwas sah noch hörte. Auch überlegte ich fortwährend meine Sünden. Alles, wofür ich je gestraft worden, hatte ich mir am Tage vorher bei der Gewissenserforschung zurecht gelegt, aufgeschrieben und auswendig gelernt wie eine Aufgabe und hatte nun nur die einzige Furcht, daß ich es vergessen haben und bei der Beichte stecken bleiben könnte.

Als wir dann über den Kirchenplatz in langen Reihen in die Kirche geführt wurden und links und rechts von unserem Zuge eine Menge Menschen aufgestellt waren, wich diese Angst dem gehobenen, stolzen Kindergefühle, etwas vorzustellen und Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein.

In der Kirche wurden wir in eine Seitenkapelle geführt und in einfachen Reihen links und rechts vor je einem Beichtstuhle aufgestellt. Auch die Kapelle war in tiefem Dunkel. Nur das ewige Lämpchen vor dem Marienaltare zuckte rot in seiner silbernen Ampel, während aus dem [36] Hauptschiffe der Kirche leise Töne der kleinen Orgel immerfort dieselbe rührend schlichte Melodie wiederholten.

Alles dieses – zusammen mit der heiligen Mystik der sakramentalen Handlung – erschütterte mich tief, so daß ich kaum hörbar mein Sündenregister herunterstammelte, als ich endlich darangekommen war.

Als ich aber dann meine Bußgebete verrichtet hatte, war ich gehoben und erleichtert und freute mich hinaus aus der Kirche und auf den schulfreien Tag, der mir bevorstand. Überdies hatte sich inzwischen der Morgen aufgeheitert, purpurgoldene Sonnenkeile schoben sich schräg durch die obersten Rundfenster in die Kirche, trafen auf ihrer Bahn die silberne Ampel des ewigen Lichtes, die in dem sonst noch dämmerigen Gewölbe leuchtend rot und frei zu schweben schien.

Endlich war die ganze Zeremonie vorüber. Wir marschierten dann noch paarweise bis zum Ausgangsportal der Kirche, draußen aber teilte sich der Schwarm nach allen Richtungen. Einzelne wurden von ihren Müttern erwartet, andere trollten sich gruppenweise davon, wieder andere standen herum. Es war ein Gezwitscher und Gesumme auf dem ehrwürdigen Platze, als hätte man hundert Stare losgelassen. Ich suchte in dem Gewimmel natürlich nach Karl und bald wurde ich seines zarten rosigen Mädchengesichtes [37] ansichtig. Da er jedoch von irgend jemandem abgeholt wurde, gingen wir nur das Stückchen bis zu seinem Wohnhause zusammen, ohne einander viel anzusehen oder zu sprechen – ich vor allem, weil ich meiner Gemütsbewegung noch nicht Herr geworden war und alles in mir noch zitterte von dem Erlebnisse.

In dieser Verfassung kam ich nach Hause. Meine Stiefmutter öffnete mir die Tür. Sie fragte mich in einem freundlichen Tone, wie alles gewesen sei und ich, von der seltenen Gütigkeit ihrer Anrede überwältigt, schlang mich um sie und weinte. Nun bestürmte mich die gute Frau, die keine Psychologin war, mit unzähligen Fragen, auf die ich vor lauter Scham über meine Rührung nicht zu antworten vermochte.

Darüber erboste sie sich und meinte, ich habe wahrscheinlich etwas angestellt, aber ich solle es nur sagen.

Bei diesen Worten – es ist mir unvergeßlich – blieb mein Atem, der eben zu einem neuen Schluchzen ausgeholt hatte, mit einem Ruck stehen, die heiße wohlige Welle, die eben in mir aufstieg, staute sich mit einem Schlage zurück. Es war, als wäre eine Feder in mir eingeschnappt, durch die etwas in mir unwiderbringlich verschlossen wurde. Ich sah kaum, wie sich ein zornrotes Gesicht mit zwei bösen rollenden Augen nahe zu meinem Gesicht beugte – wie [38] im Traume hörte ich eine grelle Stimme mich immer wieder anschreien, was ich angestellt habe.

Und ich fühlte keinen Schmerz, als mich dann zwei harte Hände immer wieder links und rechts ins Gesicht schlugen.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wildgans, Anton. Autobiographisches. Mein Leben. Mein Leben. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A832-8