Die Wasserfahrt
Minna hatte allen Ernstes der Mutter und Schwester zum Beistand dableiben wollen; aber die gute Mutter gönnte ihr die Freude gar zu wohl und hätte auch nicht passend gefunden, die jungen Leute allein fortzulassen, ohne das verbindende Mittelglied einer Schwester. Der Gesang und die herrliche [21] Morgenluft, die wehenden Pappeln und Weiden der grünen Ufer, die frische, helle Flut, auf der sie hinglitten, wirkten mit all ihrem Zauber auf Minna; sie vergaß den gegenwärtigen Oberamtmann, die verlassene Küche, alles ging unter in dem reinen, süßen Gefühl des jungen Lebens; und nur die Tagträume, die flüchtigen Kinder, die da leben von Morgenluft und Blütenduft, von Sternenglanz und Mondenlicht, wurden wach und umschwebten sie mit leisen Schwingen.
Es war wirklich viel, wenn man den Oberamtmann vergessen konnte, denn er saß recht breit auf seiner Diele, den Damen gerade gegenüber; er sah ganz behaglich und wohlhäbig aus, beurkundete auch seinen ritterlichen Sinn dadurch, daß er den Rauch seiner Pfeife möglichst auf die Seite blies. Ja, er ging noch weiter: als er bemerkte, wie eng die Damen saßen, so daß Emma beinahe in Gefahr war hinabzugleiten, so deutete er, gegen sie gewandt, auf den leeren Raum neben sich und sagte: »Gefällig? Platz nehmen?« Unter heimlichem Kichern schoben die Mädchen die schüchterne Emma hinüber, die eigentlich jetzt erst aus lauter Verlegenheit nur halb saß und gar nicht aus dem Erröten herauskam, daneben aber doch in der Stille sich freute, bis sie diese wichtige Begebenheit und unerhörte Aufmerksamkeit, die ihr widerfahren, der Mutter daheim mitteilen konnte.
Vetter Wilhelm half überall auf dem Schiffe, wo zu helfen war, besonders seinem Bäschen Minna, die seine Aufmerksamkeit kühl aufnahm, löste abwechselnd die zwei Ruderer ab und bewies sich viel ausdauernder als diese; auch sang er einen guten Baß, der dem Gesang wohl anstand, der sich mehr und mehr belebte. All die hübschen alten und neuen Schifferlieder wurden angestimmt: »Das Schiff streicht durch die Wellen« – »Das Wasser rauscht« – man glaubte sogar den Oberamtmann leise im Takt mitbrummen zu hören. Man fuhr durch unbekanntere Gegenden des Flusses, wo er, von dichten Weidengebüschen eingefaßt, stiller hinzieht, wo das Schiff zwischen den glänzenden Blättern der Seerosen durchglitt und die Vöglein verwundert verstummten vor dem nie [22] gehörten menschlichen Gesang. Minna schloß sachte die Augen und gab sich dem süßen träumerischen Reiz des Augenblicks hin. Da weckte Mathilde sie unsanft aus den lieblichen Träumen, indem sie sie in die Seite stieß und ihr zuraunte: »Du, das ist doch unausstehlich!« – »Was?« – »Nun, jetzt hat er noch nichts als die vier Worte gesprochen.« – »Wer?« – »Ach, euer dummer Oberamtmann.« – »Nun, so laß ihn schweigen, wenn's ihm Freude macht.« – »Nein, es ist unerträglich, und er ist ja noch gar nicht so alt, um sich so von allen Gesetzen des Anstandes dispensieren zu dürfen! Könnte er denn nicht mit der armen Emma ein paar Worte reden?« – »Ei, die Emma ist in sich hinein vergnügt ...« – »Hol über!« [23] rief's vom Ufer drüben, und verwundert sah die ganze Gesellschaft auf. Dort, wo das Ufer wieder lichter geworden, stand eine schlanke Jünglingsgestalt in schwarzem Samtrock, mit fliegenden Haaren. »Ah, da ist er!« riefen Eduard und Otto. – »Wer?« fragte sogar der Oberamtmann. »Unser Freund, Arwed Nordstern, ein junger Dichter,« beschied ihn Otto kurz, und sie stießen eilig hinüber, ohne auf die kurz ausgestoßenen dichten Rauchwolken zu achten, in denen der Herr Oberamtmann sein allerhöchstes Mißbehagen ausdrückte über diesen unerhofften Zuwachs.
»Aber woher kommst denn du in aller Welt?« fragten die Studenten den Nordstern, der leicht vom Ufer in das Schiff gesprungen war, ohne das Anlanden zu erwarten. »Ich kam im Amthause an, bald nachdem ihr abgefahren waret,« berichtete dieser; »die Dame vom Hause war so gütig, mir den nächsten Weg zu weisen, auf dem ich euch einholen könnte, und da bin ich!«
»Mein Freund Arwed Nordstern,« begann nun Otto trotz des Verbotes des Amtmanns die Vorstellung: »Meine Cousine Minna Reinfeld, Fräulein Mathilde Berg, Fräulein Emma Müller, Herr Oberamtmann« – »Fürst,« ergänzte dieser kurz angebunden. »Und nun, mein Lieber, du hast, wie ich sehe, die Gitarre bei dir, das soll unsern Gesang beleben, wir sind bald am Ziele.« – »Auf dem Meer bin ich geboren,« stimmten sie wieder an, und unter den wohlvertrauten Klängen flog, mit frischer Kraft gelenkt, das Schifflein der grünen Insel zu, die das Ziel der Fahrt war.
Die Herren legten an und halfen galant den Damen ans Ufer, der Oberamtmann stieg mit einiger Beschwerde selbst heraus; die Mundvorräte wurden ausgeladen, wobei Mathilde bemerkte, daß Eduard eine leere Flasche in die Fluten warf, die er und Otto heimlich hinter dem Rücken des Oberamtmanns ausgetrunken.
»Sahst du, wie widerwärtig er sich bei der Vorstellung benahm?« flüsterte Mathilde wieder zu Minna. »Er ist doch wahrhaftig nicht der große Mogul! Und jetzt hat er sich den [24] bequemsten Platz auf einem Baumstumpf ausgesucht, ohne ihn uns anzubieten; nein, so unkultiviert ist mir noch niemand vorgekommen.«
Minna hatte ganz andres zu denken als an den unkultivierten Oberamtmann: hatte sie doch heute zum erstenmal einen Dichter gesehen, einen rechten, lebendigen Dichter! Und dazu noch einen mit schönen schwarzen Augen und dunklen Haaren, die um eine edle bleiche Stirne flatterten:
[25] Und er ließ sich an ihrer Seite nieder und trank aus dem Glase, aus dem sie genippt, und sprach so wunderschön über den Zauber eines solchen Morgens, und auf Eduards Bitte erhob er sich und trug sein neuestes Gedicht vor, das Tränen in die jungen Augen trieb. Arwed war der Held der Stunde, und der Oberamtmann gänzlich vergessen, obwohl er nicht ganz ohne Wohlgefallen zu der malerischen Gruppe hinüberdampfte: die Mädchen, in ihren weiten hellfarbigen Gewändern auf den Rasen hingegossen, die jungen Leute mit den oft gehobenen Gläsern, und vollends Arweds malerische Gestalt mit der Gitarre.
Der Oberamtmann selbst saß auf einem Baumstumpf wie der österreichische Beobachter und wäre am Ende fast um Speise und Trank gekommen, die doch großenteils um seinetwillen waren mitgegeben worden, wenn nicht Wilhelm, der heute gar wenig Gehör bei seinem Bäschen fand, sich seiner angenommen hätte.
Man hatte geschmaust und beschloß nun, einzeln kleine Entdeckungsreisen auf der Insel zu machen und sich Blumen zu suchen. Minna und Mathilde gingen zusammen. »Nein, ich bitte dich, jetzt bleibt der Klotz sitzen,« begann die aufgebrachte Mathilde wieder, »und hast du nicht gesehen, wie er alles behielt, was man ihm gab, ohne an uns zu denken?« – »Nun, warum sollte er nicht?« – »Nein, ihr Landmädchen seid doch gar zu demütig und haltet nicht auf die Würde unsres Geschlechts!« – »Ach, die hängt nicht am Anbieten eines Tellers!« – »Die hängt an allem!« eiferte Mathilde immer heftiger, »gerade diese Kleinigkeiten sind es, die die Frau erheben oder allmählich unterdrücken. Ich glaube, du würdest wie Ottilie in den Wahlverwandtschaften den Herren aufheben, was ihnen zu Boden gefallen!« – »Warum nicht, wenn mir's gerade näher liegt als ihnen?« – »Nein, du hast viel zu wenig Haltung, ich wollte einmal einen solchen Pascha in die Kur nehmen!« – »So nimm!« – »Ja, ja, ich wollt' ihm die Meinung sagen, ich wollt' ihn lehren, galant zu sein!«
Da durchbrach Arwed das leichte Gebüsch: »Erlauben Sie [26] nicht, daß ich mich Ihrer Expedition anschließe? Ich glaube, daß wir dort in dem dichteren Gehölz die schönsten Blumen finden.« Wilhelm, der seither gutmütig eine einseitige Unterhaltung mit dem Oberamtmann geführt, kam eben mit einem Strauß schöner Anemonen; als er aber sein Bäschen bereits am Arm des jungen Dichters sah, trat er bescheiden zurück.
Mathilde wollte nach Emma sehen, und Minna, verlegen, mit dem interessanten Gast allein zu bleiben, lud den Vetter ein, mitzugehen. Da ging denn der gute Wilhelm voran auf den ungebahnten Pfaden, die das fröhliche junge Paar einschlug, bog die Zweige zurück und räumte die Dornen weg, die ihnen im Wege waren, und als er einmal zurückblickte und sah, mit welch strahlendem Ausdruck Minna ihr Gesicht in eifrigem Gespräch zu Nordstern erhob, da flog ein trauriges Lächeln über das seine.
»Der Herr Oberamtmann wollen abfahren!« schrie Eduard mit einer Löwenstimme über die Insel hin. Minna fuhr zusammen: »Ach, ich vergaß ganz ... und die gute Mutter daheim und Friederike, die sich so abmüht!« – »Oh, lassen Sie keinen Mißlaut den reinen Klang dieses Morgens stören!« bat Arwed, »das ist Sünde.« – »Aber wenn ich eine Pflicht versäume?« sagte schüchtern Minna. – »Pflicht!« rief Arwed. »Pflicht ist, unser Leben auszuleben, rein und schön und voll und ganz; die Stunde zu genießen, die Freude in uns zu saugen mit allen Fühlfäden unsres Wesens und uns die Prosa fernzuhalten; es gibt immer noch Erdwürmer genug, die mit Lust im Staube wühlen: der Adler fliege in die Lüfte, der Schmetterling schwebe über Blumen! Ist es auch Bestimmung der Rose, daß sie Öl aus sich pressen läßt?« – »Aber es ist Bestimmung des Blütenbaums, daß er Frucht bringt,« warf Wilhelm ein. – »Nun ja, dazu ist's Zeit, wenn die Blüte abgefallen ist!« rief Arwed, »indes:
[27] Indes hatten sie das Ufer erreicht, wo das Schiff bereits wieder segelfertig war. Mathilde flüsterte Minna noch in höchster Empörung die neue Untat des Oberamtmanns zu, daß er sich nur ohne weiteres wieder ins Schiff gesetzt und dadurch das Zeichen zum Aufbruch gegeben habe, ohne sie, die Damen, nur im mindesten um ihre Meinung zu fragen.
Minna hatte nicht Zeit, ihre Entrüstung zu äußern; sie setzte sich, Arwed mit der Gitarre zu ihren Füßen. Der Oberamtmann wandte sich fragend an ihn: »Musikus?« – »Literat, mein Herr, und Studierender im Augenblick,« sagte Arwed, glühend rot, in aufbegehrendem Ton.
»Hab' nichts dagegen,« lautete des Oberamtmanns trockene Antwort, nach der er wieder in sein Schweigen versank und ziemlich starke Rauchwolken von sich blies.
Das Schiff ging nun stromabwärts leicht und leise, die Ruderer hatten es nur zu lenken und überließen sich behaglich hingestreckt der Ruhe; man sang noch: »Ein Schifflein ziehet leise,« dann verstummte allmählich der Gesang, die Schiffer schliefen ein, der Oberamtmann doste. Emma saß wieder ganz in sich vergnügt, Eduard hatte sie um ihr Sträußchen gebeten und hatte es jetzt ins Knopfloch gesteckt; darüber errötete sie nun einmal übers andre, so oft ihr's einfiel, und besann sich, ob sie auch recht getan, es ihm zu geben, und ob sie das auch daheim der Mutter sagen solle. Wilhelm blieb wach und lenkte das Schifflein, wo es drohte aus dem Geleis zu kommen; Minna vermied gern seinen Blick, der ihr heute so traurig vorkam, und vertiefte sich in eifrige Gespräche mit Arwed.
Plötzlich fuhr Mathilde, die indes still dagesessen, hastig auf und faßte den Oberamtmann beim Arm, mit dem Ruf: »Sie fallen ja ins Wasser!« Wirklich war er in seinem Schläfchen nahe daran gewesen, das Übergewicht zu bekommen und über Bord zu stürzen. Etwas ärgerlich richtete er sich auf, setzte sich wieder fester und brummte: »Dumme Anstalt!« Gegen Fräulein Mathilde aber lüftete er den Hut und sagte in einem Tone, den man ihm nicht zugetraut hätte: »Sehr verbunden.«
Das Land war erreicht, nur für die Minderzahl der Passagiere [28] zu früh; man stieg aus, und es ereignete sich dabei zu männiglichem Erstaunen, daß der Oberamtmann Mathilden die Hand bot, freilich, als sie eben ausgeglitten und beinahe gefallen wäre. Dann aber schritt er, unbekümmert um die Gesellschaft, dem Hause zu; Emma ließ es mit großer Verlegenheit geschehen, daß Eduard sie nach Hause begleitete, nur weil sie zu schüchtern war, es abzulehnen; Minna eilte, so schnell sie konnte, dem Hause zu und suchte durch doppelte Geschäftigkeit ihre lange Versäumnis gut zu machen, wobei sie von Friederike, die im vollsten Feuer stand, etwas schnöde zurückgewiesen wurde.