Zwei Bräute

Zehn Jahre waren vergangen, der 10. Oktober war wieder gekommen, aber nicht so sonnig wie damals. Es war ein nebliger Herbsttag, und die Weinlese hatte noch nicht begonnen. [124] Drunten im Tale waren die Leute mit der Kartoffelernte emsig beschäftigt; in den Weinbergen aber schritt nur der Weinberghüter (Wingertschütz genannt) mit seiner Rassel umher und ließ sie hie und da warnend ertönen, obgleich in diesem Jahre Menschen und Vögel nicht besonders lüstern nach den sauren Trauben waren. Dörtchen hatte keine große Lust gehabt, an dem kühlen Tage in der Laube zu warten, aber Elise hatte sie gestern in einem Briefchen so feierlich an das alte Versprechen gemahnt, daß sie doch Wort gehalten. Um sich das Frieren und die lange Zeit des Wartens zu vertreiben, hatte sie die Schürze voll Bohnen gepflückt und saß nun in der Laube, um sie auszuhülsen, während sie hinuntersah nach der Freundin.

Das Dörtchen war ein wenig klein geblieben und keine Schönheit geworden. Aber ihre blauen Augen glänzten noch so hell und freundlich wie damals vor zehn Jahren, nur daß noch eine tiefere Seele darin aufgegangen. Sie war allenthalben rüstig und rührig, der Mutter geheime Rätin und ihre kräftige Stütze in Haus und Hof, in Garten und Feld, des Vaters Freude und sein Herzblatt. Dabei war ihr Sinn offen für alles Schöne in der Welt, und sie konnte sich die ganze Woche durch heimlich freuen auf den Sonntag, wo sie nachmittags nach dem Gottesdienst mit einem guten Buch in der Laube sitzen durfte. Denn obwohl eine längst erwachsene Jungfrau, war sie doch in demütigem Gehorsam der Mutter untergeben, und die konnte das Lesen an Werktagen nicht gut leiden. Fröhlichen[125] Herzens war sie geblieben, und das Dörtchen von Rebenbach war überall willkommen, wo es hinkam.

Dörtchen hatte damals recht gehabt, die Mädchen waren auch heute nicht weit voneinander; Elise wohnte noch mit ihrer Mutter in der Residenz, und so war es leicht, die verabredete Zusammenkunft auszuführen. Doch freute sich Dörtchen heute besonders auf Elise, denn sie hatte sie seit einigen Wochen nicht gesehen und ihr diesmal so gar viel zu sagen. Die alte Kinderfreundschaft bestand noch, obwohl sich die große Verschiedenheit der Mädchen im Laufe der Jahre immer deutlicher herausstellte.

Elise war wirklich schön geworden, und manche ihrer Gaben hatten sich glücklich entwickelt. Sie war die beste Tänzerin, sie zeichnete, malte, schnitt aus, sie machte Gedichte, spielte Klavier, sang und deklamierte. Kurz, sie war ein höchst talentvolles Mädchen, der ihre gute Mutter die Strümpfe flickte und die Kleider aufräumte; sie tat eine Menge Sachen, nur ja nicht, was nötig war, stets bemüht, immer ganz anders zu sein und zu scheinen als alle andern Leute.

Endlich sah Dörtchen sie mühsam und langsam wie damals und ebenso auffallend gekleidet den Weinberg heraufsteigen. Das himmelblaue Levantinkleid war zwar längst dahin; dafür aber trug sie an dem kühlen Herbsttage ein weißes Kleid mit blauer Schärpe und statt des Hutes einen Schleier auf dem Kopfe. Dörtchen gab diesmal nicht darauf acht und eilte so leichtfüßig wie vor zehn Jahren auf sie zu. Elise aber trat ihr besonders feierlich entgegen und rief aus: »Dörtchen, umarme mich, ich bin Braut!« Das Dörtchen stellte sich gutwillig auf die Zehen, um die hochgewachsene Elise zu umarmen; als dies geschehen war, streckte sie ihr treuherzig die Hand hin: »Lieschen, gib mir einen Patsch, ich bin auch Braut.«

»Du, Dörtchen, ist's möglich?« rief Elise sehr verwundert, »so sag doch, mit wem!«

»Ei, mit dem Verwalter Schmied, den du im Sommer so oft bei uns getroffen,« sagte Dörtchen errötend und glücklich.

»Wie, Dörtchen? Aber doch nicht mit dem, der mit deinem [126] Vater Brett spielte und deiner Mutter Saatkartoffeln besorgte? Geh, geh! Das wäre ja entsetzlich langweilig für mein munteres, nettes Dörtchen; und vollends Schmied heißen, wie das halbe Vaterland, und er ist, glaub' ich, gar ein gelernter Schreiber!«

»Hör, Elise,« sagte Dörtchen, ernstlich böse, »das ist dumm gesprochen, so gescheit du sonst bist. Der Schmied ist ein braver und recht gescheiter Mann, der noch mehr versteht als Brett spielen und Kartoffeln stecken. Er hat mich von Herzen lieb und ich ihn, die Eltern haben ihre Freude daran: so denk' ich, wir können mit Gottes Hilfe glücklich zusammen werden, und wenn er zehnmal Schmied hieße. Nun aber sag mir, was du für einen Vogel Phönix ausgelesen hast und wie der heißt?«

Würdevoll begann Elise: »In drei Tagen kommt der berühmte Bürger, einer unsrer ersten Dichter, um mich als Gattin heimzuführen.«

»Dich! Der Bürger? Ach geh, das ist unmöglich! Wo hättest du ihn denn kennenlernen?«

»Ja sieh, das ging recht wunderbar. Natürlich bin ich schon seit lange entzückt von seinen Gedichten, wie ja sogar du, mein nüchternes Dörtchen, von einigen. Da ich nun wußte, daß er seine geliebte Frau verloren, sprach ich meine Gefühle für ihn in einem Gedichte aus. Das fand seinen Weg in öffentliche Blätter, Bürger erwiderte es – schrieb mir – und nun bin ich seine Braut! – Aber – du siehst ja so bedenklich aus!«

»Ja, siehst du, Elise, ich meinte indes, wir Mädchen haben in aller Stille zu warten, bis ein Mann kommt und nach uns fragt, sei er ein Dichter oder nicht. Da scheint mir's nun eine verkehrte Welt ...«

»Wir verstehen uns nicht mehr,« sagte Elise beleidigt, »laß uns ins Pfarrhaus zurückgehen! Ich möchte von deinen Eltern noch Abschied nehmen.«

»Nein, sei nicht böse!« bat Dörtchen, gutmütig ihr die Hand bietend. »Gott weiß, wie von Herzen mich's freut, wenn du glücklich wirst! Es war mir nur so ungewöhnt; ich dachte bis jetzt gar nicht, daß ein Dichter auch zum Heiraten in der Welt [127] sei. Aber sag, kennst du denn gar nichts von ihm als seine Gedichte? Ist er ein frommer, ein guter Mann? Taugt er für dein lebhaftes Wesen? Er muß so viel älter sein.«

»Ein Dichter bleibt ewig jung!« rief die begeisterte Elise. »Sieh, Dörtchen, ich habe dir immer gesagt: ›Ich bin kein gewöhnliches Mädchen!‹ Auch mein Schicksal muß ein ungewöhnliches sein.«

»Gott gebe, daß es ein glückliches werde!« sagte Dörtchen leise und innig.

Die Mädchen brachen auf. Noch einmal sahen sie beide tief bewegt auf die schöne Herbstlandschaft, die ein spät gekommener Sonnenstrahl vergoldete, zum letztenmal beide zusammen, ehe ihre Lebensbahnen weit, weit auseinanderliefen.

»Wann werden wir uns wiedersehen?« fragte Elise im Hinabsteigen.

»Das weiß Gott!« erwiderte Dörtchen. »Wohl schwerlich in zehn Jahren, wenn ihr nicht reiselustiger seid als mein Schmied.«

»Und ob es noch so lange anstehe,« rief Elise, »einmal im Leben wollen wir uns doch wieder zusammenfinden am 10. Oktober!«

»Ja, ja,« sagte Dörtchen, »und kommt ihr zu lange nicht, so muß Schmied mich noch zu euch nach Göttingen führen, wenn anders so alltägliche Menschenkinder, die Schmied heißen und zum Schreiberstande gehören, in ein so geistreiches Haus kommen dürfen.«

Bald war die Heimat erreicht, und mit dem feierlichen Versprechen, sich einmal am 10. Oktober wiederzusehen, ob früh oder spät, trennten sich die Freundinnen.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Erzählungen. Bilder und Geschichten aus Schwaben. Bilder aus einer bürgerlichen Familiengalerie. 6. Das Dörtchen von Rebenbach. Zwei Bräute. Zwei Bräute. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A77A-0