[34] 4. Das unterbrochene Hochzeitsfest

Vor dem Tore des Städtchens stand ein hübsches Haus, das der »neue Konditor« erbaut hatte, der erst kürzlich hereingezogen war. Ein Konditor war eine wichtige Erscheinung; seither hatte man bloß einen Zuckerbäcker gehabt, der in einem finstern Laden hauste und von dessen Dasein man nur zur Weihnachtszeit Kenntnis nahm, wo große Lebkuchen in Herzgestalt bei ihm zu haben waren.

Herr Protzel, der neue Ankömmling, war überdies auch der erste Gewerbsmann, der es wagte, sich zu den Honoratioren des Städtchens zu zählen, welche Anmaßung zuerst mit etwas scheelen Augen gesehen, aber am Ende doch geduldet wurde. Hatte er ja einen Sohn, der Medizin studierte, wenn auch der Erfolg noch etwas zweifelhaft war, und seine Tochter, die rotwangige Rike, ein gutmütiges, etwas einfältiges Mädchen, hatte, wie man aus sicheren Quellen wußte, bereits eine Liebschaft mit einem Juristen gehabt und war jetzt mit einem Pfarrer versprochen.

Eines Abends zeigte sich eine besonders lebendige Bewegung in und vor dem Protzelschen Hause. Vor diesem stand ein bereits hochbepackter Wagen, auf dessen Gipfel immer noch [34] neue Möbel, mit bauschigen Betten dazwischen, geladen wurden, lauter Stücke, die lange vorher schon auf der Straße ausgestellt gewesen und einen Kreis von Kindern und anderem schaulustigen Volk um sich versammelt hatten.

Herr Protzel, der dicke Papa, ging geschäftig umher und half dem Fuhrmann, der mit Seufzen die Last betrachtete, die seine dürren Mähren morgen zu schleppen hatten. Rike bewegte sich mit einem Kopf voll Papilloten am Fenster hin und her und trug ihren Hochzeitstaat zusammen. Der Sohn Theodor schaute sehr vornehm in einer roten Zerevismütze dem Treiben zu und half insoweit, als er von den bereitgestellten Speisen reichlich kostete. Die Frau Mama wußte vollends nicht, wo ihr der Kopf stand; sie sollte fürs Einpacken sorgen, Brezeln rüsten zum morgigen Frühstück, einen Schinken zur heutigen Nachtkost, ferner etliche haltbare Speisen, die sie der Rike mitgeben könnte, daneben noch den Brautstaat besichtigen und einen Tee bereit halten für den Bräutigam, der jeden Augenblick erwartet wurde; denn man wird aus all diesen Anstalten leichtlich ersehen haben, daß der Tag gekommen war, wo der Herr Pfarrer seine Braut heimholen wollte.

Die Eltern waren trotz aller Wehmut des Abschieds höchst vergnügt, ihre Rike nun bald als Frau Pfarrerin zu sehen; Rike selbst aber schien nicht in sehr bräutlicher Stimmung. Selbst der Brautstaat machte ihr wenig Freude, und sie bemerkte gegen die Mutter ein mal halblaut, sie möchte doch wissen, was wohl der Ferdinand dazu sagen würde. Von der Frau Mama ward sie wegen dieser unpassenden Erinnerung gehörig ausgezankt. »Hätte der Ferdinand etwas von dir gewollt, so hätte er sich lange zeigen können, eh' der Pfarrer um dich angehalten, und statt daß du nun Gott danken solltest, daß sich so ein guter Anstand zeigt, denkst du noch ...« Der mütterliche Redefluß ward unterbrochen durch das Anrasseln der stattlichen, wenn auch etwas baufälligen Kutsche, aus welcher der Herr Pfarrer schon längst mit zarter Sehnsucht den Kopf herausstreckte.

Die ganze Familie zog ihm zu froher Begrüßung entgegen, auch das Bräutchen faßte sich, ließ sich die bräutigamliche Zärtlichkeit [35] gefallen und erfreute und verwunderte sich gebührlich über den schönen Schal, den ihr der Bräutigam verehrte.

Einige bedenkliche Omina warfen freilich ihren Schatten in die Vorfreude des Festes: Jungfer Mine, die uns schon bekannt ist, hatte versprochen, eine Biskuittorte von ihrer eigenen Meisterhand zu liefern; die Hanne aber war auf der Schwelle des Bäckerhauses über einen der Möpse gestürzt, der ihr unberufenerweise nachgelaufen war, und die edle Masse floß ungebacken in den Staub. Das blaue Taffetkleid, das die Nähterin in tiefer Nacht noch für die Mama gefertigt, wurde aus nächtlichem Versehen mit grünen Fransen [36] garniert, und andre waren in Marbach nimmer aufzutreiben – aber mit großer Seele setzte sich die Familie Protzel über diese Unfälle weg und beschloß, sich dessenungeachtet zu amüsieren.

Die Gesellschaft saß beim Nachtessen, und der Herr Tochtermann malte eben den glänzenden Empfang aus, den ihm wahrscheinlich seine Gemeinde zugedacht. Rike ging hinaus, um ein neues Gericht aufzutragen; da stand auf der Treppe des Nachbar Zimmermanns Suffiele (Sophie) und winkte ihr eifrig, herunter zu kommen: es wolle sie jemand heimlich sprechen. Wer stellt sich das Erstaunen und den Schreck des armen Bräutchens vor, als drunten der Ferdinand stand, der flotte Jurist, der ihr vor einem Jahre drei Monate lang so eifrig den Hof gemacht und an einem schönen Mondscheinabend ihr das Versprechen ewiger Liebe abgenommen, der aber seither nichts mehr von sich hatte hören lassen, obgleich er bereits im »Merkur« angezeigt, wo er seinen Wohnsitz als Rechtspraktikant genommen, und obgleich Rike durch eine Freundin ihn von der Bewerbung des Pfarrers hatte in Kenntnis setzen lassen.

Da ihre Unterredung ohne Zeugen war, so weiß niemand, wie heftig er dem armen Kinde zugesetzt, mit was für schrecklichen Dingen er gedroht, im Falle sie ihm den Pfarrer vorzöge. Genug, Rike kam zum Tisch zurück mit rotgeweinten Augen, die aber auf Rechnung der bräutlichen Bewegung geschrieben wurden. Die Mama trieb alles bald zur Ruhe, da der Herr Helfer schon auf morgens sechs Uhr zur Kopulation bestellt war, damit das junge Ehepaar noch zu rechter Zeit in dem etwas entlegenen Wohnort des Pfarrers eintreffen könne. Rike aber versah sich in aller Stille mit einem Hausschlüssel und legte Hut und Mantel bereit.

Am andern Morgen ward es schon um vier Uhr laut im Hause; die Mama mochte dem Töchterlein wohl noch den Schlaf gönnen, als aber der Dehmes erschien, um die Braut zu frisieren, da mußte sie denn doch geweckt werden. – Den Dehmes darf ich aber nicht vergessen, wenn ich von Marbach spreche; war er doch lange Jahre das Faktotum des Städtchens, [37] und wenn er nicht gestorben wäre, so hätte man gar nicht geglaubt, daß es möglich sei, ohne den Dehmes auszukommen. Er hieß eigentlich Nikodemus und war der Sohn eines getauften Juden, selbst ein guter Christ, ein kleines, wuseliges Männchen, das mit seinen kurzen Beinchen in einem Tage weiter kam als andre mit langen in zwei. Er war ursprünglich seines Handwerks ein Friseur, aber er war auch ein Kürschner, er konnte auch Hühneraugen ausschneiden, Flecken herausmachen und Warzenvertreiben; er machte den Vorschneider und Aufwärter bei Gastmählern, den Vorreiter bei Schlittenfahrten, den Expreßboten bei wichtigen Angelegenheiten, den Leichenbitter bei Sterbefällen, kurz, er war in allem zu Hause, der Dehmes, und spezieller Hausfreund in den meisten Familien.

Trotz all seiner Kunst konnte er aber diesmal die Rike nicht frisieren, denn – die war nirgends zu finden. Mit Entsetzen kam die Mama aus ihrem leeren Schlafzimmer, wo sie dem Anschein nach gar nicht geruht hatte. Ein furchtbarer Tumult entstand im Hause; das Suffiele, die schon lang' spioniert hatte, war bald bei der Hand und berichtete, wie gestern abend »im Dämmer« ein fremder Herr die Jungfer Rike zu sprechen begehrt [38] habe und wie er, soviel sie von weitem habe sehen können, ganz »zweifelhäftig« (verzweifelt) mit ihr getan habe. An ihrer Beschreibung erkannte man alsbald den Ferdinand, und der Gedanke an eine Entführung versetzte die ganze Familie in maßlose Empörung. Der Student fluchte, daß in dem Nest kein Reitpferd zu haben sei, er wollte sie bald eingeholt haben und blutig die Schmach seines Hauses rächen; der Pfarrer sprach davon, die zwei dürren Schimmel einspannen zu lassen, die ihm ein dankbares Beichtkind zur Hochzeitsreise geliehen, und so den Flüchtigen nachzusetzen; die Mama lief mit der Blondenhaube umher, die sie verkehrt auf hatte, und berief die ganze Nachbarschaft zu Rat und Hilfe.

Da gab der benachbarte Bäcker an, er habe vor Tage ein Frauenzimmer mit einem Herrn dem Torturm zulaufen sehen. Nun ging der Mama ein Licht auf: »So sind sie am Ende nur bis zur Base Turmbläserin geflüchtet!« – Die Turmbläserin, eine Verwandte der Frau Protzel, war eine ehrwürdige alte Frau, deren eingefallene Wangen und bescheidene Haltung sehr im Kontrast standen mit dem Namen, den man ihr beilegte, weil sie als Witwe des vormaligen und Mutter des jetzigen Stadtzinkenisten die kleine Wohnung auf dem Turme innehatte, von dessen Altan alle Sonntage durch ihren Sohn und dessen fünf musikalische Sprößlinge eine volltönende Choralmusik geblasen wurde.

So klomm also die erschütterte Familie, mit Ausnahme des Bräutigams, die Turmtreppen hinan. Die Frau Base Turmbläserin, eine gar rechtschaffene Frau, war bereits auf und empfing sie sehr verlegen; ihre Tochter war gleichfalls verblüfft, sie erwiderten aber auf die hastigen Fragen, sie wüßten nichts und hätten niemand gesehen. – Die beiden Herren begannen indessen ohne weitere Umstände eine Hausdurchsuchung – kein sehr großartiges Unternehmen in dem beschränkten Lokale. Bald wurde denn auch die zitternde Rike unter dem Bette der Frau Base hervorgezogen; schwieriger war es, den Rechtspraktikanten aufzufinden; endlich entdeckte man ihn in einem Möbel, dessen Name nicht wohl genannt [39] werden kann und das wegen der Bauverhältnisse des Turms hier in so großartigen Dimensionen vorhanden war, daß es sogar dem ziemlich hochgewachsenen Juristen zum Schlupfwinkel dienen konnte. Der Entdeckte versuchte durch ein äußerst martialisches Gesicht seine etwas mißliche Situation zu heben, ward aber mit einem solchen Hagel von Vorwürfen und Lamentationen überschüttet, daß er, davon eingeschüchtert, endlich erklärte, wenn Rike den Pfarrer ihm vorziehe, so trete er zurück. Die arme Rike ließ sich durch die Drohungen des Vaters und den Jammer der Mutter bald bewegen, mit ins Haus zurückzukehren. Der Bräutigam empfing sie ohne Vorwürfe, und der Dehmes sollte sein Werk an dem ziemlich verstörten Kopf der Braut beginnen; aber inmitten seiner Arbeit sprang sie immer wieder auf: »Nein, ich kann nicht, ich kann von dem Ferdinand nicht lassen!«

Inzwischen hatte sich der Herr Helfer in der Kirche eingefunden, in welcher bereits eine ziemliche Anzahl schaulustiger Frauenzimmer versammelt war; auch übte auf der Orgel der Schulmeister mit dem fähigeren Teile der Schuljugend ein Hochzeitslied ein – aber kein Brautpaar erschien. Endlich ward der Mesner als Bote ausgesandt. Die Frau Mama vertröstete ihn: »Sie kommen bald!« Der Bräutigam stürzte in Rikes Zimmer, deren Toilette noch lange nicht vollendet war, und beschwor sie, nun doch sich zu entschließen und zu eilen – vergeblich! Der Mesner erschien zum zweitenmal mit ziemlich brummigem Ton; das Volk harrte auf der Straße. Ich war damals noch ein Kind und war nebst meinen Geschwistern eine Stunde früher aufgestanden, um doch auch den Hochzeitszug zu sehen. Wir guckten uns fast die Augen aus – kein Brautpaar. Endlich erscholl die Kunde, es werde nichts aus der Hochzeit, die Rike wolle schlechterdings den Pfarrer nicht.

Das Volk zerstreute sich, der Herr Helfer ging nach Hause, die Jungfrauen und die singende Jugend zogen sich zurück; im Hause Protzel stieg aber der Tumult und die Verwirrung auf den höchsten Grad. Rike ergriff den Ausweg, beständig zu heulen und zu schreien; die Mama schlug sich auf ihre Seite [40] und suchte sie in Schutz zu nehmen; der Bräutigam bestellte seine Pferde, rannte indes verzweifelt umher und stieß den Kopf gegen die Wand, zum Glück aber mit vorgehaltenen Händen; der Sohn putzte Pistolen, um sich mit dem Ferdinand zu schießen, welcher gefährliche Plan jedoch nicht ausgeführt wurde; Papa Protzel wetzte ein Tranchiermesser und erklärte, er wolle zuerst Frau und Tochter, dann sich selbst erstechen; vergaß aber wieder die blutdürstigen Gedanken über dem Anblick des verzierten Hochzeitschinkens, der mit den Namenszügen des Brautpaars geschmückt und zu dessen Zerlegung das geschliffene Messer eben geschickt war.

[41] Der Bräutigam fuhr ab. Was er und seine Gemeinde für Gesichter gemacht haben, als ihm daheim eine Deputation entgegenkam mit der singenden Schuljugend und einem bekränzten Hammel, der die Inschrift trug:


»Weil unsere Frau Pfarrerin ist so brav,
So bringen wir ihr ein junges Schaf –«

davon schweigt die Geschichte, und es kam keine Kunde darüber nach Marbach.

Die Familie Protzel verweilte nicht mehr lange in dem Städtchen; ungünstige Vermögensverhältnisse veranlaßten den Mann, sein neuerbautes Haus zu verlassen und einen andern Wohnort zu wählen.

Die arme Rike aber hatte ein trauriges Geschick. Für den Rechtspraktikanten hatte, scheint es, nur die Aufgabe Reiz gehabt, sie noch am Hochzeitsmorgen im Sturm zu erobern; als sie sein unbestrittener Besitz war, verlor sie Reiz und Wert für ihn. Durch allerlei Intrigen brachte er sie in den Verdacht eines Liebesverhältnisses mit seinem Bruder und ergriff diesen Vorwand, sich gänzlich von ihr loszumachen. Der Bruder aber hatte auch nicht Lust, sie zu übernehmen, und so blieb das arme Kind sitzen, verlassen und vergessen; man hat in Marbach nichts mehr von ihr gesehen.

Seither ging aber in Marbach der Geistliche zu einer Trauung erst dann in die Kirche, wenn das Brautpaar bereits zur Stelle war, und noch lange war das unterbrochene Hochzeitsfest ein Gegenstand gründlicher Eröterungen und Besprechungen in allen Zirkeln des Städtchens.

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TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Erzählungen. Bilder und Geschichten aus Schwaben. Genrebilder aus einer kleinen Stadt. 4. Das unterbrochene Hochzeitsfest. 4. Das unterbrochene Hochzeitsfest. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A778-3