[3] Herrn Professor Alfred Klaar
in herzlicher Freundschaft
zugeeignet
[3][5][3] Herrn Professor Alfred Klaar
in herzlicher Freundschaft
zugeeignet
[3][5]Guter Mensch, rede nicht zu viel; sage nicht zu oft: »Das werd' ich tun« – »Das werd' ich nicht tun« – »Das werde ich niemals tun«. Wer von uns kennt sich so genau, daß er weiß, was er tun oder nicht tun wird, wenn er dereinst ein andrer sein wird als jetzt? Und wer verändert sich nicht?
»Ich werde niemals der Welt mein eigenes Leben erzählen«; so habe ich vorzeiten guten Freunden geschrieben oder gesagt. Darin kenn' ich mich! dachte ich; das ist nicht in mir! – Ja, so täuscht man sich. Es kam dann das Jahr 1905, da erschien ein Band »Erinnerungen« von mir; und jetzt, 1907, erscheint dieser zweite Band: »Aus der Werdezeit«.
Und dann wünscht so ein alter Tor doch immer wieder – und so ich mit diesem Buch – den Leser zu erfreuen und ihm zu gefallen.
D. V. [5]
»Sage mir, wie deine Jugend war, und ich will dir, sagen, wie du bist.« So könnte man den bekannten Spruch vom »Umgang« wohl umformen; für wie viele träfe es zu! Der Mensch ist darin seinen wurzelfesten Geschwistern, den Bäumen, den Pflanzen gleich, denen so leicht abzumerken ist, ob ihre Werdezeit mit Sonnenschein und Regen und milden Lüften gesegnet war oder nicht. Wenn man vor einem schön geschützten Wald von Edelbäumen, die schlank und säulengleich in die Lüfte ragen, die vorspringenden Stiefkinder des Glücks sieht, die in ungezählten Stürmen von Jugend auf um ihr Leben kämpften: wie knorrig und kantig windet sich ihr verwilderter Stamm, wie bäumen sich ihre tapferen, aber unschön und schmucklos verdrehten Aste gegen die Windseite hin. So arg unterscheiden sich freilich die Menschen von außen nicht; aber dem inneren Seelengebilde kann der Seelenkenner es abfragen: Wie war deine Jugend?
Nicht daß ich mich als Glücksprahler rühmen will; aber als dankbarer Sohn meiner Eltern und des Schicksals muß ich es bekennen: ich hab' eine schöne Jugend gehabt. Sonnenschein von jeder Art: Liebe vollauf, [1] doch nicht zu viel; herrliche Vorbilder in blühenden, einträchtigen, weise erziehenden, großgesinnten Eltern; acht Geschwister (vier älter, vier jünger als ich), alle von guter Art, sich ganz als Familie fühlend und zusammenhaltend. Schöne, gesunde, notlose Armut, von deutscher Bildung und Idealität verklärt; in den Kinderjahren meine Gesundheit zart, durch dies und das gestört, aber lauter ererbte Prachtorgane, noch heut alle jugendfrisch. Im August dieses Jahres 1907 bin ich siebzig Jahre alt geworden, aber ich kenne keine Brille, wie dreist ich auch die Augen mißbraucht habe, und ich höre so scharf und fühle so sein wie je. Nur die Nerven sind reizbarer, als es ihre Pflicht ist, ich habe in jungen und in älteren Jahren zu viel von ihnen verlangt, unverschämt viel. Aber auch so sind wir gut Freund: im Grunde sind sie doch nur so empfindlich und empfänglich, wie's die Dichter brauchen.
So ausgerüstet wuchs ich in unserm Familienhaus heran, in das ich etwa vierjährig eintrat, das wir heut noch haben. Mein Vater hatte es gekauft und nach einem Nachbarbrand, der zu uns herüberschlug, vollends ausgebaut, groß- und hochräumig bis zum Dach hinaus. Drin wohnend und später alljährlich heimkehrend, hab' ich in allen Zimmern geschlafen, im Vor der- und im Hinterhaus; so hat wohl keines meiner Geschwister darinherumgelebt wie ich. Unsre Straße war keine der Hauptstraßen, aber nah am Hafen; wie ich's in einem Gedicht »An der Warnow« nach meiner Wiedereinkehr beschrieben habe:
Aber auch die nächste Nähe gab der jungen Phantasie ersehnte Nahrung: die Stadt, die alte Hansestadt Rostock, die einst zu den kräftigsten und reichsten gehört, die zur See mitgeherrscht, sich mit den tapferen Dänenkönigen herumgeschlagen, sich der deutschen Nachbarfürsten unverzagt erwehrt hatte. Davon zeugten noch die gewaltigen alten Wälle, die Mauern, die Schiffe im Hafen – in meiner Knabenzeit war Rostocks Handelsflotte die größte in der deutschen Ostsee –, die mächtigen gotischen Kirchenbauten, darunter St. Marien die schönste, der Petriturm der höchste, fast dem Wiener Stephan gleich. Damals stand auch noch der alte »Zwinger« vor dem Steintor, den einst ein mecklenburgischer Landesherr gegen die trotzende Stadt erbaut hatte; es standen noch die befestigten Vortore vor dem Kröpelinertor, mit hineingeschossenen Kugeln drin; in den tiefen Gräben floß noch breites Wasser, in Wintermondnächten bin ich da unten Schlittschuh gelaufen und [3] habe mich an dazu gedichteten Versen berauscht. Stadtgrabengefühle! Vorzeitpoesie! Auch an diesem Sonnenschein fehlte es meiner Kindheit nicht. Wenn ein steifer Wind von Norden wehte, konnte man die salzige Meerluft spüren, die nur eine Meile Wegs hatte; wenn ich auf unserm Dachboden zum höchsten Fenster hinaufstieg, konnte ich unser Hafenstädtchen Warnemünde, die Dünen und die Ostsee erschauen. Und hier und da am erhöhten Warnowufer konnte der Blick alles auf einmal fassen, die am Fluß gelagerte alte Stadt, den sich nach Westen und Norden windenden Fluß und das grüne, auch blaue, in der Sonne blitzende Meer.
Wanderte ich dann weiter ins Land hinein, so fehlte meiner nach »Ungeheurem« hungernden Knabenseele zwar das Große, Gewaltige, Hochgebirgige, nach dem mich's verlangte; aber so nach und nach gab ich mich zufrieden, doch wenigstens dunkle Wälder und Hügel (hier alle »Berge« genannt) und auf dem schmalen Wasserfaden der Warnow den blauen Himmel schön gespiegelt zu sehn. Bis ich, zum Jüngling geworden, vollends begriff, auch das sei Poesie, und mir einen (ungedruckten) Vers darauf machte:
[4] Vielleicht hat kein Mensch die Poesie dieser Stadt und dieses Landes so tief genossen wie mein Vater, in dem eine nie erschöpfte Genußkraft brannte und dem diese Heimat alles ersetzte, was andern die umreiste Erde gibt. Wenn er auf der Hauptbastion mit dem tiefen Teich, der »Teufelskuhle«, oder auf dem Ende des Walls am Hafen, der Fischerbastion mit den alten eisernen Kanonen stand und in das malerische Durcheinander von Festungsgräben, üppigem Baumschmuck, hochtürmiger Stadt, Segeln und Dampfern auf dem breiten Wasser, bläulich dämmernder Ferne sah, so konnten in seinem rötlich blühenden Gesicht die großen braunen Augen so lachend leuchten, als schaute er über die Landschaft von Athen oder Granada oder Neapel hin. Er sah mit einem glückseligen Tiefblick in das Herz der Dinge hinein, und was er erblickte, strahlten seine Augen, sein Lächeln mit ursprünglichster Jünglingskraft in die Welt zurück. Ich habe doch viele Menschen gesehn, aber keinen zweiten, der so ausstrahlen, sich so in den andern hinübersonnen konnte wie er. Seine Gestalt war eher klein, aber ganz Ebenmaß; alle seine sechs Söhne wuchsen ihm über den Kopf, aber keiner von uns hatte so viel Feuer in den Augen wie der junge Alte. Sie konnten auch blitzen und wettern, wenn ihn ein jäher Zorn übermannte; doch das war nicht oft, es lachten zu viel heitere Tropfen in seinem lebfrischen Blut. Er atmete förmlich Gesund– heit aus, er war urgesund. Sein Arzt war er selbst, seine Apotheke war die sogenannte Schenke, der Eckschrank im großen Wohnzimmer: vielleicht alle fünf, sechs Jahre einmal kam er aus seinem Arbeitszimmer[5] und öffnete die Schenke, füllte sich ein Gläschen mit Rum: im Magen ein kleines Mißgefühl. Der Rum tat seine Schuldigkeit, der Mann war wieder gesund.
Als Predigerssohn auf dem Lande geboren, kam er beizeiten in die Stadt, nach Rostock, besuchte das Gymnasium und die Universität, zog dann nach Berlin, um vor allem zu Hegels Füßen zu sitzen und sein Herz an die Hegelsche Philosophie zu hängen, mit einer Treue, die nie verging. Wie sich aber so viele Gegensätze in Menschenhirnen lebenslang vertragen und nebeneinander wie Ergänzungen blühen, so hinderte auch die Hegelsche Geisterwelt der »Begriffe« meinen Vater nicht, sich mit lebendigster Sinnenkraft in die Realität zu stürzen und mit den Dingen zu leben, als Gelehrter und Künstler zugleich. Er hatte sich der Philologie ergeben und versenkte sich mit gleicher Liebe in die altklassischen wie in die germanischen Sprachen; es zogen ihn aber doch vor allem die Meister dieser Sprachen, die Bildner, die Dichter an, deren tiefste Schönheit er durchdrang und erfühlte. Vielleicht war eine nie gestillte Sehnsucht darin: man konnte ihn wohl einen nur halb geschaffenen Dichter nennen, den tragisch wunderlichen Gestalten gleich, die Michelangelo halb aus dem Marmor herausgehauen, dann verlassen hat und die nun wie Ungeborene, Geträumte märchenhaft hervorblicken.
Seine schönsten Jugendjahre verlebte er als Oberlehrer in Schulpforta, der altehrwürdigen Erziehungsanstalt im liebenswürdigen Saaletal, wo er vortreffliche Freunde fand; der beste war August Koberstein, der Verfasser der »Geschichte der deutschen [6] Nationalliteratur«, aus der ich später viel gelernt – und vergessen habe. Die Freundschaft kam einmal zum Bruch, auf echt deutsche Weise: Koberstein hatte sich in seinen jungen Jahren so in Ludwig Tieck verlesen und sich seinen Abgott so emporgesteigert, daß er ihn durchaus neben Goethe stellte; das ertrug mein Vater nicht, und sie trennten sich. Freilich gesteh' ich mir ganz im stillen: ich hätte es vielleicht ebenso gemacht; denn Tieck neben Goethe – – o Teufel! – Die Freundschaft wuchs aber wieder zusammen und überlebte Tiecks Mitregentschaft. In meinem Vater rührte sich ein anderes Mißgefühl: Heimweh nach der »Waterkant«, nach den Teergerüchen der Hafenstadt; er war in Rostock so sehr Wassermensch geworden. Als ich als junger Student die alten Freunde in Schulpforta besuchte, erzählte mir Frau Professorin Koberstein, wie arg mein Vater es getrieben habe: von Zeit zu Zeit mußten sie, Mann und Frau, mit ihm einen weiten, nicht gar schönen Spaziergang machen, das Ziel war ein kleiner See oder Teich, an dem lag ein Boot, das roch nach Teer. »Den Teergeruch mußten wir dann mit ihm genießen.«
Dieses Heimweh ward endlich gestillt: mein Vater kam als Oberlehrer nach Rostock zurück, und in meinem Geburtsjahr 1837 ward er daselbst Professor der Ästhetik und neueren Literatur. Freilich konnte er auf keine große Zahl von Hörern rechnen: das kleine Rostock, mit nicht vierundzwanzigtausend Einwohnern (jetzt hat es über sechzigtausend, ein Tausendstel des Deutschen Reiches), war die kleinste der deutschen Universitäten; als ich dort studierte, hatte sie sogar nur hundert [7] Studenten, während sie nun doch auf siebenhundert gestiegen ist. Denen, die ihn hörten, ward er aber etwas Großes, ein Führer, ein Erwecker; denn seine reiche Gelehrsamkeit trug ihnen ein Vollmensch vor, in dem glühende Empfindung, klares Denken, freudige Weltanschauung, geläuterte Lebensphilosophie wie in einem Akkord zusammenklangen. Er fand auch dankbare Jünger, die liebend an ihm hingen. Er konnte freilich keinen zweiten finden, dem er so sehr Erwecker und Führer war wie mir, seinem Sohn, der ich dies nun mit dankerfüllter Seele schreibe.
Hab' ich mehr von ihm gelernt oder geerbt? Das ungleich Stärkere war doch die Blutsverwandtschaft; denn der landläufigen Theorie (die sich auch »Erfahrung« nennt) zum Trotz habe ich nicht von der Mutter, sondern mehr vom Vater die Elemente oder Kräfte überkommen, die mich zum Dichter machen wollten: das sanguinische, heißblütige Temperament, die treibende Phantasie und den Sprachsinn, das Formtalent. Auch in meiner Mut ter waren ähnliche Geister, aber zarter, mehr wie hingehaucht; in ihr war doch stärker als alles andere die Liebeskraft, das Fürandere-leben, das »Ewig-Mütterliche«, wie ich's nennen möchte, das unsre Jugend mit Morgensonnenschein erfüllte und auch unsern Abend noch mit himmlischem Licht verklärt.
Ist das nun auch schon über vierzig Jahre her, daß ich ihr diese Verse schrieb? Geht das Leben wirklich wie ein Traum dahin?
Charlotte Wendhausen, meine Mutter, war ein Landkind, die Tochter eines Gutsbesitzers; ihre Heirat führte sie aber für immer in die Stadt, und nur in späteren Jahren, bei einem ihrer Söhne monatlang zu Gast, kam sie gleichsam wieder in das Land der Jugend zurück. Es war wie eine alte Liebe in ihr, die nie ganz verging; wenn sie einmal in ein Album oder Stammbuch zu schreiben hatte, schrieb sie gern hinein, was der Chor gegen das Ende der »Braut von Messina« spricht:
[9] Sie verlor auch in der Stadt, auch in allem Sturm und aller Härte des Lebens, diese wahre Kindlichkeit nie; es trug sie ein frommer Sinn, der sie mit dem himmlischen Vater verband (wenn sie auch dem Kirchenglauben entwuchs), und ein poetisches, immer begeisterungsfähiges Weltgefühl, dem das Paradies nie ganz verloren geht. So verlor sie auch nie das Sich-wundern-können, das zu dieser wahren Kindlichkeit gehört; die Wunder dieser Welt stumpften sie nicht ab, wie es so vielen ergeht, sie sah sie mit immer neuen, großen Augen an. Ich weiß noch aus der späteren Kinderzeit, wie mich das einmal tief ergriff, da ich dieses Sichwundern der Mutterseele in einem himmlischen Augenblick erlebte.... Unterdessen füllte sich aber das Haus, wir wurden unser neun, mit den Eltern elf. Das wenige Geerbte war wohl mittlerweile verbraucht, die Besoldung des Professors war auf so viele Nachkommen nicht eingerichtet. Gute Mutter, wie hast du gekämpft, um dieses Ungrade grad zu machen und uns alle groß! Du wurdest eine Patriarchin der Heimarbeit, nach alter Weise; das war wohl das Landtochterblut. Alles selber machen, um an allem etwas zu ersparen! Von dieser großen, schlanken Frau mit den seinen Zügen hab' ich wunderliche Dinge gelernt, denn wir Kinder halfen mit, so gut wir konnten; ich habe Lichter gegossen, gebuttert; im Kaffeemahlen erlangte ich große Meisterschaft. Jahrelang bin ich dann auch ihr Sekretär gewesen, dem sie ihre Briefe diktierte, während sie mit irgend einer Handarbeit saß; denn sie führte auch fast die ganze Korrespondenz für den in Studien vergrabenen Vater mit, und sie strickte und nähte Berge für uns, sie war unermüdlich.
[10] Diese Frau, die ich bewundernd liebte, habe ich doch einmal verleugnen und verlassen wollen; damals war ich neun Jahre alt. Es war eine der plötzlichen tragischen Seelenblasen, die während der Jugendzeit in mir aufzusteigen liebten; der zukünftige Dramatiker in der Kindermaske als kleiner Phantast. Wir Nachkommen wurden auch auf kleine Besorgungen ausgeschickt, das verstand sich von selbst; so gab es einen »Lichthaak« oder Kleinkrämer in der Nähe, zu dem häufig zu pilgern war. Sonst wohl immer willig, kam ich einmal von so einem Gang mißgestimmt, verdrossen zurück; das gefiel meiner Mutter nicht. Sie konnte auch dramatisch sein und brauchte ein fast pathetisches Wort. Sofort erwachte alles Pathos in mir; ich nahm das Wort wörtlich, ich bohrte mir den Stachel ins Herz, suchte mir ein Blatt Papier, setzte mich ins Einsame und schrieb auf die gefaltete Außenseite:
»Der Professorin Wilbrandt zu Rostock. – Es wird gebeten, keinem andern den Brief zu zeigen.«
Auf die Innenseite:
»Die eigentlichen Kinder Professor Wilbrandts heißen:
Anmerkung: Sie hatten noch einen Sohn, namens[11] Adolph, aber durch den Ausspruch seiner Mutter, Dienstag, den 27. April 1847: ›Du bist nicht mehr mein rechter Sohn, du bist mein Stiefsohn!!!‹ ist er ihr wahrer Stiefsohn geworden. Jene Worte haben ihn beinahe bis zur Verzweiflung gebracht, und er will nicht wieder ihr Sohn werden, da jene Worte ihn zu sehr erschüttert und vernichtet haben. – –
Diese Worte hat Dein Stiefsohn geschrieben! Daran denke!!! Er hat den Namen Adolph Menadt angenommen.«
Darunter, aus Versehen:
»A. Wilb«
»A. Menadt.«
Ich trug meinen Brief zu dem Zimmer, wo die Mutter saß, und warf ihn hinein, floh ins Einsame zurück. Nach einer Weile kam ein Brief, meiner Mutter Antwort; leider hab' ich ihn nicht mehr. Er ging mir zu Herzen, aber der Seelenselbstmord hatte noch nicht ausgetobt; ich schrieb ihr ein zweites:
»Dein Brief hat mich ungeheuer ergriffen und durchdrungen, aber, Mutter (das Wort ›Mutter‹ strich ich aus), das betrübt mich gar so sehr, daß Du schreibst, ich wäre von Dir abgefallen, denn hast Du nicht selbst gesagt, als ich von dem Lichthaak Dopp zurückkehrte und so verdrießlich und mürrisch aus sah, da ich nicht gerne im Regen ausgehen mogte, obgleich ich einen Regenschirm mitgenommen hatte, ich wäre nicht Dein rechter Sohn, sondern Dein Stiefsohn? O, jene Worte, [12] die mich so sehr unglücklich machten, werde ich gewiß in meinem Leben nie vergessen können!
Ich gebe Dir in Gedanken meine Hand, die ein Zeichen sein soll, daß ich Dich noch immer so sehr liebe, wie ich Dich geliebt habe. Doch Deinem mich sehr betrübenden Ausspruche, der mich ganz vernichtet hat, muß ich Folge leisten.
Leb' wohl!
Adolph Menadt.«
Es kam keine Antwort mehr. Nach einer Weile öffnete sich die Tür; ich glaube sie noch zu sehen, die hohe Gestalt meiner Mutter, ich glaube noch ihr Lächeln zu sehen, in dem – so erschien mir's – undenkbar viel Liebe und Rührung war. Sie sagte nichts, kam auf mich zu, nahm mich an ihr Herz und küßte mich. Und auf einmal – wie schnell das geht! – hieß ich wieder Adolf Wilbrandt und hatte keinen Kummer mehr.
So ist's dann geblieben.
Wie das Gedicht es sagt, aus dem ich vorhin einige Verse herausschrieb:
Zu dichten habe ich wohl fast so früh begonnen, als ich schreiben konnte; aber wenn andere durch Zeichnungen Gedichte illustrieren, begann ich damit, Verse zu Bildern zu schmieden; sie waren einander wert, denn sie waren beide von mir. Nachdem ich, der zukünftige Theaterdichter und Direktor, hauptsächlich an Theaterzetteln lesen gelernt hatte – ich war nach den ersten Schultagen (fünfjährig) krank geworden und lag im Bett; da kam nach damaligem Brauch der großmächtige Komödienzettel ins Haus, ich verlangte ihn, suchte mir die ersten gelernten Buchstaben heraus, ließ mir die andern von der Mutter erklären; die nächsten Tage setzten das fort – nachdem ich dann die Kunst des Lesens durch die größere des Schreibens ergänzt hatte, brach wie eine epidemische Krankheit das Zeichnen in mir aus, wovon, wie von andern Krankheiten, nichts geblieben ist. Meine Mutter hatte viel zu sammeln, leere Seiten von Briefen, von abgelegten Heften und Büchern, um diese Schaffenswut zu sättigen; bis ich mir einmal einen großen Bogen erbat, auf dem [14] aber auch noch gar nichts geschrieben sei, und nun etwas Gewaltiges unternahm: die ganze Fläche teilte ich in viele viereckige Felder, mit schmalen Streifen darunter; in jedes Feld zeichnete ich irgend eine landschaftliche oder figürliche Phantasie hinein, in jeden Streifen schrieb ich ein paar Verse, die das darüber stehende Bild zu erklären suchten. So rief der Maler den Dichter hervor; an diesem seinem Geschöpf ist er dann gestorben.
Von diesem Bogen und seinen Nachfolgern existiert nichts mehr; es gibt aber noch ein entsetzlich kleines und schäbiges Büchlein, das ich mit Bleistiftzeichnungen und dazu gehörenden Dichtungen gefüllt habe; auf der Innenseite des Umschlags steht mit Tinte geschrieben: »Gedichts-Buch für Professer W.« und: »Gebuestags-Geschenk für Professer W. in Rostock 1844«; ich war also damals (mein Vater war am 15. März geboren) sechseinhalb Jahre alt. Auch ein Inhaltsverzeichnis fehlte nicht: die Burg, die Überschwemmung, das Haus, Alechszander (der Große), der Zug. Phantastisch war nur »der Zug«: vier geflügelte, langhemdige Wesen auf Wolken, die »wechzogen in das große Himmelsreich«, um dort »wie Engel zu werden«. Als Dichtung ragte aber das erklärende Gebet zur »Überschwemmung« hervor, da es das einzige, ganz verständliche Gedicht und dramatisch lebendig war; soll ich's niederschreiben? Die Herren Kritiker wollen bedenken, 's ist ein Jugendwerk:
(Ein großer Mensch steht mit erhobenen Armen auf dem Dach eines kleinen Hauses, das die Wellen zu verschlingen drohn.)
Nach diesen Anfängen ward ich ein gefährlicher Papierverbraucher, eine wilde Fruchtbarkeit war über mich gekommen. Ich weiß wenigstens, daß ich als Neun- oder Zehnjähriger zu meiner Mutter, die in der großen Wohnstube am Nähtisch saß, mit einem blau gehefteten Buch kam, das ich mit Gedichten, Erzählungen und allerlei vollgeschrieben hatte: es schien mir an der Zeit, das als Band zu drucken. Die Mutter erschütterte indessen meinen Wagemut, indem sie mir auseinandersetzte, ein Buch zu drucken sei teuer. »Wie teuer wohl?« fragte ich. »Fünfzig Taler!« antwortete sie. Fünfzig Taler hatte ich nicht; ich sah auch keinen Weg, wie ich eine so unermeßliche Summe herbeischaffen könnte. So trug ich denn mein blaues Buch in seinen Winkel zurück, bis auf bessere Zeiten; die haben es aber nicht gesehn, es war längst verschwunden.
Mittlerweile war ich wenigstens ein fehlerfrei rechtschreibender Deutscher geworden, ein Sohn meines[16] Vaters; darin hatte ich ausgelernt. Unser Lehrer der deutschen Sprache in Quinta, Doktor Brunimerstädt, erwies mir denn auch die Ehre, mich zuweilen statt seiner auf den Katheder zu berufen: ich hatte als sein Stellvertreter aus dem Buch zu diktieren, der ganzen Klasse, um sie in der Rechtschreibung (auch Interpunktion) zu üben und zu prüfen. Unterdessen ging Brummerstädt, die Hände auf dem Rücken, die Schulstube auf und ab. Ich war aber ein etwas ungetreuer Knecht, meinen Mitschülern zuliebe: so lange der Lehrer zu mir hinpendelte, diktierte ich, schuldlos wie die Engel, nur die Worte, sonst nichts; sobald er mir aber den Rücken wandte, hob ich meinen Zeigefinger und machte in der Luft die Verbindungszeichen, Komma, Semikolon, Kolon und so weiter, zu großem Vergnügen der Klasse.
Als Rechtschreiber (wenn auch nicht als Rechthändler) war ich nun also anerkannt; als Dichter fand ich aber in meiner Vaterstadt Unglauben, wie Mohammed in Mekka. Unter denen, die Verse von mir zu Gesicht bekamen, traten Zweifler auf: »Das hat er nicht selbst gemacht!« oder: »Das hat er nicht allein gemacht!« Als ich einmal am Blücherplatz an einem Geschäftsladen vorbeiging, in dem ein Verwandter von mir Kommis war, ergriffen mich die jungen Männer, führten mich in das Kontor hinter dem Laden, setzten mich vor einen großen Bogen Papier und verlangten: »So, hier mach' ein Gedicht!« Worüber denn? fragte ich. »Ein Gedicht an den Mond!« sagte einer von ihnen; die andern stimmten zu. Ich fand diese Zumutung geschmacklos; was hatte ich dem Mond zu sagen? [17] Aber ich wollte ihnen doch zeigen, daß ich ein wahrhaftiger, unabhängiger und selbständiger Dichter sei; also in Gottes Namen der Mond! Sie ließen mich allein, ich verfaßte; ich verfaßte eine lange Seite voll. Was und wie, das weiß ich nicht. Aber als meine Zweifler wiederkamen, wurden sie Gläubige; sie lasen und staunten: ganz alleinge macht! Sie beschenkten mich und behielten das Gedicht. Ich trabte zufrieden in meine Schnickmannstraße zurück.
Die Schriftstellerei erweiterte sich:auf dem Puppentheater, das ich mir zu Weihnachten oder sonst errungen hatte, führte ich nicht nur fremde, bald auch eigene, zuweilen frech improvisierte Schauspiele auf; für meine Bleisoldaten, die ich rastlos vermehrte und in viele Reiche gliederte, gründete ich eine geschriebene Zeitung, in der ich Zusammenkünfte der Monarchen, Paraden, Verwicklungen, Verfeindungen und Versöhnungen mit tiefem Affenernst journalistisch beschrieb. Damals war wohl schon das große Vorbild der Wirklichkeit vor mir aufgegangen, die Februar- und Märzrevolution von 1848, die von Westen nach Osten durch Europa fegte, so viel Veraltetes umstürzend, so viel Neues schaffend. Was für eine Revolution auch in mir! Auf einmal war eine neue Leidenschaft erwacht, die politische: das Vaterland und dieFreiheit wurden meine Götter. Mit den Berliner Märztagen, glaube ich, begann's; dann erfuhr ich, das alles sei von Wien nach Berlin gekommen, und nach Wien von Paris. Unter dem Stehpult meines Vaters lagen noch Haufen von Zeitungen aus dem Februar; dort kniete ich nun stundenlang, wenn der Vater fort war, und las in den [18] alten Blättern, wie sie in Paris in die Tuilerien drangen, wie sie Louis Philipps Thron aus dem Fenster warfen. So sollte es jedem Thron ergehn! Ich war Republikaner geworden, Gott mag wissen, wie. Fürsten – Tyrannen – zwischen den beiden Worten sah ich keinen Unterschied. Mit Karl Türk, dem Sohn des uns befreundeten Professors Türk in der Nachbarstraße, sammelte ich lebendige Eidechsen, die wir auf seinem Hof in einem alten Kessel mit Sand und Wasser ansiedelten; diesen zierlichen Geschöpfen gaben wir lauter Republikaner-und Tyrannenmördernamen; unsre Lieblinge hießen Brutus und Cassius. Je mehr das große Revolutionsjahr vorrückte, desto kühner und gewaltiger rückten wir beide nach links; auch die rote Republik genügte uns nicht mehr, wir gründeten eine blutrote, vorderhand zwei Mann hoch.
Endlich ergriff die Zeit auch den Dichter; aber erst als der kindliche Freiheitsjubel in dem furchtbaren Ernst des Gegenstoßes, in Pulverdampf und Blut erstickte und aus dem Völkerrausch von 1848 die Schicksalstragödie von 1849 ward. Das war richtige »Werdezeit«: ich sah Weltgeschichte, ich fing an zu fassen, daß die Entwicklung der Menschheit auf den Kampf gestellt ist und diese große Schlacht auf und nieder geht. Mein Herz schlug für die Verteidiger der Freiheit, für die Unterliegenden; helfen konnte ich ihnen nicht, sie besingen konnt' ich. Aus den Jahren 1849 und 1850 besitz' ich noch eine lange Reihe von Gedichten, deren Titel sprechen: Des Polen Abschied, Das Grab der Helden (Kapolna), Republikaner-Schlachtgesang, Der Polenheld, der alte Pole, Kossuth (in Brussa), Auf [19] Bems Tod, Der Freiheitskämpfer, Trostesstimmen (nach dem Sieg der Reaktion). An meinem Sinn hielt ich fest, in »Mein Glaube« rief ich es der Welt knabenfrech ins Gesicht:
Lassen sich diese Verse nicht ohne Lächeln lesen, so fand der »Knabe« zuletzt (aber erst 1851, mit vierzehn Jahren) doch noch einen Ton, der wirklich gesungen ist und vielleicht ein wenig mit dem jungen Phrasenhelden versöhnt:
Die vorhin mitgeteilten Überschriften der politischen Gedichte verraten, was für ein leidig echter Deutscher ich als Bub gewesen: fast lauter Polen und Ungarn, Ausländerei, Begeisterung für die fremden Völker. Zu meiner Ehrenrettung muß ich sagen, daß ich auch deutsche Gefühle und deutsche Helden mit glühendem Entzücken besang; so den Herzog von Braunschweig, der bei Quatrebras als Führer der schwarzen Schar gegen die Franzosen fiel; so unsernGottfried Kinkel, der im November 1850 dem langsamen Zuchthaustod durch seine Flucht aus Spandau entging. Kinkel, damals ganz der Mann meines Herzens, Dichter und Kämpfer zugleich, von den Siegern zur lebenslänglichen Zuchthausschmach verurteilt, durch einen deutschen Studenten befreit, schien sich mit dem noch irgendwo auf deutschem Boden zu verbergen. [21] Wie wird es ihnen ergehn? Werden sie übers Meer entkommen? Werden sie den Häschern in die Hände fallen? Ich lief mit jeder neuen Zeitungsnachricht brennheiß zu meinem Vater hinein: sie sollten in Schweden gelandet, sie sollten an der englischen Küste, sie sollten schon in London sein. Mein Vater hatte immer eine Art von Lächeln, von Unglauben; Zeitungsgerede! abwarten! sagte sein philosophisches Gesicht. Ich ahnte nicht, daß er einer der Wissenden war; ich ahnte nicht, daß Kinkel und Schurz in Rostock saßen, bei einem patriotischen Bürger wohlgeborgen, bis die rechte Stunde gekommen sei, nach England zu fliehn. Vor dem Rostocker Mühlendamm steht ein Wirtshaus zum Weißen Kreuz, das im Frühling herrlich über und über voneinem Glycinenstamm blüht, dessen Zweige das hohe Dach und den First erklettern; in dem Haus ist noch eine »Kinkelstube«, eigentlich nur ein Alkoven, in dem Kinkel damals zuweilen unerkannt sein Bier oder seinen Wein getrunken und auf die sichere Freiheit gewartet hat. Wie ward mir zu Mut, als ich endlich hörte: dein Held ist in England und deine Vaterstadt hat ihn behütet!
Indessen nach der Freude, die ich über Kinkels Befreiung empfand, sollte ich den Ernst dieser Zeit noch aufs allernächste und tiefste erleben: am Schicksal meines Vaters, den, so unschuldig er war, die Reaktion mit ihren langen, harten Armen ergriff. Nach der Berliner Märzrevolution war auch über das altständische und sozusagen altfränkische Mecklenburg der Geist der neuen Zeit, der politische Frühling gekommen; Friedrich Franz II., unser junger Großherzog, erklärte [22] für dringend erforderlich, daß das Land in die Reihe der konstitutionellen Staaten trete, gewann auch den Großherzog von Mecklenburg-Strelitz und die gemeinsamen Stände dafür, vereinbarte mit gewählten Vertretern ein Staatsgrundgesetz, verkündigte es und setzte es in Wirksamkeit. Aber die Mäuse nagten an dem jungen Baum; der Strelitzer fiel ab und suchte sich einen Klageweg; ein Häuflein der durch das neue Gesetz aufgehobenen »Ritterschaft« gewann gleichfalls den Mut, sich zu beschweren, da der Reaktionswind durch die Lande ging. Die mit dem Deutschen Bund wieder auflebende Bundeszentralkommission nahm die Klagen an, von Preußen und Österreich dazu angeleitet, und das »Schiedsgericht« von Freienwalde fällte am 11. September 1850 seinen Spruch: Das neue Staatsgrundgesetz besteht nicht zu Recht, die alte landständische Verfassung soll leben! Friedrich Franz II. von Mecklenburg-Schwerin »unterwarf sich löblich«. Im Februar 1851 war alles beim alten, die Stände aus der guten alten Zeit versammelten sich wieder; nur trat jetzt an die Stelle der mecklenburgischen Gemütlichkeit von vordem ein finsterer Verfolgungs- und Rachegeist, ein fremder Tropfen in unserm Blut, und suchte seine Opfer, zu denen auch der Professor Christian Wilbrandt gehörte.
Mein Vater, ein begeisterter Patriot und ein durch und durch freigesinnter Mann, hatte sich der großen Bewegung mit all seinem Jugendfeuer angeschlossen; er war auch in den neuen mecklenburgischen Landtag gewählt worden und hatte an der Gründung unsres jungen Verfassungsstaates freudig mitgewirkt. Als nun [23] der Rückschritt gesiegt hatte, wie in Berlin und Wien, so auch in Schwerin, begann die großherzogliche Regierung diejenigen politischen Führer zu strafen, die während der Bewegung weiter links gestanden, sich zur Demokratie bekannt hatten und denen sie etwas anhaben konnte. Mein Vater war Professor, vom Großherzog ins Amt gesetzt; er hatte zwar für dieselbe Sache gefochten wie der Großherzog, aber sein Säbel hatte einen etwas anderen Griff gehabt. Dafür sollte er büßen; wohl zum warnenden Exempel. Im Juli 1852 ging ihm ohne weiteres seine Entlassung zu, in einem vom Landesherrn unterzeichneten Reskript, dessen Fassung so anziehend altertümlich ist, daß ich den ersten Absatz hier mitteile:
»Da ihr euch an den Bewegungen der neueren Zeit in ihren revolutionairen Beziehungen seit dem Frühjahre 1848 auf das Tätigste beteiligt habt, indem ihr mit an die Spitze derselben getreten und dieselbe durch alle euch zu Gebote stehenden Mittel zu fördern bemüht gewesen seid, insbesondere auch mit allen denen, welche dieselbe strafbare Richtung verfolgt, zusammengehalten und gemeinschaftliche Sache gemacht habt; da ihr durch dieses euer Verhalten nicht allein die Pflichten der Treue gegen Uns, euren Landesherrn, sondern auch die Rücksichten, welche ihr auf eure Stellung als akademischer Lehrer zu nehmen hattet, mißachtet, der euch anvertrauten akademischen Jugend, welcher ihr in aller Weise ein gutes Vorbild zu sein verbunden waret, das verderblichste Beispiel gegeben und somit in diesen Richtungen die durch eure Bestallung vom 23. März 1837 übernommenen Verpflichtungen schwer verletzt [24] habt; so können Wir es mit Unseren landesherrlichen Pflichten und dem, was Wir Unserer Universität schuldig sind, nicht vereinbaren, euch nach solchen Vorgängen den Beruf eines akademischen Lehrers ferner anzuvertrauen.«
Demgemäß Entlassung, doch mit »Bewilligung« der bisher bezogenen Besoldung als lebenslängliche Pension; wofern nicht der Entlassene »durch eine etwa einzuleitende Untersuchung« über die Vergangenheit noch schwerer belastet wird, oder sich in seinem künftigen Verhalten so belastender Handlungen schuldig macht.
Amtsentsetzung ohne vorausgegangene Disziplinaruntersuchung, ohne jeden Beweis der Anschuldigungen, die die Schrift auszusprechen den Mut hat!
Indessen diesem »ersten Streich« folgte bald der zweite. Am frühen Morgen des fünften Mai 1853 (es war der Himmelfahrtstag) erwachte ich durch den Einmarsch von Polizeimannschaft, die durch mein Schlafzimmer hindurchging, um meinen Vater nebenan zu verhaften. Er war einer von vielen, die man von Rostock nach Bützow ins Kriminalgefängnis brachte, darunter noch zwei Professoren, mehrere Advokaten, Ärzte, Kaufleute, Arbeiter; alle unter schwerer Anklage: sie sollten Mitglieder einer Verbindung sein, welche den Umsturz der deutschen Landesverfassungen und die Einführung einer deutschen Republik bezwecke, und sich als Mitglieder einer solchen hochverräterischen Verbindung an der Anschaffung von Munition beteiligt haben. Auch ein Zusammenhang mit Gleichgesinnten in Berlin, wo eine ähnliche Untersuchung begann, wurde den Rostockern zur Last gelegt. Die Anklage [25] beruhte auf Aussagen des preußischen Leutnants Hentze, der von Berlin als Agent provocateur nach Rostock gekommen war, sich als angeblich Gleichgesinnter an ein paar Zusammenkünften dieser oder jener Herren beteiligt, andere Zusammenkünfte hinzu erfunden und mit hochverräterischem Inhalt gefüllt hatte.
Es wurde das Muster einer politischen Untersuchung gegen gehaßte Andersdenkende: zwei Jahre saß mein Vater in Bützow als Untersuchungsgefangener;vierundvierzig Monate dauerte die Hast des Professors Julius Wiggers, unseres lieben Freundes, der diese ganze Leidenszeit in dem trefflichen Buch »Vierundvierzig Monate Untersuchungshaft« geschildert hat. Zur Sache sagt er darin folgendes, das mit dem übereinstimmt, was ich später aus meines Vaters Munde hörte: »Es konnte keiner von uns sich in Wahrheit schuldig bekennen; denn es fehlte unseren Versammlungen und unseren Verbindungen nach außen an allem, was ein hochverräterisches Komplott konstituiert; wir hatten keine Organisation, keine Statuten, keine bindenden Beschlüsse, keine Unterordnung des einzelnen unter das Ganze, der Minderheit unter die Mehrheit, der diesseitigen unter auswärtige Bestrebungen, kein festgestecktes Ziel. Das Ganze beschränkte sich auf Vorbereitungen für gewisse Eventualitäten, deren Herbeiführung sowohl außerhalb unserer Macht als unseres Willens lag, und deren Benutzung sowohl nach Art als nach Ziel vollkommen unbestimmt blieb.... Ein gewaltsames Durchbrechen des Ganges der geschichtlichen Entwicklung lag unserer Absicht fern.... Unser aller Absicht ging nicht weiter, als uns auf eine [26] Zeit zu rüsten, welche vor dem französischen Staatsstreich jedermann in Europa für nahe hielt. Mit dem Staatsstreich änderte sich die Voraussetzung unserer vorbereitenden Tätigkeit.... Noch lange vor dem Schlusse des Jahres 1852 hörten die Besprechungen und jede Spur einer Tätigkeit auf, und es war wohl keiner aus unserem Kreise, der nicht die Fortsetzung des bisher von uns eingehaltenen Weges als stillschweigend aufgegeben angesehen hätte.«
Dennoch kam es zu Verurteilungen und Vollstreckungen; die nichtswürdigen Erfindungen des Polizeispions Hentze wirkten, der Parteigeist wirkte mit. Mein Vater, nach zwei Jahren aus der Untersuchungshaft entlassen, weil das über die Verschleppung unwillige Oberappellationsgericht drängte, dann in erster Instanz verurteilt, siegte in der zweiten: draußen in der Freiheit gelang es ihm, die ihn betreffende Hauptlüge zu widerlegen, das glückliche Gedächtnis meiner ältesten Schwester Luise verhalf ihm zu einem unanfechtbaren Beweis, daß er in einer ihm schwer angerechneten Versammlung nicht zugegen, sondern über Land verreist war. So blieb er denn in der Freiheit, bei uns. Über Deutschland aber lag noch, still und fest, das Leichentuch der Reaktion.
Doch wie konnten wir an Deutschlands Zukunft verzweifeln? Das war nicht in uns. Wenn ich in diesen nebelgrauen Jahren über den Blücherplatz ging, sah ich zwischen den hohen Linden das eherne Standbild unseres großen Rostockers, des Feldmarschalls Blücher, der für mich das herrlichste Urbild war eines deutschen Helden, und unser Befreier aus tiefster Not.
[27] Vom alten Schadow etwas gar zu »stilvoll« hingestellt, ahne Helm, ein Löwenfell über den Schultern, den Feldherrnstab in der feierlichen Rechten, stand er doch in seiner edlen kriegerischen Schönheit da, ein immer stärkender Anblick. Der hatte, wie der Junge im Volksmärchen, nie das Fürchten gelernt; der hatte auch nie das Verzagen gelernt, wie glühend ihm auch die deutsche Schmach in der Seele brannte. Der hatte von Napoleon, auf den er losging wie der Stier auf den Löwen, mit dem genialen Tiefblick seines Reiterhumors gesagt: »Laßt ihn man machen, er ist doch ein dummer Kerl!« Und wie er nach den Jahren unsrer tiefen Erniedrigung als greiser Jüngling, als »Marschall Vorwärts« der Held unsrer Wiedererhebung ward, so hatte der dramatische Sinn der Weltgeschichte an das Ende seiner Taten noch einen letzten Sturz und einen höchsten Sieg gestellt: Ligny und Waterloo. Das hatte Schadow, der Bildhauer, der Weltgeschichte nachgemacht: auf dem einen Relief des Postaments sah man den alten Helden mit dem Roß gestürzt, das rechte Bein unter dem hingeschmetterten Pferd, so wie er bei Ligny am Boden lag. Auf dem anderen Relief, gegenüber, sprengte er wieder hoch zu Roß, den besiegten Feind vor sich her treibend, der in dämonischer Mißgestalt, mit Fledermausflügeln, vor dem Unüberwindlichen floh.
Wer so einen Landsmann, solch ein Vorbild hatte, konnte der verzagen?
[28]»Ist nicht alles Innerlichste, Wichtigste, Beste unseres Lebens Geheimnis für die Welt? Wie Tau und Sonnenschein fallen stille Schicksale, zarte Neigungen, tiefe Leidenschaften in unsere wachsende Seele; nähren, formen, entfalten sie; führen sie hierhin und dorthin. Könnt' ich davon reden? Was am tiefsten wirkte, flieht auch ins Tiefste, will nicht an den Tag....«
So habe ich vor vielen Jahren in einem Gespräch gesagt, »das fast zur Biographie wird«, das zuerst in Paul Lindaus »Gegenwart« erschien. So sag' ich auch heute; Selbstbiographien könnte man auch Selbstverschweigungen nennen, sofern man die ganze organische Bedeutung des Unsagbaren bedenkt. Wenn ich hier nun dennoch von mir und meinem Werden rede, so tue ich es, weil so vielfältige Erfahrung zeigt, daß doch auch das, was sagbar ist, andern Werdenden und auch andern Gewordenen Anregung, Erhellung, Beruhigung, Stärkung, kurz, eine nicht unnützliche Unterhaltung sein kann. Wie man doch auch selber, im Verkehr, den Menschen dies und das ist, obwohl wir einander nie bis zum Urgrund kennen.
[29] Ich glaube, jeder, der im Leben aufmerkt, wird von diesem oder jenem Vorgang wunderlich getroffen: er entdeckt in dem Einzelfall etwas Allgemeines, Typisches, das ihm ein Stück der Menschennatur erhellt, ihn fürs ganze Leben um eine Erkenntnis bereichert. So erinnere ich mich aus der Knabenzeit, daß ich einmal mit drei Kameraden aus dem Walde heimkam, alle schön erregt: wir hatten uns in den Tannen mit einer zahlreicheren Bande von »Straßenjungen« geschlagen, einige ehrenvolle Verletzungen (von Steinen, glaub' ich) schmückten unsere Gesichter, wir waren, wenn vielleicht nicht Sieger, jedenfalls unbesiegt. Bei meiner Mutter eingetreten und wegen der Schrammen ausgefragt, erzählten wir eifrig, einer nach dem andern; ich hörte aber mit wachsendem Staunen zu. Jeder berichtete anders; und doch hatten wir alle vor einer Stunde das nämliche erlebt! Jeder glaubte: ich erzähle richtig, hätte es beschworen. Wie kann das sein? dachte ich. Ist's gleich auf demSchlachtfeld was anderes geworden oder auf dem Heimweg? Darüber kam ich natürlich nicht ins reine; aber am Ende blieb mir der Schluß: so sind also wir Menschen; wir sehen, fassen, erleben verschieden; jeder hat einen anderen Kopf. Für die reine, vollkommene Wahrheit, scheint es, sind wir nicht geschaffen. Keiner kann dem andern unbedingt vertrauen – und keiner sich selbst!
Ein zweiter Fall war unbedeutender, lächerlicher, er sagte aber auch etwas. Wir sollten einen Schulausflug machen, wir Quintaner, glaub' ich, nur für einen Nachmittag; jeder bekam von den Seinen etwas Proviant mit und ein wenig Geld. Einer von uns rühmte[30] sich, sein Vater habe ihm zwölf Schillinge gegeben; für einen halben Wandertag unglaubwürdig viel. Das empörte denn auch einen andern, einen Schlosserssohn, aufs äußerste; am Mittag mit mir von der Schule heimgehend, schüttete er seine Entrüstung aus. »Wie der Bengel lügt! Zwölf Schillinge! Mein Vater hat gewiß so viel Geld wie seiner, und er gibt mir immer reichlich, mein Alter; aber zwölf Schillinge? Nee! Er hat mir wohl schon einmal sechs gegeben, als wir so 'ne Fahrt machten –« in seinem Familienstolz steigerte er sich: »auch schon einmal acht, auch neun –« er, der Schlosserssohn, wollte sich nicht lumpen lassen: »und einmal sogar elf!« rief er aus. »Aber zwölf? Nee! Das lügt er!«
Ich lachte inwendig und dachte plötzlich: Ja, so sind die Menschen! Das heißt, solche Menschen; aber vielleicht gibt's viele von dieser Art. Sie können's nicht anhören, wenn die andern lügen oder prahlen, und in ihrer Empörung lügen und prahlen sie selbst!
Schon einige Jahre älter war ich, als ich folgende beschämende Erfahrung machte: ich hatte Verwandte auf dem Lande besucht, wollte wieder abreisen; der Wagen zur Abfahrt war beordert, mit mir zugleich wollten ein paar junge Mädchen und mein jüngerer Bruder weg. Eine vierzehnjährige Cousine, ein lebhaftes, reizendes, blühendes Geschöpf, wegen ihrer Schnelligkeit im Laufen der Hirsch genannt, hatte mir in der bekannten Brustgegend etwas warm gemacht; ihretwegen wär' ich wohl noch gerne geblieben. Auf einmal kam sie zu mir, der vor dem Haus stand, und sagte: »Warum willst du heut schon fort? Bleib doch noch; wenigstens einen Tag!« – Das fuhr mir lieblich[31] durch jene Brustgegend, gab mir ein schmeichelndes, streichelndes Gefühl. Sie will mich noch haben! dacht' ich. Also was man gleichgültig nennt, bin ich ihr doch nicht! – Indessen leider mußt' ich fort, meines Bruders wegen, oder waren die Ferien zu Ende – das hab' ich vergessen. Also in Gottes Namen, holder Hirsch, lebe wohl! Der Wagen kam zur Abfahrt; die Mädels kamen, die mitwollten, die Freundinnen des Hirsches; der umarmte und küßte sie. Wir vier Reisende stiegen ein, auf den Bock zum Kutscher ein fünfter, ich weiß nicht wer; die Cousine sah seufzend zu uns heraus. »Ach,« sagte sie zu den beiden Freundinnen, »ich wär' so gerne mitgefahren, wär' dann noch bis zum Abend mit euch in der Stadt gewesen; aber Adolf bleibt ja nicht hier!«
Das tat meiner Knabenbrust nicht so wohl; es gab ihr einen Schlag. Wir fuhren ab, in den schönen Morgen hinein – und nach den ersten unholden Gefühlen kam mir ein auch nicht holder, aber nützlicher Gedanke: Das merk' dir, du eingebildeter Bengel! Das nimm dir auf die Lebensreise mit! Ja, so sind wir Menschen: was der lieben Eitelkeit schmeichelt, das glauben wir; ist's auch wirklich so? danach fragt man nicht. Sie wollte nicht dich, nur deinen Platz. Gewöhne dir die Einbildungen ab, werd' kein dummer Kerl; Eitelkeit macht dumm!
Auch das ward mir eine Lebenslehre, als ich einmal so recht verspürte, wie jugendwarm meine gute Mutter sich wundern konnte; ja, ja, ja, sich wundern! dacht' ich. Dem geht's gut, der das nie verliert! Das ist auch eine Scheidung der Menschen: die einen, denen alles bald alltäglich wird – »ach, das kennt man ja« – die andern, denen die Wunder dieser Welt immer Wunder [32] bleiben, oder es jede Stunde wieder werden können. Und darin bin ich denn nun auch meiner Mutter Sohn; ich glaube, über irgend etwas wundre ich mich jeden Tag.
So bildet sich in jedem jungen Gehirn seine eigne Welt. Beobachte und verstehe! Das wurde mir ein Hauptgebot; und vor allem erfüllte mich jenes alte Wort: Erkenne dich selbst! Auch was mein Dichten etwa wert sei, suchte ich so früh wie möglich zu erkennen; komisch, lächerlich früh; aber was kann das Kind dafür, daß es noch ein Kind ist? Aus meinem dreizehnten Jahr, 1850, hab' ich noch ein winziges Heftchen, in dem unter anderm eine »Abhandlung über A. Wilbrandts Schriften. Von ihm selbst« angefangen ist. Es werden zuerst die Gedichte (kurz und knapp) kritisiert, dann die »theatralischen Versuche«; daß der Herr Rezensent sich nicht schonen wollte, kann der Anfang dieser dramaturgischen Abhandlung zeigen: »Erst im Jahre 1849 beginnt A. W. auch hierin sich auszubilden, nachdem er früher mitunter sehr mangelhafte kleine Szenen schrieb. Das erste größere Werk seiner Feder ist.Eckbert', ein Schauspiel in drei Aufzügen. Aber noch äußerst mangelhaft war dieser Versuch, und fast überall leuchtet, spärlich verdeckt, die über das Mögliche hinausgehende Phantasie des Autors hervor. Er durchschweift weite Märchenfelder, und nicht mit Unrecht kann man dies Schauspiel ein ›dummes‹ nennen.«
Zur Selbsterkenntnis mußte natürlich Selbstüberwindung kommen, das war ein zweites Gebot. Selbstüberwindung an Leib und Seele; kannte ich doch das weise lateinische Wort: mens sana in corpore sano, in [33] gesundem Körper ein gesunder Geist!An unserm Gymnasium nahm das vernachlässigte Turnen eben einen neuen Aufschwung, in einer Schulweisung darüber las ich, das gefiel mir sehr: »Der Turner muß Hitze und Kälte ertragen, Hunger und Durst.« Ich härtete mich, so viel ich konnte; mich zu strapazieren ward mir zum Sport, wenn ich auch das Wort noch nicht kannte. Meine Mutter war noch aus der alten Schule der Ängstlichkeit und wohl von meinen zarteren Kinderjahren her um mein Heil besonders besorgt; so hatte sie sich gewöhnt, mir bei jedem rauheren Wetter ein warmes Tuch um den Hals zu binden, wenn ich meinen Schulweg ging. Sowie ich aber draußen war, nahm ich den Schal herunter und fuhr damit in die Tasche; und ich härtete meinen Hals so gut, daß ich ihn auch heut beim schlimmsten Wetter niemals bedecke. Als ich erwachsen war, hab' ich mich dann wohl im Scherz gerühmt: »Mutter, ich hab mir damals das Leben gerettet, durch Indietaschestecken deines Schals und durch Essen von unreifem Obst!« Meine Leidenschaft aber ward das Turnen, in der bestimmten Schulzeit und zu jeder Zeit. Am stärksten ward ich als Springer (hoch und weit), als Läufer und Kletterer. Exerzieren lernte ich mit zwei Söhnen des Professors Strempel, in dessen Garten am »Vogelsang«; der Tambourmajor Holtz war unser Lehrmeister, ein schöner Riese. Der hatte etwas wie ein Blücher zu Fuß; mit Stolz und Bewunderung zog ich neben ihm her, wenn er an der Spitze der Militärmusik durch die Stadt marschierte und mit ehrfurchtgebietender Grazie seinen Kommandostab in die Lüfte warf.
[34] Mich auch seelisch zu stärken und zu überwinden, bemühte ich mich redlich; dafür gab es aber keine Turngeräte und keinen Tambourmajor, und wann und wie ich diese stillen, inneren Siege erfocht oder auch Niederlagen erlitt, wüßt' ich kaum zu sagen. Der Edelste zu werden, schwebte mir als das Höchste vor; aber wie wird man das? Zunächst müßte man wohl alles Unkraut aus dem Wege räumen: alles, was kleinlich macht, Abhängigkeit von Ärger und Verdruß, von Sorge, von der kleinen Menschen Gerede und Meinung, von kleiner und großer Eitelkeit. Da jätete ich nun, so gut es ging. Aber auch gefährliche Leidenschaften bekämpfen! Mich überfiel zuweilen ein jäher, verwildernder Zorn; wohl ein Erbteil von väterlichen Vorfahren her. Ich erinnere mich einer ernsten Schlacht, die ich einmal gegen so einen Zornanfall schlug; da war ich aber schon aus den eigentlichen Knabenjahren heraus, hatte geübtere und geistigere Kräfte. Aus irgend einem Grunde war über mich, der wohl grade überangestrengte Nerven hatte, eine blinde Wut gefallen; ich war allein in dem Saal unseres Hinterhauses, in dem zwei alte, antikisierend geschmückte Spiegel vom Fußboden bis zur Decke reichen. Der Ingrimm verzog meine Glieder, verzerrte mein Gesicht, ich konnte mich nicht fassen. Plötzlich fiel mir ein: wie du nun wohl aussiehst? Was so ein wilder Kerl für Grimassen macht? Und um mich zu studieren, trat ich vor den Spiegel; indem ich was lerne, dacht' ich, bezwing' ich zugleich diese blöde Wut! – Nun, es ging nicht so geschwind, wie ich hoffte; es war doch zu viel Feuer im Blut oder in den Nerven. [35] Da stand noch immer ein junger Bursch mit verzerrten Zügen. Ich ließ aber nicht nach; ich schaute sozusagen mit kalt lernenden Augen in seine wild glühenden hinein. Endlich kam der Sieg. Ich glaube, ich zwang ihn sogar, daß er lächeln mußte. Die Furien zogen ab wie die des Orest. Ich hätte wie Cäsar sagen können: ich kam, sah und siegte!
Unterdessen hatte ich von Schuljahr zu Schuljahr weitergedichtet; statt der Politik, die mir nicht mehr zu schaffen machte, dichtete die Liebe mit. Ich war noch nicht dreizehn Jahre alt, als mich eine ernsthafte, sonderbare Neigung ergriff: zu einem schon erwachsenen, sechzehnjährigen Mädchen, der Schwester eines meiner Kameraden, der mir damals der nächste war. Ich kam viel ins Haus, ich sah sie oft, sie war anmutig, lieblich, sie war auf eine schöne Weise hold zu mir; und ich, gleichsam an ihr hinaufwachsend, und doch immer den ungeheuren Abstand fühlend, und doch wieder mit einer Art von schwesterlicher Liebe herangezogen, als werdender »Poet« von ihr ausgezeichnet, ich lebte in einem Zustand zwischen Wohlsein und Tragik, in dem ich gleichsam über der Erde schwebte; ich hätte nicht auf sie hinabfallen mögen. Das ging zwei, drei Jahre so fort; dann verließ die Angebetete ihre Vaterstadt, auf ungemessen lange Zeit. Ich schenkte ihr ein Büchlein, das ich mit meiner jungen Dichterei (ich glaube, auf ihren Wunsch) gefüllt, und schickte ihr ein Abschiedsgedicht, in dem ich bekannte, was ich fühlte und sie lange wußte:
Aber von »meiner Jugend holdem Stern« will das Gedicht nicht mit Klage scheiden. Segenswünsche begleiten sie. Nur »des Knaben, der ihr sein Herz geweiht«, auch einmal gedenken!
Ich litt, ich fühlte Sehnsuchtsschmerzen, ich strömte sie in Liedern aus; die alte Feile der Lyriker, mit der sie ihre Fesseln sprengen. Ehe Luise wiederkam – sie heiratete dann bald – war ich einer andern Welt zu nahe gekommen, der Welt meiner Zukunft, dem Theater; unsre junge tragische Liebhaberin hatte mich gefangen. Nicht daß ich sie schon kennen lernte: ich sah sie nur spielen, begegnete ihr wohl auch einmal, besang sie von meinem einsamen Zimmer aus und schickte ihr, namenlos, meine Hymnen zu. Ich überschätzte sie als Künstlerin mit aller Wollust eines jungen Narren, schrieb schlechtere und immer schlechtere Gedichte, verschwelgte meine Gefühle, bis sie nahe an den Unsinn oder Wahnsinn kamen; wenn ich statt dessen Mathematik getrieben hätte, es wäre besser gewesen. Dann traf ich sie in einem befreundeten Haus, sah, daß sie ein blaues und ein braunes Auge hatte, hörte sie erzählen, wie es ihr beim Theater ging und was für hübsche kleine Triumphe sie erlebte – und von dem Grenzgraben, wo der Wahnsinn anfing, kam ich so nach [37] und nach in die trockene Luft zurück, in der es Logarithmen gibt. Ich erfuhr nun auch dies und das: was für ein langweiliges, eitles, anständiges, blutloses Frauenzimmer sie im Grunde sei; nur eine hübsche Person mit einem gewissen Etwas, womit man im Theater die Unmündigen und die Narren einfängt. Ich ward kalt. Ich fiel ab. Ich schrieb keine Hymnen mehr. Ich schrieb nur noch, schwermutsvoll, ein letztes Gedicht:
[38] Dieses Gedicht (es endete mit der Wiederholung der ersten sechs Zeilen) blieb in meiner Schublade, ungelesen und ungekannt; die Schauspielerin verschwand mit der zu Ende gehenden Spielzeit, ich sah sie nicht wieder. Dann kam noch eine dritte Liebesirrung, die letzte in der Heimat; – wozu davon reden? Ein großes Schicksal war sie nicht; sie hatte idyllisch Herzliches, sie hatte schlimme Verstörungen, aber sie drang nicht bis in die Tiefen, wo das eigentliche Werden wohnt. Es waren unfruchtbare Leiden und Freuden, entwicklungslose Gärungen, unreifes Auf und Nieder; wie diese fünf Verse es zeigen, die als Akrostichon zugleich den Namen des (blutjungen) Mädchens verraten:
O Jugend! O du Lebensmai! In allen Tönen, mit tausend Stimmen hat man dich gepriesen; von wie vielen der armen Sterblichen wirst du das Schönste genannt. Ich habe nie so gefühlt. In den Jahren 1854, 1855, 1856 habe ich ein (oft über Wochen springendes) Tagebuch geschrieben; als ich das jetzt, für diese »Erinnerungen«, durchlas, hab' ich oft in tiefem Staunen dagesessen: so ewig ungleich, verworren, getrübt, beschwert, so wenig reinglücklich war diese deine Jugendzeit? So viele Störungen in Seel' und Leib, so viel Wiederholung der Gärungen, der Verstimmungen? Das hatte ich nicht mehr gewußt; so [39] nicht. Ich saß und hatte Mitleid mit dem armen Jungen; mit dem dummen Jungen. Nein, es ist nicht gar so arg mit dem Jugendglück. Es ist nicht leicht, jung zu sein. Wie viel leichter, o wie viel leichter leb' ich jetzt, als sogenannter Greis, da ich dieses schreibe!
Freilich fehlte mir auch in Rostock so manches, dessen ich bewußt oder unbewußt bedurfte; das ich hernach in Berlin und in München fand und als das Brot des Lebens genoß. Von den Lehrern an unserm Gymnasium, das erst später einen neuen Frühling gewann, fühlte ich mich wenig angeregt; mit wahrer Dankbarkeit kann ich eigentlich nur des Doktors Wendt gedenken, der für Sekunda und Prima im deutschen Aufsatz, im Französischen und Englischen ein vortrefflicher Führer und Förderer war. Die kleinen und großen Turnfahrten, die die Schule machte, erfreuten mein junges Herz; in unserer Schülerverbindung »Amicitia«, die sich ganz studentisch gebärdete, lernte ich Bier trinken (o was für Bier damals! meiner Zunge greulich!), alle Lieder singen, fechten, später die Chronik schreiben, endlich präsidieren. Die Verbindung war verboten, wurde dann drei Vierteljahre lang probeweise geduldet, dann wieder verboten, da sich doch gezeigt haben sollte, daß wir Amici die schlechteren Schüler seien. Wir trotzten dem Verbot und bestanden weiter. Als heimlicher Amicus verließ ich nach dem großen Examen die Schule und ging freiheitsselig auf die Rostocker Universität.
War ich dort nun glücklich? – Ja, daß ich zur Freiheit geboren war, fühlte ich vielleicht mehr als je in meinem Leben; des ewigen Zwangs entladen: [40] lerne dies, tu das! stürzte ich mich mit wahrer Geisteswollust in ein grenzenloses Lernen und Studieren; so rastlos hab' ich nicht oft gearbeitet wie in diesem ersten Semester, Sommer 1856. Ich hatte mich auf meines Vaters Wunsch zunächst dem Jus ergeben, ich sprang mit beiden Füßen hinein und trank den ersten Becher, das Kolleg über die Institutionen des römischen Rechts, so bis zum letzten Tro psen aus, daß ich das Ganze wörtlich im Kopf hatte; als ich danach zu einem Stipendienexamen ging, um mich in eben diesen »Institutionen« prüfen zu lassen, wußte ich (ein nie wieder erlebtes Gefühl): ich kann nichts nicht wissen! Aber von diesem und andern Kollegien kam ich dann nach Hause in mein Paradies: Studien für mich und nach meiner Luft, in all meinen Sprachen, deutsch, griechisch, lateinisch, französisch, englisch, etwas italienisch; dazu Geschichte, Ästhetik, Philosophie, Literaturgeschichte und so fort. Alle alten Dichter las ich. Die längsten Tage waren kaum lang genug. Meine besten Freunde waren auf andre Universitäten gegangen, ich lebte wie ein Eremit über meinen Büchern.
Dieses Übermaß – zu dem ich leider immer neige – mußte sich wohl rächen; in meinem zweiten Semester wuchs mehr und mehr eine Trägheit heran, in der offenbar die Stimme der Natur sprach, und Gärungen und Verstimmungen nahmen wieder überhand. Die Pandekten, die ich nun zu hören hatte, verloren ihren ersten Reiz nur zu bald für mich; sie wurden mir fast so fremd und kalt wie die Mathematik. Dagegen verliebte ich mich in den Gedanken, später, draußen, etwa in Berlin, zur Bühne zu gehen und wie Shakespeare [41] und Molière ein Schauspielerdichter zu werden. Vor allem aber hinaus, hinaus! Weg aus der engen Vaterstadt in die große Welt! Zu andern Menschen, zu Künstlerseelen, zu den Könnenden, den Verstehenden! Immer tiefer fühlt' ich, wie einsam ich durch die Rostocker Straßen ging; immer heißer brannte die Sehnsucht: wann lüfte ich die Flügel wie der Kranich, der »nach der Heimat zieht«?
Alle Tage enden. Nach Ostern 1857 kam der junge Tag, an dem ich meinen Koffer und meine Bücherkiste packen konnte: Auf nach Berlin!
[42]Eisenbahnen gab es schon, als ich zum Sommersemester 1857 von Rostock über Schwerin nach Berlin fuhr; aber Freiheit des Verkehrs gab es zwischen den deutschen Nachbarländern Mecklenburg und Preußen noch nicht, sie waren »Ausland« füreinander – so wunderlich das auch einem heutigen Leser klingt. Das souveräne Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin war dem deutschen Zollverein nicht beigetreten, es war eine Welt für sich. Wie ein Fremder, mit der unentbehrlichen Paßkarte, mit zollamtlich untersuchtem Koffer, zog ich über die Grenze; um in Berlin zu meiner Bücherkiste zu gelangen – ich hatte mir schon mit Feuereifer eine kleine Bücherei gesammelt – mußte ich zum »Packhof« auf der Museumsinsel wandern und sogleich zu meinem tiefen Mißvergnügen erleben, was preußische Beamte waren. Mit dem »strammen« Ernst ihres Berufs, mit humorlos strengen, historisch harten Gesichtern standen sie um die geöffnete Kiste des jungen Studenten und Poeten herum, wühlten in dem Bücherhaufen, zogen die amtlichen Brauen auf und nieder und ließen endlich unter dem martialischen [43] Schnauzbart das Verdikt heraus: »Verzollen!« – »Verzollen?« sagte ich, mit heimlich aufflammendem Preußenhaß. »Sie sehen doch, daß das alles gebrauchte, gelesene Bücher sind. Ich bin hier, um zu studieren, und brauche sie zum Studium. In jedem Buch steht vorn mein Name; sehen Sie doch hin. Ich will doch nicht Handel treiben. Schon die Inschriften sagen das. Und ich soll verzollen?«
So fochten wir eine Weile (ihr Barbaren! dachte ich); endlich sagte einer, mit den Achseln halbmenschlich zuckend: »Gehn Sie zum Direktor. Wenn der Ihrer Meinung ist, dann geben wir die Kiste frei heraus!« Ich ging zum Direktor, einem älteren Mann mit etwas müden Augen, der einsam in seinem harten Lehnstuhl saß, und trug ihm so beredt wie möglich meine Sache vor. Er sah mich an und schien zuzuhören; sein Gesicht blieb still. Was wird dieser weise Borusse nun sagen? dacht' ich. Ja oder Nein? Das ganz Unerwartete geschah: er sagte weder Ja noch Nein. Er murmelte etwas – ich weiß nicht mehr, was – er gab mir nicht unrecht, aber auch seinen Unterbeamten nicht; endlich entließ er mich mit einer freundlichen Handbewegung und einem »wird schon gehen« oder »sich durchschlagen« oder so dergleichen; kein bestimmtes Wort. Ich, wieder draußen – was? ist das auch ein Preuße? dacht' ich, jetzt etwasVerachtung in meinem Zorn. Keine eigene Meinung? – Was hab' ich nun? Was mach' ich nun? – Ich entschloß mich geschwind wie Faust: »Im Anfang war die Tat!« Bei meiner Kiste wieder angekommen, sagte ich den Herren: »Der Herr Direktor ist meiner Meinung. Geben Sie [44] mir nur die Bücher heraus!« Mit stillem Erstaunen sah ich, dieses Wort genügte. Ohne weiter nachzufragen – als hätten sie diese Entscheidung erwartet – gaben sie die Kiste frei, und ich zog mit ihr als Sieger davon.
Dies war meine erste Berührung mit dem Preußentum; gefallen hatte sie mir nicht; mit einem warmen Vorgefühl war ich ohnedies nicht ins Land gekommen. Für die Geschichte Preußens, seine großen Fürsten und Helden schlug mir wohl das Herz; seine Zukunft als Deutschlands Vormacht schien meinem politischen Verstand unabweisbar; aber ich war tief innerlich ein unpreußischer Mensch – wie die Künstler es wohl alle sind. Ich suchte auf der Welt das Hohe, das Große, aber nicht das Strasse, Stramme, Enge, Steife, kurz das Nichtästhetische, das ich im Stockpreußen fand und das auch schon Lessings Minna von Barnhelm nicht liebte. Mir gefielen meine Mecklenburger besser, wenn ich auch ihr geschichtslos kleinbürgerliches Dahinleben nicht leiden konnte; ich floh ihre kleine Welt und ihr kleines Wollen, aber sie waren menschlicher, gemütlicher, humoristischer. Sie sind auch ein tapferes Volk, zwei von ihnen heißen Blücher und Moltke; vor allem aber bescheiden sind sie, treuherzig, redlich, unverdorben; und unverwüstlich, immergegenwärtig ist ihr goldner Humor. Den kennt jeder, der Fritz Reuter kennt; es wäre aber eine schöne Bereicherung der Lebensfreude und der Menschenliebe, auch den ganzen Umfang der liebenswürdigen Güte und Reinheit zu kennen, die in Mecklenburgern zu finden ist. In den Unscheinbaren oft am wunderbarsten; wie viel hab' ich das gesehn. Da steht mir ein dürftiges Gestellchen [45] vor Augen, Frau K., die noch hier in Rostock lebt; lange Jahre war sie Aufwärterin bei einer meiner Cousinen und weihte sich mit immer heiterer Hingebung der ihr heiligen Pflicht. Eines Tages liegt ihr Mann im Sterben; sie tritt vor meine Cousine hin, die noch nichts davon wußte, und fragt, ob sie nicht einmal heimgehen dürfe: sie möchte doch sehn, »ob ihr Mann noch da ist.« Die Cousine schickt sie fort: ja, ja, ja; und diesen Tag nicht wiederkommen! sie werde sich allein behelfen! Am Nachmittag stirbt der Mann. Am anderen Morgen ist Frau K. wieder da, blaß und still gefaßt; und so Tag für Tag. Dabei war sie zart, ein Hauch. Im strengen Winter steckte sie in sieben Stücken Zeug wie in sieben Zwiebelhäuten; hätte man ihr die alle abgezogen, man hätte vielleicht nur die platonische »Idee« der Aufwärterin gefunden. Sie hat aber an keinem Morgen gefehlt, all die Jahre durch.
Fast märchenhaft in ihrer Selbstlosigkeit ist eine andere Frau, die ich kenne, Frau B. in Schwerin. Dort in der Apothekerstraße geboren und aufgewachsen, verlebt sie nun all ihre Jahre in dieser Gegend der Stadt; sie war nie im Schloßgarten – wozu? sie braucht ihn nicht, sie entbehrt ihn nicht – und an keinem der Seen um Schwerin herum. Wenn aber ihrer Herrschaft, meiner Freundin, einmal ein Ausflug verregnet, das geht ihr zu Herzen; sie schüttelt ihren betrübten Kopf. »Was haben Fräulein sonst vom Leben? So'n Vergnügen, das brauchen Sie! Und nu muß es regnen!« – Fast so märchenhaft wie ihre Bedürfnislosigkeit und Selbstlosigkeit ist ihre geschlechtslose Häßlichkeit. Eine Art von Geschlechtsliebe glimmt [46] aber doch in ihr: zu einem Jugendgespielen, der noch immer ein hübscher Mann und ein unverbesserlicher Trinker ist. Den hegt und pflegt sie, schwesterlich, mütterlich. Auch hier offenbar nur dieplatonische Idee der Liebe; die wird aber wohl so lange leben wie sie.
Wie viel stöhnen wir über die Handwerker, und leider mit Recht. Ich könnte aber von idealen Rostocker Uhrmachern, Tischlern, Mechanikern erzählen, so rührend Vornehmes, daß viele nicht dran glauben würden. So vornehm wie ihre Seele ist aber auch ihre Tüchtigkeit.
Und muß man nicht menschenliebend lächeln, wenn man hört, wie es einer Rostocker Dame bei ihrem Hutlieferanten erging? Sie kam, um einen neuen Hut zu kaufen. »Aber Frau Doktorin,« sagt er, »Sie haben ja doch den Hut, und dann den«; er läßt nichts aus, er weiß noch alles. »Was wollen Sie denn da mit 'nem neuen Hut?«
So simpel wie diese meine Landsleute war freilich der Berliner Schuhmachermeister nicht, bei dem ich und meine freigegebene Bücherkiste einzogen; der war ein richtiges Berliner Kind, echtes Großstadtblut; freilich gleich vom besten. Er hatte Witz, er kalauerte mit Wollust, aber auch mit Humor, er schrieb Aufsätze in die demokratische Volkszeitung, er spielte mit mir Schach, und mindestens so gut wie ich. Sein Geschäft war klein, seine Wohnung winzig (am Tierarzneischulplatz bei der Karlstraße, der nun längst verbaut ist); ich mußte durch seine Werkstatt in mein Zimmer gehn, das in den großen Garten der Tierarzneischule blickte. Aber seine beiden Töchter freuten sich mit mir, daß ich meine Bücher hatte, denn sie lasen mit. Sie kannten [47] Schiller, sie kannten Goethe und auch »ihren Lessing«. Die eine half zu Haus und die andre diente; arme Mädchen, auch nicht eigentlich hübsch zu nennen, es fehlte offenbar an lebfrischem, farbenspendendem Blut; aber etwas deutsche Idealität leuchtete aus ihren grauen Augen und deutsche Bildung nistete auf ihren blassen Stirnen.
Wir wurden gute Freunde, sozusagen; zweimal flogen wir auch an schönen Sommersonntagen miteinander aus, und ich warf ein paar Blicke in die Welt der Schuster, in diesem gegen heut noch so kleinen, aber doch schon von der Großstadtglorie gekrönten Berlin. Auf dem Schusterinnungsstistungssest in der Hasenheide fand ich mich, wie es verabredet war, mit den beiden Mädchen und ihrer munteren Freundin zusammen; wir festmahlten (gut bürgerlich) und zogen miteinander herum – bis die vergnügte Feierstimmung des Abends an unserm Vierblatt zu zergehen drohte. Unter den zahllosen Jünglingen vom Handwerk entstand eine Art von Eifersucht auf mich, den Studenten, als den man mich erkannte (anfangs hatte mich einer gefragt, ob ich ooch Buchbindergeselle sei); es mißfiel offenbar, daß drei so angenehme und distinguierte Mädels unter meiner Fahne marschierten; es bildete sich ein bedrohlicher Kreis um uns. Meine Gefährtinnen beschworen mich endlich, mit ihnen davonzugehn, es gebe sonst ein Unglück. Ich, dem es ein gewisses Vergnügen machte, so beneidet zu werden, und der es doch mit einem Hundert entrüsteter Gesellen nicht aufnehmen konnte, gab den erblaßten Mädels nach, und wir wanden uns durch die fast schon handgreifliche [48] Menge hinaus, irgend einem neutralen Wirtsgarten zu, wo wir weiterfeierten, bis die Nacht uns trennte.
Der zweite Ausflug war friedlicher, da hier statt der streitbaren Jugend die reife und nicht mehr evatolle Mannheit mitzog; Familienväter (lauter Schustermeister) mit den Ihrigen, darunter auch mein Wirt und seine lessingsrommen helläugigen Töchter. Wir pilgerten durch den Grunewald – damals noch romantisch fern, einsam, feierlich – zur Havel, nach Pichelsberge, wo man im Grünen, am Wasser sich idyllisch vergnügte; fuhren zum langgestreckten Pichelswerder hinüber, und an einer langen Tafel in einem sonst leeren Saal reihten wir Mannsbilder uns und ließen unter mannhaften Reden und Berliner Witzraketen einen mächtigen Kristallpokal kreisen, den der Wirt mit dem Nationalgetränk, der »kühlen Blonden«, gefüllt hatte.
Ich war als Student der Jurisprudenz nach Berlin gekommen, blieb es aber bald nur dem Namen nach; Geist, Seele, Herz widerstrebten mehr und mehr, ich floh zur Kunst, zu den Dichtern und zur Philosophie. In der schnöden und zähen Glut dieses Sommers – es gab Nächte, in denen ich nackt und unbedeckt im Bett, auf dem Sofa, auf dem Fußboden nicht ein Auge voll Schlaf fand – in der tropischen Luft meines Zimmers stürzte ich mich in Hegels Werke, den Spuren meines ihm getreuen Vaters folgend, und füllte mei nen heißen Kopf so lange mit Begriffen, Schlüssen und Problemen an, bis er sich wie von Wüstensand überschüttet fühlte. Nach Tische wanderte ich durch die [49] glühenden Straßen zu Lepsius, der über ägyptische Kunst und Geschichte las und mir gab, was ich vor allem begehrte: Anschauungsunterricht im Ägyptischen Museum. Ich suchte Goethe, Schiller, Shakespeare im königlichen Schauspielhaus, fand sie aber selten; nur Dessoir und Döring nahmen mich gefangen, andre spielten mich sogar aus dem Faust hinaus; es ward auch hier, wie in meiner Vaterstadt, mit Wasser gekocht. Aber »Menschen! Menschen!« Mehr als alles begehrte ich Menschen, wie ich sie daheim vergebens ersehnt hatte, Menschen der Großstadt, der Welt, des Geistes, von denen ich leben lernen, an denen ich wachsen und werden konnte.
Sag' ich es nur gleich mit dankbarer Seele: dieses mein Urverlangen ward mir so erfüllt und gesegnet, wie ich's wünschen konnte; nichts hat mir das Leben so reich vergönnt. Überall an meinem Weg stehen rechts und links freundliche Gestalten, Bildner, Führer, Gefährten, Freunde, Herzenskameraden. In diesem Berliner Sommer begann es; die folgenden Jahre setzten das Liebeswerk fort, als hätten sie darüber einen Bund geschlossen. Und nun, da die letzten, die weißhaarigen Jahrzehnte kommen, schiebt mir noch immer eine unsichtbare Hand liebe, jugendvolle, nachwachsende, herzenswarme Gestalten zu, mit denen ich weiter werde – denn das darf nicht enden –, an denen ich mich bilde und forme, denen ich dafür von dem Meinen gebe, um redlich zu zahlen.
Es begann mit einem Übergang: nach allerlei Bekanntschaften, die meine Seele nicht nährten, fand ich meinen schon angefreundeten Landsmann Gustav [50] Eggers wieder, einen jungen Komponisten, der leider von schwacher Gesundheit war und einem frühen Tod entgegenreiste. Er trug mir sein weiches Herz warm und offen zu, und in jugendlicher Kunstbegeisterung trafen wir einmütig zusammen. Zum Glück hatte er eine unglückliche Liebe, die ihn lyrisch emporhob und ihm zu den tragischen Liedern der Dichter Melodien gab. Ich seh' ihn noch, wie er am Klavier das von ihm vertonte »Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff« kummerselig sang, in wild schmachtender Schwermut schwelgend, daß die horchenden Wände tremolierten...
Ihm verdankte ich übrigens die erste wirkliche Kunstbelehrung in Berlin: ich hatte bereits begonnen, die volkstümlichen Liebigschen Symphoniekonzerte zu besuchen, meine Wonne, die hohe Schule meiner Laienohren, vielleicht das wertvollste aller Bildungsmittel, die mir Berlin damals gab; »Gusch« Eggers schloß sich mir an und brachte, so oft er konnte, in die Konzerte Partituren mit, die er mir erklärte, in denen er mich auf meine Weise mitlesen ließ. Ich, der ich die Noten nur oberflächlich kannte (obwohl ich viele Seiten voll als Knabe für meine älteste Schwester abgeschrieben habe), ich blickte doch wenigstens mit lernbegierigen Augen in die großen, kunstreichen Gebilde der Orchestermusik hinein, die an die dramatischen Kompositionen des Dichters mannigfach erinnern. Unterdessen kam die Zeit heran, wo der viel ältere Bruder Friedrich Eggers, Kunstprofessor an den drei Berliner Akademien, von langer Entfernung heimkehrte und ich in ihm den ersten dieser Menschen kennen [51] lernte, die ich mir für meinen Werdeweg vom Schicksal gewünscht hatte.
Ein Mensch wie Friedrich Eggers ist schwer zu schildern; in meinen »Wiener Erinnerungen« hab' ich es in Kürze versucht, in meinem Buch »Fridolins heimliche Ehe« ist er zur redlich treu gemalten Romangestalt geworden; immer droht aber die Gefahr, daß er, den gleichsam ein Geranke von Drolligkeiten umwucherte, bei noch so liebevoller Darstellung etwas zu lächerlich wird. Er war aber in seiner irisierenden Vielfarbigkeit zugleich ein rührender Mensch, von unerschöpflicher Güte, für unzählige Jünglinge und Jünger, die ihm als ihrem Meister anhingen, in selbstlosester und reinster Weise mütterlich-väterlich; denn die weiblichen und die männlichen Eigenschaften in ihm waren nicht zu trennen. Ich glaube, alle diese Jünger – »Leibschwaben«, wie der Humor sie nannte – haben an ihm gehangen bis zu seinem, leider grausam vorzeitigen Tod. Er blieb jung bis zuletzt, weil er eigentlich nichts als Begeisterung und Liebe war. Als Dichter in hochdeutscher und plattdeutscher Sprache ist er nicht »durchgedrungen«, wie man sagen muß, auch hat er als Lyriker nicht neue eigene Töne gefunden; aber in seinen sinnigen, plaudernden, erzählenden plattdeutschen Gedichten (»Tremsen« heißt die Sammlung, und »Kornblumen« bedeutet das Wort) ist er auch geworden, was er im Leben war: ein Original, und eine Dichtung wie »Pultawa«, voll schlicht tiefsinnigen Humors, würde jedes Mustersammelbuch schmücken.
Friedrich Eggers hatte in seinen Studentenjahren[52] die Vorlesungen meines Vaters besucht und sich ihm in warmer Verehrung angeschlossen; von ihm hatte er sich auch beim Scheiden einen Wahlspruch ausgebeten und die beiden Worte: »Nur anfangen!« in sein Petschaft graben lassen; man las sie bei ihm auf jedem Brief. »Nur anfangen, dann findet sich's!« So ungefähr hatte es mein Vater gemeint. Da aber »Friede« (wie ich ihn nannte) in seiner Lebhaftigkeit so manches unternahm, das er nicht zu Ende führte, so spottete ich seiner, als unsre Freundschaft spottreif geworden war: »Du hast meinen Vater prächtig mißverstanden, Friede! In deinem frommen Sinn liesest du die Worte so: Nur anfangen, nicht fertigmachen!«
Ich war viele Jahre jünger als er, und damals noch ein grüner Student; aber wir wurden bald wundergute Freunde, und – wie soll ich es sagen – der Unterschied der Jahre verging. War ich durch seinen Bruder ein wenig tiefer in die Musik hineingekommen, so kam ich durch ihn in die bildenden Künste, deren Geschichte er lehrte und die seine Zimmer, seine Wände füllten. Er hatte weniger tiefe als warme Augen, ihn begeisterte mehr das Liebliche, Anmutige, Rührende als das Gewaltige und Erhabene; aber sein Schönheitssinn war leicht erregt und fand frische Worte, heitere und ernste. Mit ihm war gut streiten; was die Jugend braucht. Und als Schutzwächter vor zu bösem Streit stand der Dritte da, der uns beiden Freund war, der Mecklenburger Humor.
Es dauerte nicht lange, so mußte ich schon sein Gast sein, wochenlang bei ihm wohnen; mit einer großen Reisetasche, in einer Droschke zweiter Klasse,[53] »reiste« ich zu ihm, in die Hirschelstraße, die jetzt Königgrätzerstraße heißt. An diesen heißen Sommertagen lernte ich von ihm früh aufstehen, in der lieblich frischen Morgenwärme wanderten wir oft nach Schöneberg hinaus – damals noch nichts als ein Dorf »da draußen«; kein Schöneberger Bauer ahnte, daß in seinem Acker eine Million steckte, die das sich wild dehnende Berlin ihm eines Tages auf den Tisch legen werde. Das einzige Wirtshaus im Dorf hatte einen Garten, in dem sich unter schattenden Bäumen herrlich frühstücken und dichten ließ; denn Friedrich Eggers arbeitete damals an einer Umdichtung von Shakespeares Macbeth in einen Operntext für Meister Taubert, und ich mußte helfen. Mir erschien das eigentlich als eine Gemeinheit, eine Tempelschändung, Shakespeare umzudichten; aber mit dem Leichtsinn des Studenten, des Freundes fügte ich mich und reimte mit. So saßen wir da stundenlang in der guten Bauernlust und hörten die Vögel singen und schändeten den Britten.
Und der Dichter Adolf Wilbrandt? der Dramatiker? der Hochstrebende? – Der war jetzt in Berlin, um die Welt zu sehen und sie zu erkennen. Und wenn ich mir wohl einmal auf meiner »Bude« in den langen Haaren wühlte, weil die Muse nicht kam, mir die Stirn zu küssen, dann lullte mich etwa ein, daß das Ziel ja doch unerreichbar war, das ich als Rostocker Primaner in einer Schulstunde aufs Papier geträumt hatte:
Das größte Ergebnis meines Berliner Studentenjahres ist mein Bekanntwerden mit dem Kuglerschen Haus. An diesem Haus führt fortan mein Werdeweg, gehend und kommend, immer wieder vorbei; er führt durch das Haus hindurch, er findet darin seine Ruhestatt und ein allerschönstes Ziel. Franz Kugler, der Kunstgeschichtschreiber und Dichter, hatte es mitKlara Hitzig gegründet; einer idealen Ehe waren drei edle, schönbegabte Kinder entsprossen, die Tochter Margarete hatte sich mit dem jungen Dichter Paul Heyse vermählt, der ältere Sohn Bernhard studierte in München Geschichte, Hans, der jüngere, lebte bei den Eltern. Mit diesem Hans führte mich mein gutes Geschick zuerst zusammen; in einem Wirtsgarten in der Stadt lernte ich an einem Sommerabend den langaufgeschossen schmächtigen Jüngling kennen – eben erst siebzehn Jahre alt, aber ein frühreifes Großstadtkind – und in der ersten Stunde gewann ich ihn lieb. Ihm erging es ebenso. Es ward im nächsten Winter eine Freundschaft daraus, wie ich keine zweite [56] mehr gefunden habe; es war die schönste Wahlverwandtschaft, mit immer nur erfrischenden Gegensätzen gesehniückt. Über dreißig Jahre schon lebt er nun nicht mehr, die rätselhaften Nervenleiden, die ihn schon damals ergriffen hatten, haben ihn früh ins Grab geschickt; wenn ich aber sein Bildnis sehe, von ihm selbst gemalt, das neben meinem Schreibtisch auf der Staffelei steht – eben schau' ich's an; die blauen Augen durchdringen mich, der zart rötliche Bart und die durchgeistigten Züge leuchten, von seinem geliebten roten Feß hängt die dunkelblaue Quaste in die schöngewölbte Stirn – wenn ich ihn so sehe, dann ist er doch wohl nicht tot. Eine künstlerisch begabte Freundin hat mir einen Rahmen um das Bild geformt, ihn mit Lorbeeren und Symbolen geziert; »Die Toten leben« steht darunter, der Titel einer meiner noch ungedruckten Bühnendichtungen. Ja, die Toten leben! Vierunddreißig Jahre werden's, seit er mir gestorben, und er lebt in mir allgegenwärtig wie ein Unsterblicher fort.
Gestatte man mir, ein paar Sätze aus der Biographie meines Hans hier zu wiederholen, die ich nach seinem Tode schrieb; wie wir in diesen ersten Zeiten miteinander lebten, davon geben sie in der Kürze ein getreues Bild. »Wir waren jung, überschwenglich, nach Unerhörtem dürstend, mein Gesundheitsübermut, den er neidlos trug, riß seine schwächere Lebenskraft mit fort; der steifen Berliner Sitte trotzend, langhaarig, in ungewohnten Kostümen trieben wir uns auf dem Eis, im Tiergarten, in den Straßen umher, oder erweiterten uns unsre engen Zimmer zu einer von Träumen und Hoffnungen erfüllten Welt. Mit stiller,[57] liebenswürdiger Verwunderung sah er mir zu, wenn ich etwa bei ihm eintretend, vom Überschuß der Jugendkraft umhergetrieben, in verrückter Laune mit dem Kopf gegen seine Wand fuhr; oder wir streckten uns in der Abendstille auf seinem Sofa, auf Stühlen, auf dem Fußboden aus, drückten die Augen ein, und den Gesang der verschiedensten Vögel sehr lieblich nachflötend täuschte er mich und sich in den Wald, in den Frühling, in ein Märchen hinaus.« Seine geheimnisvoll zarten, leichtverstörten Nerven, die im Lauf der Jahre wie dämonisch begabte Komödianten alle Rollen spielen sollten, hatten ihn zuerst augenkrank gemacht; der berühmte Gräfe hatte aber bald erkannt, daß das nur Nervenspuk sei, und bei möglichst gesunder Lebensweise war der Spuk vergangen. Um die Augen zu schonen, hatte Hans aber inzwischen die Schule verlassen und mit einem Privatlehrer hauptsächlich zoologische Studien betrieben, für die er Neigung und Begabung fühlte. Sein tiefstes Herz hatte er noch nicht entdeckt, sich noch nicht der Malerei ergeben, an der er später so selig-unselig sich verbluten sollte; er konnte aber doch schon ohne Kunst nicht leben, die in seinem Vaterhaus die Luft erfüllte. Wir gerieten auch in die Gesellschaft eines vielversprechenden Malers, Franz Meyerheim, der in der Folge hinter seinem jüngeren Bruder Paul zurückblieb und zuletzt in geistiger Umnachtung verging. Auch befreundeten und verbrüderten wir uns mit dem jungen Kunsthändler Amsler, der damals emporkam, dessen Name jetzt nur noch in der Kunsthandlungsfirma Amsler und Rudhart lebt. Amsler war eine nicht gewöhnliche [58] Mischung: Schweizer und Idealist; es tat ihm oft sozusagen körperlich weh, wenn er eines der schönsten, gehätscheltsten Kunstblätter verkauft hatte. Seine Stärke waren Kupferstiche, seine Liebe Madonnen; wir nannten ihn deshalb den Kupfergreis und Madonnenpietsch. Auch bei ihm hab' ich zuweilen nach sinnig heiteren Abenden übernachtet; das gefiel seiner Gemütlichkeit und meinem Zigeunersinn. Seine Wirtin war eine quecksilberne, noch jugendlich blühende Frau, die sieben Lungenentzündungen hinter sich hatte; sie erzählte es aber mit lachendem Mund. An wie vielen anderen sie sich seitdem noch verjüngt hat, hab' ich nicht erfahren.
Doch nun kam der Tag, an dem ich durch Friede Eggers auch das Ehepaar Franz und Klara Kugler kennen lernte; und bald begann für mich die poesievollste Zeit: das Mitleben in Frau Klaras Haus. Ihr Haus war es wohl zu nennen, ihre grundgütige Anmut und Holdseligkeit war die Sonne drin; der Gatte, in Arbeit aller Art vergraben, zeigte oft nur sein prächtiges, geistverklärtes Mondgesicht und verschwand dann wieder hinter seiner Wolke. Neben seinem rastlosen Schaffen hatte er als vortragender Rat im Kultusministerium die erste Stimme in allen Kunstangelegenheiten; vielleicht war dieses zehrende Doppelleben als Gelehrter und Beamter die Urquelle der Erkrankung, die ihn im nächsten Jahr so plötzlich und rasch dahinraffen sollte. Er erschien aber immer blühend, heiter, herzlich, mitgenießend, recht von Glück und Segen umringt. Eine bessere Gefährtin hätte er wohl auch in aller Welt nicht gefunden; Frau Klara, aus Romantik und Weltverstand, Warmherzigkeit und Tüchtigkeit [59] wundervoll gemischt, wandelnde Poesie, zur Liebe und zur Treue geschaffen, dazu von unvergänglicher Jugend und Schönheit, konnte nur beglücken. Mir jungem Fant, dem neuen Freund ihres Sohnes, kam sie in all ihrer schlichten Anmut mütterlich entgegen; und wie sie nur beglücken konnte, konnte man sie nur lieben; wie ich etwas später nach Hause schrieb: »Man liebt sie gleich, ohne das Übergangsmoment der Achtung.« Nach Jahren inniger Befreundung schrieb ich in einem Gedicht an sie:
Ja, ja, ein Vermächtnis, da sie – nun so lange schon, ebensolange wie ihr Benjamin – unter der Erde ruht. Sie hat mir nicht wie der Benjamin ihr Bild auf die Leinwand gemalt, aber ins Herz!
In diesem Haus lernte ich nun eine lange Reihe [60] begabter Männer aus der Kunstwelt kennen, alte und junge, berühmte und emporstrebende, für mich eine Welt. Von den älteren will ich hier nur den großen Adolf Menzel nennen, Hermann Weiß, den berufensten Kenner der Kostümkunde, die ArchitektenHitzig (Frau Klaras Bruder) und Strack, beide noch aus Schinkels Schule, beide sein, geschmackvoll, fruchtbar; nur die Siegessäule auf dem Königsplatz ist dem guten, unkriegerischen Strack leider nicht geglückt. Unter den jüngeren hatte Otto Roquette sich schon seinen Dichternamen gemacht,Fontane war noch so recht im Werden, mit seiner großen Zukunft noch unbekannt; als Kunsthistoriker blühte eben Lübke auf, Lucae als Architekt, Friedrich Eggers als Kunstschriftsteller und Herausgeber des »Deutschen Kunstblatts«, zu dessen Mitarbeitern er auch mich grünen Jungen einspannte. Diese alle lebten in guter Freundschaft miteinander, und wie das Kuglersche Haus wohl als ihr Hauptquartier gelten konnte, so stand auf ihrer Fahne: Humor. Sie dichteten, sie sangen, sie kalauerten Humor; sie entluden ihn auch besonders gern in Gelegenheitsgedichten, so bei Kuglerschen und anderen Festen. Das schönste Feuer und die blühendsten Einfälle hatte dann Theodor Fontane; auch sein schwungvoller Vortrag war siegreich, und seinem ausdrucksvoll mitredenden, schön niederhängenden Schnurrbart kam kein anderer gleich. Als Schauspieler – bei Kuglers ward auch Theater gespielt – war wohl Roquette den andern überlegen; auch Eggers stand seinen Mann, wie er denn auch Arien, Duette, Lieder aus älteren italienischen [61] oder deutschen Singspielen mit feinster humoristischer Grazie sang. Es gab ein gemeinsames Schlagwort unter diesen Freunden, um einander auf der Straße auf einen Vorübergehenden aufmerksam zu machen, der des Hinschauens wert war: »Look at him!« sagten sie rasch halblaut, oder »Look at her«, wenn's ein weibliches Wesen war. Daraus bildeten sie Eigenschaftswörter: wer geschwind angeschaut zu werden verdiente, war lookathimable oder lookatherable, je nach seinem Geschlecht. Und aus den Eigenschaftswörtern erwuchsen, unverkennbar organisch, dielookathimability und die lookatherability.
Daß zwei von ihnen, wenn auch in Deutschland geboren, von französischer Rasse waren: Fontane und Roquette, weiß ja jedermann; es stand ihnen auch ins Gesicht geschrieben, und der kleine Roquette, der lange Fontane zeigten es auch noch in der Art, wie ihr Körper lebte. Wunderlich aber und denkwürdig ist, wie diese beiden und mit ihnen der dritte Franzose unter unseren Dichtern, Chamisso, gar ein in Frankreich geborener, wie sie alle drei sich ins Allerdeutscheste hineingedichtet haben: Roquette in »Waldmeisters Brautfahrt«, Fontane in seinen preußischen Heldenliedern (die »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« nicht zu vergessen), Chamisso in »Frauen-Liebe und Leben«, das in jedem deutschen Mädchenherzen neu geboren wird. Bedenkt man das, so sollte man meinen, daß die »Rasse« viel weniger bedeutet, als man gemeiniglich annimmt, und viel leicht das Wichtigere die Umgebung ist. Oderhätte in diesen Dichterseelen altes fränkisches, deutsches Blut gelebt, das durch alle Verwelschung [62] hindurch einen Teil seiner magischen Rassenkraft behalten und in deutscher Luft frisch entfaltet hätte?
Im Sommer dieses Jahres 1857 hatte ich mein Zimmer am Tierarzneischulgarten allein bewohnt; im Herbst, für das Wintersemester, brachte ich meinen älteren Bruder Heinrich mit, der als Studiosus der Medizin dem letzten Examen entgegenging und den ich bei der Finanzkraft meiner Stipendia einladen konnte, diesen Winter mein Gast zu sein. Das Zimmer ließ sich ohne Schwierigkeit dehnen: unter mein Bett ward eine Matratze geschoben, die man am Abend hervorzog und auf der ich schlief. Mein Bruder, einer der liebenswürdigsten Menschen, war der beste Stubenkamerad, den ich wünschen konnte; dazu sang er gern, und ich hörte ihn gern; auch brachte er eine Gitarre mit, auf der er seinen warmherzigen Vortrag stimmungsvoll begleitete, und die uns das häusliche Klavier angenehm ersetzte. Später fiel uns ein, zusammen zu singen, was im Grunde ruchlos war, da meine Stimme und meine Kunst so tief unter der seinen standen; wir halfen uns durch studentischen Unsinn, indem ich im Baß die Melodie, er in seinem edelweichen Bariton die zweite Stimme sang.
Er besuchte die Kliniken der großen Meister und lernte viel; einmal verlockte er mich, mit dabei zu sein, es ging aber fast übel aus, und das Wort »übel« muß man wörtlich nehmen. Die Vorstellung fand unglücklicherweise gleich nach Tische statt; oben auf der Höhe eines menschengefüllten Trichters saß ich neben ihm und sah auf einen halberwachsenen Jungen hinab, der da unten lag, gründlich operiert ward und im Chloroform- [63] oder Ätherrausch burlesk-kannibalisch stöhnte. Die jungen Mediziner hörten nur dasBurleske, die Korona im Trichter lachte heiter; ich aber, in dieser dunstig dicken Luft, nach Tisch, das ungewohnte Bild da unten in den heißen Augen, das Gelächter im Ohr, bekam ein so seekrankes Gefühl, daß ich leise aufstand, meinem Bruder zunickte und verschwand. Ich kann nicht sagen, wie viel besser mir draußen wurde. Dann doch noch lieber den »Faust« im Königlichen Schauspielhaus! dacht' ich; und die Lehrsäle der großen Chirurgen hab' ich nie mehr betreten.
Wie brüderlich wir übrigens lebten, zeigt wohl folgender Fall, in dem mir Bruder Heinrich seine Hälfte unseres Fracks zur Verfügung stellte, damit ich Fräulein Jeannette Baeyers Hausball mit meiner Gegenwart schmücken könnte, wie von mir verlangt ward. Jeannette oder Nette war die Tochter des gelehrten Generals Baeyer, des Begründers der europäischen Gradmessung, und Nichte der Frau Klara Kugler; die beiden Familien wohnten in demselben Haus, Kuglers oben, Baeyers unten. Sie taten sich zusammen, als die achtzehnjährige Nette ihren ersten Ball geben sollte: oben ward getanzt, unten ward gegessen; und zu beidem ward auch ich befohlen, obgleich ich noch nicht meine Pflicht erfüllt, mich in die schöne und kluge Nichte noch durchaus nicht verliebt hatte. »Frau Klara,« sagte ich, »Sie verlangen Unmögliches! Ich bin kein Tänzer, ich mochte nie, hab' es nie gelernt, werd' es niemals lernen.« – »Tanzen Sie denn gar nicht?« – »Wie ein Turner, aber nicht wie ein Mensch!« – »Das tut nichts,« sagte Frau [64] Kugler mild (»Du bist wie eine milde Sternennacht«, hatte Franz Kugler sie als Bräutigam angedichtet); »Sie tanzen so gut Sie können und so viel Sie mögen. Sie können ja auch wohl einmal zum Plaudern engagieren. Haben Sie einen Frack?« – »O ja,« sagte ich stolz, »wir haben einen Frack; mein Bruder und ich zusammen. Da fehlt nichts. Aber eine ballmäßige Weste fehlt, und eine tanzfähige Krawatte.« – »Das leiht Ihnen mein Mann,« fiel mir Frau Klara ins Wort. »Wir werden Sie schon ausstatten. Kommen Sie gewiß!«
So war denn Nette Baeyers erster Ball auch der meine; ich bot meinen besten Galgenhumor auf und tat meine Pflicht. Ich sang Beethovens Adelaide, mein Lieblingslied, während nebenan Emilie, die Tochter meines Wirts, mir ein frisches Hemd bügelte; ich kleidete mich an und sang Figaros »Da, wo Lanzen und Schwerter schimmern«; ich fuhr in den Brüderfrack und rollte zum Trauerhaus. Zu Kuglers hinaufgestiegen, empfing ich von der Hausfrau Weste und Jabot, vollendete meine Ballrüstung und stürzte mich in den Saal der Gefahr. Die kleine Tanzkarte in der Hand (bei Gott, ich habe sie noch), suchte ich unter all den jungen Huldinnen die mir anempfohlenen edelsten und gediegensten auf, schilderte ihnen mit frecher Beredsamkeit die Vorzüge des Plauderns vor dem Tanzen, des Geistes vor dem Beinewerfen, ließ all meine verrückten Humore los (in denen Haus Kugler und ich damals Schreckliches leisteten), und hatte mehr Erfolg, als ich in all meinem Wagemut erhofft hatte. Während Haus der reizenden Agnes M., der Freundin seiner [65] Cousine, »Engel des Lichts« zuflüsterte, unterhielt ich mich mit meinen Tänzerinnen auf den schönsten Sesseln über »alles was Menschenbegehr«, sprach plötzliche Gedichte in Prosa mit und ohne Sinn, und sah zu, wie die Welt sich dreht. Meine Tänzerinnen nahmen mich hin, wie vom Mond gefallen. Ich wirkte, wie ein Unikum wirkt. Zuweilen wagte ich einen pflichtschuldigen Tanzversuch, etwa Zweitritt statt Walzer – auch vor Galopp und Polka fürchtete ich mich nicht – und kehrte nach einigen unerschrockenen Runden zur Unterhaltung zurück. Die holde Tante und die liebenswürdige Nichte stärkten mich dann und wann durch ein gutes Wort oder einen beifälligen Blick. Als endlich die Zeit des festlichen Mahls gekommen war, wanderte ich von Tisch zu Tisch, hier und da lustig angerufen, und schon ohne Wein im Rausch der Jugend, hielt ich Reden, Trinksprüche – Gott sei Dank, niemand weiß mehr, wie! Brächen sie jetzt plötzlich aus einem Grammophon hervor, ich möchte wohl vor Entsetzen in die Erde sinken.
Nun, auch das war Werdezeit. Bei Tag lebte ich dann wieder in den Tag hinein, den hell nüchternen, studierte Philosophie oder Kunst, schrieb meine ersten kleinen Versuche für Friede Eggers' Kunstblatt, ward von Paul Heyse aus der Ferne eingeladen, auch für sein eben übernommenes Literaturblatt zu schreiben; und hoffte, noch eine Weile in Berlin mein schön gemischtes Leben zu führen, statt, wie ich sonst gern geträumt, die akademischen Lehrjahre in der Hauptstadt Süddeutschlands, München, zu beschließen.
Der Mensch denkt, der Mann mit der Sense lenkt. Kaum saß ich in Rostock, für die Osterferien heimgegangen, [66] als, wie eine Bombe über den Berg, ein Brief von Hans Kugler kam: sein Vater nach kurzer Krankheit tot! Und nicht lange danach kam ein zweiter: wir Überlebenden bleiben nicht in Berlin, wir ziehen fort, nach München, zur Schwester, zum Schwager und zu ihren Kindern. Komm du auch! Komm mit! Du hattest es ja vordem gewollt. Laß nun unseren Schicksalsruf auch den deinen sein!
Ich zauderte nicht lange. Mir war, als zöge Berlin nach München, da mein Hans und Frau Klara zogen. Und wie vor einem Jahr alles in mir gerufen hatte: Auf nach Berlin! so rief's nun: Nach München!
[67]Als ich im Frühling 1858 nach München übersiedelte, kam ich wie der Gott Janus mit zwei Gesichtern: das eine sah in das Halbvergangene zurück und hieß noch Student, das andere blickte voraus in meine journalistische Zukunft und hieß Mitredakteur des »Deutschen Kunstblatts«. Friedrich Eggers, der die Last allein nicht trug, hatte mich beredet, sein ungenannter Unterredakteur zu werden; ein etwas voreiliges Amt für einen zwanzigjährigen Studiosus der Jurisprudenz, der nach München ging, um bei Heinrich von Sybel Geschichte zu studieren. Denn dazu hatte mich ein anderer beredet, sehr zu meinem Besten: Franz Kuglers älterer Sohn Bernhard, der im vergangenen Winter heimgekommen war, um sich von einer schweren Krankheit gründlich zu erholen, und mit dem ich mich gleichfalls eng befreundet hatte. Mit ihm und seinem Bruder Hans fuhr ich nun nach dem Süden – die verwitwete Mutter war schon voraus – und stürzte mich leichten Sinnes in mein Doppelleben, das ich junger Übermut gern noch durch allerlei Anbauten zu einem Universalgebäude erweitert hätte.
[68] Da saß ich deni; in meiner Luisenstraße – derselben, in der Heyses und Kuglers wohnten – und schaute frei und weit, ohne Gegenüber, in die bayrische Hauptstadt hinein. Hatte mich in Berlin der schöne, große, hochwipselige Garten der Tierarzneischule durch seine grüne Stille erquickt, so lag hier eine Welt vor mir: zunächst große, reichbepflanzte Flächen, zumal der Botanische Garten mit dem Glaspalast; dann zur Linken die säulengeschmückte Bonifaziuskirche, den altchristlichen Basiliken nachgebaut; geradeaus ein reichbetürmtes Stadtbild, alles überragend die mächtigen, wunderlich aber wirksam abgerundeten Türme der Frauenkirche, das alte Wahrzeichen der Stadt. Wie die Augen hatten auch dieOhren ihr Teil: früh morgens, wenn kaum der Hahn dreimal gekräht hatte, zog bayrisches Kriegsvolk die Karlstraße herauf, zum Marsfeld hinaus, mit klingendem Spiel; bald hoben auch die mir noch neuen katholischen, hellen Glocken an, und an festlichen oder nachfestlichen Tagen fiel von der Basilika die Orgel ein und mit ihr der wohlklingende Knabenchor. An den Werkeltagen begann dafür die Musik des Verkehrs, die halbgesungenen Lockrufe der »Haderlumpen«, des »Sagklein«, der Besen, Früchte, Gemüse; ein Scherenschleifer pflanzte sich etwa an der Ecke, unter unsern Fenstern ein Holzsäger auf. Und am Abend, nach dem Nachtgebet der Kirchenglocken, kam von nah und fern aus den Gärten Volks- und Biermusik, die mich wohl endlich in Schlaf lullte, wie mich als Knaben die Spieldose meiner Warnemünder Großtante lieblich eingeschläfert hatte.
Wollte ich aber Menschen sehn, so hatte ich ein paar Häuser weiter zur Rechten das junge Heysesche Glück, [69] links die arme Frau Klara mit ihren Söhnen; diese grundholde Frau, die nun vollends in ihrem unendlichen Gram bewährte, wie tief in ihr die Holdseligkeit eingewurzelt saß. Sie hatte mit ihrem Gatten das reinste Eheglück verloren; aber mit der wunderbaren Kraft, die sich aus der edelsten Rücksicht auf die glücklicheren andern nährt, wandelte die kleine, zarte, trauerschwarze Gestalt unter uns wie ein Bild der Menschenliebe, des Mitwollens umher und veredelte uns nur das Lebensgefühl, verdüsterte es nicht. Jeder litt mit ihr, jeder suchte ihre Stunden, ihre Tage ein wenig zu erleichtern, und jeder segnete sich, daß sie da war, in all ihrer Umwölktheit doch ein Sonnenlicht. Damals hab' ich gelernt, was für ein Wunderwerk ein wahrer Mensch ist. Von dieser Frau hatte wohl Hans Kugler die unerschöpfliche, noch in der letzten Stunde bewährte höchste Liebenswürdigkeit geerbt, die in all seinen Leiden nicht von ihm ließ, seinen herzerquickenden Humor immer wieder aus der Quelle des Zartgefühls tränkte, durch Liebessinn vergoldete, und aus seinen seltenen Klagen gleichsam Lieder machte, mit denen ein ferner, wehmütiger Gesang uns rührt, das Tragische der Welt in uns feierlich erweckend.
Rechts lernte ich denn nun auch den Frühling kennen, der sich den Herbst nachgezogen hatte: Paul und Grete Heyse und ihre beiden ersten Kinder, Franz und Lulu. Paul Heyse strahlte damals in einer ersten Blüte, die kaum mehr zu überbieten war; eben achtundzwanzig alt und schon von Ruhm und Erfolg gekrönt, in einer jungen Ehe voll Liebe, Eintracht und Glück, schön, gesund, rastlos fruchtbar, und mit Mutterwitz [70] und Humor so reich ausgerüstet, daß er auch Berge von Unglück überstiegen hätte. Sein von langem, schön fallendem Haar umflossener Kopf war ein Dichterkopf; und wie die vordringenden Augen leuchteten, so tönte sein Tenor, so flutete seine Rede, in der jeder, der Ohren hatte, den Poeten hörte. Es war wie angeborene, selbstverständliche Beredsamkeit; und was er an dem Philosophen Vischer, dem Schwaben, bewunderte, war auch ihm schon gegeben: die Schnellfertigkeit des klaren, kristallhellen Gedankens, den dann sofort das glücklich gefundene Bild zu voller Lebenswärme ergänzte. Auf spaßhaft dramatische Weise lernte ich ihn kennen: ich hatte ihn noch nicht (oder einen Augenblick) gesehn und sprach mit seiner Frau, während er nebenan tief in Arbeit steckte; da hörten wir seine Tür zum Vorplatz aufgehn, eine fremde Stimme, und dann Paul Heyses kraftvoll herzlichen Tenor: »Ah! Wie freu' ich mich, dich 'mal wiederzusehn! – Ich hab' gar keine Zeit!« Diese beiden Sätze, so unmittelbar nacheinander gesprochen – und gleich herzlich beide – – ei, das ist genial! dachte ich. So spricht kein Mensch und so sollte jeder sprechen! – Frau Grete und ich sahen uns an und lachten oder lächelten. Der Besuch nebenan war bald zu Ende; ich glaube, der Fremdling ward zu Tisch gebeten. Nach einer Weile erschien dann Paul bei uns, und wie wenn ich nun schon zum Hause gehörte, begann wunderbar schnell die Freundschaft zwischen dem jungen Paar und mir, die aus Kuglers, Heyses und »Ati« (statt Adolf) gleichsam eine Familie machte; das eigentliche Paradies meiner Werdezeit.
Grete Heyse erinnerte wenig an ihre Mutter,[71] sie war ein Wesen ganz für sich; nicht so anmutsvoll, nicht so schön, aber von so edlem, tiefem Reiz und von so vollkommener Wahrhaftigkeit und Reinheit, daß es mir schon ein holdes Gefühl ist, nur an sie zu denken. Fernstehenden Frauen, zumal süddeutschen, konnte sie als hochmütig oder kühl erscheinen, und doch war sie völlig das Gegenteil; es lag aber nicht in ihr, sich leicht anzuschließen, und umgekehrt wie die Sonne, die ihre Wärme verschwendend rings in den Äther ausstrahlt, gab sie fast alles den Nächsten hin; denen aber endlos. Es war viel keuscheste Poesie in ihr. Dieses schöne Leben sollte früh zu Grabe gehn; als ihr viertes Kind in der Wiege lag – vielleicht waren die vier zu rasch gekommen – ward sie von unaufhaltsamer Schwindsucht ergriffen und schon 1862, in Meran, den Ihrigen entrissen.
Als das akademische Semester begonnen hatte, stieß aus Rostock ein Kamerad zu mir: der Verlobte meiner Schwester Luise, Friedrich Strempel, der nun für längere Zeit mein Gefährte ward, um seine (durch Familienschicksale unterbrochenen) akademischen Studien zu vollenden und dann in meiner und seiner Vaterstadt als Oberlehrer sein Haus zu gründen. Er kam aus akademischer Luft, sein Vater war Professor der Chirurgie, sein Oheim unser Rostocker Botaniker; zugleich ein Humorist voll heiterer Einfälle; so hatte er einmal, als mein Vater am schwarzen Brett der Universität angezeigt hatte, daß er »heute wegen Heiserkeit nicht lesen« könne, von dem Buchstaben s in»Heiserkeit« die untere Hälfte wegradiert und den Rest zum t gemacht. So kühn waren meines zukünftigen Schwagers Humore nicht, aber sie hatten auch volles Mecklenburger [72] Maß; wir verstanden und vertrugen uns daher unerschöpflich gut. Er war ein vor allem mathematischer Kopf, aber von einer Lern- und Leselust ohne Grenzen; in diesen Münchener Zeiten las er fast alles mit, was ich mir zusammentrug, es mochte Geschichte oder Kunst oder Literatur oder Philosophisches sein. Das Mathematische seines Denkens zeigte sich wohl auch praktisch im Rätselraten; bei einem Pfingstausflug ins nahe Gebirg, den er und ich mit Paul Heyse machten und der tragikomisch verregnete, vertrieben Paul und ich uns zuletzt die Zeit mit unendlichem Rätseldichten; Friedrich Strempel, seine klugen Augen durch die Brille in die triefenden Wolken bohrend, löste auch die verriegeltsten Rätsel, er löste alle.
Inzwischen hatte ich mich Arm in Arm mit Beruyard Kugler in das Studium der Geschichte gestürzt und in Heinrich von Sybel den Meister gefunden, den ich brauchte. Mein Hauptzweck war, die neue kritische Methode zu lernen, mit der die Geschichtsforschung die alte, treuherzige Art, den Wert der Überlieferungen sozusagen durch das Gefühl abzuschätzen, gründlich abgetan und durch sorgfältigste Ausgrabung und Untersuchung der Urquellen ersetzt hatte. Hier konnte es für mich keinen besseren Führer geben als Sybel, der mit sicherster Handhabung der Methode die Kunst des Darstellers und einen vornehmen, anregenden, fruchtbaren Geist verband. Er hatte soeben erst in München das historische Seminar, das erste in Deutschland, begründet; was er uns hier lehrte, hatte er schon mit vierundzwanzig Jahren in seiner Geschichte des ersten Kreuzzugs aufs glänzendste bewährt. Die innere [73] Unruhe und Beweglichkeit, die ihn zu immer neuen Unternehmungen trieb (zunächst sollte er 1859 die »Historische Zeitschrift« gründen), arbeitete auch in seinem geistreichen Gesicht, spielte um die Lippen und in der ganzen Gestalt. So sah man denn wohl auch die Freude, das Bedürfnis, auf die Jugend zu wirken, sie mit seinem Geist zu erfüllen, ihr Aufgaben zu stellen, an denen sie sich stärken und bewähren konnte. Mir kam er rasch und herzlich entgegen, und ich, der ich wie ein rechter Jüngling am liebsten ins Allgemeinste ging und schon von einer »philosophischen Weltgeschichte« träumte, ließ mich von einem Meister wie Sybel doch gern mit einer Seminararbeit betrauen, die im engsten blieb: Kritik Gottfried Hagens und seiner Kölner Reimchronik (dreizehntes Jahrhundert), insbesondere Feststellung seiner Chronologie und was sich etwa daraus ergab. Ich arbeitete mich mit all meinem Ungestüm hinein, hatte das Glück, eine sonderbare Verwirrung des Textes zu entdecken und aufzulösen, und gewann mir den ersten Preis (fünfzig bayrische Gulden); Anfang und Ende meiner Laufbahn als politischer Historiker.
Daneben trieb ich mein Handwerk als Redakteur des »Deutschen Kunstblatts«, warb und schrieb' dafür (viel zu früh!), lernte helfend von Paul Heyse, der mich die Druckbogen seiner neuesten Dichtung kritisch mitlesen ließ, stürzte mich in die große historische Kunstausstellung, die in diesem Sommer im Glaspalast eröffnet ward, suchte sehen zu lernen und die jungen Augen mit Verstand zu füllen. Luft und Kraft waren da; meine Gesundheit wuchs noch immer, und mit ihr mein Arbeitstrieb. »Es ist nichts ungesunder, als krank [74] sein,« war mein Losungswort, das ich nach Hause schrieb; und ich meldete auch: »Unsre Heiterkeit ist bodenlos wie das Atlantische Meer!«
Die Zeit, das zu bewähren, kam, als das Semester zu Ende ging und wir Studenten den vorausgereisten Frauen und Kindern nachzogen, in die »Sommerfrische« über dem Isartal. Ebenhausen heißt der kleine Ort, damals noch ohne Eisenbahn; in einer erhöht freistehenden Villa, dem »Schlößl«, wohnten wir alle und nur wir, Kuglers, Heyses, eine neue junge Freundin: Fräulein Lotte Pochhammer, mein Schwager und ich. Der Schwager entwich indessen bald, von seinem Rostocker Magneten fortgezogen; dafür kamen Friedrich Eggers, auf Wochen (er hatte mich schon lange in München besucht), und Professor Bernhard Windscheid, auch ein neuer Freund; Platz war für alle. Von unserm grünen Hügel schauten wir weit ins Land hinein; die Isar rauschte ungehört in der Tiefe, im Süden leuchtete oder dämmerte die lange wellige Mauer des Gebirgs, so lockend wie »die Ferne blauer Berge« in Goethes herrlichem Spätgedicht.
Diese meine erste Sommerfrische kam sogleich dem Ideal am nächsten; poetischer, lebendiger und unterhaltender hab' ich wohl nicht eine erlebt. In allen Ecken des Hauses verteilt und jeder ganz nach Wunsch für sich, waren wir doch wie eine Familie, die den besten Willen und die mannigfachsten Talente hatte, die Tage mit schönem Inhalt zu füllen. Der Saal zu ebener Erde gehörte allen; hier ward gezeichnet (Paul Heyse, Grete, Hans, Lotte Pochhammer trieben es mit Eifer, nie war man vor ihrer Porträtierwut sicher), [75] hier ward gesungen, gespielt, mit den reizenden Kindern getollt, Königskuchen und andre kulinarische Kunstwerke wetteifernd geschaffen; hier ward die Luft mit allen Humoren gesättigt, die derselbe Wetteifer aus so vielen leichterregten Köpfen hervortrieb. War das Wetter gut, so lebten wir natürlich im Garten, oder wanderten weit ins Land; schöne Spazierwege gab's genug. Die tägliche Wanderung zum Wirtshaus, das am Fuß unsres Hügels lag, störte die gute Laune nicht, sie kochten, brieten und backten dort gute Dinge, und die allerliebste junge Pepi, die Wirtstochter, war eine Künstlerin in »Windnudeln«, an die (die Windnudeln mein' ich) ich mein Herz verlor. Sonst war für die jungen Herzen durch Lotte Pochhammer gesorgt; sie, unsre einzige Unvermählte, Berlinerin voll Berliner Humor, Malerin, Sängerin, Klavierkünstlerin, so geschwind mit uns befreundet, wie sich in Ebenhausen alles begab, sie hatte bald die drei Jünglinge, Bernhard, Hans und mich, als Chor der »Huldijungen« um sich, wie Paul Heyse uns mit einem seiner ungezählten Wortspiele benannte.
Als diesen unsern Patriarchen (denn Windscheid und Eggers waren noch nicht gekommen) eine Erkrankung seiner Mutter für eine Weile hinwegrief, so versuchte ich, ein übriges zu tun, um das Haus zu erheitern; ich gründete eine Zeitschrift, »Unterhaltungen am Rande des Blödsinns«, wie Gutzkow damals seine »Unterhaltungen am häuslichen Herd« herausgab. Ich warb um Beiträge, schrieb das meiste selbst; der Erfolg war günstig, das Blatt machte seinem Namen keine Schande, wirkte, wie es sollte. Ich unternahm ein zweites, [76] größeres Werk; eine durchgereiste »Dichterin« (laßt mich sie »Agnes Gans« nennen) hatte einen Band halbverrückter Novellen geschickt, an denen die Kolonie sich so ergötzt hatte, daß ihr der Gedanke gekommen war, die tollste zu dramatisieren und zu Pauls Wiederkehr mit beweglichen Puppen aufzuführen. Ich erbot mich, den Text zu schreiben; Frau Grete und Hans übernahmen, die Puppen zu zeichnen, und Fräulein Lotte, sie anzumalen. Das fünfaktige Schauspiel war schnell entworfen, dann in wenigen Tagen ausgeführt; es hielt sich immer am Rande des Blödsinns, jeder fertige Akt ward vorgelesen und fand ein dankbares Publikum. Unterdessen arbeiteten die andern an den Darstellern; als ich den Schluß vorgetragen hatte, ward auch die Puppenschöpfung beendet, und während der rastlos emsige Hans das ganze Personal auf Pappe klebte, blieben wir alle bis lange nach Mitternacht beisammen, alle Lieder der deutschen Sprache heruntersingend und von einer Künstlerlustigkeit erfüllt, an der die ahnungslose Dichterin größten Anteil hatte.
Am Sonntag, nach Paul Heyses Heimkehr, erfolgte dann die Aufführung. Auch ein paar Freunde Pauls waren angekommen, zu kurzem Besuch; man traute ihnen genug unschuldigen Humors zu, so einen Theaterabend mit Verständnis zu genießen, und vor einer Nische unseres Saals, die ein Vorhang abtrennte, saßen sie mit Paul und den Seinen als Publikum. Während Bernhard und Hans die Darsteller mit vieler Kunst agieren ließen, lasen Lotte und ich aus der einzigen Schrift die geteilten Rollen vor; es glückte aber alles. Der Erfolg war glänzend. Das Überraschendste[77] aber, wenigstens für mich, war der Schluß: als ich als Verfasser gerufen wurde und mit Mühe durch den Nischenvorhang herauskam, eilte Frau Grete auf mich zu und drückte mir einen ungeheuren Buchenkranz, der mit – Windnudeln besetzt war, auf den Kopf. Ich brach kniend zusammen; schnell teilte sie aber einige Zettel aus, und nach der Melodie der preußischen Nationalhymne, deren Text sie aufs liebenswürdigste umgedichtet hatte, sang die ganze Gesellschaft:
Die noch folgenden Strophen verschweige ich. Von so viel Ehre und Liebe betäubt, schüttelte ich das bekränzte Haupt. Meine überlangen Haare konnt' ich nicht mehr schütteln: eine Woche früher waren sie in demselben Saal unter Frau Klaras kunstfertigen Händen, bei feierlicher Heiterkeit der zuschauenden Kolonie gefallen.
Wie sehr sich mittlerweile der Stil dieser Kolonie selbständig entwickelt, das heißt: in eine Art von Rotwelsch verwandelt hatte, das zeigte sich, als der heimgekommene Paul schon einige Mühe hatte, sich in unser Deutsch wieder einzuleben; als zwei Wochen später Bernhard Windscheid kam, war die Entartung so weit vorgeschritten, daß er nach vielfachem [78] Sichverwundern, Horchen und Kopfschütteln endlich fast empört in die Worte ausbrach: »Aber verzeiht, ich versteh' euch nicht!« und ihm die Unterhaltungen am Rande des Blödsinns vorgelesen wurden, um ihn dieser närrischen Gesellschaft schneller anzuheimeln. Windscheid, Sybels Düsseldorfer Landsmann, der später so berühmt gewordene, große Pandektist, seit einem Jahr Professor in München, hatte sich mit Heyses befreundet und durch sie Fräulein Lotte Pochhammer kennen gelernt; daß ihn vor allem dieses Mitglied unserer Kolonie nach Ebenhausen zog, merkten wir wohl bald. Er schloß sich aber unsallen, auch den jüngsten, trotz seiner einundvierzig Jahre mit liebenswürdigster Herzlichkeit an; höchst interessant und sein gemischt wie sein Wesen war, aus tiefstem sittlichen und wissenschaftlichen Ernst, reinstem Herzensadel, unermüdlichem Spür- und Denkersinn und einer rheinländischen, geistdurchwehten Heiterkeit, die jeden Humor verstand, den edelsten Salat mit Künstlerhänden bereitete und ein unscheinbar »suer Wienke« von Moselreben ebenso zu würdigen wußte wie das vornehmste Rheingauerblut. Er hatte sich nun auch an die Ritornellenwut zu gewöhnen, die in unsrer Kolonie ausgebrochen und an der ich schuld war. Wie diese italienischen Dreizeilen, die man so leicht improvisiert, gern mit einem Frucht- oder Blumennamen beginnen, auf den sich dann, mit oder ohne Zusammenhang, ein kleiner Gedanke, Gefühlshauch oder Seufzer reimt, so hatte ich mir scherzweise erlaubt, zum Anfang einen bayrischen Speise namen oder dem Verwandtes zu nehmen, zum Beispiel Windnudeln, Weichselstrudel, [79] und dann umzudrehn, wie in folgender Erklärung meiner Bruderliebe an die schwesterlich erwidernde
In der Ebenhäuser Luft steckte alles sinnig Unsinnige an. Nachdem ich eines Morgens im Gras, am Wald, ein halbes Dutzend solcher Ritornelle gedichtet und, frisch wie sie entstanden, den daneben Zeichnenden vorgelesen hatte, ward eine allgemeine wilde Jagd auf Ritornelle daraus. Paul ergriff es zuerst, Eggers (der inzwischen gekommen war), Hans und Lotte folgten. Geschont ward natürlich niemand und verschwiegen nichts; wie in dem Dreizeiler von Hans an Lotte Pochhammer:
Oder Lottens Klage, als sie sich von Paul einen Bleistift geliehen hatte (hier ist der Anfang vielleicht nicht getreu):
[80] Auch diese Epidemie erlosch endlich, wie alle. Paul und ich hatten aber etwas anderes entdeckt: daß in den Gesprächen lebhafter Menschen viel öfter, als man glaubt und bemerkt, vollkommener Unsinn gesprochen wird, der ungenossen vorübergeht, weil die Geister zu sehr beschäftigt sind. Paul fing an, dergleichen schweigend und wo möglich unbeachtet in sein Taschenbuch zu schreiben; dann, zu anderer Zeit, las er es der Gesellschaft vor, und es staunten alle, daß sie darüber hinweggehört hatten. So war Frau Grete einmal, zwischen Scherz und Ernst, in die Worte ausgebrochen: »Reize meine schon so lange niedergekämpfte Schonung nicht noch mehr!« Ein andermal hatte Bernhard in einem nachdenklichen Gespräch bemerkt: »Schlafen ist das einzige, was man allein tun kann.« Wie Paul begann auch ich solche »Apophthegmata hervorragender Männer und Frauen« zu sammeln, und auch das ergab manche unerwartete Heiterkeit.
Indessen sollte diese Sommerfrische auch noch einedleres Ergebnis haben: nach elektrischer Spannung und dramatischer Verwicklung eine beglückende Lösung, zu der die ganze Kolonie Heil und Segen rief. Bernhard Windscheid und Lotte hatten sich schon in München füreinander erwärmt, eine ernste Neigung war im Werden; als nun aber Windscheid kam, sah er das Bruder- und Schwesterspiel, das sich zwischen Lotte und mir in aller Ebenhäuser Zigeunerunschuld entwickelt hatte, und in einer Art von Eifersucht zog er sich zurück. Lotte, die Verfasserin geist-und seelenvoller Königskuchen, hatte uns auch eine ihrer vielgerühmten Fruchtspeisen versprochen; in der Vorfreude [81] darauf, als »Musteresser« der Kolonie, hatte ich bei einem Pfänderspiel, als ich an das am meisten geliebte Mitglied der Gesellschaft ein Ritornell machen sollte, unverzagt gedichtet:
Am Tag darauf, an meinem Geburtstag – der durch unzählige Gaben und eine von Paul redigierte Festnummer der »Unterhaltungen am Rande des Blödsinns«, auch durch einundzwanzig Ritornelle (die Zahl meiner Jahre) gefeiert wurde – prangte eine ungeheure Fruchtspeise, Lottens Werk, auf dem Geburtstagstisch. Zu einem Efeukranz aber, den sie auf einen Aschenbecher gemalt, hatte sie gedichtet:
So stand es, als Windscheid in Ebenhausen erschien; aus solchen und ähnlichen Anzeichen einer völlig harmlosen Zuneigung baute sich seine Eifersucht, wie sie's immer tut, ein Hindernis seines Glücks. Lotte ihrerseits, mit ihrem tiefen Gefühl für ihn jungfräulich kämpfend, verdoppelte gern ihre Herzlichkeit und ihre Aufmerksamkeit für uns »Huldijungen«; wir andern verkannten keinen Augenblick, aus welcher Quelle das kam, den Liebenden führte es irre. In uns erwuchs eine schnell sich steigernde Ungeduld: wann endet das nach dem Willen der Natur? Der September kam, das schönste Wetter; eine Wanderung in die Berge war [82] längst geplant; auf, auf! hieß es jetzt. »Die Verlobungsreise!« So nannten wir an dern sie unter uns; so hofften und sannen wir, helfend Schicksal zu machen. Zu Fuß und zu Wagen zogen wir über Wolfratshausen nach Königsdorf, am zweiten Tag nach Bichel und zum Kochelsee. Unterwegs faßte sich Paul ein Herz, da die Schwüle nicht schwand, und flößte dem Professor in diplomatischem Gespräch die Aufklärung ein, daß jenes Bruder- und Schwesterspiel nichts zu sagen habe. Dann vorwärts, vom Kochelsee auf der alten Fahrstraße den Kesselberg hinan, zum hochliegenden Walchensee! Wir andern so geschwind wie möglich voraus, um Bernhard und Lotte allein zu lassen; die zarte Frau Klara ward von uns geschoben, wo die Straße steil ist. Endlich war's erreicht. Die beiden, langsamer folgend, blieben zu kurzer Rast vor dem Denkstein stehen, der auf halber Höhe, in der rissigen Felswand, den Erbauer der Straße (1492) und Herzog Albrecht den Weisen rühmt. Hier sprach er und sie gab ihr Ja.
Etwas anders steht es in der gereimten Beschreibung Pauls, in der Hochzeitsnummer (zugleich der letzten) unserer »Unterhaltungen«, mit der wir im November desselben Jahres die Vermählung der Liebenden feierten, der mithelfenden Ebenhäuser Tage froh und stolz gedenkend. Der Dichter, nachdem er die Felsrast und Bernhards Frage geschildert, singt weiter:
In diesem gesegneten Sommer und Herbst 1858 sollte ich nun auch den bayrischen Stamm in seiner warmblütigen und poesiereichen Eigenart vielfach kennen lernen, wie ich mir's gewünscht; und so wenig damals die allgemeine Stimmung uns Norddeutschen günstig war, ich persönlich habe meine bayrischen Landsleute zumeist in ihrer liebenswürdigen Sonnigkeit gesehn. Es begann eine Reihe von Festen, das erste bald nach unsrer »Verlobungsreise«, als wir wieder im Schlößt wohnten: das landwirtschaftliche Bezirksfest in dem sehr hübsch gelegenen Marktflecken Wolfratshausen, an der Isar aufwärts. An diesem Fest war mir neu und gefiel mir sehr, daß die sich beteiligenden Gemeinden und Ortschaften, zur Kundgebung besonderer Fertigkeiten und erfinderischen Ehrgeizes, je einen Wagen ausrüsten, verzieren und in eine Art von Lebensbild umzutäuschen suchen. Das hatten wir schon an dem Fuhrwerk gesehn, das unser Ebenhausen in Gemeinschaft mit Neufahrn und Unterschäftlarn gerüstet hatte: ein mächtiger Wagenbau war gezimmert, ohne Seitenwände gelassen, und auf breiter [84] Bretterlage eine Sennhütte naturgetreu aufgebaut; ein Vorplatz bedeutete ein Stück der Alm, ein kleiner Brunnen floß, alles war dem Leben zierlich nachgebildet. Oben aber erhob sich eine gewaltige Krone aus Laub und Blumen, und Gewinde schlangen sich überall herum. Eine Menge geschmückter Kühe sollte das Gefährt begleiten und mit gewaltigen Glocken (die zum Teil nichts anderes als Kessel waren) ein weithinschallendes Konzert aufführen; auch hatte man einen wahrhaft mephitisch duftenden Geißbock aufgetrieben, der mit seinen ungeheuren Hörnern die Wirkung vollenden sollte.
Neugierig waren wir also schon zur Genüge; und am Sonntagmorgen zogen wir Männer beizeiten hinaus, um nichts zu versäumen. Auf allen Wegen wimmelte es von festlich geschmücktem Volk; der Ebenhäuser Wagen schwankte langsani auf der Fahrstraße dahin, die Kühe mit betäubendem Geläut, der Bock mit unermeßlichem Gestank alles Land erfüllend. Wir kamen in das von unzähligen Fahnen blauweiße Wolfratshausen, auf allen Straßen rollten die Festwagen heran; die Böller auf dem Kalvarienberg krachten häufiger, der Zug bildete sich, blau und weiß gekleidete Knaben und Mädchen marschierten auf, Musikchor, Bürgerwehr, Schützenverein, hoch zu Roß die stattlichen Förderer und Anführer des Festes. Draußen auf einer reizend gelegenen Wiese an der Isar erwarteten uns in einem weiten Kreis Buden aller Art, Glückshäfen, Erfrischungen, Karussel, Steinadler aus dem Orient, Pulcinell, Somnambule, Temperamentsblätter, Seiltänzer und so weiter mehr, das alles nach diesem winzigen Nest zusammengeströmt, als wär' es Olympia. [85] Auf einer Tribüne nahmen der Landrichter und die »Honoratioren« von nah und fern Platz; endlich kam der Zug, schlängelte sich zweimal vorüber, erst beim zweiten Mal preisgebend, was er an dramatischem Leben zu zeigen hatte. Aus Eurasburg war ein ungeheures Bierfaß gekommen, fünfundzwanzig Eimer haltend; inwendig war's eine Kneipe, aus der die Bewohner des Fasses Bier ausschenkten. Aus Holzhausen ein schlankes, reich bewimpeltes Schiff, alles blau und weiß, auch die Ruder, mit denen die Schiffsleute gewaltig arbeiteten; vorne stand eine stattliche Maid in würdevoller Haltung, auf dem Verdeck kramte man gefangene Renken (Fische) aus. Dann aus dem dazu gehörigen Tambach eine Art Dielenraum mit einem wunderlichen Ofen, in dem die Renken geräuchert wurden; es sah lustig aus, wenn der Anführer die ganzen Reihen der Fische, an einen Stab gehängt, hervorzog und unter das vergnügte Volk verteilte. Aus Königsdorf die zwölf Monate, zwölf Lebensbilder, sinnige Gruppen, in ebenso vielen schön geschmückten Nischen reizvoll angeordnet. Aus ich weiß nicht wo ein einfacher Tannenwald, auf dem Wagen aufgepflanzt; an einem Ende hackte ein Mann Holz, wie es schien, am andern hieb ein zweiter in einen besonders hochaufragenden Baum, bis er ihn zum Jubel des Volkes fällte; dann fuhr der Wagen weiter, und auf einmal stand der Baum wieder unversehrt aufrecht da. Aus Icking ein großer, unschöner Kasten von Stroh; beim zweiten Vorbeizug fiel er auseinander und eine Tenne kam zum Vorschein, auf der acht Kerle mit großem Lärm schön im Takte droschen. So könnte ich noch viel [86] erzählen; fast immer war eine sinnig heitere Handlung im Bild. Auch auf dem Ebenhäuser Wagen erschien eine schmucke Sennerin mit ihrem Burschen, holte Wasser vom Brunnen, tat Butter und Käse in ein Gesäß. Stellt man sich nun noch vor, daß jedem Wagen eine kleine, geschmückte Schar vorausritt oder ein Wagen mit einer Musikbande ihn begleitete, so wird man wohl mit uns staunen: was für ein lebensvolles und erfindungsreiches Volksfest bei so unbedeutendem Anlaß, wie ehrenvoll für das feiernde Volk!
Wenige Tage später kam aus München Friede Eggers mit einem Freund, mich zu einem anderen Fest abzuholen, dem letzten der diesjährigen Münchener Künstlerfeste, das am Starnbergersee auf der Rottmannshöhe gefeiert ward. Wir drei wanderten im allerschönsten Septemberwetter hin; auf dem waldigen Hügel, den der Landschaftsmaler Rottmann besonders geliebt hatte, dem langgestreckten See und der Alpenkette gegenüber, verbrachte eine festlich heitere Menge nach Künstlerart einen goldenen Tag. Man lagerte unter den Bäumen und auf dem Rasen, aß und trank aus freier Hand; zierliche Ausschmückung des Festplatzes, Musik, viele Redner, Männerchöre, Tanz. An einem Baum stand ein Kanzelchen, auf dem erschien unter andern ein Münchener Regierungsrat (sein Name will mir nicht einfallen), der als »Frater Hilarius« an solchen Tagen mit vielem Glück witzige und anmutige Reimreden hielt. In einer braunen Kutte, die Kapuze über dem Kopf, so daß er auch für das »Münchener Kindl« gelten konnte, trug er sein' Sach' unter fröhlichem Beifall vor. Auf einmal [87] stand dann ein anderer auf der Kanzel, dessen Kopf schon zu der allgemeinen Fidelität nicht zu stimmen schien: mächtige Nase, gepreßte Lippen, himmelnde Augen; es mochte eher der Prediger einer etwas fanatischen Sekte sein. Als er dann gar die Lippen öffnete und sein lautschallendes »Festgenossen!« sprach, erschrak ich und wohl alle mit: eine Hasenscharte oder eine ähnliche Mißbildung entstellte seine Sprache so, daß es zum Lachen reizte. Wollte der hier reden? Und mit dem Gesicht? – Hier sollte ich nun aber erleben, was ein starker Wille und ein begeistertes Gemüt vermag. »Festgenossen!« Er wiederholte das Wort, unbeirrt, etwas deutlicher; er trieb seine Zunge unentwegt über alle Hindernisse, er schilderte diesem Wald voll Menschen, was für ein hohes und schönes Wunder so ein Festtag sei. Wie er sich hier selig fühle, an dieser kunstgeweihten Stätte unter kunstdurchglühten Jüngern der Schönheit, im Jubellicht der Mutter Sonne, das lebendige Lied der Freude zu vernehmen, die uns aus Menschen zu Göttern macht. Ja, das Lied der Freude, aus der die Begeisterung quillt, die dem Künstler den Odem gibt. Denn ohne Begeisterung wird nichts geschaffen, das wieder zur Freude führt, das uns selig macht....
Ungefähr in diesem Sinn sprach er fort. Seine himmelnden Augen waren schön geworden, sie zogen uns zum Himmel mit. Sein Sprechfehler war vergessen oder es rührte nur, daß ein Mann mit diesem Gebrechen so kunst- und glückselig sprach. Man hörte mit Andacht sein Begeisterungsevangelium, die vielen guten und sinnigen Worte. Am Schluß brach der Beifall [88] los. Von den Rednern auf dieser Kanzel hatte er den größten Erfolg.
Nun erfuhr ich erst, wer es war. Hermann Allmers aus Rechtenfleth an der Unterweser, der Verfasser des Marschenbuchs.
Noch ein beredter Fremdling wirkte auf mich, aber ohne Worte, nur durch seine Schönheit: eine junge Nordamerikanerin, unter dem reichen Mädchenflor die reizendste, »als weiße Taub' in einer Krähenschar«, wie der so plötzlich verliebte Romeo sagt. Ebenso plötzlich war ich's auch; aber nicht so dauerhaft. Immerhin lange genug, um hernach die Ebenhäuser im Schlößl mit meiner Schwärmerei zu »elenden«, bis sie an ihren Entladungen starb. Das Mädchen aus der Fremde war zu früh vom Waldfest verschwunden, und ich hab' sie nie mehr gesehn.
Am Abend fuhren wir – wir andern – über den See nach Starnberg zurück, in ungezählten großen und kleinen, schön verzierten und bewimpelten Gondeln, die den dunkelnden See mit ihren tausend Fackeln und Papierlaternen erhellten. Es war aber ein Lichterspiel um uns her, wie man es selten sieht: hinter uns Wetterleuchten, seitwärts der Mond, ihm gegenüber der langgeschweifte große Komet dieses gesegneten Jahres, am Ufer mächtige bengalische Flammen (dazu Musik und Gesang); bis uns nach langer, langsamer Fahrt in Starnberg ein herrliches Feuerwerk als letzter Lichtgruß empfing.
Nach diesem Natur-, Kunst- und Schönheitsfest konnte nur noch ein großes, historisch bedeutungsvolles wirken: die siebenhundertjährige Jubel- [89] feier der Münchener Stadt, die vier Tage später, am 27. September folgte. Wir hatten inzwischen Ebenhausen verlassen, wo ich mich zu letzt in das Studium von Schillers philosophischen Schriften schön vergraben hatte; in München empfing uns nach der Paradiesesstille eine Völkerwanderung, die hereinflutete, um den großen historischen Festzug der Jubelfeier zu sehn. Sieben Jahrhunderte in geschichtlichen und allegorischen Aufzügen, in treuen Kostümen, von einer gewaltigen Menschenmenge dargestellt, zogen fünf Stunden lang durch die Straßen der festlich aufgeputzten Stadt; ein glänzender Zug, weniger sinnvoll in den Allegorien, als phantasiebelebend durch die Fülle der lebendig gewordenen Trachten, Rüstungen, Waffen. Alle großen Männer des Gebirgs waren aufgeboten, viele prächtige Riesen darunter; man staunte vor allen die Tölzer und die Jachenauer, die Tegernseer und Schlierseer an. Friedrich Eggers, als Herausgeber des »Deutschen Kunstblatts«, schmuggelte sich und mich unter die »Künstler« ein, die am Schluß mitmarschierten; wir sahen alles aus bester Nähe, bis es günstiger war, zu desertieren und den Zug anderswo wieder als Zuschauer aufzusuchen. So hab' ich ihn dreimal gesehn; zuletzt war er doch wie ein Rausch oder Traum vorüber.
Wahrhaftig lebendig ward er erst am Abend des nächsten Tages auf dem Festbankett, das – ein hübscher Gedanke – das fünfzehnte Jahrhundert den andern im »Odeon« gab. Im Hauptsaal tafelten die kostümierten, das achtzehnte mit eingeschlossen; für die schwarzen Gäste aus dem neunzehnten Jahrhundert[90] – die Gesangvereine und unzählige Privatpersonen, darunter auch Eggers, Frau Klaras Bruder Baurat Hitzig und ich – war in einer Reihe von kleinen Sälen um den großen herum gedeckt. Das fünfzehnte Jahrhundert, als Wirt der andern, wartete mit dem biedersten Eifer auf: Söldner, Pagen und anderes Volk; moderne Kellner mußten freilich helfen. Eggers und ich freuten uns besonders an den kleinen Pagen, unter denen einige allerliebste Buben waren; wir machten mit ihnen Bekanntschaft, und da wir hörten, daß man ihnen zum Selbstessen wenig Zeit und Stoff gelassen, schleppten wir die lieblichsten zu unsern Plätzen, holten Bier und Speisen und fütterten sie nach Lust. Unterdessen ging das Fest seinen Gang: viele Reden, Musikstücke, Nationalhymnen, alles mit der etwas trocken sentimentalen Gemütlichkeit, die am Bayern nicht das beste ist. Als aber das Bier zu wirken begann (was bei diesen festen Männern seine Zeit braucht) und der endlos strömende Champagner ihm half, ward die Sache heiter, und in alle Jahrhunderte kam Leben und Natur. Kaiser Ludwig der Bayer wurde gemütlich und trank mit seinen biderben Herzögen und Schweppermänuern Brüderschaft; die gezopften und gepuderten Akademiker fraternisierten mit Tillyschen Lanzknechten, und die stattlichen Pappenheimer ließen sich vom neunzehnten Jahrhundert mit männlicher Grazie den Hof machen. Herzog Ludwig der Strenge winkte seinen Getreuen, ihn hinauszuführen, um »a bissel zu speien«; die wehrhaften Mannen aller Zeiten aber scharten sich von Zeit zu Zeit zusammen, ein seltsames Wallensteiner Heer, hielten dröhnenden Umzug durch den [91] Saal, fochten und scharmützelten mitten zwischen den engen Tafelreihen, »daz der sal erdôz«. Dazu rauschte eine noch nie gehörte Musik, ein echter, alter Marsch aus Prinz Eugenius' Zeit, mit dem die bayrischen Hilfstruppen 1688 zu Belgrads Erstürmung aufgespielt; eine harte, knorrige Melodie, wild und blutdürstig, in dieser Umgebung von fast unheimlicher Wirkung, so daß man nicht ermüdete, sie immer von neuem zu hören. Plötzlich blitzte dazwischen eine lustige Tanzmusik auf, und nun fuhr der elektrische Funke durch die Beine dieser tapferen Waffenbrüder; wo's am engsten war, packten sie sich, ohne Unterschied der Person und des Jahrhunderts, auch den Freund im Frack nicht verschmähend, und tanzten im wahren Sinne des Wortes über- und durcheinander.
So ging's lange fort, doch vor immer abnehmendem Volk. Als auch Eggers und ich gegen Morgen abzogen, waren die weiten Räume fast leer; Ludwig der Strenge wachte längst nicht mehr, Ludwig der Bayer nahm die Huldigungen seiner Knappen mit verglasten Augen und hoher Gleichgültigkeit an, und ein Metzger aus dem fünfzehnten Jahrhundert war der Haupthahn und der lustigste Zechbruder geworden; freilich gab ihm auch sein riesiger Knochen- und Muskelbau das Recht, alle Kaiser und Herzöge zu überdauern. Aus der tiefsten Ecke sang aber noch ein sanfter, anmutiger Tenor mit tiefster Brummstimmenbegleitung »Den Frauen Heil« in die geisterhafte Maskerade hinaus.
Jener wilde Belgrader Marsch, Max Emanuels-Marsch genannt, ward seit diesem Bankett eine Münchener Nationalmusik; seine barbarische Sturmkraft und [92] Größe verdiente es. Im November hörten ihn auch Kuglers, der Berliner »Madonnenpietsch« Amsler und mein wiedergekehrter Schwager Friedrich, als wir spät abends ins Englische Kaffeehaus gingen und eine Musikseligkeit erlebten, wie sie selbst bei den Bayern selten ist. Bei ein paar beliebten süddeutschen Musikstücken brach die schon lange angewachsene Begeisterung endlich wie ein Gewitter los; mit Händen und Füßen arbeitete das Publikum – voran eine Menge von Offizieren – im Takte mit, begleitete die packendsten Stellen mit Singen und Pfeifen, erstürmte Dacapos und Zugaben – und nun spielte die Kapelle auch den Belgrader Marsch. Da ward es ein Orkan von Begeisterung.
Übrigens, wen soll's denn wundern? Hat nicht der bayrisch-österreichische Stamm Gluck und Mozart, Haydn und Schubert, Lanner und Strauß hervorgebracht?
Musikseligkeit fanden wir überall, im Dorf wie in der Stadt. So in eilwm ländlichen Wirtshaus am Hirschgarten bei Nymphenburg, wo Eggers und ich im Mai ein reizendes Idyll entdeckt hatten: gemütlich herzliche Wirte, zutrauliche Kinder, tausendstimmiges Waldvögelkonzert und Scharen von Rehen um uns her, die sich ein Vergnügen daraus machten, uns aus der Hand zu fressen. Damals waren wir oft hinausgepilgert; im Oktober kamen wir wieder hin, konnten noch vor dem Haus unter dem blauen Himmel sitzen, die sich herbstlich schön färbenden Bäume um uns her. Wir aßen zu unserm Kaffee Kirchweihnudeln, die uns die Wirtin mit Gewalt verehrte, die Rehe weideten sich bis zu uns heran, und in Gemeinschaft mit Schafen, [93] Hühnern, Enten und Tauben schmausten sie von unsern Nudeln mit. Das Holdeste war aber, mit den drei allerliebsten Kindern – die Älteste schon fast dreizehn alt – zu schäkern und zu plaudern; sie waren zutulich wie zu alten Freunden und gaben uns beim Scheiden noch eine Strecke das Geleit durch den Wald. So wanderten wir denn gleich am nächsten Abend wieder hinaus, mit einem Berliner Freund, Max Geppert; diesmal hatte aber Meister Hasselschwert das Wort. Hasselschwert war ein Münchener »Künschtler«, der mit seiner Musikbande durch die Wirtshäuser zog, um vor allem durch seine halbdramatischen Gesangsvorträge zu ergötzen; er konnte viel, er war reich an wirksamer Mimik; der vortreffliche Wiener Komiker Matras hat mich später stark an ihn erinnert, wenn Matras auch hoch über ihm stand. Auch in dieser abgelegenen Hirschparkkneipe fand der große Mann sein Publikum; eine lustige Gesellschaft in blauer Kirchweihmontagsstimmung saß in dem dunstigen Saal beisammen und bewunderte und beklatschte ihn ganz so feurig, wie er es verdiente. Daß seine Vorträge mit Zweideutigkeiten jeder Art gefüllt waren, störte auch hier draußen nicht, es erhöhte die Stimmung nur; auch die liebe Weiblichkeit nahm ganz und gar keinen Anstoß daran, so wenig wie in Wien und Paris. Ich sah hier das harmlos fidele Volk so recht in sinnlicher Gemütlichkeit schwimmen; Freundschaft, Wohlwollen, gute Laune, alles sprach sich gleich in Umarmungen aus, und jeder meinte offenbar, es gehöre sich so. Wir Fremdlinge waren keine Spaßverderber; man nahm uns wie Freunde auf, die Kinder und die Wirtin hielten [94] sich gern zu uns, die stattliche und feurige Kellnerin Christine bewarb sich um unser Wohlwollen, und die Schwester der Wirtin, die allerliebste Anna, die beste von ihnen allen, die wir zum ersten Mal sahen, war sogleich zutraulich und freundschaftlich. Bei ihr sah ich wieder wie bei meinen Berliner Schusterstöchtern, an die ich erinnert ward, was die schlichte Feinheit der Seele tut; sie war auch nicht schön, aber der Ausdruck des guten Gesichts so unendlich echt, natürlich, wahr, so ganz liebenswürdigste Rasse, daß man sie liebgewann. Ich dachte nach dem Berliner Tierarzneischulplatz hinüber und sah alles zugleich, das Ähnliche und den Unterschied.
Es lockte mich, sie wiederzusehn; zwei Tage später führte ich Friede Eggers nach dem nahen Gern an der Würm, wo sie ihrem Bruder, dem Gastwirt und Revierförster, die Wirtschaft führte. Sie freute sich herzlich, daß wir unser Versprechen, sie zu besuchen, schon so bald erfüllten, war sehr liebenswürdig. Hier sahen wir nun aber noch einmal das bayrische Volk im Bann der Musik und in der wohlerhaltenen Reinheit und Kraft seiner alten Art. Eine stattliche Schar von Nymphenburger Kürassieren brach in die Wirtsstube herein; nachdem sie ihre weißen Reitermäntel abgelegt hatten, streckten sie die langen Glieder behaglich aus und begannen ihren Saufkomment, ein wunderliches, höchst ergötzliches Gemisch aus unserm Hospiz, Landesvater und Rundgesang. Sie erstiegen dabei alle Gipfel der Lustigkeit. Ein besonders stattlicher Kürassier begleitete alles auf der Zither mit entzückender Meisterschaft. Diese wilden Kehlen, diese bärtigen Gesichter, nach dem Schnitt der [95] alten Zeit gemacht, dieser üppige, derbe Humor und die selbstbewußte Behaglichkeit: das alles gab ein so lebendiges Bild, man konnte sich ohne jede Mühe in die Zeit der Wallensteiner versetzen.
So hatte ich denn nun doch Land und Volk nicht umsonst gesucht und fühlte schon tief in Sinn und Seele, was uns Deutschen Süddeutschland ist. Unterdessen hatte die große historische Kunstausstellung ausgelebt, ich viele halbe Tage allein und mit andern in ihr verbracht, und meine langen Lehrjahre auf dem Gebiet der bildenden Künste mit Erfolg begonnen.Vor Ebenhausen sah ich noch als müßiger Beschauer gleichsam von oben herab – wie so viele tun, ohne es zu wissen – urteilte raschen Blicks nach Intention, Gegenstand, idealem Gehalt; nachdem ich in Ebenhausen aufmerksamer, tiefer in Natur- und Menschenleben hineingesehn, dann in München mit erfahrenen und gescheiten Künstlern so schauend und horchsam wie möglich verkehrt hatte, begann mir das eigentlich Malerische aufzugehn, mit dem die Malkunst lebt und stirbt. Als Studiosus der Geschichte aber hatte ich mit Bernhard Kugler die Ehre, zu den Historischen Abenden hinzugezogen zu werden, die Sybel vor Beginn des Winters stiftete; wir beiden die einzigen Studenten in einer kleinen, hochansehnlichen Gesellschaft. Als werdender Schriftsteller trat ich mit ein paar verwegenen Abhandlungen in Paul Heyses Literaturblatt ein; als Redakteur des Kunstblatts schrieb ich noch einige Kleinigkeiten, bis diese große, schöne Seifenblase zerging. Das »Deutsche Kunstblatt« starb (für mich war es vielleicht ein Glück) an dem Mißmut und Wankelmut des hypochondren [96] Verlegers, der die sicheren Unkosten und die unsicheren Erträgnisse scheute.
So konnte ich mich nun ganz auf mein nächstes Ziel werfen, das zwar eigentlich nur ein Titel war: Doktor der Philosophie. O was für ein Winter! Wieviele dicke Bücher, die ich von Anfang bis zu Ende las; wie viele Merkzettel, die ich mit Namen, Daten und Zahlen füllte. Ein »stumpfsinnigmachendes Auswendigbehaltenmüssen«, wie ich mit einem grimmigen Seufzer nach Hause schrieb. Aber wir hatten ein Wort, mein Schwager Friedrich und ich, das wir aus Geibels »Brunhild« genommen hatten, das uns immer stärkte, Hagens letztes Wort am Schluß: »Sei's drum! Als Männer tragen wir auch das.«
Und so ward ich denn auch vor Ostern 1859 in Rostock, sogar summa cum laude, wie das ungebührlich schmeichelnde Diplom sagte, Doktor der Philosophie.
[97]Im 1858er und den nächsten Jahren lernte ich in München eine lange Reihe hervorragender Professoren und Gelehrter kennen; mich dünkt, die Universität hatte eine gute Zeit. Nach Sybel und Windscheid muß ich vor allen den Altmeister Justus von Liebig nennen, den großen Begründer der Agrikulturchemie, den »Wohltäter der Menschheit«, wie man ihn mit Recht genannt hat; auch äußerlich ein vornehm schönes Gebilde, dessen pfadfindender Geist aus adligen Formen sprach. Dem Physiker Jolly trat ich näher, dessen sinnvoll praktischer Begabung man die Entstehung so vieler verfeinerter Meßapparate verdankt; ein herrlicher Mensch und ein weiser Kopf, der später, ebenso wie Windscheid, dem großen Unterschied der Jahre zum Trotz mein Dutzbruder ward. Dann der Rechtslehrer Bluntschli, der Schweizer, der aber ganz zu uns Deutschen gekommen war und mit dem mich gerade unsere neue nationale Bewegung zusammenführte; mit seinem breitrunden, blühenden Gesicht das Bild [98] der Behaglichkeit, doch ein kluger und fester Alemanne mit politischem Blick. Der Kliniker und Arzt Karl von Pfeufer, der mir das Ideal eines Arztes wurde und wohl auch immer geblieben ist; er strömte förmlich gesunden Verstand aus, er hatte den natürlichsten Erkennerblick und gab ihm in schönster Schlichtheit das treffendste Wort. Dazu war der ganze Mensch animalisch wohltuend; die große, breite, behaglich kernhafte Gestalt, das überzeugend kluge, menschenfreundlich mild heitere Gesicht, der beruhigende, warmtonige Baß. Auch den ZoologenKarl von Siebold darf ich nicht vergessen; ein Spottvogel nannte ihn wohl einmal »ein großes Kind, das sehr viel Zoologie weiß«; aber dieses große Kind hatte feine Organe, um in die Welt seiner wirbellosen Mitbrüder, der niederen Tiere, einzudringen, tiefer als die andern vor ihm. Und wie gut hörte sich's ihm zu, wenn er plaudernd von seinen Lieblingen, den Wespen, Bienen oder Käfern sprach, und unter schönem Leuchten seiner so pfiffigen wie liebevollen Augen die wundervollen Geheimnisse dieses Liliput erzählte.
Ein schneidiger Gegensatz zu dem guten Alten warJulius Braun, der Kunst- und Kulturhistoriker, der streitbare »Ägypter«, der schon in den blühendsten Mannesjahren starb. Er war von der Natur auf den Kampf gestellt. Ihm fehlten auch die Gegner nicht, da er eine Ansicht verfocht, der fast niemand beistimmte: alle religiösen und künstlerischen Anschauungen der alten Völker in Süd und Nord seien aus Ägypten gekommen, aus wenigen altägyptischen Grundgedanken hervorgeblüht. Er hatte Geist, hatte Feuer; aber dieses [99] Feuer fuhr auch aus ihm wie aus den Drachen der Sage heraus, wenn er gegen seine Gegner stritt. Ich sehe ihn mit mir die Brienner Straße entlang gehen, wie der schlanke, unruhige Mann mit den lebhaften Armen mir seine Gedanken entwickelte, seine Widersacher schilderte und die Bezeichnungen »hirnwütig«, »hirnrissig« und so weiter (billiger tat er's nicht) durch die geduldige Luft flogen.
Und ich hörte ihm doch gerne zu. Er war kein Thersites; es war etwas von dem wunderlichen, aber vornehmen und rührenden Helden des Cervantes in ihm, der für Dulcinea von Toboso stritt.
Zwei von den Münchener Professoren gehörten ebensosehr zu den Dichtern wie zu den Gelehrten: der Kulturhistoriker Riehl und der Mineralog Kobell. Riehl schaute freilich nicht wie ein Dichter aus; aber wie viel sinnig und gemütlich Poetisches findet sich in seinen erzählenden Schriften. Kobell sah wie ein Jäger aus, und er war auch einer; sogar ein Buch aus der Welt der »edlen Jägerei« hat er geschrieben, »Wildanger« genannt. In seiner grüngrauen Joppe mit dem Jagerhut, dem ergrauenden Schnauzbart, dem tiefgebräunten Gesicht und dem etwas knarrenden Baß, wer hätte ihn für einen deutschen Professor gehalten? Und er war doch einer; die Mineralogie hat von ihm gelernt, er hat Untersuchungsmethoden und das Stauroskop erfunden. Mir war und ist an ihm wunderbar, daß er in zwei deutschen Mundarten, der oberbayrischen und der pfälzischen – wie verschieden sind sie! – mit außerordentlicher Wahrheit, bestem Humor und kerniger Frische gedichtet hat. Er war [100] Oberbayer, aber wer merkt es seinen Pfälzer Gedichten an? Ich kenne keinen zweiten Fall; wüßt' auch nicht zu sagen, durch welche besonderen Verkettungen oder Vorgeschichten dieser eine entstanden ist.
Da ich zu den Dichtern gekommen bin, muß ich nun vor allen Emanuel Geibels gedenken; er, der erfolgreichste und der ältere, wenn auch noch in den schönsten Mannesjahren, war unter der Münchener Dichterschar das anerkannte Haupt. Als Freund des Kuglerschen Hauses und Heyses (den er dort eingeführt) gehörte er zu unserm Kreis; er war mir freundlich, dann herzlich, und nach ein paar Jahren vereinte auch uns das brüderliche Du. Geibel wirkte im Umgang nicht durch Geist, Beredsamkeit, Witz oder Humor, sondern durch etwas, das freilich auch leicht zu parodieren war, eine gutmütige, aber beinahe feierliche Würde, die ihn auf der Stelle von der Menge schied. Alles war Würde an ihm, der Gang, der Charakterkopf, der schön geformte, mächtige Schnurrbart, der wohltönende, bedächtig redende Baß. Wenn er seine Verse sprach, so tat er es mit einem rollenden Vollklang und einer Fülle der Töne, die Hans Kugler, ein Künstler auf diesem Gebiet, vollendet nachahmte. Immer höre ich die Verse noch, die meinem vaterländischen Herzen so gut gefielen:
Man konnte ihn einen Priester der Dichtkunst nennen. Auch wenn er in guter Stunde und guter Gesellschaft schön improvisierte – ich habe ihn einige [101] Male mit Bewunderung gehört – hatte er etwas Priesterliches; er schaute mit tiefem Blick in sein halbgefülltes Glas, als holte er aus dem pythischen Wein seine Gedanken und Reime, und ließ sie dann erklingen. Übrigens konnte er auch für einen Priester des Bacchus gelten, so innig gut (aber weise gut) stand er mit diesem Gott. Sein Weinkeller war wie ein Tempel, aus dem er sich die göttliche Freude holte; »er ist vielleicht weniger auf seine Gedichte als auf seine Weine stolz,« schrieb ich einmal an eine Freundin, »und es ist auch fraglich, ob die einen oder die andern schöner sind. Geibel, der sonst ein seltsamer Hypochonder ist, lebt dann bei Nacht erst auf, und mit seiner roten Kappe, vor dem Glas Champagner, nimmt er sich um Mitternacht aus wie ein auferstandener Troubadour aus dem Mittelalter.«
Geibel, Bodenstedt, Heyse bezogen damals eine Art Ehrensold vom bayrischen König, der sich mit dem edlen Glanz eines Beschützers von Kunst und Wissenschaft zu umgeben suchte. Es war wohl die letzte Zeit, in der deutsche Fürsten einen Hofstaat von Dichtern um sich versammelten; der Sinn für diese Art von augusteischen Zeitaltern ist uns ganz vergangen. Wir brauchen auch keine vierzig Unsterbliche, wie sie in der französischen Akademie beisammen thronen; »schlicht und frei« ist deutsch. Geibel, ein edler Patriot, ließ sich übrigens durch keine höfische Rücksicht hindern, seinen Ton zu singen; in den Sechzigetjahren rief er in einem vaterländischen Gedicht den König Wilhelm von Preußen als zukünftigen deutschen Kaiser an. Das kostete ihn seinen bayrischen Ehrensold; darauf verzichtete auch Paul Heyse freiwillig auf den seinigen.
[102] Neben Geibel trat zunächst Bodenstedt, der Dichter der »Lieder des Mirza-Schaffy«, in seiner wenig umfassenden, aber volkstümlich anmutenden Eigenart hervor; dann Lingg, der tiefäugige (wunderbar hat ihn Lenbach gemalt!) und tiefempfindende Lyriker; Grosse, in dem so viele Elemente des Dichters beisammen waren, ohne daß sie sich zu voll reifen Schöpfungen vereinigten. Noch ganz im Werden war Hans Hopfen; erst das Münchener Dichterbuch von 1862, das Geibel herausgab, stellte ihn der Welt als lyrischen Dichter vor. Dasselbe geschah mit Heinrich Leuthold, den ich aber schon seit 1858 als Dichter und Übersetzer kannte; denn er, zehn Jahre älter als ich, rang schon lange mit brennendem Ehrgeiz nach dem Lorbeerkranz, während er den Dornenkranz des Namenlosen trug. Der engen schweizerischen Heimat entflohen, lebte er in München von dem kümmerlichen Ertrag seiner schwerflüssig langsamen Schriftstellerei, Übersetzungen, Abhandlungen, Zeitungsbriefe; er kannte Sorge und Not. »Ich halt' meine Kommode immer fest verschlossen,« sagte er mir einmal mit dem aufrechten Humor, den wir an ihm liebten, »nicht damit mir nichts gestohlen wird, sondern damit meine Wirtin nicht sieht, daß gar nichts drin ist.« In seiner Brust war desto mehr, getäuschte Erwartungen, unerfüllte Wünsche, noch lebendig zuckende Hoffnungen; er glaubte an seinen Dichterberuf, und war zu stolz und zu jung, um schon zu verzweifeln. Eine hohe Prachtgestalt mit ausdrucksvollem Kopf, die man nur in alte Gewänder zu stecken brauchte, um einen Schweizer Hellebardier von Granson oder Murten aus ihm zu[103] machen, ein weinfroher Gesell, ein guter Kamerad – er und ich waren bald befreundet, Hans Kugler kam als Dritter dazu – gefiel und gewann er auch noch durch das, was eigentlich komisch und befremdend war: die naive Bedürftigkeit, seine Dichtungen oder wenigstens seine Übersetzungen laut ertönen zu hören, sie vorzutragen, wo es irgend anging. Er wirkte dann durch die Harmonie des Ganzen, das vollsaftig Schweizerische in Erscheinung, Stimme und Sprache, das charaktervoll Ungeschlachte, das in seinen großartig rauhen Alpenkehllauten, in seinem steinewälzenden Sturzbachvortrag erklang, den doch eine Seele mit Herzenslauten füllte.
Hans Kugler, der den Geibel so meisterhaft kopierte, hatte bald auch den Leuthold weg; er sprach und spielte ihn wundervoll. Eines Nachts saßen wir drei im Café Ries beisammen; unsre Stimmung ging hoch, den Hans riß es fort, Leutholdsch zu sprechen. Leuthold hörte es eine Weile mit an, wohl noch seinen Ohren nicht trauend; endlich sagte er in seinen schönsten Kehllauten: »Du, Hans, mir scheint, du machst mich nach!« – »Ja freilich tut er das,« sagte ich. »Aber nimm's nicht übel, Leuthold, er kann's besser.« – »Was kann er?« begehrte Leuthold auf. – »Er kann's besser als du, er ist noch echter als du!«
Das ging dem Hellebardier von Murten nun doch an die Ehre; ein Berliner, echter? O nein! – Wettkampf! schlug ich vor. Sie nahmen es an, alle beide. Sie sprachen gegeneinander auf, plauschend, was jedem einfiel, jeder so Leutholdsch wie er konnte. Etwas Komischeres hab' ich nie gehört. Endlich sagte ich doch, [104] als Schiedsrichter: »Leuthold aus der freien Schweiz, es hilft nichts! Hans kann's noch besser als du!« –
Ich war mittlerweile, im Frühling 1859, von Rostock als Doktor der Philosophie zurückgekommen, um in München nun eine Weile ganz mir selbst zu leben, das heißt, den Dichter zu formen, der in diesen bücher- und menschengefüllten Lernjahren wohl zuweilen »poetische Krämpfe« gehabt, aber für sein Wachsen weder Raum, noch Luft, noch Sonne gefunden hatte. Jetzt, in der Stille und Freiheit, in der Münchener Dichter- und Künstlerlust sollte es werden; daran zweifelte der Jüngling nicht. Er war ahnungslos, wie wir alle sind. Während er an diesem und jenem poetischen Aufflug seine Flügel übte – die rechten, die großen Aufgaben wollten aber noch nicht kommen; auch die Kräfte waren noch ungeschickt – zog langsam und sicher ein weltgeschichtliches Ungewitter herauf, das Italien umgestalten, Deutschland aus seinem Halbschlaf wecken und mich auf einen Kampfplatz rufen sollte, wo man keine Dramatiker macht. Der italienische Krieg von 1859 zwischen Frankreich-Sardinien und Österreich kam heran; überall in Mitteleuropa wurde es lebendig, in Deutschland und in München auch. Wetterleuchten um uns her; seit der Revolutionszeit von 1848 zum ersten Mal. Was war uns Deutschen der Krimkrieg gewesen? Ungefähr so was, wie im Faust, »wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen«; für uns Rostocker Gymnasiasten ein hochgeschätztes Mittel, die Geschichtsstunden beim Kondirektor Mahn dadurch aufzuheitern, daß wir ihn mit tiefem Spitzbubenernst nach dem neuesten Stand [105] der Dinge auf dem Kriegsschauplatz fragten. Mit ebenso tiefem Ernst, aber warm ums Herz durch unsern Glauben an seine Weltgeschichtskennerschaft, erzählte er uns dann alles, was er aus den Zeitungen wußte, und durch immer neue Fragen schmeichelten wir ihm halbe Stunden weg.
Diesmal ward es anders. In Bayern, in München rührte sich das stammverwandte Blut; sollte man den Österreicher gegen den Franzmann, gegen den Bonaparte im Stich lassen? Der Radetzky-Marsch ward überall Tag und Nacht gespielt. Man sprach nur vom Krieg; wir »Fremden« fanden uns mittags beim Achatz, an den Bänken im Wirtsgarten saßen Professoren, Dichter, Studenten, Männer aus dem Volk, alles durcheinander. Was wohl jeder fühlte, das wuchs mehr und mehr: Soll Frankreich nun in Europa machen, was es will? Soll die Weltgeschichte über uns hinweggehen, als wären wir nicht auf der Welt? Soll in Deutschland alles so versumpft und erbärmlich bleiben, wie es ist? – Eine neue Zeit begann, gleichsam ein unblutiges Sichwiederregen der Achtundvierzigerrevolution; aus den erregten, gärenden Köpfen sprang es in die Herzen.
Denkwürdige Fügung: wie der erste Napoleon, sehr ungewollt, die Deutschen zuerst auf den Weg der Einigung gebracht hat, so der dritte Napoleon abermals durch diesen Krieg und seine unruhige, beunruhigende Politik und Präponderanz. So ist jeder Werkzeug, ob er nun will oder nicht.
Der kurze Krieg ging vorüber, die Flamme erlosch, ohne auch Deutschland zu ergreifen. Preußens Hilfe[106] mit dem Anspruch auf militärische Führung ward von Österreich abgelehnt; aber die deutsche Bewegung wuchs. In Preußen hatte mit Wilhelms Regentschaft die »neue Ära« begonnen; die alten Hoffnungen erwachten wieder, der Nationalverein ward gegründet, der sie auf seine Fahne schrieb: Preußen Deutschlands Vormacht! Sogleich traten freilich auch die Mittel-und Kleinstaaten auf den Plan, um ihre Selbstherrlichkeit zu verteidigen; in den Würzburger Konferenzen vom November 1859 suchten sich bei unschädlichen »Reformen« der deutschen Bundesverfassung die vielen Kleinen zu einer dritten Großmacht neben Österreich und Preußen zusammenzuschließen. Aber der gute Wille reichte nicht, sie gingen auseinander, wie sie gekommen waren; und ich begrüßte dieses Ergebnis in einem kleinen Spottgedicht, in dem ich mit den Namen der berühmten Würzburger Weine, Steinwein und Leistenwein, spielte:
Ungefähr erraten. Ein Größerer als der große Freiherr von Stein hat's vollbracht; der Steinwälzer Bismarck. Hurra!
Ein paar Monate früher, eh' der Herbst begann, [107] trat vor mich Ahnungslosen die überraschende Frage hin: willst du mittun, hier in München ein politisches Blatt zu erschaffen, das in dem spröden Süddeutschland werben soll für die deutsche Sache? das »Süddeutsche Zeitung« heißen soll? Karl Brater als erster Redakteur, du als zweiter, einstweilen ihr beide allein? Vermögende Patrioten hatten sich zusammengetan; es war ein Versuch, aus noch steinigem Boden frisches Grün zu treiben. Ein schwieriges, tapferes, edles Unternehmen; verlockend für einen Jüngling von meiner Art, in dem wieder die vaterländische Begeisterung meiner Knabenzeit, aber erhöht und vermännlicht, glühte. Ich staunte nur: wie waren sie auf mich verfallen? Wer war ich und was wußten sie von mir? Zweiundzwanzig Jahre war ich eben alt, hatte Geschichte und Kunst studiert. Sybel hatte wohl empfehlend gesprochen; wohl auch Baumgarten, ein jüngerer Historiker und Politiker, der an Sybels historischen Abenden teilgenommen hatte; Bluntschli wohl desgleichen. Von Brater wußte ich bis dahin nur, daß er ein klarer, kluger Juristenkopf, ein herzenswarmer Deutscher und ein lauterster Charakter war. Schöne blaue Augen. Aber aus einer andern Welt als ich. Mit dem gehn? Wohin? In die Politik? Den Dichter in mir auf Jahre – für zwei wenigstens sollte ich mich moralisch binden – ganz im Stiche lassen?
Denn das wußt' ich wohl: opfere ich mich einem solchen Unternehmen, einer deutschen Sache, dann opfere ich mich mit Haut und Haar!
Lange besonnen hab' ich mich nie in meinem Leben. Ich hatte als Mecklenburger, wo man die allgemeine [108] Wehrpflicht noch nicht kannte, keinen Militärdienst: vor einem Jahr hatte mein jüngerer Bruder Richard mich freigelost. Du bist Deutschland einen Soldaten schuldig! sagte ich zu mir. Haben sie dir keinen Säbel angehängt, so diene mit der Feder. Hast lange nach deinen wechselnden Neigungen gelebt, tu' nun deine Pflicht!
So trat ich denn am 1. Oktober 1859 mein Amt als zweiter Redakteur (später oft stellvertretend erster) der »Süddeutschen Zeitung« an; nachdem ich uns mühsam eine Druckerei errungen hatte: drei oder vier hatten es aus Furcht vor kirchlicher oder auch politischer Verfolgung abgelehnt, den Druck eines im voraus verfemten Blatts zu übernehmen. Neunhundert Gulden waren mein Jahresgehalt, mir ganz genug; wie gern hätte ich dieser Sache ohne Entgelt gedient; aber ich besaß nichts. Karl Brater, der eine Frau und zwei Töchterchen hatte (alle eines so vortrefflichen Mannes wert), bezog natürlich einen viel höheren Sold; aber auch er wollte nur das Notwendige, und einfacher als er und die Seinen konnte man nicht leben. Dagegen an Arbeit haben er und ich geleistet, was wohl selbst in der Journalistenwelt nicht oft wiederkehrt. Es war, als wären wir arbeitstoll! Ich schrieb über alles und jedes, Leitartikel, Politisches von nah und fern, Literarisches, Kunst, Theater, Vermischtes jeder Art. Ich übersetzte aus allen Sprachen, da Brater auf diesem Gebiet nicht zu Hause war. Ich überwachte die Druckerei (wenigstens geraume Zeit), ein widriges Geschäft. Ich schrieb lange deutsche Briefe für die Mailänder »Perseveranza«, um dagegen von einem Mitarbeiter der Perseveranza lange italienische Briefe zu[109] bekommen, die ich für unser Blatt übertrug. Und zum Überfluß hatten wir beide die Art oder Unart, an den uns zugehenden Beiträgen mit schriftstellerischer Kritik zu feilen und zu bessern; was uns wohl bald den guten Namen eintrug, die Süddeutsche Zeitung sei das bestredigierte Blatt, aber auch den Fluch der Überanstrengung, der dann jahrelang nachwirkend auf uns lag, wohl noch um manchen Hundertteil vermehrte.
Dennoch war's auch ein Segen für mich, diese angespannte, zur Schnelligkeit erziehende, immer auf den Kern und das Wesen hindrängende Tätigkeit. Sie lehrte mich, jede Sekunde auszubeuten, im Flug zu lesen, im Flug zu überblicken; und ich gewann die Sicherheit und Freiheit des Stils, die gleichsam die gesunde Unterlage seiner Schönheit ist. Hätte ich nur nicht diese unsinnige Rastlosigkeit gehabt, die offenbar ein Erbteil ist, ich weiß nicht, von wem; gegen die ich noch immer, durch manche schwere Nervenstörung gewitzigt, einen harten Kampf kämpfe, in dem ich so oft nicht Sieger bin. Ich wollte immer alles am Donnerstag, nichts am Freitag machen; und wenn ich den Tag mit Arbeit überfüllt hatte, wollte ich so frech und froh in die Nacht hineinleben, als wär' nichts geschehn. Wie manchesmal, wenn ich zum Englischen Kaffeehaus ging, um zu Mittag zu speisen, fand ich, der sich am Schreibtisch verspätet hatte, die Kameraden schon beim Kaffee und am Schachbrett; Grund genug, mich zu ihnen zu setzen und ihren Schachkämpfen zuzuschauen; essen kann ich später! dacht' ich, und trank meinen Kaffee wie die andern. Hernach war meine Eßlust vergangen und die Schachlust erwacht; ich spielte mit, [110] und wenn meine Zeit gekommen war, ging ich ungegessen nach Hause.
Doch gewiß noch törichter – ich gebe mich als abschreckendes böses Beispiel preis – und in die Zukunft längere Schatten werfend, war mein Übermut, nach so anstrengenden Tagen die Geselligkeit, zu der mich wohl die innere Unruhe nach der Arbeit trieb, bis auf den letzten Tropfen zu trinken und womöglich immer »den Rücken des Vorletzten zu sehn«. Einmal, als ich mehrere Wochen lang jede Nacht um höchst notwendigen Schlaf betrogen hatte, erlebte ich folgendes: Ich ging mit Geibel aus dem Theater. Hei! dachte ich, da ich auf einmal göttlich müde wurde, heut gehst du nur noch nachtmahlen und dann gleich zu Bett! – »Du,« sagt Geibel, »ich hab's auch schon Hopfen gesagt, ihr kommt beide mit. Ich hab' heut den ersten Akt meiner Sophonisbe beendet, bei einem ausgezeichneten Tropfen les' ich ihn euch vor!« – »Meinst du?« sagte ich; mir fielen schon fast die Augen zu. Ich war aber aus Stolz zu feig, »ich kann nicht« zu sagen; ich sah, wie es ihm am Herzen lag, und ging mutig mit. Wir drei standen in seinem Wohnzimmer, er holte goldigen Wein aus dem Keller, setzte sich sein Feß auf das Dichterhaupt, setzte sich mir gegenüber – Hopfen saß links von mir – und schlug seine Handschrift auf. »Erster Akt«... Geibel war der langsamste Dramatiker, von dem ich weiß; so leicht ihm seine lyrischen Verse flossen, so mühsam gestalteten sich ihm Bau, Form und Text seiner Dramen; zur Sophonisbe hat er sieben Jahre, zu seiner Brunhild, wie ich hörte, gar elf Jahre gebraucht. Drum war es ihm genugtuender und feierlicher, »erster [111] Akt« zu sagen, als ein anderer vom fünften spricht. »Erster Akt.«... Weiter hörte ich nichts. Ich wußte, was meine Aufgabe war: ihm fest in die Augen zu sehen, so oft er sie hob, also die meinen offen zu halten, nicht einen Augenblick nachzulassen. Dazu reichte es; das verzehrte auch meine ganze Kraft. Mehr Leben war nicht da. Das Wort »Masinissa«, halb gesungen, schlug noch an mein Ohr. Dann war's aus. Ich hörte wohl noch, daß er sprach, ich vernahm kein Wort.
Wunderbar genug: Geibel war so bei seiner Sache, daß er von meinem gewiß leeren, stieren, gläsernen Blick durchaus keinen störenden Eindruck hatte. Als der Akt zu Ende war, fragte er: »Nun, wie hat's euch gefallen?« Was ich darauf gesagt habe, davon weiß ich nichts. Es war doch wohl so, daß es ihm genügte; denn wenn er in den nächsten Jahren mit einem neuen fertigen Akt aus Lübeck herüber kam – er teilte damals schon sein Leben zwischen München und der Vaterstadt – so mußte ich den Akt hören; »den ersten, den kennst du ja schon,« sagte er beim zweiten. Ich hab' ihm nie gestanden, daß ich nur das Wort »Masinissa« kannte. So blieb mir denn auch das Ganze, in so langen Pausen und ohne Kopfstück aufgenommen, ein unklarer Traum; bis er endlich eines Tages in Frau Klaras Salon, vor ihr, Hans und mir sich niedersetzte, um uns Sophonisbe von Anfang bis zu Ende vorzulesen. Da schmiegte ich mich wohlig in meinen Lehnstuhl zurück; so, dachte ich, nun erfahr' ich also, was im ersten Akt steht! – –
Was man Ferien nennt, das habe ich in diesen beiden tätigsten Jahren meines Lebens nur einmal gehabt, [112] um daheim die Meinen zu sehn; sonst flog ich nur nach Koburg und Heidelberg zu den großen Nationalvereinsversammlungen aus, aber als Berichterstatter, dem es also auch da nicht an Arbeit fehlte. Nie hab' ich so wie damals empfunden, was Feiertage sind; herrlich waren die drei großen Feste, Ostern, Pfingsten, Weihnachten, da waren anderthalb Tage frei; ein wunderbares Gefühl! Und noch ein wunderbares erlebt' ich, das mir plötzlich zeigte, wie erbarmungslos ich rastlose Arbeitsbiene mit meiner Jugend umging... Es war ein Märzfrühlingstag, einer von den ersten, die so auf die Seele gehn. Das Sonnenlicht flutete durch das geöffnete Fenster. Ich, der Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung, als solcher schon ein »Name« geworden – mir war's auch das Liebste und Gesegnetste meines ganzen Handwerks – ich sollte über Anton Ascher schreiben, der damals in München gastierte; mir war aber gar so lenzig, ungefähr wie einem Veilchen zu Mut. Da werde ich aufgestört: ein Besuch – eine Künstlerin. Eine schöne Frau; die auch bei uns gastieren, sich dem Herrn Kritiker vorstellen wollte; – ich nenne ihren Namen nicht. Sie staunt über meine Jugend, ich über ihre Reize. Als wäre der Frühling in Person in die Tür getreten; ich hatte nur nicht gewußt, der Frühling ist ein Weib! – O Jugend, o Jugend! Auf einmal war die Zeitung weg, Deutschland weg, alles weg; da stand ein junger Mensch – der einst Adolf Menadt hieß – er hieß nun Leander oder Romeo. Er hörte sie sprechen, es klang wie Poesie, wie Natur, wie Schönheit, wie das, was Gott von uns will. Er war ein Mensch, er war verliebt....
[113] Sie war wieder fort. Er stand am offenen Fenster, die Sonne überglühte ihn. Von innen glühte es entgegen, Sonne gegen Sonne. Wo bin ich denn so lange gewesen? sprach etwas in ihm. Und jetzt – wohin jetzt mit mir?
Es ward keine Tragödie; es blieb, was es war, ein Frühlingsrausch, der noch vor dem Frühling verging. Aber die große Sehnsucht war erwacht und verging nicht wieder: Freiheit! Hinaus aus dem Käfig der Politik, zur Poesie und zu mir zurück! – Zwei Jahre, wie ich mir's gelobt hatte, tat ich meinen Dienst, erfüllte meine Pflicht; noch etwas länger, da Brater erkrankte und um meine stellvertretende Hilfe bat; dem edlen Freund half ich gerne, mit dem mich nun auch das Du verband, mit dem ich in schönster Eintracht gelebt hatte. Dann hielt mich aber kein Wunsch und kein Angebot mehr. Was ich mit ihm für die Zeitung getan, das war nicht verloren: sie stand aufrecht und blühend da, sie hatte mit Erfolg geworben, sie wirkte. Was ich für mich selber errungen, das Zeugnis meiner liebenden Ergebenheit gegen das Vaterland, meiner Opfertreue, das hatt' ich dahin. Nun konnte ich, wie Schillers Brutus zu Cäsar, zur Politik mit freundlichem Abschiedsgruß sagen:
»Geh du linkwärts, laß mich rechtwärts gehn!«
[114]Jeder Mensch, der dichterisch Geschaffenes tief empfinden kann, hat wohl aus der Werdezeit einige seelische Erlebnisse dieser Art, die er nie vergißt. Ich hatte als Knabe oft das Glück, die Sommerferien (leider nur ein Monat) zur Stärkung meiner etwas zarten Gesundheit in Rostocks Seehafen Warnemünde zu verbringen, bei einem Großonkel, den ich herzlich liebte und der mich, als ich größer wurde, großväterlich heimlich duldsam aus langen Pfeifen rauchen ließ. Er war Landwirt gewesen, seine Bücherei war klein: Rostocker Chronik, Rostocker Gesangbuch und Schillers Werke. Ich las Schiller dort Jahr für Jahr, und vor allem »Kabale und Liebe«; das ergriff mich auf ganz eigene Art. Ich konnte keine Träne weinen und doch war in mir ein Tränenmeer; so fühlte ich meine Brust gefüllt. Es war die himmlische Wollust eines tiefen, schweren, vernichtend erhebenden Drucks, den ich für kein ungemischtes Freudegefühl hingegeben hätte.
[115] Und diese unaussprechliche Wirkung kehrte jeden Sommer wieder.
Ich war fünfzehn Jahre alt, als die Mutter meiner Mutter starb; die einzige von meinen Großeltern, die ich gekannt, eine zarte, liebreiche Frau, deren Jugendschicksal ich später in einer Novelle »Die Brüder« erzählt habe. Sie heiratete, sechzehn Jahre alt, den einen dieser Brüder, fühlte dann mehr und mehr, daß sie den andern liebte und daß er sie liebte; nach tiefen seelischen Leiden gab der Gatte sie frei, der in schwärmerischer Liebe an dem Bruder hing; der von ihm bittend angerufene Landesherr und Landesbischof trennte die Ehe, und Annette ward die Gattin des andern, zu langem und glücklichem Bund. Als sie uns nun verlassen hatte, sollte aus ihrem kleinen Bücherschatz auserlesen werden, was von Wert war und in der Familie bleiben sollte; mich, den jungen »Bücherwurm«, bestimmte man dazu, diese Auswahl zu treffen. In einem damals unbewohnten und leeren Zimmer unseres Hauses kauerte ich bei dem Bücherhaufen am Fenster, und wie Aschenputtel die Linsen aus der Asche las, las ich die guten Bücher aus dem Pöbel ohne Wert heraus. Ein abgegriffener alter Schmöker fiel mir in die Hand: »Leiden des jungen Werther«; der erste Druck. Ich hatte vom Werther bis dahin nur gehört, ihn noch nicht gelesen. Ein wenig hineinschauen! dachte ich, legte das Buch auf das Fensterbrett, kniete davor nieder und fing auf der ersten Seite an. Ich las und las. Ich geriet in einen Zustand, den ich nie erlebt; Staunen, Rausch, Entzückung, selig verzehrendes Mitgefühl, Hinschmelzen in jede Seelenpein, [116] hochaufrasende Schwärmerei, Wonne der Selbstvernichtung, schaurig süßes Vergehn. Wie haben die Knie es ausgehalten? Es waren zwar Turnerknie. Sie hielten es aus. Das Buch war zu Ende, als ich wieder aufstand, so tragisch glücklich wie je ein Mensch.
Noch einmal hab' ich ähnlich gefühlt: als ich mit achtzehn Jahren den Werther zum zweiten Mal las. Ich erstaunte grenzenlos, daß er mich zum zweiten Mal so zerschmettern und verhimmeln konnte. Es fehlte aber doch das Knien und die Überraschung.
Das sind allerhöchste Erlebnisse und zugleich die mächtigsten Beweise unsrer unergründlichsten Eigenschaft: daß wir für diese an Tragik so reiche Welt auch tief tragisch angelegt, das heißt, mit wunderbarer Genußkraft für das Tragische ausgerüstet sind; was einen ähnlichen Zusammenhang verkündet wie das Goethesche (ursprüngliche Plotinsche) Wort:
So ganz verzückt hab' ich mich bei keiner andern Dichtung und keinem andern Dichter gefühlt; auch nicht bei Heinrich von Kleist; aber auch er ist mir früh und tief ins Herz gedrungen, es sind Töne in seiner schmerzvoll hochgestimmten Leier, die mich wie wenige andere ergreifen. Es störte meine Seelenruhe, daß ein Mann mit so »eigenstem Gesang« noch nicht zum allbekannten Nationaldichter geworden war; und als ich die Süddeutsche Zeitung und München verließ, [117] erschien mir gleichsam als die nächste Pflicht, ein Kleist-Herold zu werden und die bei Sybel gelernte historisch kritische Methode an einer Biographie dieses vernachlässigten Dichters zu bewähren. Nach ausruhendem Aufenthalt in der Heimat ging ich nach Berlin, in des preußischen Dichters Luft und Land, und stürzte mich in die Vorarbeiten, die ich zu durchschreiten hatte, um mein Kleistbuch zu schreiben.
Friedrich Eggers empfing mich mit den offensten Armen; daß ich bei ihm wohnen mußte, war ihm selbstverständlich. Er trat mir ein Zimmer ab, seine Junggesellenwohnung ward dadurch etwas eng, was tat das; er war philosophisch genügsam, ich auch. Mit ihm und mit seinem nach Berlin übersiedelten Bruder Karl und dessen Frau lebte ich halb familienhaft; Otto Roquette schloß sich gerne an, der damals an seiner Geschichte der deutschen Literatur schrieb, und als neuen Freund gewann ich WilhelmDilthey, den jungen, um einige Jahre älteren Philosophen, an dessen sein bohrendem und grabendem Denkerkopf ich gern meinen Phantasierkopf rieb. Unser Humorist war der Regierungsrat Zöllner, den ich aus dem Kuglerschen Hause kannte, Eggers' Freund, halb Schweriner, halb Berliner, in dem aber doch wohl der mecklenburgische Humor überwog. So oft er zu uns kam, war mir's wie Theater: wenn »Tante Randow«, wie wir alle Eggers' gemütlich phlegmatische Haushälterin nannten, ihm auf sein Klingeln die Wohnungstür öffnete und ich von meinem Zimmer aus seine Stimme hörte, ging mir schon ein heiteres Gefühl durch die Brust, wie wenn der allbeliebte [118] Komiker auf die Bühne tritt. Er überschüttete die »Tante« mit einer seiner angenehm verrückten Anreden – die hohe Stimme war wie für graziösen Unsinn geschaffen – dann drang er bei mir ein und zog mich im Augenblick aus der ernstesten Arbeit in seine urfidele Stimmung. An solche Erfolge war er denn auch gewöhnt, und er »ulkte« wohl auch damit. Einmal mit Eggers im Wirtshaus beim Speisen, brennt er eines seiner Feuerwerke von Späßen und Witzen ab, immer heller, lauter. Eggers wird immer verlegener; endlich flüstert er: »Du, deine Stimme dringt so durch; es sind ja mehr Leute da, du fällst auf; ich bitte dich –!« Da hebt Zöllner seine Stimme noch mehr: »es ist das Vorrecht bedeutender Naturen, überall aufzufallen!« und Eggers sinkt beinahe unter den Tisch.
Auch in die »seine«, geheimrätliche Welt suchte man mich hie und da zu ziehn, lud mich in ihre Gesellschaften ein; aber wie aus einer ungemütlichen Schlinge zog ich bald meinen Hals heraus und hielt ihn nicht wieder hin. Seit ich mit den Süddeutschen, mit Bayern, Franken und Schwaben gelebt hatte, war mir das norddeutsch »Gebildete«, das so oft überbildet und verbildet war, vollends leidig geworden; in einer Epistel an Frau Klara Kugler entlud ich diese grimmig spöttischen Gefühle:
Diese Mädchen- und Frauenart stirbt wohl so wenig aus wie des Künstlers Widerspruch. Viele Jahre später, als ich auf einem Bahnhof wartete, schrieb ich (wohl in etwas gereiztem Zustand) in mein Taschenbuch:
Mittlerweile setzte ich meine Vorarbeiten fort, verbrachte ein paar Tage in Kleists Geburtsstadt, Frankfurt an der Oder, suchte seine Todes- und Ruhestätte am Wannsee auf und den einzigen noch lebenden Freund des Dichters, den dreiundachtzigjährigen General Ernst von Pfuel, der in Berlin einsam hauste und vier Jahre später starb. Der alte Herr empfing den wißbegierigen jungen Schriftsteller mit beinahe herzlicher Freundlichkeit, in junggesellenhafter Verwahrlosung, ohne Rock, in einer Art von Kamisol und ungefähr wie eben aus dem Bett gestiegen. Sein verwitterter Kopf lebte aber bei meinen Fragen warm und wärmer auf; er verjüngte sich an den Erinnerungen aus so ferner Zeit, die er mit erstaunlich frischem Gedächtnis und zum Teil mit Feuer erzählte. Ich sah, wie klar und unverwischt ihm das alles vor den Augen stand. In meinem Buch konnte ich manches verwenden aus der sofort entstandenen Niederschrift; die alte Exzellenz habe ich nur dies eine Mal gesehn.
Endlich konnte das Kleistbuch geschrieben werden; in vier Wochen etwa, aber mit einer Unterbrechung, die mir eine der merkwürdigsten Lehren meines Schriftstellerlebens [121] war. Ungefähr die Hälfte war fertig, mit gewohnter Rastlosigkeit in Schaffenswonne aufs Papier geworfen. Als ich am nächsten Morgen fortfahren will und zuvor die letzte Seite überlese – pfui, was ist das für Zeug! geht mir mit einer Art von Ekel durch den Kopf. Das ist leblos, blutlos, öde; soll das deine erste Schöpfung sein? Schreibt man so über Heinrich von Kleist? Durch meinen ganzen Menschen zog ein Widerwille, freilich auch eine Abspannung, eine Unlust der Nerven, die ich dumpf verspürte. Weit lebendiger verspürte ich die Verachtung gegen mein Geschreibsel; ich warf es in die Schublade. Weg damit! So nicht!
Zum guten Glück kam gerade mein Bruder Heinrich angereist, mein ehemaliger Berliner Stubenkamerad, der sich nach starken Strapazen ein wenig zerstreuen und erholen wollte. Ich entschloß mich rasch, wohl von einem gesunden Instinkt getrieben: so lange er hier ist, leb' ich ganz für ihn und mit ihm! Friede Eggers schloß sich uns an; wir durchreisten Berlin, flogen aus, hatten gute und gefüllte Tage; zehn oder mehr? Ich weiß es nicht. Als Bruder Heinrich, schön erfrischt, wieder abreiste, war ich's offenbar ebenso. Ich setzte mich am andern Morgen wieder an den Schreibtisch, holte mein Manuskript hervor, las die verachtete letzte Seite, las weiter rückwärts – und staunte. Nur die letzte Seite war schlecht; alles andere so gut wie das frühere, so gut, wie ich's konnte. Auch die Schaffenslust war wieder da, Jugendfeuer, alles; und klares Erkennen dazu. Hatt'st zu rasch und zu viel, hatt'st dich müd geschrieben! Die schuftige letzte Seite stolpertest du noch so in der Abspannung hin;[122] dann war's aus mit dir. Am andern Morgen der große Ekel – gleichfalls Abspannung, Erschöpfung, sonst nichts. Nun bist du wieder ein frischer Mensch. Nun wirf die letzte Seite weg und fahr bei der vorletzten fort; und dann unentwegt, aber nicht zu ruhelos, vorwärts bis zum Ende!
So tat ich und so ging's. Im Frühling (1862) war ich fertig. Dieses kleine Zwischenspiel hab' ich hier für andere Werdende erzählt, die vielleicht eine leidsparende Lehre draus gewinnen.
Inzwischen hatte auch der Journalist (den ich schon fürs tägliche Brot brauchte) doch nicht ganz geruht; für meine Süddeutsche Zeitung, dann auch für die Berliner Allgemeine Zeitung, mit deren RedakteurJulian Schmidt, dem Literaturhistoriker, ich in ein fast freundschaftliches Verhältnis kam, hatte ich geschrieben. Als der Sommer zum Reisen lockte, war ich »reich« genug, daß ich mich mit Friede Eggers verbünden konnte, der auf Kunstreisen ging; ja, ja, Kunst studieren und den Dichter Adolf Wilbrandt suchen! Die Kunst in den großen Städten, den Dichter still im Gebirg! Noch im Juni brachen wir auf, das erste Ziel war Dresden; auf Wochen: denn alles, was sehenswürdig war, das wollten wir sehn. Hatte ich bisher in Berlin und München die alten Meister der Malkunst mit Andacht, mit Wonne, aber doch noch mit ungeschulten Augen angeschaut, so ward nun im Dresdner Museum wahres, wirkliches Studium daraus; eine schöne und unvergeßliche Zeit. Wie vor einer Offenbarung stand ich (wieviele Mal) vor der Sixtinischen Madonna, »die zuletzt aufhört, ein Bild zu sein«, wie [123] ich damals schrieb, »und als göttliche Erscheinung den ganzen Geist durchrüttelt«. Aber bedeutender noch ward mir für alle Zeit, daß mir hier die Venetianer voll lebendig wurden, ich zuerst all die paradieshafte Seligkeit ihrer Kunst empfand, der Farbenhunger meiner Augen sich in der edelsten Sättigung stillte. Palma vecchio, Giorgione, Tizian wuchsen mir in den Himmel hinein. Im Wiener Belvedere sollten sich dann diese Dresdner Eindrücke aufs schönste befestigen, läutern, bereichern; eine ungeheure Eroberung ward Schritt für Schritt vollendet.
Dresden zeigte mir aber auch die Größe eines Lebenden, des Architekten Gottfried Semper, dessen Schaffensblütezeit wohl in seine Dresdener Jahre fällt. Mich erbaute sein Museum, mich begeisterte sein Hoftheater, diese glänzende Schöpfung, die, als sie sieben Jahre später im »Haß der Elemente« vergangen war, nach seinen Plänen neu entstand. Mich entzückten aber auch seine Wohnhausbauten, die er im Geist der Renaissance mit so viel Freiheit und Adel durchgebildet hatte, daß sie mich wie reine Poesie des Lebens berührten; so das Oppenheimsche Haus in der Stadt, das Muster eines Privathauses für mein Gefühl. Das ganze um eine Rotunde wie um den organischen Kern herumgelegt; von da breiteten sich die herrlichen Räume, von edler, prunkloser, aber leuchtender Schönheit, nach allen Richtungen aus; das schönste der Speisesaal mit seinem heimeligen Helldunkel, der malerischen Profilierung, dem zierlichen Holzgetäfel, den farbigen Fenstern und dem schimmernden Glasgemälde in der Nische. Bezaubernd [124] war der Blick vom Treppenhaus in die Rotunde hinein; wenn auch nicht mehr ganz so überraschend wie am Tag vorher in der Villa Rosa, die Semper gleichfalls für den alten Herrn Oppenheim gebaut und in die uns dessen Schwiegersohn, der Professor und Maler Grahl, eingeladen hatte. Auch diese Villa, drüben reizend am Elbufer gelegen, war um eine Rotunde herumgebaut; wie da alles von unten, von oben wirkte, wie die Menschen in erstaunlichen Beleuchtungen zur Geltung kamen, war meinen Augen wie ein Märchen.
Hier lernten wir auch in einer von Grahls Töchtern die Witwe des Malers Alfred Rethel kennen, der, mit sechsunddreißig Jahren unheilbar geisteskrank geworden, Ende 1859 gestorben war. Wir hatten schon in Grahls Wohnung Rethels nachgelassene Zeichnungen gesehen, einen erstaunlichen Reichtum von Ideen, Formen und Kompositionen, so daß man um den frühen Untergang eines so genialen Menschen trauern mußte, dem, wie die Zeichnungen zeigten, auch ein seiner und liebenswürdiger Humor nicht versagt war. Seitdem ist vieles aus diesem Nachlaß in Photographien erschienen; damals kannte die Welt noch nichts davon. Frau Rethel, eine so liebenswürdige wie anziehende Dame, zeigte uns nun auch ein Weihnachtsbüchelchen, das er mit sehr liebreizenden Miniaturzeichnungen angefüllt und ihr geschenkt, worauf sie es mit sinnigen Versen geziert hatte. Sie beschenkte uns mit Holzschnitten und Abdrücken nach Rethelschen Werken. Das Beste aber, was sie uns zeigen, nur leider nicht auch schenken konnte, war ihr und sein neunjähriges [125] Töchterchen Else, ein überraschend holdes und anmutiges Geschöpf, das in diesem Märchenhaus mir wie eine kleinere Mignon erschien. Sie stürmte zuerst mit anderen Kindern über mir an ein Gitter oder eine Balustrade vor, als ich unten in der Rotunde stand. Dann kam sie oft und verschwand, sah mich mit ihren schwarzen, römischen Augen (in Rom war sie zur Welt gekommen) durchdringend und doch kindlich an; so eigen, daß sie mir das Herz völlig abgewann. Als sie mir endlich mit ihrem ernsthaften, geheimnisvoll reizend klugen Gesicht so freundlich »Gute Nacht« sagte, da wünschte ich mir, so jung ich noch war, ihr Vater zu sein oder sie doch in die Arme nehmen und herzen und hegen, lehren und bilden zu dürfen.
Viele Jahre später stand ich in Aachen im Rathaussaal und beschaute die Fresken aus Karls des Großen Geschichte, mit denen Alfred Rethel diesen Saal geschmückt hat. Ich erzählte meiner Begleiterin, wie ich einmal sein Töchterchen kennen gelernt; da horchte das junge Fräulein auf, das den erklärenden Cicerone machte. Dieses Töchterchen, sagte sie, sei vor einiger Zeit als stattliche, noch jung blühende Frau hier im Saal gewesen, die Bilder ihres Vaters zu sehn. Wär' ich doch an demselben Tag hergekommen! dacht' ich.
Möge mir die Tochter des edlen Meisters nicht verargen, daß ich von der kleinen Mignon der Villa Rosa hier gesprochen habe.
Über Wien, das wir nach der Sächsischen Schweiz und Nordböhmen, nach Prag und Brünn genossen und studierten, habe ich schon in meinen »Wiener Erinnerungen« ausgeredet; dort trennte ich mich dann für [126] eine Weile von »Fridolin« und fuhr nach Gmunden am Traunsee, um die alte Sehn sucht zu stillen und an meinen tragischen Plänen meine Kraft zu prüfen. Die Schönheit dieses Sees berauschte mich; das herrliche Grün seines Hochlandwassers, die Pracht des nahen und fernen Gebirgs, die Lieblichkeit des Hügellands und des Trauntals, die Heiterkeit der von Sommerfrischlern zu Wasser und zu Lande belebten, villenreichen Stadt war mir auch wie ein Paradies. Sie war mir's seitdem noch manchesmal; der Traunsee gehört zu den nicht vielen Gegenden der Erde, zu denen mich eine Art Heimweh zieht. Hier ward es mir leicht und schwer, mich in meine Phantasien zu vertiefen; leicht, weil mich Poesie umgab, schwer, weil die Welt so verlockend schön war. Wenn ich, am Schreibtisch sitzend, an meiner Tragödie »Die Freunde von Bologna« oder (als ich die wieder verworfen hatte) an dem Trauerspiel der schönen Königin von Kastilien schrieb und durch das offene Fenster das wie von Tizian oder Giorgione gemalte Seebild hereinsah, das tiefe Samtgrün der Vorberge mit dem rasendmachenden Blau des Hochgebirgs zusammenschmolz, die buntgefärbten Gondeln oder »Schinak'ln« im verklärenden Sonnenlicht hin und wieder schwammen, die süß melancholische Musik der Echobläser herüberklang, wie wenn aus dem See herauf die Nixen riefen – dann fiel mir wohl die Feder aus der Hand, und Seligkeit und Sehnsucht machten mich verrückt. Nach einer Weile schrieb ich doch weiter; auch das tragische Schicksal berauschte mich. Wie Prometheus dacht' ich: »Hier sitz' ich, forme Menschen nach meinem Bilde...«
[127] Der Segen Gottes sollte aber meinem Formen noch fehlen (und noch nicht zum letzten Mal). An dramatischen Phantasien gebrach mir's nicht, immer neue kamen; sie aber mit fester Hand zu gestalten und die Adern dieser erdachten Menschen mit lauter lebendigem Blut zu füllen, dazu reichte es nicht; ich hatte zu lange Jahre in Politik, Wissenschaft, Kritik und Studienaller Art gelebt. Ich hatte noch nie mit der Bühne gelebt. In mein Reisetagebuch schrieb ich endlich den grimmigen Seufzer: »Alles, was ich bin und kann, ist Gärung.« Und am letzten Tag, eh ich mit dem mir nachgekommenen Eggers zur Gebirgsreise aufbrach: »Es ist alles noch Übung, Kladde und Shakespearerei!«
Eine gute Frucht dieses Aufenthalts und der Weiterreise war, daß ich einige merkwürdige und poetisch anregende Landeskinder kennen lernte, würdige Bewohner dieser großen Natur. Der eine war der »Ramsauer«, wie er nach seinem Bauerngut am Fuß des Traunsteins hieß; den Eggers und ich kennen lernten, als wir über die Himmelreichswiese und das Hochgschirr zum Laudachsee hinaufstiegen, der wild einsam, dunkelgrün, tiefgebettet, sozusagen am Felsenknie des Traunsteins liegt. Nur eine Almerin hauste dort in der einzigen Hütte; es war aber jetzt eine ganze Familie dort, auch der Almbesitzer, ein Mann mit einem Denkerkopf, guter Freund des Reichsratsabgeordneten Wieser und einer von den Bauernphilosophen, die das Salzkammergut hervorzubringen liebt. Hat doch dieses Gebirgsländchen auch den Protestantismus freudig aufgenommen und trotz aller Verfolgung nie mehr ganz verlassen; in Goisern, Hallstatt, Obertraun blüht die [128] Ketzerei noch heut. Der Ramsauer vom Laudachsee, der sich uns behaglich zutraulich anschloß und dann mit uns zur Kleinen Ramsau hinunterging, wo wir noch bei ihm einkehren und seine zehn Söhne anschauen mußten, der Ramsauer war Katholik, aber aufgeklärt, Gesinnungsketzer. Die Protestanten hier zu Lande, versicherte er uns, seien die tüchtigeren, die wertvolleren Menschen; und was die Machthaber in jenen blutigen Zeiten zur Vernichtung des Ketzertums getan hatten, das sah er als Verbrechen und Unheil an. Er sprach aber nicht wie ein Heißkopf, sondern sachlich, wohl auch resigniert, wie ein Philosoph. Ich fühlte zum ersten Mal tief, mit Trauer: wie viel schlummert hier; und wie anders stünde es um Deutschösterreich, wenn sich Luthers Werk auch hier wie das Edelweiß da oben frei entfaltet hätte!
So ein Hauch von elegischer Resignation lag auch über dem Müllerssohn, den Eggers und ich auf der Weiterreise, auf der Wanderung von Berchtesgaden nach Reichenhall entdeckten, als uns am Ende der (bayrischen) Ramsau heftiger Regen in das nächste Haus trieb. Wir gerieten in eine große Familie, fast alles schöne Leute, beiderlei Geschlechts; als nach einer Weile die jüngere Tochter in die Tür trat, eine Sennerin, die von der Alm zu Besuch kam (es war Sonntag), da starrten wir sie sprachlos an: so verblüffend schön! Die edelste Erscheinung war aber der älteste Sohn, eine große Prachtgestalt mit wohlgeformtem Kopf, blauen, ernsthaften Augen und verhalten schwermütig nachdenklichem Blick, der mich mehr und mehr ergriff. Er war in München Soldat gewesen, die große [129] Stadt, die Welt hatte ihn erregt, er sehnte sich, zu schauen, zu hören, zu erkennen; der bildungshungrige Deutsche, wie er in den Büchern steht. Als er Eggers' roten Bädeker sah, bat er ihn sich aus, um hineinzuschauen; und während wir mit den andern plauderten und die Mutter uns mit Pfauenfedern schmückte, vertiefte er sich in das Buch, vor Erregung und Freude nach und nach erglühend. Auf seine hungernde Seele wirkte offenbar der Bädeker, wie einst der Werther auf mich. Eggers sah und hörte das und schenkte ihn ihm; er dankte mit rührender Zartheit – die doch wie alles an ihm männlich war – wie für eine große Gabe, die ihn noch oft beglücken werde. Der Regen ließ endlich nach, er wanderte mit uns zur Schwarzbachwacht, dann zurück zum Hintersee; er öffnete uns sein Herz. Ihn bedrückte manches: die gefährliche Schönheit seiner Schwester, der die Münchener Malerkolonie in der Ramsau unablässig nachstellte; die Enge seines Lebens im Vaterhaus, unter dem strengen, tyrannischen, wenn auch nicht unguten Alten. O, wie ungleich verteilt! dachte ich beklommen. Du so gefangen, ich so frei! An dir nagt dein Geisteshunger, ich kann jeden stillen! Es tat mir fast wohl, daß ich doch auch noch so viel Ungenügen in meiner »gärenden« Brust hatte.
Wir brachten ihn im erneut strömenden Regen wieder an sein Haus, sagten Lebewohl und flohen im Sturmschritt, in der Finsternis nach Berchtesgaden zurück. Ich hab' ihn nie mehr gesehn. So ziehn wir aneinander vorbei, ich dir, du mir ein Fragezeichen, auf das keine Antwort folgt.
Der Schluß unserer Wanderung war zugleich die[130] Krone: Salzburg! Zum ersten Mal gesehn – welch ein Fest! Was für ein Wunderkind aus der Vermählung von Natur und Mensch!
Da fiel wohl alles von mir ab, was doch bei aller Jugendlust und Wanderfreude mir die Brust bedrückte. Da ward mir so hoffend und fromm zu Mut, wie es sich dann in Versen formte:
Wie anders Mitteleuropa in meinen Jünglingsjahren aussah als jetzt, das kann ich durch einige meiner Erinnerungen sagen: ich habe noch die Österreicher in Mainz (als Bundestruppen), in Verona und Venedig, die Dänen in Altona, die Franzosen in Rom gesehn. So sollte ich nun auch noch in Frankfurt am Main den Bundestag erleben: im November 1862 zog ich dorthin, um an der nach Frankfurt übersiedelten Süddeutschen Zeitung das Feuilleton zu redigieren und zugleich, nahrungssorgenfrei, meinen ersten Roman zu schreiben. Vorher hatte ich »die Schwester dem Gatten gefreit«: bald nach meiner Rückkehr aus Österreich, noch im September, feierten wir die fröhliche Hochzeit meiner Schwester Luise mit meinem Münchner Kameraden, nun Rostocker Oberlehrer Doktor Friedrich Strempel; der lange Brautstand nahm ein gutes Ende. Ich war der Unternehmer und Leiter des Polterabends, der, mit mehreren langen Einaktern verziert, über vier Stunden dauerte; fünfmal »polterte« ich [132] selbst, in fremden und eigenen Dichtungen. Dieses eine Mal stillte ich meinen Komödiantentrieb: ich war betrunken, ich berlinerte, ich verirrte mich als »Entrepreneur« des Abends auf die Bühne, ich spielte endlich sogar meine Schwester, in einem dazu gedichteten Festspiel »Mit der Zeit«. Nachdem ein possenhaftes Gespräch mit meinem Bruder Christian dieses Spiel eingeleitet hatte, erschien mein Bruder Konrad auf der Bühne, zu unserer scheinbaren Überraschung, als wüßten wir nicht, was dieses rätselhafte Wesen wollte: Konrad hatte sich in ein langes weißes Laken gehüllt und Flügel an den Schultern, die er dann und wann feierlich bewegte. Wie ratlos und verstört entflohen wir; das Gespenst blieb allein und ging majestätisch auf und ab. Dann wandte es sich an das Publikum, an dessen Spitze die Neuvermählten saßen: »Ich bitte, mich nicht zu unterbrechen; ich bin die Zeit und die Zeit läßt sich von niemand unterbrechen.
Die Zeit, rechts im Vordergrund stehend, sprach weiter, ließ die nächsten fünfundzwanzig Jahre in gedrängten Versen vorüberziehen, bei jeder neuen Zahl einmal mit den Flügeln schlagend:
Und so weiter von Jahr zu Jahr, freundlich prophczeiend. Endlich der letzte Vers: »Fünfundzwanzig sind herum!« Ein kleiner Vorhang im Hintergrund ging zurück; man sah meinen Bruder Christian und mich als die etwas gealterten Neuvermählten, Friedrich und Luise. Mein Bruder, auf dem Sofa liegend, in [134] einem alten braunen Rock des Schwagers, täuschend wie er frisiert und bebrillt, sah ihm wirklich ähnlich; noch ähnlicher ich der Schwester Luise: zu jener Zeit konnte ich mich ohne große Mühe zu ihrem Ebenbild verstellen. In einem Kleid meiner Mutter, eine Haube auf dem Kopf, den noch jungen Bart verdeckt, saß ich neben Christian-Friedrich im Lehnstuhl, einen Strickstrumpf in der Hand, wie über dem Stricken eingeschlafen; wir schliefen beide. Friedrich sprach aus dem Traum, er gab arithmetischen Unterricht; Luise erwachte und weckte ihn. »Was hast du denn eben geträumt, mein Alter?«
Friedrich. Ja, das ist komisch; denselben Traum, den ich in der Nacht vor unserm Polterabend hatte. Ich war gerade dabei, dem dümmsten Jungen in ganz Rostock Arithmetik beizubringen. – Gott, wie lange ist das her –
Die Zeit. Fünfundzwanzig Jahr!
Luise. Mein Gott, wer ist da? – Wer sind Sie? (Steht auf.)
Die Zeit. Ich bin die Zeit.
Luise. Liebe Zeit, Sie sind uns sehr rasch hingegangen.
Die Zeit. Ja, ich hatte einen guten Schritt, seit ihr Hochzeit machtet. Ihr werdet nun übermorgen schon eure silberne Hochzeit haben.
Friedrich (steht auf). Ja, das weiß ich. Seien Sie mir willkommen, geben Sie mir die Hand. Sie waren eine recht glückliche Zeit...
So noch einige Wechselreden; dann sprach die Zeit: »Aber wißt ihr noch, wie es vor fünfundzwanzig Jahren [135] bei euch aussah? Soll ich es euch zeigen?« Sie deutete auf das Publikum, das Friedrich und Luise noch nicht angeschaut hatten. »Seht dorthin, da habt ihr das ganze Bild noch einmal, treu nach der Natur!«
Luise. Wahrhaftig – mein Gott! All unsere lieben Gäste von damals! Alles wie damals!
Die Zeit. Und da sitzt ihr selber – das Brautpaar auf dem Ehrenplatz, am Ehrentag. – Ihr seid seitdem ein wenig älter geworden.
Friedrich. Älter? Wir haben es nicht gemerkt; nicht wahr, Mutter?
Luise fiel ihm um den Hals. Die Zeit sprach noch einige gute und segnende Worte; ein mitverbündeter Teil des Publikums begann nach Verabredung zu rufen: »Es lebe das Brautpaar!« Nun fielen alle ein, und das Spiel ging zu Ende.
Die segnenden Worte der Zeit haben sich erfüllt; es ward eine der glücklichsten, innigsten Ehen, die man denken kann, dreiundvierzig Jahre lang sich bis zum untrennbarsten Zusammenleben als Philemon und Baucis verklärend, bis der Allestrennende auch hier sein Werk vollführte. Im November 1905 zog er meiner Schwester den Gatten fort. Baucis lebt allein.
Furchtbar schwer zu tragen. Über dreiundvierzig Jahre! – Doch ein langer und unverlierbarer Traum!...
In Frankfurt fand ich meine Süddeutsche Zeitung nicht so, wie sie gewesen: Brater, der Chef, lange leidend (wohl das Opfer unserer rastlosen Münchener Jahre), brachte viele Zeit in dem milderen Wiesbaden zu, und der Hannoveraner Lammers, ein vortrefflicher Journalist und Patriot, mußte ihn [136] ersetzen. Auch ich kam nicht so zu ihr zurück, wie ich sie verlassen; ich blieb »unterm Strich«, im Feuilleton, und jede freie Stunde gehörte meinem Roman. Vor dem schönen Eschenheimer Tor – mein Weg in die Stadt führte mich fast immer am Thurn- und Taxisschen Palais vorbei, in dem der gottverlassene Bundestag tagte – von Gärten umgeben und im frühesten Frühling von Amseln und Drosseln umflötet, entwarf und schrieb ich schaffensselig den ersten Band von »Geister und Menschen«, diesem längsten und menschenreichsten meiner Romane – der für mich, als Jugendwerk, auf dem Friedhof liegt. Ich hatte diesen Dreibänder überfüllt mit Gestalten, Problemen, Ideen und Schicksalen; man könnte wohldrei Romane aus ihm machen. Auch mischte sich Altes und Neues wunderlich in ihm: noch zu sehr dem Vorbild »Wilhelm Meister« nachgefühlt, Entwicklungs- und Bildungsroman, gärte er zugleich von unendlich modernen Bestrebungen, griff nach allen Fragen der Zeit. Vorwärtsstürmer und Rückwärtsschauer, vaterländischer Fanatiker und ästhetischer Epigone – wie ein Vorgebirge, an dem sich Gegenwinde kreuzen und bekämpfen: so kommt mir heute der Verfasser vor. In meinem Kleistbuch, als Geschichtsschreiber, hatte ich im wesentlichen schon meinen Stil gefunden; in dem Roman hört man noch zu viel Goethe, Schiller, Kleist durch die neuen Töne hindurch. Das verlor sich mehr und mehr, während im späteren Verlauf des Jahres (1863), vielfach unterbrochen, der längere zweite Band entstand; dafür dichtete dann am dritten eine verhängnisvolle Nervenüberreizung mit, die ihn[137] mit Schrecken, Grauen, Elend und Vernichtung überlud – so daß ich in meinem »Gespräch, das fast zur Biographie wird« (1875) getrost sagen konnte: »Ein wundervoll mißratenes Buch!«
Noch ehe die Niederschrift des Romans begann, hatte ich Frankfurt nah und weit umkreist, das Weihnachtsfest in Wiesbaden bei Braters verlebt, mit Lammers und allein Homburg, Mainz, Aschaffenburg, Darmstadt, den Taunus und den Rhein gesehen, in München die verwaisten Freunde Paul Heyse und Frau Klara besucht. Das schöne junge Leben der Frau Grete Heyse war in Meran an der Schwindsucht erloschen; ihre vier Kinder hatte sie gleichsam der Frau Klara vererbt, die nun aus der Großmutter zur Mutter ward.... Die Frankfurter Patrizier, die sich so gern zu den vornehmen Bundestagsdiplomaten hielten, lernte ich gar wenig kennen, aber ihren Geist (von damals) an einem seltsamen Fall, der mir unvergeßlich ist. Ein kurländisch deutscher Baron, Freiherr vonRutenberg, lebte damals mit seiner Familie in der Bundestagsstadt; ich ward mit ihm bekannt, und er schloß sich mir in herzlicher Zuneigung an. Als ein edler und warmer Idealist hatte er sich in seiner Heimat der alteingeborenen Volksstämme angenommen, die unter nicht immer sanftem Druck der deutschen Herren lebten, und in einer zweibändigen Geschichte der russischen Ostseeprovinzen, dann in einer kleineren Schrift »Mecklenburg in Kurland« auf angemessene Befreiung der Unterdrückten hinzuwirken gesucht. Wie weit ihn da etwa sein Gerechtigkeitstrieb übers Ziel geführt hat, kann ich nicht beurteilen; der Mehrzahl [138] seiner Standesgenossen hatte er sich damit schwerlich angenehm gemacht. Ich glaube, deswegen war er fortgezogen und in Frankfurt seßhaft geworden, wo die Herren Patrizier den in jedem Sinn vornehmen Mann mit Freudigkeit umwarben. Hätte nur nicht seine älteste Tochter die Torheit begangen, sich in einen jungen Privatdozenten an der Heidelberger Universität zu verlieben, der – man schaudere! – der Sohn eines Frankfurter reichen Großschlachters war. Ob groß oder nicht – ein Schlachter! Das Freifräulein heiratete diesen Sohn, den zukünftigen Professor; von Stund' an war's aus. Nicht nur für sie, davon red' ich nicht; ihr Vater, der Freiherr aus altem Geschlecht, war nun nicht mehr würdig, mit Frankfurter Patriziern umzugehn. Er war ein verfemter Mann. Er ward so nachdrücklich von der patrizischen Verachtung verfolgt, daß seine etwas empfindlich weiche Seele es nicht ertrug, in dieser ungastlichen Luft zu leben. Er siedelte nach Wiesbaden über; dort mußte ich ihn dann besuchen, so oft ich konnte.
So hoch hatte der Patrizierstolz sich an dem Bundestagsadel emporgerankt; – dieser morsche Stamm trug den Efeu freilich nicht lange mehr. Nur drei Jahre später starb der Bundestag an den preußischen Siegen und das freie Frankfurt ward eine preußische Stadt.
Inzwischen sollten wir noch einen Versuch Österreichs erleben, die deutsche Einheitsbewegung in die Hand zu nehmen und zu einem Sieg des schwarz-gelben Banners über das schwarz-weiße zu machen. Kaiser Franz Josef, noch in der ersten Mannesblüte, kam nach Frankfurt gezogen, um mit den um ihn versammelten [139] deutschen Fürsten eine Reform des Deutschen Bundes zu beraten. Ich machte mich davon, rheinab, um dieses Schauspiel nicht mitanzusehn; für mich stand das Eine fester als die Alpen: nur ein wahrhaft deutsches Reich unter Preußens Führung! – Der österreichische Versuch scheiterte denn auch, schon daran, daß Preußen beiseitestand. König Wilhelm kam nicht; ihn hielt sein Minister fest, der von uns allen noch unerkannte Zukunftsmeister, der große Begründer des Deutschen Reichs, das noch keimend, embryonisch in seinem vorausdenkenden Gehirn lebte.
Davon wußten wir nach Einheit Hungernden nichts; aber die deutsche Bewegung wuchs. In mir wuchs sie fort und fort. Sie sprang in meinen Roman hinein und füllte den zweiten, den dritten Band mit jugendlicher Beredsamkeit und Leidenschaft (das Beste in dem ganzen Ungeheuer); sie füllte mich selber mit einem langsam wachsenden dunklen Fanatismus. Nicht oft habe ich so gelitten wie in diesen Zeiten, wo mich die vaterländische Schmach zu verzehren drohte und manchmal nur Tränen der Wut und Scham mich erleichtern konnten. Dann warf ich auch die Feder weg; etwas tun! Zur Waffe greifen! Die Muskete tragen! Unser deutsches Schleswig-Holstein war noch immer in der Hand der Dänen, deren kleine, aber rauhe Faust das nach Befreiung lechzende Deutschtum am Boden hielt; mit Gefühlen, die ich nicht schildern kann, hatte ich nach meiner Flucht von Frankfurt, über Köln nach Rostock, die dänischen Soldaten einen Fußbreit von Hamburg im »dänischen« Altona gesehn. Wenn vom Deutschen Bund, von den deutschen Großmächten [140] nichts zu erwarten war, sollte sich denn nicht das Volk selber helfen können? Hatte nicht schon einmal das aufgestandene Schleswig-Holstein jahrelang heldenmütig gegen Dänemark gekämpft? Wenn die neue nationale Partei, die sich dort im Anschluß an den Deutschen Nationalverein gebildet hatte, etwa für neuen Kampf zu gewinnen war? Wenn man den Wagemut dieses tapferen Volks entflammen, heimlich Waffen sammeln, Freischaren anwerben, den Befreiungskrieg vorbereiten konnte? – Ich fand einen Genossen, einen jungen deutschrussischen Edelmann, Freiherrn von Ungern-Sternberg, der ebenso fühlte wie ich. Wir beschlossen, nach Schleswig-Holstein zu gehn und zunächst unter den streitbaren Bauern für den Plan zu wirken. Wir setzten uns mit eingeborenen Patrioten in Verbindung; einer von ihnen, ein Graf Reventlou, gab uns ausführliche Anweisung, wie wir unsre Sache zu betreiben hätten; wobei allerdings ein Kernpunkt war: keinen Trunk verschmähen! Unter diesen gastfreien Kraftmenschen, die fast jedes Getränk durch Schnaps verstärkten, mannhaft bestehn!
Wie weit wir wohl gekommen wären? Ich fürchte, nicht weit: die Dänen waren wachsam geworden, und an schneidig zugreifendem Willen fehlte es ihnen nicht. Woran unser Unternehmen schon vor der Ausführung scheiterte, kann ich nicht mehr sagen; mein Gedächtnis ist hier durch Lücken und Verschiebungen gestört. Zum Heil für mich und uns alle griff endlich das große Schicksal ein: am 15. November 1863 starb der dänische König, Friedrich VII., und das dänische Anrecht auf [141] Schleswig-Holstein mit ihm. Der Stein kam ins Rollen; wohin er gerollt ist, brauch' ich nicht zu sagen.
Eine allgemeine Bewegung begann; selbst der deutsche Bundestag raffte sich zur »Exekution« gegen das widerspenstige Dänemark auf, wenn auch nur für Holstein; wir andern wollten aber auch Schleswig retten. Am 21. Dezember traten in Frankfurt gegen fünfhundert Mitglieder deutscher Landesvertretungen zusammen und erklärten sich einmütig für die Loslösung der beiden Herzogtümer von Dänemark, die Nichtigkeit des Londoner Vertrags und das Erbfolgerecht des Herzogs Friedrich von Augustenburg. Sie setzten einen Ausschuß von sechsunddreißig Mitgliedern ein, der in Frankfurt tagen und den Mittelpunkt der gesetzlichen Tätigkeit des deutschen Volks in dieser Nationalsache bilden sollte. Karl Brater war einer dieser sechsunddreißig, und der Führende; die Aufgabe war, für das ganze Recht der Herzogtümer und gegen das eigenmächtige Eingreifen von Österreich und Preußen, zu dem wir kein Vertrauen hatten (wir wohnten nicht in Bismarcks Kopf), mit allen Kräften geistiger Agitation zu wirken. Sollte ich da abseits stehen? da das Schicksal rief? Ich hatte bisher in Rostock, dann in München, als Windscheids und später Heyses Gast, an »Geister und Menschen« fortgeschrieben, den zweiten Band fast beendet; mein Dichterherz brannte – aber es brannte doch mehr für das Vaterland. Ich schrieb an Brater: Ich lebe in meinem Roman. Aber wenn der Tag kommt, wo du mich brauchst, so telegraphiere nur: Komm!
Anfang Januar erschien sein Telegramm. Es traf[142] mich bei Heyse-Kuglers, ganz Dichter und Freund, recht im Paradies; aber ich erfüllte natürlich mein Wort. Ich landete in Frankfurt, in der Großen Gallusgasse: dort hatte ein nationalgesinnter Patrizier, einer von zwei Brüdern Varrentrapp, uns ein leeres, zum Abbruch bestimmtes Haus zur Verfügung gestellt. Brater wohnte mit seiner Frau im Vor der-, ich im Hinterhaus; durch eine Reihe von Zimmern kam ich in das meine, leidlich wohnliche, dessen tiefe Stille und Einsamkeit nur am Abend die schwirrenden Fledermäuse belebten. Hier sollte nun ein junger Fanatiker hausen, dessen Nerven schon überheizte Dichternerven waren; der in seiner Unerfahrenheit entschlossen war, auf seinen beiden wilden Rossen zugleich, stehend wie im Zirkus, zu reiten, sich zwischen Politik und Roman zu teilen. Ich stürzte mich in meine Aufgaben, verwegener als je: ich schrieb eine volkstümliche Flugschrift »Für Schleswig-Holstein! An den deutschen Bürger und Bauer«, die der Sechsunddreißigerausschuß in weit über hunderttausend Exemplaren verbreitete; ich verfaßte eine oft erscheinende »Autographische Korrespondenz« im Namen des Ausschusses, die für alle patriotischen Zeitungen vervielfältigt ward; und ich füllte Seite auf Seite meines dritten Bandes, um diesen so oft unterbrochenen Roman um jeden Preis zu vollenden.
Nun, ich zahlte einen guten Preis! – Wie durch eine Veranstaltung des Schicksals fand ich hier in Frankfurt, wo ich sonst notgedrungen einsam lebte, einen merkwürdigen Menschen, der gleichsam die Ergänzung meiner phantastischen Existenz und meiner[143] selbstzerstörenden Rastlosigkeit war: Ludwig Nagel, damals Redakteur an der Süddeutschen Zeitung. Wir befreundeten uns sofort, er war einer nach meinem Sinn: durchaus großdenkend und starkbewegt, deutsch bis ins Gebein, mystisch religiös, aber von jeder Schulmeinung frei, in dem Jenseits, an das er glaubte, eine geistige Welt voll unendlicher Entwicklungen erwartend. Dabei ein lebensfreudiger und grundguter Gesell; seine tiefschauenden blauen Augen konnten aber auch Seher-, ja Geisteraugen werden. Er erzählte mir von Erscheinungen, die er vor Jahren (in Leipzig glaub' ich) gesehn, von Geisterstimmen, die er gehört hatte; sie störten ihn nicht in seinem inneren Frieden, er glaubte aber fest an ihre Wirklichkeit. Ich glaubte nicht, ich hielt sie für Halluzinationen, für Selbsttäuschungen. Meinen verwilderten Nerven tat es aber doch nicht gut, daß er mir das alles spät abends im Mondschein erzählte und seine großen, redlichen Geisteraugen mir in das heiße Dichterherz leuchteten.
In der Tür, durch die ich in mein Zimmer trat, sah ich noch etwas Wunderliches: sie war stark zerschossen, eine Menge von Kugelspuren steckte in ihrer hölzernen Haut. Bei einem Romanschreiber war es wohl natürlich, daß die Phantasie an dieser Tür weiterdichtete: hier, in meiner Stube, hatte sich vermutlich ein Selbstmordskandidat im Pistolenschießen geübt; hier hatte er sich dann durch einen Kernschuß aus der Welt geholfen. Wir schrieben noch Januar, da er wachte ich eines Nachts im Dunkeln; ich erwachte durch ein Flüstern, rechts an meinem Kopf; ein rasches, unverständliches Flüstern. Schlaftrunken erschrocken [144] will ich mich aufrichten; nun berührt eine tastende Hand meinen rechten Arm. Ich reiße die Augen auf; vor mir, ganz nahe, steht oder schwebt ein ernster, umlockter Kopf, mit rotem Hemd oder roter Jacke. Als ich ihn anrede oder den Arm gegen ihn ausstrecke, weicht die Erscheinung langsam zurück, bis sie gegen den Ofen zu, im Winkel verschwindet; so lange hatte sie mich angeschaut.
Diese dreifache Halluzination – dafür gilt sie mir jetzt – fiel damals über ein so erschüttertes Nervenleben und einen so phantastisch gestimmten Geist her, daß es mir wie meinem Freund Nagel erging: ich hielt sie, wenigstens monatelang, für einen Gruß aus der Geisterwelt. Bald kam auch hinzu, daß eine Todesnachricht eintraf, die mich sehr ergriff: eine Jugendfreundin war in der Fremde gestorben, die in tragischer Zuneigung an mir gehangen hatte. Ich erlag der Versuchung, die Erscheinung mit diesem Tod zu verbinden; eine unbestimmte Ähnlichkeit des Kopfes, der tiefe, schwere Ernst des Ausdrucks reizten auch dazu. Bedenkt man nun, wie ich in diesem toten Haus Tag für Tag verlebte: immer aus einer Arbeit, einer seelischen und geistigen Erregung in die andre springend, so begreift man wohl, daß ich den nächtlichen Schlaf verlor. Es war aus mit ihm. Er foppte mich nur minutenlang, um mich stundenlang, halbe Nächte lang, endlich ganze Nächte lang zu verlassen. Ein unsinniges Grauen kam über mich. Mein langer Arbeitstisch stand jede Nacht neben meinem Bett, auf ihm stand die Lampe und brannte bis zum hellen Tag. Ich nahm ein Buch nach dem andern und las, oder lag ewig denkend da.
[145] So kam der April; der Roman war fertig, die letzte Durcharbeitung der drei Bände auch; meine Pflicht als Schriftsteller des Sechsunddreißigerausschusses hatte ich schonungslos erfüllt, durch die Widmung einer goldenen Uhr hatten sie mir gedankt. Ich konnte nicht mehr. Ich sagte Ade. Wieder schlafen lernen! Ruhe im Kopf, Bewegung in den Beinen – mich hineinwandern in den Schlaf!
So fuhr ich denn nach Aschaffenburg und marschierte beim tollsten Aprilwetter – Schnee, Regen, Hagel – mainauf am gegenüberliegenden Spessart hin. In jedes Wirtshaus an der öden Straße kehrte ich ein, schlummerbringenden roten Wein zu trinken. Gegen Abend erhellte sich's, das freundliche Miltenberg (wo der Georg im »Götz von Berlichingen« erstochen ward) lag in holder Verklärung da. »Ein Zimmer für die Nacht, Herr Wirt!« sagte ich dort im Wirtshaus, von einer göttlichen Müdigkeit wie vom heiligen Geist erfüllt. Der Miltenberger führte mich in sein bestes Zimmer; »hier werden Sie aber noch lange nicht schlafen können, nebenan im Saal wird gleich unser Orchester spielen, sie üben für morgen, zum Ball«. Ich lächelte wie ein Gott. Auf meinen Lidern saßen hunderte kleiner Schlummergötter; die süßeste, lieblichste Beschwerung, aber zusammen eine unwiderstehliche Macht. Nach kurzem Mahl lag ich schon im Bett; nebenan begannen die Trompeten zu schmettern; sie bliesen mich sofort in den tiefsten Schlaf.
So wanderte ich dann noch ein paar Tage weiter, nach Wertheim, nach Tauberbischofsheim; die Schlafkur gedieh. Als ich nach München kam, zu Paul[146] Heyse und Frau Klara, war ich schon wieder ein Mensch unter Menschen; – und bald war auch wieder der alte Jugendübermut da. Wär' ich in diesem besten Wirtshaus: Villa Heyse-Kugler, noch ein paar Monate müßiggängerisch, traumstill geblieben! Ich hätte die tiefe Lebenswunde, die ich ahnungslos in mir trug, gründlich ausgeheilt. Mich äffte aber die junge Kraft, die in allen Gliedern spielte, und der Weltwandertrieb. Jenseits der Berge lag Italien, und in Rom lebte und malte mein Hans. Nach Rom hatte ich schon im Winter gewollt. Also vorwärts, in der ewigen Stadt Ewiges zu lernen!
[147]Ich segne mein Geschick, daß in meine Werdejahre auch die hohe Schule Italiens, die Verbrüderung mit der klassischen Schönheit der Natur, mit den Überresten großer Geschichte und mit der Antike gefallen ist. Diese innige Verbrüderung, die man nicht im Flug erringt, verlängerte meinen Werdegang, verzögerte meine Ausbildung als Schaffender; aber »der gerade Weg ist nicht immer der beste«, und diesem Umweg hab' ich wie so viele Großes zu verdanken.
Als ich im April 1864 meine erste Italienfahrt über den Brenner antrat, hatte ich noch auf der alten Straße mit der Post zu fahren; neben dem Postillon auf dem Bock, bei herrlichem Sonnenschein und gewaltigem Staub, rasselte ich von Innsbruck zum Paß hinan. Dann begleitete mich der schönste Mond bis zum Morgen durchs Eisacktal, das in zauberhaftem Dämmerlicht lag; und wie ein Kind des Glücks fuhr ich darauf im sonnigsten Frühling mit dem Morgenzug dem Süden zu. [148] Es war der alte Weg der Deutschen, von Bozen zur Etsch,
So fühlend, wenn auch noch nicht dichtend (die Verse sind aus einem späteren Festlied »Walther von der Vogelweide«), wunderte ich mich zwischen den braunen und grauen Bergen und den hochgelegenen Menschennestern des Etschlands hin und rollte seitwärts zum Gardasee, der mich bei Riva empfing. Hier ergriff mich zum ersten Mal mit aller Macht die ernste Farbenstimmung, die tiefe, wunderbare Harmonie, die den italienischen Landschaften ihre klassische Größe und ihren unaussprechlichen Zauber gibt; ein graubrauner Ton, der wie eine höhere Einheit alles umfaßt und wohl zuerst durch seine Fremdheit zum[149] Staunen reizt, dann wie eine geniale Erfindung der Natur, wie ein unmittelbarer Ausdruck des antiken Geistes in der Seele fortwirkt.
Ich stürmte aber weiter nach Rom; nur in Mailand und Genua hielt ich eine Weile an, wie etwa ein Wanderer auf hohem Weg trotz seiner Eile stehen bleibt, wenn er um eine Ecke gehend ein überraschendes Bild erblickt. In Mailand zog es mich vor allem zu Leonardos »Abendmahl«; welch ein Wunderwerk! Fast zerstört, vernichtet, und doch noch eine Welt; lange, lange Zeit saß ich in tiefster Andacht davor, wie je vor einem in Gesundheit blühenden und strahlenden Bild. Am Abend dann, welcher Gegensatz! Im Teatro Canobbiana sah ich große Oper und Ballett; modernstes Italien, lebendigstes, aber wie! Von dramatischem Vortrag kaum zu reden: sie sangen fast nur zum Publikum, die Rezitative wurden mit rasender Geschwindigkeit abgehaspelt, nur die Arien galten was. Folgte denen Beifall und Hervorruf, so trat allemal der Regisseur in schwarzem Frack und den Zylinder in der Hand aus den Kulissen hervor und führte den Sänger oder die Sängerin ans Proszenium und dann wieder ab; ein Anblick zum Lachen.
Aber die schwarzen Schleier der Mailänderinnen versetzten mich wieder in klassische, altrömische, von Griechenwind durchhauchte Luft. Eine erstaunliche Fülle von stattlichen, stolzen, schönen Mädchen und Frauen durchwandelte die Straßen oder saß auf den Balkonen, die fast jedes Fenster umgittern; fast alle trugen sie noch den Schleier, der das Gesicht völlig frei ließ, aber von den Armen und Händen mit Kunst[150] zusammengefaßt ward. Wie erhöhte er den ernsten Reiz dieser Nachblüten der Römerzeit! So wirkten die weißen Schleier nicht, die ich hernach in Genua allgemein getragen sah; sie verschönerten weniger und hätten es mehr gesollt, denn die Frauen vonGenova la superba konnten sich mit denen des reichen Mailand nicht messen.
Endlich lag mein französischer Dampfer (damals herrschten noch die italienischen Gesellschaften nicht) nach seiner Fahrt von Genua her vor Civitavecchia still; auf den Bastionen am Meer sah ich die niederbaumelnden roten Hosen der sitzenden französischen Soldaten, die den Papst in seinem weltlichen Regiment beschützten. Man schiffte uns aus, im Saal der Dogana mußten wir den Zollbeamten unsere Gepäckstücke öffnen; und wie es mir vor sieben Jahren in Berlin mit meiner Bücherkiste ergangen war, so sollte es mir hier mit meinem Koffer ergehn. Von den Frankfurter schlaflosen Zeiten her war ich noch ein bleicher Mann mit fast hohlen Wangen und tiefen Augen; dazu langes Haar, breitkrämpiger Hut und ein gewaltiger Radmantel, den mir ein Münchener Freund für diese Reise geschenkt hatte. Es war nicht sehr verwunderlich, wenn die päpstlichen Zollbeamten einen Garibaldiner oder Mazzinisten zu sehen glaubten; eine entsetzlich peinliche Untersuchung meines Koffers begann. Sie dauerte zwei Stunden lang; drei, vier dieser Kerle umstanden mich, sie durchblätterten jedes Buch, sie studierten in den Albums, die ich mit mir führte, jede Photographie, jede einzeln; sie wollten offenbar durchaus politische Konterbande finden. Lange entdeckten [151] sie nichts als ein kleines italienisches Kursbuch, das ich in Mailand gekauft hatte; der Rothaarige, der ihr Oberster war, wies aber mit furchtbar ernstem Gesicht, das ich fast durch ein furchtbar lachendes beantwortet hätte, auf die Titelworte: nel regno d'Italia, im Königreich Italien – dem verhaßten Reich, das auch den größten Teil des Kirchenstaats verschluckt hatte. Er forschte im Album weiter und er triumphierte: fast am Ende – ein lächerlicher Zufall! – fand er eine kleine Plwtographie des bei Aspromonte zerschossenen Stiefels Garibaldis, die mir Hans Kugler als Kuriosität aus Rom nach München geschickt hatte. Garibaldis Stiefel, des verruchten Feindes! Einen großartigeren Sieger als diesen Rothaarigen hab' ich nie gesehn. »Dieses Buch,« sagte er und deutete auf mein Kursbuch, das er beiseite gelegt hatte, »bekommen Sie vielleicht im Hauptzollamt zu Rom zurück, wenn Sie sich hinbemühen; ma questo« – er hielt das kleine Stiefelbild mit beiden Händen – »ma questo si rompe!« »Das da wird zerrissen!« Alle seine zehn Finger arbeiteten auch, als wollten sie es in tausend Stücke zersetzen; zugleich arbeitete das welscheste Pathos auf seinem Judasgesicht. Er zerriß es aber nicht. Er hat es wohl seinem Buben geschenkt.
Ohne Garibaldis Stiefel und um einen Zug verspätet, kam ich dann doch nach Rom. Mein erster Gang war zum Monte Pincio hinauf; ruhelose Sehnsucht. Die Peterskuppel! Die ewige Stadt! Um mich her die Pinien und Zypressen, Lorbeer- und Orangenbäume, immergrüne Eichen, Palmen, alte Statuen und junge Mandelbäumchen; höchster Rosenflor in [152] allen Farben, an Mauern und Pinien in die Höhe kletternd; und immer Rom zu meinen Füßen, und hinter mir die Abendmusik der französischen Soldaten und die »schöne Welt« der lustwandelnden Stadt. Da war ich! Diesen Besitz konnte mir niemand mehr entreißen! Seit sechzehn Jahren, seit der Knabenzeit, hatte ich mich nach ihm hingeträumt.
Daß ich in Rom fast nur mit Malern lebte, mit Hans Kugler, Böcklin, Lenbach, Hagn, Marées, Fitger, Penther, Füßli, Metzener und andern, und als wie gute Kameraden wir lebten, davon hab' ich schon in meinen Lenbacherinnerungen erzählt. Hier alles mit Künstleraugen sehen zu lernen, war mein Hauptbegehren; nach archäologischer Gelehrsamkeit verlangte mich nicht. Es war mir vielmehr eine reine Luft, daß das Forum Romanum noch dem alten Campo vaccino ähnlich, ein malerisch zusammengestimmtes Überwuchertes war – wie hat man es seitdem zerwühlt! – und daß Rom noch das alte, melancholisch majestätisch feierlich öde Rom war, noch ebenso sehr ein Friedhof der Weltgeschichte wie lebendige Gegenwart Wie ich diese gefüllte Ode genoß, schildert unter anderm ein Brief, den ich im Mai an die Meinen schrieb, über einen Ausflug mit Hans Kugler zur Basilika Sankt Paul und von da weiter hinaus: »Wir schlugen einen einsamen Weg – wie immer zwischen alten, wildbewachsenen Mauern hin – zur Via Appia ein. Alles öde und still, aber man schwelgt in Bäumen und kleinen Felsen und üppigem Gebüsch und in botanischen Studien, die ich jetzt ganz besonders liebe. Hier ragen Maulbeerbäume und Ölbäume, dort Pinien, Zypressen, [153] Rosen, Hollunder, gelbblühender Fenchel, Winter- und Sommereichen über die Mauern hervor; wunderbar marmoriertes mächtiges Distelkraut, Feigengebüsch, glühendroter Mohn, Moos und wilde Blumen aller Art klettern an dem Mauerwerk umher; auch auf dem ödesten Weg (und deren gibt es unzählige mitten in der toten Stadt) wird man nicht müde, die Augen nach allen Seiten zu richten. Endlich hatten wir die Via Appia erreicht; der Zirkus des Maxentius, das mächtige Grabmal der Cäcilia Metella, mittelalterliche Burgruinen, uralte Kirchen und Kapellen, die Trümmer der Aquädukte, fern die Peterskuppel und das hinter seinen Hügeln versteckte Rom – um uns her Weinberge und Wiesen mit den hochbehörnten grauen Kühen und Büffeln – wie einem da zu Mut wird! – O Ihr Lieben, wie beschreib' ich Euch meine römische Seligkeit!«
Oft zog auch die Sehnsucht, die uns blaue Berge machen, in die Ferne hinaus; wenn nach Regentagen die herrlich durchleuchtete Abendluft so durchsichtig war, daß das Auge (zum Beispiel vom Monte Testaccio oder Scherbenberg aus) in allen Vertiefungen und Städten und Dörfern des Albanergebirgs spazieren ging; oder wenn dasselbe Gebirge, vom San Lorenzotor gesehen, in seiner sonnig schimmernden Lieblichkeit mich so sirenenhaft lockte, daß ich Hans beschwor: »Halt' mich fest! – Führ' mich weg!«
Wunderbar ergriff mich's auch, wenn ich in der Stadt oder draußen Gesang ertönen hörte, der wie ausandern Jahrtausenden herausklang; so, wenn Büffeltreiber in der Campagna, neben ihrem langsamen Gespann scheinbar schläfrig dahintrottend, niegehörte [154] Halbmelodien oder Tonfolgen anstimmten, daß man denken mußte: so sangen sie hier schon zu Sullas oder Marcus Furius Camillus' Zeit! Einmal ging ich in der Nacht mit Lenbach, Böcklin und andern vom Ponte Molle nach Rom zurück; darüber schrieb ich an meinen Vater, der sich wie wenige in die griechische Lyrik und die Chorgesänge der attischen Tragiker versenkt hatte: »In einem Wirtshaus am Weg spielten zwei auf der Mandoline, der eine sang und improvisierte, mit häßlicher Stimme, aber in sehr interessanten, durchaus altertümlichen, einfach nüchternen Rhythmen: der Gesang im alten Athen und Rom muß ähnlich gewesen sein. So, denk' ich, hat man den Homer, den Pindar und die Chöre vorgetragen; etwas schöner und anmutiger, wie man sich einbildet, aber im gleichen Charakter: ohne eigentliche Melodie, der Gesang nur das Kleid, der Text die Sache selbst. Wie wünschte ich Dich herbei, daß Du mit uns vor der Tür der Osteria hättest lauschen können!«
Diesem schönen Lernen und Leben machte ein plötzlicher Zusammenbruch ein Ende, der auf meine Unerfahrenheit wie ein Blitz ohne Wolke herniederfuhr. Durch meine alte Ausdauer im Studieren und Genießen getäuscht, hatte ich mich meiner alten Rastlosigkeit froh und frech ergeben; von der Frankfurter Nervenverwüstuug meinte ich ganz genesen zu sein; Anfang Mai schrieb ich nach Hause: »Meine Gesundheit unaufechtbar, mein Glück unbeschreiblich!« Achtstündiges Herumlaufen in Sciroccohitze, fünfstündiges, angestrengtestes Antikenstudium im Vatikan schien mir ganz das rechte; »was für ein Sehen und Lernen in [155] diesem Rom!« meldete ich ahnungslos; »die Maschine des Geistes hat mit verdreifachter, verzehnfachter Kraft zu arbeiten.« Auf einmal weigerte sie sich, diesen Frondienst zu tun. Mit scheinbar gemeinen Zahn- und Gesichtsschmerzen fing es an; dann folgte ein ernsthafteres Nervenrebellieren, und nach vermeinter Erholung, die ich wieder durch geistige Orgien feierte, brach eine unverkennbare Erkrankung des ganzen, zu viel mißhandelten Nervensystems herein. Mitte Juni mußte ich endlich nach Hause schreiben: »Es ist zwar erstaunlich unsinnig, hier in Rom nicht gesund zu sein; aber der verruchte, ewige Scirocco (Frühjahr und Sommer sind hier diesmal verpfuscht) und die noch immer nicht verwundene reizbare Empfänglichkeit der Nerven haben mich wieder unwiderstehlich auf den Hund gebracht. Auf eine seltsame und mir bisher unbekannte Weise: allgemeine Verstimmung und Lähmung aller Nerven, in Kopf, Unterleib, Brust, gemäßigter in den andern Gliedern; sanfte Übelkeit, Gehirnweh, Mattigkeit der Augen, vereinzelte Nervenschmerzen hier und da, Schwere im ganzen Körper; Unfähigkeit, zwar nicht zu lesen, aber zu schreiben, nicht zu denken oder heiter zu sein, aber zusammenhängend zu arbeiten oder andauernd zu genießen. So war mir wenigstens an allen schlimmeren Tagen. Sowie der Scirocco nachließ, tat mein Zustand desgleichen; und ich bin gewiß, wenn ich jetzt (wo vollends die heiße Zeit beginnt) dieses gefährliche Rom verlasse, wenn ich mich (mit Hans, der das gleiche Bedürfnis fühlt) nach Nordenwende und die eigentlichen Glutmonate jenseits der Alpen in Ruhe, Behaglichkeit und [156] deutscher Luft als verständiger Selbstarzt verlebe, so werde ich zum Herbst wieder ein vollkommen gesunder Mensch sein.«
Die Flucht nach dem Norden, mit der Absicht und Aussicht, zum Winter wiederzukommen, war gewiß das rechte; aber der Glaube an den »verständigen Selbstarzt«, der kam viel zu früh. Die Heimreise, zunächst nach München, ward zwar schon am 19. Juni angetreten, zu Lande, mit dem Vetturin; das Ziel für den Sommer war Seeon, eine stille, anmutige Sommerfrische an einem bayrischen See im Angesicht des Hochgebirgs, mit Heyse-Kuglers vereint. Lenbach, der uns mit anderen Freunden bis zur Abfahrtsstelle des Vetturins geleitete, rief denn auch im letzten Augenblick mit vernichtendem Humor: »Auf nach Seeon!«; er sah uns für wahnsinnig an, daß wir Rom mit diesem bayrischen Nest vertauschen wollten. Hätten wir's nur geschwinder getan! Auch den armen Hans hatten das Klima und seine alten Nervengebreste übel zugerichtet; aber er wie ich traten wie urgesunde Leute in schon heißer Zeit eine kühn gedehnte Luft- und Lernreise an und ließen dem Hochsommer volle Frist, ganz hereinzubrechen. Über Viterbo, Montefiascone, Orvieto, Siena, Pisa, Spezia, die Riviera und Genua, mit Wanderungen im tollsten Scirocco, drangen wir langsam zu den Schweizer Alpen vor, die gelegentlichen Rückfälle ins tiefe Nervenelend verachtend. Auf der Fahrt von Viterbo nach dem Felsenmärchen Orvieto im offenen Einspänner, von der Sonne prächtig angeglüht, von der Tramontana wonnevoll angeweht, nahm ich den Hut vom Kopf[157] und setzte ihn nicht wieder auf; die Folge war, daß nachts in Orvieto, im Bett, unter schlafzerstörendem Jucken die verbrannte Haut von meinem Oberkopf herunterging.
Doch wir welschlandseligen Märtyrer sollten wie zum Lohn noch einen besonderen Himmelssegen erleben: das damals fast ungekannte Meerwunder Portovenere. Wir saßen in der Croce di Malta in Spezia, vor uns Golf und Meer; ich las in Ernst Försters»Handbuch für Reisende in Italien« einige trockene Worte über ein in der Nähe gelegenes Porto Venere mit Schloß und Kirche; »S. Pietro auf den Fundamenten eines Venustempels.« Dann noch ein Wort über »eine wundervolle Aussicht« und »Brüche von schwarzem Marmor mit gelben Streifen«. Dieses Letzte erregte meine Phantasie, ich weiß nicht, warum; »Hans,« sagte ich, »das könnte etwas ganz Besonderes sein, das Förster unterschätzt hat wie anderes auch. Jedenfalls gibt's eine reizende Fahrt. Versuchen wir's, auf gut Glück!« Einig wie immer nahmen wir ein Boot mit zwei Ruderern und fuhren in den schönen, sonnengoldenen Golf hinaus. Als wir nach dritthalb Stunden um die Ecke bogen, erstarrten wir fast vor Überraschung: so märchenhaft schön erhob sich Portovenere aus der Flut mit seinen grauen, hochstirnigen, dreifach übereinander gedrängten Häusern, dem betürmten Kirchlein auf der letzten Klippe und der hochaufragenden Festung über der alten, halbverschwundenen Burg. Gegenüber, nur einen Pfeilschuß entfernt, lag die Marmorinsel Palmaria wie ein riesenhafter besonnter Walfisch auf dem grünen, blauen, am Horizont dunkelroten Meer.
[158] Wir landeten, wir stürmten durch den schmalen Ort, die engen Gassen zum äußersten Fels, den statt des alten Venustempels die genuesisch schwarz und weiß gestreifte Kirchenruine San Pietro krönte. Von rechts erscholl ein Durcheinander von hellen Stimmen, plätscherndes Gelächter; wir traten durch eine Pforte in der alten Burgmauer auf das Ufergestein hinaus und sahen ein entzückendes Bild. Ein Hause badender Knaben, groß und klein, tummelte sich in einer kleinen, schiefer- und marmorfelsigen, durchbrandeten Bucht; die einen schwammen hin und her, die andern stürzten sich jauchzend kopfüber in das weiß aufschäumende, durchgrünte Blau. Hinter ihnen stiegen hoch, gelblich, rötlich, grau, die allerschönsten Felsen aus dem Meer empor, wie von einem edelsten Künstler gefühlt und geformt; so griechisch, wie wir's je geträumt, etwa wie ein sehnsuchtsvolles Erinnerungsbild des blinden Homer.
Wir schlenderten berauscht, halbbetäubt in den Ort zurück, stärkten uns an Aal und Hummer; wiederkommen! dachten wir wie aus einem Kopf. Wir fuhren in unsrer Barke wieder nach Spezia, verschwelgten dort den übrigen Tag; am nächsten Morgen wanderten wir aber über die Höhen an den Golfbuchten hin nach dem »Venushafen«. Als gemeinsame Wohnung fanden wir ein großes, stattliches Zimmer mit schönem Blick (im Karneval der Tanzsaal dieses Fischernestes); wir zahlten zusammen Nacht für Nacht eine Lira, achtzig Pfennige. Unsere Ernährung übernahm der Schneider des Orts, der zugleich auch Wirt war; es gab aber nur Meeres fleisch: Fische in jeder Art der Zubereitung, [159] Aale, Hummern, Muscheln. So verlebten wir hier fünf, sechs Tage, eine allerseligste Zeit. Wir stiegen und kletterten überall umher, auch drüben auf Palmaria, genossen diese kleine odysseische Welt, bis wir sie auswendig gelernt hatten, den reinen Zauber der Formen, das wunderbare Brausen um die felsigen Ruinen, die züngelnde Brandung in den Grotten, die Fernblicke auf das in blauem Duft schwimmende Capraja und die dämmernden Gestade von Korsika, die unerschöpflichen Wechsel der Beleuchtung. Hans zeichnete, ich dichtete: mir wuchs hier eine Versdichtung »Die Geschwister von Portovenere« heran, die ich später als Erzählung schrieb. Er zeichnete auch vor der Tür unseres Wirts, die Weiber und die schöne Cerina, unter großem Zulauf des Volks. Im Hafen warfen wir Geld unter die Knaben. Kurz, wir waren glücklich.
Einmal standen wir oben auf einer der Terrassen, die zur Festung hinansteigen und noch darüber hinaus, und schauten auf San Pietro und die alte Burg hinab; ein so großes wie liebliches Bild. Trunken von so viel Schönheit, waren wir wohl lange still. Plötzlich sagte Hans: »Dies ist aber ebenso schön:
[160] Ich nickte ihm zu: du hast recht! Und so feierten wir beide unsern Dichterkönig.
Indessen schon in Portovenere hatte die Buße für diese nervenverzehrende Seligkeit begonnen; im Weiterwandern jenseits von Spezia bei afrikanischer Schwüle, in den durchfahrenen, ruhelosen Nächten, in den schonungslos genießenden Tagen wuchs sie zum »Fegefeuer« heran. Mit zersehenen Augen und zerlebten Sinnen kamen wir endlich nach Deutschland zurück. Gegen den neuen, wilden, elftägigen Scirocco, der nun München durchschwülte, hatte ich keine Waffe mehr; meine Nerven erlagen wie zarte Pflänzchen, die eine tropische Mittagsglut verbrennt. Als ich dann mit den andern nach Seeon kam, war ich derselbe, der vor mehr als drei Monaten aus Frankfurt geflohen war: ein vom Schlaf verlassener Mann. Wieder lag ich die langen Nächte in ewigem Wachsein da; mich zuletzt oft ins Dichten rettend, um die langsam schleichende Zeit wenigstens etwas edler zu töten. Ein Zustand, von dem eines dieser Gedichte, an die Sehnsucht gerichtet, sagt:
[161] Davon sag' ich nun weiter nichts. Nur von der rührenden Liebe und Freundschaft der andern, Frau Klaras und ihrer Söhne, Paul Heyses, auch seiner Kinder, sag' ich noch ein Wort. Sie vergoldeten mir jede gute Stunde, verkürzten mir die Einsamkeit, in die mich die krankhafte Scheu meiner Nerven trieb. Ich konnte endlich nicht mehr die Orgel am Sonntag in unserer Kirche (wir wohnten in einem ehemaligen Kloster), nicht das Niederstoßen eines Bierseidels im lebhaften Gespräch ertragen. Als wir im September nach München zurückkehrten, ging ich aufs Marsfeld in die Nervenschule: während die jungen Trommler sich im Trommeln übten, übte ich mich darin, ihnen zuzuhören. Nun, ich lernt' es auch. In der langen Seeoner Ruhe hatte ich doch wieder Kraft gesammelt.
Aber erst in München fand ich besseren Schlaf. Als der Oktober kam, konnte ich gegen Lenbachs »Auf nach Seeon!« wieder »Auf nach Rom!« sagen. Und so hielt ich dem Hans doch mein Wort: im Herbst er und ich ins »gelobte Land« zurück!
[162]Wenn ich an meine Welschlandreifen mit Hans Kugler zurückdenke, und mich erinnere oder auch in alten Aufzeichnungen finde, wie viel wir, damals beide Nervenmärtyrer, unter diesen ersehnten und geliebten Genußstrapazen gelitten haben, bald der eine, bald der andere, und oft beide zugleich; und wie insbesondere Hans nach jedem lebensseligen Aufschwung, wie wenn er dem Teufel eine Schuld zu zahlen hätte, immer wieder seinem innewohnenden Dämon verfiel: so überkommt mich eine Rührung, die mir jeder edle Sinn wohl nachfühlen mag. Wie oft und wie gründlich haben wir unsre Luft gebüßt; wie vieles ward bei uns als Torheit bestraft, was bei andern nichts als natürliche Ausübung des Jugendrechtes, selbstverständliche Kraftbetätigung ist. Und dieser herrliche Mensch, mein Hans, was für eine Herkulesarbeit war sein ganzes Leben! Nicht nur jede dieser Reisen, auch die große Reise zum Tod. Er vollbrachte sie aber mit einem Humor, den wohl kein Herkules hatte, und mit einer vornehmen, unerschöpflichen Liebenswürdigkeit, die ich immer wieder bewundern mußte, bis zur letzten Stunde. [163] So war er denn auch der beste Reisekamerad, der ut denken ist; wie viel er auch unterwegs zu erdulden und sanft zu klagen oder heroisch zu verschweigen hatte.
Wir wollten diesmal Rom auf einem längeren Umweg erreichen und auch dasjenige Stück von Südfrankreich sehen, das gleichsam ein zweites Italien ist. So zogen wir, am 4. Oktober (1864) von München aufgebrochen, über den Genfersee, den wundervollen, ins Rhonetal hinein und zunächst nach Lyon, um doch auch die Hauptstadt des Südens zu besuchen. Hier erlebten wir die erste Überraschung, deren einem in Frankreich so manche wird; aber gleich eine so gründliche, daß ich fürchten muß, mancher meiner Leser glaubt mir nicht. Wir kamen abends an, es nachtete schon; am Bahnhof keine Droschke, nicht eine! Für alle die Reisenden, die ausstiegen – eine hübsche Menge – standen zwei Omnibusse da; aber nicht so zum Einsteigen, o nein, das duldete die bureaukratische Schreibseligkeit des Galliers nicht, von der ich hier die erste Probe erlebte. Es gab da einen Schalter, an dem man »Queue machte« und für die Omnibusfahrt in die Stadt geschriebene Billette kaufte; das dauerte fast eine Stunde, bis die Zeremonie beendet war. So kamen wir in die zweite Stadt des französischen Kaiserreichs.
Um auch etwas gutes zu sagen, füg' ich gleich hinzu: in den französischen Hotels, von Genf an und so weiter, lebte man wirklich »wie Gott in Frankreich«; es war Hotelpoesie zu nennen; den Segen dieses Bodens und das Talent der Bewohner, diesen Segen auszubeuten, haben wir an jeder Wirtstafel genossen und gepriesen. [164] Diese guten, menschenfreundlichen Weine, wie Wasser auf den Tisch gestellt; diese unvergleichlichen Früchte, Birnen, Feigen, Trauben! Durch das schöne Rhonetal, bis zum Mittelmeer, zog dann freilich auch der besondere Windgott der Provence, der schneidige Mistral mit, der gern drei, auch neun Tage weht; der einzige, dem es gelang, Hans und mich gleichsam zu entzweien: mir stärkte dieser himmelblaue Nordwind die Nerven, daß es eine Luft war, ihm brachte er Erkältung, Mißvergnügen, Elend. Am heftigsten begrüßte er uns in der Hauptstadt der Provence, Avignon; doch Hans, seiner Herkulesarbeit obliegend, genoß tapfer mit. Wir freuten uns an dieser ersten Stadt, die einen stark italienischen Eindruck machte; an dem alten Palast der Päpste, einem riesenhaften Festungsschloßbau mit labyrinthischen Gängen, gewaltigen Wölbungen, tiefen Gefängnissen; an den herrlichen Uferfelsen, die man schön (wenn der Mistral einen nicht in die Rhone wehte) von der langen Brücke sah; auch an dem gegenüberliegenden Villeneuve, das wir wie ein Märchen aus Tausend und eine Nacht durchwanderten: ein zur Zeit der Päpste groß gewordenes Dorf, das nun ein gespenstisch verödetes, halbverlassenes Städtchen war. Dann kamen wir in Nimes zur Antike, die wir in Vienne und Orange nur im Vorbeigehen gesehn; wie römisch ward uns vor und in der prächtigen Arena, wie griechisch vor dem alten Tempelchen, derMaison carrée, zu Mut. Aber das Größte war unsArles, eine erstaunlich charaktervolle, von ihrer Geschichte wie mit Zungen redende, durchaus italienisch anmutende, etwas verfallene Stadt; [165] mit ihren zum Teil uralten Mauern, ihren schönen Frauen (so viel Schönheit bei so kleiner Menschenzahl hab' ich sonst nirgends gesehn), mit ihren großartigen antiken und mittelalterlichen Überresten ein kleines Rom. Das merkwürdig wohlerhaltene Theater, die Arena mit den mittelalterlichen Türmen und den der Zeit trotzenden Gewölben, das Portal und der Klosterhof von St. Trophime, endlich die Champs Elysées und die wunderschöne Kirchenruine daselbst – – hab' ich das alles damals zu hoch geschätzt? Nein, ich glaube nicht. Ich hatte oft ein Heimweh nach Arles, hab' es heute wieder.
In Toulon erlebte ich endlich die Lösung des Rätsels (sozusagen), das mich seit jener Frankfurter Nacht noch immer nicht ganz freigegeben hatte: Erscheinung oder Halluzination? Hans und ich schliefen in demselben Zimmer, er in einem großen Himmelbett; es begann wohl eben die Morgendämmerung, als ich erwachte. Vor mir stand oder schwebte ein Kopf, ähnlich wie damals, geisterhaft, die Augen auf mich gerichtet, geheftet. Ich starrte ihn an; er wich langsam zurück, gegen Hansens Himmelbett; dort verschwand er oder verging. Das erschreckte mich zuerst in meiner Schlaftrunkenheit, ja, es entsetzte mich; mich durchfuhr ein traumtoller Gedanke: Hans ist tot! Sein Geist hat mich aus dem Schlaf geweckt! – Ich horchte, ob ich ihn atmen hörte. Eine Weile hört' ich nichts. Endlich – – hörte ich ihn zuerst? oder wachte mein Vetstand zuerst? Das weiß ich nicht mehr. Ich fühlte aber, und aus dem Fühlen ward erlösendes Begreifen: Was dir als Zurückweichen erschien, war ja nur Vergehen! [166] wie das Abbild eines hellen Fensters vergeht, das dir in den dann geschlossenen Augen eine Weile blieb, das ein Nachbild war. Dieser Kopf war nur in dir. Der Frankfurter auch. Du hattest zu viel Blut in den Augen, oder an den Nerven – oder was sonst. Es war ein im Wachen geträumter Kopf. Ob es nun Geister gibt oder nicht, du hast noch keinen gesehn!
So ungefähr kamen die Gedanken. Hans atmete; und ich atmete auf. Der ich immer nach Freiheit des Geistes und der Seele lechzte, von diesem Gespenst war ich frei!
Aber nun galt es noch, die immer wieder lauernden Geister meiner Nervenkrankheit auszutreiben; und wie viel da noch zu tun war, ahnte ich doch nicht. Hans war brüderlich bereit, mit mir ein paar Wochen in Nizza zu bleiben, damit ich dort eine wirkliche Kur begänne; und in dem französisch gewordenen Nizza angelangt, besuchte ich einen mir empfohlenen deutschen Arzt, Doktor Lippert, der mich mit aller Gründlichkeit untersuchte, aber (wie ich vorher wußte) nichts als reizbare Nerven fand. Er verordnete oder riet eine mir einleuchtende kombinierte Kur: Wasser, Gymnastik und Obst, zunächst Trauben, so lange es deren gab, dann Birnen, dann Orangen. Ich rieb mich jeden Morgen mit Meerwasser ab, das man mir aus der nahen seichten Brandung holte. An der Gymnastik und dem Traubenessen nahm Hans mit vielem Vergnügen teil. Wir durchschweiften das Land, studierten das Volk, sahen den Kaiser von Rußland, der über die französische Besatzung (fast alles dekorierte Leute; die Veteranen hatten ihn in der Krim besiegt) Revue abhielt, sahen [167] später auch den Kaiser Napoleon, der nicht mehr sechs Jahre herrschen sollte und wohl auf dem Gipfel seiner Macht, seines Glückes stand. Ich las römische Dichter und Tacitus; Arria und Messalina traten mir zu einer dramatischen Phantasie zusammen; es fehlte aber noch die entscheidend verbindende Gestalt: die sollte mir erst später zwischen Rom und Neapel kommen. Endlich brachen wir auf, »gen Rom«. Eine herrliche Meerfahrt auf dem Dampfer Espresso an der Riviera di Ponente entlang, vom Morgen bis zum Abend, führte uns nach Genua, das, in der Dämmerung allmählich aus dem Nebelduft heranwachsend, dann im Dunkel der Nacht märchenhaft beleuchtet, uns als Vorposten Italiens in all seiner Pracht empfing.
Nach ein paar Wochen verreisten wir, um in Bologna und vor allem Florenz recht der Kunst zu leben. Wie viel man in Florenz genießen und lernen kann, brauch' ich nicht zu sagen; daß wir es wieder ein wenig übertrieben, sagt sich der werte Leser wohl selbst. Die stärkste Florenz- und Toskanaempfindung überkam uns an einem himmlisch verklärten Nachmittag und Abend in Fiesole; die gewaltigste und andächtigste Erhebung wohl vor Michelangelos Medicäergrabmälern in San Lorenzo. Zuletzt sehnten wir uns beide nach Arbeit und Ruhe. Am 17. November waren wir wieder in Rom. »Wohltuendes Heimatsgefühl!« schrieb ich dort am ersten Tag.
Zu unserm Schmerz fanden wir aber diesmal keine passende gemeinsame Wohnung; wir mußten uns trennen, ich mietete mich an der Piazza de' Cappuccini ein, in einem großen, Winterwärme versprechenden [168] Zimmer, mit wohltuendem Blick in einen Kamelien-und Orangengarten. Hier trieb ich nun mein Wesen als Nervenheilkünstler weiter; ich hatte mich mittler weile rastlos zum Zimmerturner ausgebildet, und jeden Morgen und Abend arbeitete ich mit und ohne Hanteln, in möglichst vielseitigen Bewegungen, lange, nackt, bei offenem Fenster; oft auch von Sonnenstrahlen getroffen – eine Art von Sonnenbad. Ich lebte also schon damals so, wie jetzt zu meiner Freude die vielen Tausende leben; seit Jahren ich auch, von neuem, und zu meinem Segen. Bald begann ich auch die Birnenkur, der später die Orangenkur folgte. Daneben setzte ich freilich auch das nervenverbrauchende, anstrengende Leben draußen und zu Hause fort, ohne das ich mich nicht würdig fühlen konnte, in Rom zu sein. Ich erlebte ja jeden Tag, auf Stadt- und Volk- und Kunstwanderungen, daß ich hier noch unermeßlich viel aufzunehmen hatte. Ich wurde ein eifriger Kostgänger der Bibliothek der deutschen Künstler in der Villa Malta, ich las fast alle griechischen Dichter, den ganzen Herodot, den ganzen Polybios, Burckhardts Cicerone, Vasari, ungezähltes andres dazu. Ich diente meinen Malerfreunden oft und immer wieder als Modell, Studium, Bild; wovon freilich das meiste mißlang. Ich wanderte aber auch mit ihnen weit und breit umher, was den Nerven nicht Verzehrung, sondern Stärkung war und das »unaussprechliche Glück meines Lebens« (wie ich im Januar in mein Tagebuch schrieb) wundervoll erhöhte.
So weckte eines Tages, am ersten Dezember, eine belebende Tramontana plötzliche Sehnsucht, in die[169] Berge zu gehn; Hans Kugler, Marées, Metzener und.ich, nichts als Zahnbürste, Kamm und Seife in der Tasche, brachen am schönsten Morgen auf und zogen zur Via Appia hinaus, um die ganze Gräberstraße entlang und so durch die Campagna fort nachAlbano zu schlendern. Die Sonne durchwärmte die Winterluft, sie legte rings ihren Finger auf alles, was schön war; wir studierten uns von Grabmal zu Grabmal weiter; ich beobachtete Nahes und Fernes für eine phantastische Dichtung, die in mir erwacht war und deren Helden ich in seiner Schwermut- und Menschenfluchtzeit hier in der Campagna leben ließ. So kamen wir langsam, erst nach vielen Stunden, nach Albano hinauf; genossen den weiten Blick aufs Meer, die italienischeste Abendseligkeit, dann auch noch die Nacht auf einem Spaziergang nach Ariccia zu. Früh aber am andern Morgen wanderten wir weiter, Himmel und Erde lockten zu sehr. Auf der Galleria di Sotto, dem schönen Steineichenweg, gingen wir nach Castel Gandolfo, dem Sommersitz der Päpste (damals noch; jetzt verlassen sie den Vatikan nicht mehr) und an den altvulkanischen, feierlich prächtigen Albanersee; weiter nach Marino, das mich wie ein kleineres Orvieto überraschte, mit der schönen tiefen Schlucht, dem malerischen Weg hinauf, den Hütten und Schweineställen rechts im dunkelbraunen Fels – alles aufs anmutigste und heiterste an die Antike erinnernd. Dann aufwärts nach Roccadi Papa, einem verräucherten, jähen Felsennest, das in der Nähe von Schritt zu Schritt malerischer ward und unter seiner stolzen, grauen, mit Steineichen wie mit einem nickenden [170] Helmbusch verzierten Kuppe fast wie ein steingewordenes Märchen erschien. Auch diese Kuppe erstiegen wir, von einem Dorfjüngling geführt, der uns unterwegs belle donne anbot. Riesenhafter Blick! Über Wolkenschatten und absinkendes Vorland hinweg auf das in der Tiefe sonnenglänzende Rom, rückwärts auf den verfinsterten Albanersee und das von Arbeiterfeuern rauchende »Lager Hannibals«. Doch wir hatten noch ein Ziel, den Monte Cavo, den Gipfel des Albanergebirgs, den altheiligen Berg. Auf der antiken heiligen Straße, deren Basaltlavasteine der Fuß noch wie in römischer Zeit betritt, stiegen wir hinaus. Bis hierher war es ein Wundertag, eine Perlenkette, nun schien aber der lichtspendende Nordwind durch einen tückischen Afrikaner abgelöst: die Aussicht nach Süden hatten Wolken und Nebel verschleiert, nur hie und da ein Riß, ein flüchtiger Durchblick, und heraufsteigende Schwüle griff uns an die Nerven.
Indessen erfolgte ein allgemeiner Beschluß: Coraggio, Mut und Fidelität! Wir wollten zur Nacht nachNemi hinunter; den Weg durch die Wälder wußten wir nicht, einen Führer hatten wir nicht, Menschen sahen wir nicht, wir stiegen aber singend und uns verirrend übermütig vergnügt hinab. Überraschend schnell kam der Lohn der Götter: die Luft ward wieder hell und frisch, und mit improvisiert fugiertem Gesang: »Die Tramontana hat gesiegt! Die Tramontana hat gesiegt!« stürmten wir weiter. Es war eine kunstlose Gefühls fuge, so sangen sich vielleicht einst marschierende West- und Ostgoten durch Italien durch; Palestrina hätte es schöner gemacht, wir machten es [171] germanischer. So verirrten wir uns endlich richtig nach Nemi hin. Vor dem Eingang in das Dorf, an dem alten, efeubewachsenen Tor und den violettbraunen Ziegenstallhöhlen umflammte uns die wunderbarste Abendsonnenbeleuchtung, fast wie künstliches Licht bei Nacht; alles brannte. Begeistert, berauscht zogen wir in diese Herrlichkeit ein. Die Licht- und Feuerverschwendung wärmte freilich nicht; es war tüchtig kalt. Nach unserm tapferen Nachtmahl froren wir in unsern Betten. Es gab deren nur zwei, ein großes und ein kleines. Die drei Maler legten sich in das Riesenbett; mich, den Auch nochnichtsgewordenen, ließen sie großmütig allein in dem andern schlafen.
Der nächste Tag brachte schönstes Wetter und den unendlich lieblichen, wie von Homer gedichtetenNemisee. In der Morgenkälte, innerlich durchsonnt, wanderten wir den malerisch poesievollen Weg an den See hinunter, der so tief und still in seiner Kraterhöhle liegt. Alles wirkte griechisch, die so kühn wie schön aufgebauten Mühlen, halb im, halb am Fels, über uns die in der Sonne glänzenden Mauern und Häuser von Nemi zwischen den bewaldeten Felsen, unten am Wasser die Üppigkeit, die Riesenefeustämme, die sich um Feigenbäume und Erlen wie Schlangen erdrückend herumlegten und sie mit ihrem dunkelgrünen Gebüsch wie mit Hecken umkleideten; die vorhängenden und vorkriechenden Erlen im See, die Erdbeerfelder am Fuß der edelbraunen Gesteine und herbstbraunroten Laubbäume, die tausend Schlingpflanzen auf Hecke, Fels und Baum; und überall die hohen [172] Ufer in der Morgensonne leuchtend. Immer schauend, staunend versank ich in mich: der Nemisee dichtete an meinem »Portovenere« weiter. Nach langem, oft verweilendem Schlendern stiegen wir zu dem erwärmenden Sonnenschein von Genzano hinauf; wanderten nach einem stärkenden Frühstück, Kastanien und Nüsse knabbernd, nachAriccia weiter, auf der tiefer gelegenen schönenalten Straße, die sich um die neue herumschlängelt. Entzückende Baumstudien nach allen Seiten; wir verglichen die immergrünen und die deutschen Eichen, die wie wetteifernd dastanden; zuletzt entschieden wir uns: beide gleich vollkommen! Von Ariccia zogen wir nach Albano weiter und dann wieder nach Ariccia zu rück; wir umwanderten es fast von allen Seiten, drangen in die engen Täler ein; die genießenden Augen fanden keine Ruhe. Die Abendsonne gab uns wieder ein großes, seuerwerkendes Fest. O ihr seligen Tage! – Endlich Abschied nehmend, mit raschen Schritten gingen wir zum Bahnhof von Albano. Schnellzugfahrt bei Halbmondschein durch die dunkle, geisterhaft beleuchtete Campagna; mit improvisiertem Chorgesang, wie auf dem Marsch nach Nemi, Einzug in das ewige Rom.
So durchwanderte ich zu anderen Zeiten, besonders an Feiertagen, mit den Malerfreunden das tote oder das lebendige Rom, um das hereinströmende Landvolk zu studieren oder den Papst und die hohe Geistlichkeit bei ihren Kirchenfesten zu sehn. Am Heiligabend, nach dem gemeinsamen Abendessen im »Carlin«, durchzogen wir die nächtliche Stadt: Kapitol, Forum, Vestatempel, [173] Tiberbrücke, Ghetto – alles gewaltig, geisterhaft, ergreifend. Zuweilen suchten wir auch das Römervolk im Theater auf; so feierten Hans Kugler, Füßli und ich einen Januarssonntag imTeatro Capranica, wo wir, da das Haus überfüllt war, eine Loge nahmen. Ein echt italienischer Theaterabend (von. halb acht Uhr bis Mitternacht); Sonntagsvolk, die ganzen Familien bis zu den kleinsten Kindern hinab, Säuglinge an der Mutter Brust; die Zuschauer immer mitspielend, durch herzhafte Äußerungen sittlichen Unwillens oder Beifalls, oft mit Pfeifen und Schreien, auch kecke Witzworte fehlten nicht. Der Bösewicht des Stücks konnte in den letzten Akten kaum mehr zu Worte kommen; desto herzlicher achtete und ehrte man einen edlen Räuber, der den befrackten und mit einem Ordensband im Knopfloch geschmückten Intriganten mehrmals majestätisch herunterkanzelte. Dieser Räuber war denn auch der Titelheld: il formidabile leone di Oblaja. Das Salz des langweiligen fünfaktigen Dramas war Stenterello, der Hanswurst (im florentinischen Dialekt), der besonders Verkleidungen liebte und immer mit ungeheuren manierierten Brauen und dicken Mund- und Backenfalten erschien. Auf das Schauspiel folgte ein Ballett – das Publikum war selig – und zum Schluß eine brillantissima Farsa (Posse): Stenterello in verschiedenen Verkleidungen, seinen Herrn verhöhnend und prellend, so grob wie im Puppenkasten. Die Freude der Zuschauer stieg auf ihren Gipfel.
Von dem Gestank, der das Theater erfüllte, lasset mich nicht sprechen.
[174] Unterdessen ging ich auch meinen eigenen dramatischen Phantasien und Entwürfen nach; neben der Dichtung »Die Geschwister von Portovenere«, die immer wieder auftauchend fortwuchs, gestaltete sich ein Blücherdrama (das ich später in München unter dem Titel »Frieden im Krieg« schrieb) und ein Trauerspiel »Gracchus der Volkstribun«. Der Plan reiste schon, zur Ausführung konnte er in Rom nicht kommen: dazu hätte nicht nur Zeit und Muße, auch die Nervenkraft noch gefehlt. Auch zog mich von meinem Brüten und Formen, Dichten und Versemachen immer wieder die Sehnsucht zu den Meistern der bildenden Künste hin, die hier so viele Kirchen, Museen und Galerien füllten. Meine Malerfreunde kopierten sie, Lenbach, Marées, Fitger und Hans; ich suchte sie auf meine Weise in mir festzuhalten. War mir sonst wohl Tizian der Wunderreichste geworden, hier wuchs mir Michelangelo über alle empor; er, der obendrein auch noch die Peterskuppel in den römischen Himmel hineingedichtet hatte. In der sixtinischen Kapelle überwältigte er mich mehr und mehr; der »erhabene Gigant«, sein Moses, machte ihn mir übermenschlich groß. »Es ist nie etwas ähnliches geschaffen worden!« schrieb ich in mein Reisebuch.
Soll ich auch noch vom Karneval reden? Es ist hundertmal geschehn. Wer ihn erlebt hat, dem bleibt etwas; wer ihn nie erlebt hat, kann doch ruhig sterben. In mir entwickelte und steigerte sich, da der März nun kam, eine neue Sehnsucht: endlich auch Neapel zu sehn und alles, was dazu gehört. Eine Weile war Lenbach fast entschlossen, mich zu begleiten; [175] ihn hielten dann doch seine Arbeiten fest. Hans wollte mit; dann wollten aber seine Nerven nicht, die ihm immer wieder Teufelspossen spielten. Zuletzt sagten beide: wenn's möglich ist, so kommen wir nach! Mich trieb die Unruhe fort, allein. Ich fühlte zu tief, daß ich da unten am Golf von Napoli noch Großes zu erwerben, Schätze fürs Leben zu erobern hatte.
[176]Ich weiß nicht, wie es andern Dichtern ergeht; mir geschieht es oft, daß das Abendlicht und die Abendstimmung den Zustand in mir hervorruft, der – wie soll ich es sagen – der die Phantasie befruchtet und aus einer tiefen, weichen, verklärten Bewegung des Gemüts eine neue dichterische Schöpfung hervorblühen läßt. Wie wenn in der Abendluft poetische Keime schwebten, die die Seele auffängt.... So erging es mir, als ich zum ersten Mal, im März 1865, von Rom nachNeapel fuhr. Die Reise (nicht Schnellzug) währte den ganzen Tag; die kahlen, bräunlichen Gebirge, die bleichgrauen Felsenstädte, dann die dramatisch lebendigen Gespräche der Mitreisenden über die wilden Kämpfe, die in diesem neapolitanischen Bergland zwischen Eingeborenen und den Soldaten des jungen Königreichs Italien stattgefunden, hatten schon eine große, träumerisch erregte Stimmung in mir vorbereitet. Jetzt kam, da wir durch das »glückliche Campanien« rollten und die Sonne sank, die feierlichere Zeit[177] heran; der Abendglanz verklärte die Welt und alles, was ich fühlte. Alte poetische Phantasien tauchten wieder auf, so auch die altrömischen Gestalten, die mir in Nizza gleichsam zum Leben erwacht waren, die heroische Arria, die üppige Messalina. Mir fehlte noch ein Drittes, das diese Gegensätze zusammenband.... Auf einmal erschien ein bleicher Jüngling – edel wie Arria, leidenschaftlich wie Messalina. Er ward der Arria Sohn, er gewann die Messalina zu lieb. Die Tragödie war da, war mit ihm gekommen.
Erst eine Reihe von Jahren später hab' ich sie geschrieben; das Leben macht oft so wunderbare Schritte nach rechts und nach links. Aber ich hatte sie, die Tragödie, wie ich auch den Gracchus hatte; ich konnte sie noch verschweigen, aber nicht verlieren.
Neapel, in das ich nun einzog, ist eine kleine Welt für sich; es ist eine der größten und merkwürdigsten Hafenstädte der Erde, es hat ein unendlich gesegnetes Hinterland, den schönsten Vulkan, die schönste Insel, die verschüttetste und ausgegrabenste Nachbarstadt, eine der reizendsten Sommerfrischen (Sorrent) und eine der unerfreulichsten Bevölkerungen. Zwar versichern Reisende, die von Syrien oder Jerusalem hinkamen, daß ihnen gegen den dort erlebten Abschaum der Menschheit das Volk von Neapel unschuldig, bieder und gemütlich erschienen sei. Auch hat es Musik, Poesie, also glänzende Verteidiger; auch ist viel Naives in seiner Verdorbenheit. »Ihr seid große Kinder!« hab' ich mehr als einmal zu unerschütterlich unverschämt lästigen Neapolitanern gesagt. Aber es ist doch harte Wahrheit in dem, was mir Lenbach auf der Hochzeitsreise [178] mit seiner zweiten Frau aus Neapel schrieb (dem Sinn, nicht dem Wortlaut nach): Hier gibt's viele Herrlichkeiten, aber daß Du's wochenlang unter diesen Menschen aushalten willst, das begreif' ich nicht!
Schon ihre Zudringlichkeit kann einen festen Mann zur Verzweiflung bringen. Als ich vor Jahren mit meinem schon erwachsenen Sohn in Neapel, und gerade nicht sehr »fest«, sondern nervös angegriffen war, bat der Jüngling mich: Laß das alles gehen, Vater, überlaß es mir! – Va bene. Wir schlenderten in der Villa Nazionale am Meer, wir mit einem Freund; einer dieser unzähligen Verkäufer verfolgte uns, war nicht abzuschütteln, pries uns seine Nichtigkeiten mit so geräuschvollem Pathos an, daß ein Gespräch unter uns fast unmöglich war. Ich ertrug ihn, Gott weiß wie es kam, mit stoischer Geduld; plötzlich, wie der Blitz, fuhr mein Sohn herum und schrie den Kerl so nervenwild an, daß ich inwendig lachen mußte. Das ortsübliche Gewitter war auch über seine gesunde Ruhe gekommen.
Damals, bei meinem ersten Aufenthalt, erlebte ich dieses Elend nicht; meine Erscheinung war so schlicht, einem »armen Pittore« ähnlich, und ich bewegte mich zumeist in den Sammlungen oder draußen um die Stadt herum. Böcklin hatte mir ein bescheidenes, billiges Hotel Garni in einer unscheinbaren Gasse empfohlen; dort war damals Totenstille, ich der einzige Gast, und Andrea, der noch junge Kellner (von Geburt Römer, glaub' ich), entpuppte sich bald als ein rührend treuherziges, für menschenfreundliche und menschenwürdige Behandlung dankbarstes Geschöpf. [179] Ich freute mich, mein Italienisch an ihm zu üben, ich staunte, wie viele Dinge er wußte; bald erstaunte ich dann noch mehr. In langen Unterhaltungen gestand er mir: er war nicht nur einer der Garibaldiner von 1860 gewesen – sein Stolz –, er hatte auch zu den römischen Verschwörern gehört, die sich verpflichtet hatten, den eigentlichen Regierer des Kirchenstaats, den Mißregierer, den verhaßten Kardinal Antonelli zu ermorden. Das Los entschied, wer die Tat vollbringen sollte; es traf einen, der ungern in den fast sicheren Tod ging, weil er Weib und Kind hatte. »Aber was wollt' er machen,« sagte mein Andrea; »ermordete er ihn nicht, so ermordeten sie ihm Weib und Kind, das war geschworen!« Der Mann griff denn also den Antonelli im Vatikan auf der großen Treppe an, »hatte aber nicht Schneid' genug«; sein Dolch stieß vorbei, des Kardinals Begleiter ergriffen ihn, er ward hingerichtet.
Das alles erzählte Andrea mit seiner guten Stimme und seinem guten Gesicht. Was sind das für Zeiten, dacht' ich, wo Menschen wie dieser weichherzige Hausvater und wie dieser Andrea sich zum Mord verschwören! Unwillkürlich sah ich mir den kleinen, sanftäugigen Andrea an: und wie wär' dir's ergangen, dacht' ich, wenn das schwarze Los dich getroffen hätte?
Neapel hat noch eins, mir damals das wichtigste: eine Sammlung antiker Bilder und antiken Kunstgewerbes, die unvergleichlich, die einzig ist. Aus den Städten, die der Vesuv wie auf höheren Befehl verschüttet hatte, ward sie ausgegraben; und wie handwerksschwielig auch die Hände waren, die diese Nachbilder [180] nach griechischen Malereien auf die Wände warfen, sie geben uns doch eine Welt von lebendigen, aus Hellas grüßenden Eindrücken und eine unendlich erhöhte, ahnungsvolle Sehnsucht nach dem, was verloren ist. Und wenn uns nichts geblieben wäre als das Mosaik der Alexanderschlacht – welch ein Wunderwerk! Wie anmutsvoll auch der bronzene sogenannte Narziß! um von allem andern zu schweigen, das dem Feuerspeier gleichfalls hoch anzurechnen ist. Von diesen Zeugen vielhundertjähriger Schöpferkraft und Schönheitsfreude umgeben, in die ich mich mit allen meinen Kräften zu versenken suchte, und von der mithelfenden, nachdichtenden Phantasie getragen, geriet ich in einen ganz eigenen Zustand, der nicht leicht zu schildern ist. Diese tote Welt ward mir so lebendig, daß ich mit der gegenwärtigen, wirklichen zuweilen fast den Zusammenhang verlor; ich konnte durch die Straßen von Neapel (und hernach wieder von Rom) gehn und das unsinnige Gefühl haben, als gingen da neben mir unlebendige Leute herum und ich sei eben von den Lebendigen herausgekommen.
Dazu trug vor alleni auch Pompeji bei, das ich bald besuchte und vorher schon gleichsam auswendig gelernt hatte. Ich bat denn auch meinen Führer, mich mir selbst zu überlassen, und er ging nur so mit, ohne mich zu stören; ich führte mich selbst. Ich war wie zu Haus. Noch viele Jahre später konnte ich, nach kurzer Auffrischung der Erinnerung, guten Freunden »mein Pompeji« zeigen, ihr Cicerone und Kustode sein.
Ich wollte aber doch auch die unverschüttete Schönheit dieses Zauberlandes kennen lernen und fuhr [181] von Pompeji nach Vietri weiter, um im Golf von Salerno auf der hohen Uferstraße nach Amalfi zu gehn. Es ist wohl einer der schönsten Wege, die man wandeln kann; wenn die Straße von Castellamare nach Sorrent klassischer oder »griechischer« zu nennen ist, so herrscht hier eine so großartige Romantik, daß man auch überwältigt wird. Durch alle die Schönheitsstationen: Citara, Majori, Minori, Atrani hindurchgewandert, kam ich erst in der Nacht nach Amalfi; kurz vorher hatte ich zwar schon an der Straße ein Gasthaus, die Luna, gesehn, ein ehemaliges Kloster, über einem der alten Warttürme am Meer hoch und burghaft aufgebaut. Es lockte mich, einzutreten; ich wollte aber erst Amalfi anschauen, ch' ich mich für ein Quartier entschiede, und nachtwandelte weiter. Da stand ich denn am Hafen, im Dunkeln, das wenige Lichter etwas erhellten; Gruppen von Menschen hier und da, die Felsen über der Stadt wild phantastisch aufragend, aber eigentlich sah ich nichts. Ein zwerghaftes Männlein trat an mich heran: ich suchte wohl ein Unterkommen, er wolle mich schon führen. Wohin? fragte ich. Zur Luna, das sei das beste Haus; da hätten die Forestieri es gut! – Das gefiel mir, daß er dieses malerische Klosterwirtshaus nannte; va bene! sagte ich sofort und marschierte mit ihm den eben gegangenen Weg zurück. Ein nicht sehr modernes Hotel, die Luna von damals: wir stiegen außen auf drei langen hölzernen Treppen hinaus. Ein nicht sehr freundlicher Wirt empfing mich; es verstimmte ihn vielleicht, daß sein Haus so leer war; damals war Amalfi noch keine Winterfrische für Engländer und Deutsche, wie es heute ist. Ich merkte [182] bald, in dem stummen Riesengebäude war ich der einzige Gast! Mein Zimmer war wohl reinlich, neu, blickte auf Turm und Meer hinaus; mir war aber doch phantastisch zu Mut, wie in einem verzauberten Schloß. In der Stube, in der ich zu Nacht aß, war niemand außer mir als eine braune Katze, die auf einem Sofa saß, ohne sich zu rühren, und mich beständig anglotzte, als wäre sie verwunschen. Der Kellner, der mich bediente, kam und verschwand, als wär' er stumm. Was die Sache noch wunderlicher machte, war das überraschend vortreffliche Abendmahl; besonders die Makkaroni con burro waren unvergleichlich, schneeweiß, weich, schmelzend; so aß ich sie nie mehr.
Es begab sich aber weiter nichts, weder ein Mordversuch noch ein großes Glück. Am andern Morgen weckte mich früh die erste rote Sonne; ich genoß meinen Meerblick, stand auf, verabschiedete mich, um mich in Amalfi umzuschauen und dann nach Vietri zurückzugehn. Der Wirt nahm meine Zahlung entgegen; zwei Francs begehrte er für das Abendessen, vier für das Zimmer. »Wie?« sagte ich. »Wir haben ja gestern abgemacht: zwei?« – »Dunque due« (also zwei), erwiderte er mit vollkommener Ruhe.
Eine sonderbare, aber nicht seltene Art von Italienern. Sie denken offenbar: Versuchen kostet nichts; man versucht, was man kann!
Übrigens erfuhr ich später – ich weiß nicht, ob durch meinen guten Andrea in Neapel oder erst in Rom – daß es in der Luna oder wenigstens bei ihrem Wirt nicht so ganz geheuer sei. Der Wirt hatte nach der Meinung der Welt zwei Mordtaten – nicht auf[183] dem Gewissen, denn das besaß er wohl nicht – aber in angenehmer Erinnerung.
Von Vietri fuhr ich auf der Bahn nach Castellamare und wollte von da zu Fuß nach Sorrent; aber diesmal gelang es mir nicht, wie gestern in Vietri, mich durch die zudringlichen Wagenlenker durchzuschlagen; sie besiegten mich. Es war ein sehr ergötzlicher, urwelscher Fall! Gleich am Eingang von Castellamare fiel eine Schar von Vetturinen über mich her: Wagen, Wagen, Herr! Ich erklärte ihnen, es mache mir mehr Vergnügen, zu Fuß zu gehn. Sie erklärten mir, das sei unbegreiflich (und die Neapolitaner begreifen es wirklich nicht); der Weg sei auch ganz erschrecklich weit; sie führen mich auch beinah umsonst! Ich sagte: wenn sie mich auch ganz umsonst führen, ich ginge lieber zu Fuß – und machte mich auf den Weg. Castellamare ist ein langer Ort, ich hatte viele Schritte zu tun, eh' ich ans andere Ende kam; die Kutscher fuhren neben mir her. Auf dem Platz, wo die letzten Häuser standen, sprang ein anderer Vetturin von seinem menschengefüllten, aber dort noch wartenden Wagen ab und trat auf mich zu: »Herr, fahren Sie mit!« Ich schüttelte auf italienisch den Zeigefinger: Nein. Er überschüttete mich mit der ciceronianischen Beredsamkeit, die in all diesen Leuten steckt; ich, inwendig lachend, wehrte mich. Auf einmal sah ich mich umringt, alle die anderen Kutscher waren abgestiegen, alle gestikulierten sie, alle sprachen sie mit, alle sprachen sie für den einen Vetturin, als wäre er ihr Bruder und als sollte er an mir sein Lebensglück verdienen. »Herr, es ist weit, Sie laufen sich müd'!« »Herr, Sie kommen ja erst in dunkler Nacht [184] nach Sorrent!« »Aber Herr, Herr, wissen Sie denn nicht? Man yat erst neulich wieder einen Engländer auf der Fahrstraße aufgegriffen und in die Berge geschleppt!« »Wollen Sie denn durchaus Lösegeld bezahlen, Herr? Warum fahren Sie nicht lieber in der guten Kutsche da, mit dem Ehrenmann?« – Ich wendete mich zu dem Ehrenmann: »Aber Ihre Kutsche ist ja ganz besetzt!« – »Das macht nichts!« rief er. »Das macht nichts! Die rücken zusammen, das tun sie gern!« Und wahrhaftig, die ganze Gesellschaft in seinem Wagen – sechs Menschen, glaub' ich, Männer und Weiber – die während dieses Gesprächs mit Lammsgeduld wartete, gab nun durch Zeichen zu verstehen: ei ja, zusammenrücken, warum denn nicht? – »Wie viel sollt' ich denn zahlen?« fragte ich. »Anderthalb Lire, Herr!«
Anderthalb Lire! Um anderthalb Lire dieses Drama, das zwölf Menschen spielten!
Ich sah unvermerkt nach der Sonne, es war wirklich spät. Warum nicht für so wenige Pfennige eine so schöne Fahrt? – »In Gottes Namen!« sagte ich endlich. Allgemeine Freude; wie sie im Himmel sein soll über einen Sünder, der sich bekehrt. Auf einer Seite im Wagen rückten sie zusammen; ein zartes Männchen machte mir so überbereitwillig Platz, daß mir's fast zu bequem ward. »Aber Sie sitzen ja nun schlecht,« sagte ich zu ihm. Er schüttelte eifrig und lächelnd den Kopf: »Come un principe!«
»Wie ein Prinz!«
So etwas Rührendes – mir nur allzu Untertäniges – hatte ich in Italien doch noch nicht gehört.
[185] Von der Schönheit dieser Fahrt, und Sorrents, und des ganzen Golfs von Neapel, will ich hier nicht sprechen; das alles ist weltbekannt. Vorher hatte ich auch den Golf von Bajä gesehn, und Camaldoli; jede gute Stunde nützend, denn der italienische März ist wie der deutsche April, und dieser trieb es besonders bunt. Er nachwinterte unverschämt; einmal war der Vesuv tief hinab verschneit, ein andermal sah ich Berge von Hagel in neapolitanischen Platzwinkeln zusammengeweht. Solche Streiche taten mir nichts; aber in mir selber war ein Feind, der alte, der bekannte, die Rastlosigkeit, der ich immer wieder zu schwach widerstand. Beim Turnen hatte mich ein »Hexenschuß« überfallen; mit dem wanderte ich studierend herum, als sei er nur ein Begriff, und mit seinen Resten elf Stunden lang, ohne einmal niederzusitzen; mein Mittagessen, Backwerk aus der Rocktasche, verzehrte ich im Gehen, mein Getränk war: Durst. »Ein Tag voll göttlicher Freuden, aber großer Anstrengung«, schrieb ich dann in mein Reisebuch; »mit brennenden Sohlen und ermüdetem Rücken kam ich um acht Uhr abends heim.« Als ich nach Camaldoli ging, trug ich vier Orangen und Brot als Mittagsmahl bei mir; in Vietri waren mir zwei Orangen genug. Ja, wäre ich ein Gesundheitsriefe gewesen! Aber eben hier in Neapel bildete sich eine hinterlistige Zahnfistel aus, die, bis zu meiner Rückkehr nach München unerkannt, als immer schmerzhaftere Geschwulst zu Tage trat, später eitern lernte; die der deutsche Arzt in Rom zuerst durch eine Salbe »zerteilen« wollte, dann durch warme Umschläge nutzlos bekämpfte, bis er wieder, erfolglos, zur Salbe [186] griff. Mit dieser greulichen Reisegefährtin trieb ich mich noch lange Wochen, von »Genuß« zu »Genuß«, in Rom, Italien, Venedig umher, später immer ein heißes seidenes Tuch über der mächtig wachsenden Schwellung; ließ mich drei und vier und fünf Stunden hintereinander von Lenbach malen (wobei zuletzt der Geschwulst wegen die gesunde rechte Backe die linke vertreten mußte), lief, zumal in Venedig, in alle Kirchen, mit beständigem Wechsel zwischen warm und kühl, daß die Reisegefährtin mit Wollust wuchs. Laß sie wachsen, dacht' ich; ich will meinen Freudenkelch Italien bis zu Ende trinken!
Das hab' ich denn auch getan, bis zur Nagelprobe. Nach Rom heimgekehrt – dritter und letzter Aufenthalt; wenigstens für die Werdezeit – genoß ich noch einmal alles mit den Malerfreunden, flog mit Lenbach, Fitger, Metzener, Hans für zwei Tage nach derVilla Hadrians und Tivoli aus, lebte mich auf dem Forum gleichsam aus meiner griechischen Welt wieder in die römische zurück: »Alles erscheint mir hier so ungriechisch,« schrieb ich in mein Buch, »aber doch auch so groß, so groß!« Den ganzen »Friedhof« nach und nach wiederum durchwandernd, im jungen Frühling, in innigster Romfreude, fühlte ich tief, wie schwer es sei, die Stadt der Städte zu verlassen. Der Gründonnerstag ward mein Abschiedstag. Nach einem letzten Besuch bei Böcklin – viele schöne, gefüllte Stunden hatte ich dort verlebt – kam ich mit Hans zum Petersplatz, wo wir in der warmen Mittagssonne den Segen des Papstes über uns ergehen ließen. Unter dem Baldachinteppich in der Loggia der Peterskirche [187] erschien der Heilige Vater auf seinem Sessel getragen, über den hohen Bischofsmützen schwebend, die ihn umgaben, rechts und links neben ihm die bekannten großen Pfauenwedel. Er hob die Arme hin und her, dazu hörte man seine singende Stimme; endlich die Arme wie Flügel ausbreitend, sang er den eigentlichen Segen. Die Menge unter ihm, auf der Kirchentreppe, schwenkte die Taschentücher mit Beifallsrufen. Die berittenen Gendarmen neben uns – nahe beim Obelisken – fielen mit lustiger Musik gar ernüchternd ein. Rasche Kanonenschläge donnerten. Zwei Zettel, vom Papst in die Luft gestreut (das von ihm singend Gesprochene enthaltend, wie man uns sagte), wehten langsam herunter; die Frommen haschten danach. Der große Platz war übrigens beinahe leer. Hiemit war's auch aus. Die Pfauenwedel verschwanden wieder, die Bischofsmützen auch – und ich eilte davon, um meine letzten Obliegenheiten zu verrichten.
Gegen Abend fuhr ich vom Bahnhof ab, von Hans, Lenbach, Marées, Penther zum Wagen begleitet. Ein wunderschöner Abend war's; berauschende Blicke auf die Campagna, die Gebirge, den Tiberfluß; das Albanergebirg leuchtete in so überschwenglicher Klarheit, daß von Frascati bis Albano, in Grotta Ferrata, Marino, Castel Gandolfo und so fort, jedes Haus und jedes Fenster sich zu zeigen schien. Nie hatte ich die Abendsonnenglut entzückender und süßer gesehn. Schmerzlicher Genuß! – Von nun an versank ich in ein eigen stumpfes, ruhig sachliches Gefühl, das mich die nächsten Tage bis Venedig begleitete, mir alles Vorbeiziehende in seinem Wert, aber auch in seiner verhältnismäßigen [188] Dürftigkeit, Glanzlosigkeit, Nüchternheit hinstellend: hier ist nun kein Rom, kein Hellas mehr! Der Traum des Größten ist aus! – In Civita vecchia, im Dunkel, endete die Bahn; man schiffte uns in Postkutschen ein, ich saß in der lemen, hoch im Kabriolett, und sah vor mir eine ganze Karawane riesenhafter Wagen, kleinere dazwischen gemengt; diese Ungeheuer, die Imperiale mit dem Gepäck voran, bewegten sich durch die mondhelle Nacht am leise rauschenden Meer hintereinander fort, ein phantastisches Bild. Kurz vor dem ersten Morgengrauen kamen wir in Nunziatella wieder an die Bahn. Durch Toskana ging's, ich sah Pisa wieder, ich lernte Pistoja kennen, durchwanderte Bologna von neuem, kam über Ferrara nach Padua. Alles gut, aber nicht für mich: mein Herz war noch zu antik, meiner Großmannsstimmung kam die Anmut der Gegenden etwas zu kindlich, zu niedlich vor. In Venetien spitze Kirchtürme wie in Deutschland; was sollt' ich hier? Noch immer ein mittelalterfeindlicher Grieche, so rollte ich auf die Lagunenstadt zu...
Wunderbarer taute wohl nie so ein Eisblock auf. Ich war auf dem Bahnhof von Venedig ausgestiegen, saß in meiner Gondel; fuhr durch die Kanäle zur Post, Briefe abzuholen – ein Märchen um mich her – eine neue Welt. Ich kam auf den Markusplatz; in den Dom hinein; der uralte Patriarch las eben (es war der Ostertag) vor großem Volk eine Predigt mit weinerlicher Stimme ab. Über die Piazzetta taumel-schlenderte ich zur Riva de' Schiavoni, am Meer entlang, von der Nachmittagssonne und von einem jauchzenden Lebensstrom erwärmt; im öffentlichen Garten hin und her, [189] ruhelos zurück und, wie magisch gezogen, wieder in den Dom. Überwältigendes Gefühl; wie in so einem halbdunklen, allfarbig marmorstrahlenden, mosaikgoldglänzenden Wunderbau alle Erscheinungen wirken, alles Fleisch leuchtet, jedes Antlitz veredelt wird. Ja, wie so ein Raum auf Sinn und Phantasie der Künstler zaubernd wirken mußte; daß vielleicht in diesem Dom, seinen Seitenschiffen und Kapellen das malerisch feierlich wonnig süße Abendlichtprinzip der Venetianer geboren ward. Ja, Venezia! Du bist! Du bist! Du hast mich! Du brauchst kein Griechenland, kein Rom, du bist du. Hast mich ganz gefangen!
Am Abend, nach langem Irren und Verirren in der labyrinthischen Stadt, von Kirchen und Bildern und dem Reiterstandbild des Colleone voll, ging ich zum dritten Mal in den Dom. Aus dem nun menschenleeren Dunkel dann hinaus auf die Riva, den Markusplatz; österlich festliches Wogen des Volks, göttlich friedselige Abendstimmung – so zauberisch wie nirgendwo. Vor den Kaffeehäusern all das weich wohlige Treiben, Violinen, Flöte, Harmonika, Gitarren, Gesang; die schöne, kalte, blumenverkaufende Geldeinsammlerin in der sonntäglichen Mantille; das herrliche Fruchteis an der Riva. Aus allem gemischte irdische Menschenseligkeit; in mir diese goldene Gegen wart vom Duft der Romerinnerung und der Nordensehnsucht lieblich erregend umwoben.
So hab' ich dann noch einige Tage in der Märchenstadt wie ein Gott gelebt. Meine Leiden verachtend, Stadt und Volk studierend, in den Kanälen und Gassen die Farbenzauber des durchfeuchteten Gold- und[190] Dämmerlichts bewundernd, in den Kirchen und Galerien die Schaffensräusche dieser glücklichen Meister mitgenießend – auch Tizians ergreifendstes Abendbild, den zwei Jahre später verbrannten Petrus Martyr, hab' ich noch gesehn – mit Schätzesammeln ohne Ende füllte ich den Tag. Und wenn mich dann der Abend wieder in Frieden und süße Träume auflöste, wenn über das Wasser Gondoliergesang im weichen Venediger Dialekt herüberschwamm oder junge Männer ihre sehnsuchtgefüllten Kehlen zusammenstimmten, die Stadt wie im Traum auf der stillen Flut lag, dann entschwand mir fast das Bewußtsein, daß die Erde nicht nur Schönheit und Seligkeit, daß sie auch Leiden, Leidenschaft und Verwirrung hat.
Doch die Nächte, die diesen schönen Abenden folgten, waren schmerzvoll warnend, und die Flucht ward nötig. Als ich am 21. April nach München zu Paul Heyse und Frau Klara zurückkam, war's wohl hohe Zeit. Doktor Wolfsteiner, der wackere Hausarzt, dem ich meinen üppig gediehenen Backenunhold zeigte, fand bald, was für eine Schlange darunter steckte, und wies mich dem Chirurgen zu. Der kam denn auch – Meister Professor Nußbaum – mit seinem Assistenten, chloroformierte und operierte mich, machte der Heilung freie Bahn. Das Chloroformieren gefiel mir nicht, es nahm sich zu sehr wie odemverlierendes Sterben aus; aber als ich wieder zu mir kam, erwachte ich aus einem holden Traum: ich war in Venedig auf der Piazzetta.
[191]Auf derselben Etschtalstraße, auf der ich im April 1864 zum ersten Mal nach Italien gezogen war, kam ich ein Jahr später von der zweiten Ausfahrt zurück; im Anblick der braunen, wildschönen Berge, die damals auf mich hinabgeschaut hatten, durfte ich wohl fühlen, daß ich in diesem Jahr reifer, reicher geworden, gleichsam um Haupteslänge gewachsen war. Sonne und Himmel und Berge waren dieselben wie damals, aber das junge Jahr und der Wanderer vorgerückt: beide voller im Grün, beide aufgeblühter. Hatte ich vordem in Berlin, München, Frankfurt, Wien Art und Wesen der deutschen Stämme in mich aufgenommen und an so vielen Lebendigen mich emporgelernt, so war ich nun am Fremden gewachsen und in den hohen Regionen heimischer geworden, in denen die großen Toten wohnen.
Von voller Gesundheit des Körpers war ich freilich noch viel weiter entfernt, als mein jugendlicher Lebensmut wußte; Professor Nußbaum hatte mir wohl die Zahnfistel, aber nicht auch das tiefersitzende Nervenleiden [192] wegoperiert. Hier heißt es leider: Zahn um Zahn! So lange, wie du zerstört hast, mußt du wieder aufbauen! Von den unzähligen Engeln, die bekanntlich alle sieben Himmel füllen, haben einige hundert über die »allzu Rastlosen« unter den Erdenkindern Buch zu führen; mit der unerbittlichen Genauigkeit, die uns Rastlosen fehlt, verzeichnen sie jede Stunde, in der wir durch ein Zuviel von Genuß oder Arbeit sündigen, und ihre schöne Goldschrift ist grausam unvergänglich. Sie kann nur erlöschen, wenn das Abbüßen beginnt, mit dem die himmlische Geduld oft jahrelang wartet; sie erlischt nur nach dem Weltgesetz: so viel Sünde, so viel Buße; und erst wenn sie ganz erloschen ist, ist der Mensch ganz gesund.
Daß die Sache sich so verhält, das kann ich bezeugen, denn ich hab's erlebt; und nicht nur dieses eine Mal. Und ich schreibe diese meine Geschichte, um den nach mir Werdenden zur Abschreckung zu dienen; wenn es Werdende gibt, die nicht durch eigenen Schaden klug zu werden vorziehen.
In dem Gefühl, noch immer ein Genesender zu sein und nicht Kräfte vergeuden, sondern sammeln zu müssen, wich ich noch einmal dem eigenen Schaffen aus und stürzte mich in eine Arbeit, die mich schon lange gelockt, jetzt in Rom ganz gewonnen hatte: die herrlichsten und seelenvollsten Werke des Sopho kles wieder bühnenlebendig zu machen, indem ich sie, all ihr Eigenstes und Persönlichstes rettend, von dem Minderwesentlichen gleichsam befreite, das dem Vollgenuß der heutigen Menschen hinderlich ist. Der uns ewig fremde Chor der altgriechischen Tragödien bleibt uns auch ewig [193] rätselhaft: wie hat er auf der Bühne gelebt und gewirkt? Wie konnte er's erreichen, gesungen und doch ganz verständlich und mithandelnd zu werden? Wieder ins Leben rufen können wir ihn nicht. Warum ihn denn nicht durch Ähnliches, Lebendiges ersetzen? sagte ich mir. Warum nicht ebenso den Trimeter, der aus dem Geist der griechischen Sprache hervorging, durch unsern dramatischen Vers ersetzen, der für uns das ist, was für sie der Trimeter war? So gewinne ich die Möglichkeit, den alten unsterblichen Athener schöner, lebensvoller und treuer zu übersetzen, als es die Buchstäblichen konnten. Und so gewinne ich ihn wohl auch der deutschen Bühne, deren edles Vorrecht es geworden ist, die großen Schöpfungen aller großen Völker zu umfassen.
Ich warf mich auf Elektra, dann auf König Ödipus und Antigone; ich verdeutschte sie alle drei während dieses Jahres 1865, in München und in der Sommerfrische, und fügte das einzige uns erhaltene Satyrspiel, Euripides' Cyklopen, hinzu. Bei diesem antiken Schwank kam mir die Kühnheit, den Trimeter durch Prosa zu ersetzen; nur so, dachte ich, kann ich den Mausetoten so auferwecken, daß er auf unserm heutigen Theater mitleben kann! Freund Geibel, der klassische Philolog, schüttelte den Kopf dazu und wollte mir es, sozusagen, schimpflich machen; ich glaub' aber, ich hatte doch recht. Der Erfolg sprach wohl auch für mich; in dieser Gestalt ist der »Cyklop« mit Glück über eine Reihe deutscher Bühnen gegangen, zuletzt viele Male im Hamburger und im Frankfurter Schauspielhaus.
Mein Sophokles kam noch viel früher zu Ehren, [194] früher als ich gehofft hatte: kaum waren Elektra, Ödipus, Antigone und der Cyklop als erster Band meiner Bearbeitungen erschienen (1866), so warf der eben zur Regierung gekommene Herzog Georg von Sachsen-Meiningen sein Künstlerauge auf diese verwegene Neuerung (den Philologen damals ein Greuel) und führte König Ödipus und Antigone in seinem Hoftheater auf, das bald der Schauplatz seines großen, weitumwandernden Wirkens werden sollte. Er ließ den Bearbeiter einladen, als sein Gast den Aufführungen beizuwohnen (ich konnte aber nicht, weiß nicht mehr warum); und nach dem glücklichen Erfolg der ersten Abende ließ er mich ersuchen, auch den »Ödipus in Kolonos« zu verdeutschen, damit die Trilogie (wenn man sie so nennen darf) beisammen sei. Ich folgte diesem Ruf von Herzen gern, und 1867 gingen dann König Ödipus, Ödipus in Kolonos und Antigone nacheinander über die Meininger Bretter, mit tiefer Wirkung. Dasselbe ist dann nach und nach – im Lauf vieler Jahre – an vielen Bühnen geschehn; freilich kann man auch sagen: an wenigen, wenn man die Menge der deutschen Theater bedenkt. König Ödipus aber und dann Elektra haben ungezählte Male ihre ungeheure Lebenskraft und Herrlichkeit erwiesen; auch im Wiener Burgtheater, als ich dessen Direktor war und Charlotte Wolter als Elektra, Emmerich Robert als Ödipus die schönste Begeisterung weckten.
Inzwischen hatte ich 1866 auch noch Sophokles' »Philoktetes«, dann 1867 Euripides' »Medea« und »Hippolytos« in meiner Art übertragen. Diese drei sind dem Theater bisher fern geblieben; der Medea[195] und dem Hippolytos steht vor allem im Wege, daß Grillparzers Medea und Racines Phädra auf der Bühne zu Hause sind.
Nachdem ich die Meinen in der Heimat wiedergesehn, begann eine zweite Münchener Zeit, länger als die erste: sie währte von 1865 bis zum Herbst 1871, und mit ihr, kann ich sagen, endet meine »Werdezeit«. Noch jahrelang ein mit Rückfällen Genesender, hatte ich das unschätzbare Glück, mit den liebevollsten Menschen, mit Hans Kugler, Frau Klara, Paul Heyse in brüderlicher Freundschaft und wie in einer Familie zu leben; denn nachdem ich eine Weile mit Hans, dem Heimgekehrten, in einer Nebenstraße gewohnt, zogen auch wir beide in das Hornsteinsche Haus, unters Dach, und mit Paul und Frau Klara wurden wir ein Vierblatt, dessen innige Einigkeit in München fast zum Sprichwort ward. Heyses vier Kinder kamen dazu, denen Frau Klara, die Großmutter, nun als Mutter vorstand; eine allerliebste »Bande«, aus Buben und Mädels gemischt, das Haus mit Leben, Anmut, Holdheit und nicht mehr als ganz notwendiger Unart erfüllend. Vor sieben, acht Jahren, als Student, hatte ich das ältere Töchterlein, Lulu, die ersten Worte gelehrt und in frechem Unsinn das schwierige Wort »Götterknabe« und das abgeschmackte »Affebär« gewählt; jetzt machte ich mich doch nützlicher: ich half dem älteren Knaben, Franz, im Lateinischen vorwärts, ich spielte mit allen gute Spiele und schrieb zu Paul Heyses und Frau Klaras Geburtstagen humoristische Festspiele und Kinderkomödien, die ich mit den Kleinen aufführte. Wir Erwachsenen »spielten« auch, jeder sein Instrument,[196] Pinsel oder Feder; alles, was entstand, ward brüderlich mitgeteilt; freimütigste Kritik verstand sich von selbst. Frau Klara, als die lebendige Muse des Hauses – oder soll ich sie lieber dessen guten Engel nennen – wandelte in ihrer stillen Anmut unter uns herum. Zu jeder Mahlzeit versammelten wir uns, und wohl bei jeder erschien die beste Würze: Humor. Wie gut aber und wie gern wir aßen, dafür zeugt zum Beispiel ein Gedicht, das ich zu sechs Likörgläsern machte, die ich Paul Heyse 1866 zum Geburtstag schenkte; zu jedem Glas eine Strophe; drei davon seien als ein Stückchen Lebensfarbe hier mitgeteilt:
Übrigens war ich eigentlich der Meisteresser, so lange ich noch im Genesen war; und besonders meines Geburtstages im Sommer 1865 kann ich nur mit Lächeln gedenken. Wir waren damals in Berchtesgaden, in schön verlängerter Sommerfrische, mit edlen Freunden zusammen, der Wienerin Frau JulieSchlesinger, den Burgschauspielern Karl und Julie Rettich und dem großen Byron-Übersetzer (doch wie vieles hat er später noch mit Meisterhand verdeutscht!), dem Bremer Staatsmann Otto Gildemeister mit seiner anmutigen Frau. Julie Rettich, die große Tragödin, schon von ihrem Todesleiden gequält, das sie mit wunderbarer Tapferkeit verhehlte, entzückte uns alle durch ihr geistiges Feuer, ihre jugendliche Frische, jeden von uns in seiner Eigenart und seinem Wert zu ergreifen; Gildemeister, fast ihr Gegensatz, scheinbar nichts vom Künstler, aber höchst wohltuend kristallklarer Verstand, strahlte einen geräuschlos behaglichen Humor aus, der auf einer unerschütterlichen Gesundheit des Körpers und des Geistes ruhte. Ihn ergötzte, wie alle, mein Talent, zu essen; ich glaube, so wie damals hat es nie geblüht. Als in Gildemeisters Wohnung mein Geburtstag gefeiert ward – aufs liebenswürdigste und rührendste: große Festrede Pauls, Gedichte von [198] allen Seiten, Geschenke desgleichen – war fast die ganze Bescherung auf Ernährung gestimmt; nichts Eßbares fehlte; selbst ein Blumenstrauß, der am Tisch erschien, entlarvte sich bei näherer Betrachtung als kunstvoll aus Früchten, Wurzeln, Kohlen und Kräutern geschnitzt. Frau Chata Gildemeister hatte mir den von ihrem Gatten verdeutschten Byron auf den Tisch gelegt; aber Gildemeister hatte für sie dazu gedichtet (nachdem er den Erstling meiner Sophokles-Übersetzungen kennen gelernt hatte):
So aß ich mich, wie die im Märchen durch den Pfannkuchenberg ins Schlaraffenland, allmählich in das Land der Gesundheit zurück, um dann dort als Dichter (und ewiger Student) menschenwürdig zu leben. An guter, herzerfreuender, geistbelebender Gesellschaft fehlte es mir auch außer dem Hause nicht; Lenbach kam von Zeit zu Zeit nach München heim, Böcklin ging ab und zu, mit Windscheids, Jollys, Siebolds und Heckers vereinigten sich Paul, Frau Klara und ich zu einem Kränzchen, in dem die verschiedensten geistigen Farben freundschaftlich zusammengestimmt Regenbogen spielten. Als neue Freundin tratMathilde [199] Muhr ins Haus, deren tragisches Schicksal uns zu ihrer schon erprobten Liebenswürdigkeit und Herzenswärme auch ihre Stärke, ihre Größe zeigte. Frau Muhr, aus einem adligen, preußischen, tapferen Geschlecht, eine Nichte Blüchers, hatte gegen den Willen ihrer Anverwandten einen Maler von jüdischer Herkunft geheiratet; ihr unbeugsames Herz, ihr Menschenstolz ertrug die Entfremdung aller ihrer Geschwister, die erst viele Jahre später verging. Aber der heißgeliebte Mann starb ihr bald, noch in Jugendblüte; und kaum vier Jahre alt starb das einzige Kind ihm nach. Frau Mathilde, so tief wie je eine Mutter getroffen, so ganz wie je ein Mensch verwaist, richtete sich wie eine Heldin auf, als wäre Blüchers Geist in ihr. Es war damals (1866) noch weniger als heute Brauch, daß einem Toten auch weibliche Angehörige auf den Friedhof folgten; ihr aber verstand sich's von selbst: solange mein Kind über der Erde ist, verlass' ich es nicht! – Mich hat nicht oft etwas so erschüttert, wie diese Frau beim Begräbnis ihres Knaben zu sehn. Am Eingang des Friedhofs ausgestiegen, ging die Todeswunde, Todblasse einen langen, langen Weg hinter dem kleinen Sarge her, mit übermenschlich festem Schritt; keine Arria hätte es besser gekonnt. So marmorstarr, so willensstark blieb sie, bis ihr Paul in der Erde war. Und sie fühlte doch: ich begrab' mein Leben.
Indessen wie solche Gefühle täuschen, das bewährte sich auch an ihr: die Lebenskräfte waren zu groß, der Inhalt der Welt noch zu reich; ihr Maltalent schuf ihr ein neu gefülltes, fruchtbares Dasein, und unsere[200] und unseres Kreises Freundschaft rettete sie vor verzehrender Einsamkeit. Sie schloß sich uns noch inniger an, und wir ihr. Bald waren sie und ich auchSchachkameraden geworden; wir konnten ungefähr gleich wenig, also gleich viel. Sie war gut zu necken, und das regte Hans und mich zu immer neuen Erfindungen an. Als nach Paul Heyses zweiter Heirat Frau Klara, Hans und ich unseren eigenen Haushalt gründeten, ward Frau Mathilde vollends zur eigentlichen und ersten Hausfreundin; und in meinem letzten Münchener Sommer reiste und lebte sie ganz mit uns. Wie oft muß ich an den Tag am Mondsee (im Salzkammergut) denken, wo wir vier nicht weit vom Ufer an einem schönen Platz unter einer prächtigen Baumgruppe saßen. Es war ein warmer, sonniger Mittag, aber die dichte Laubkrone über uns gab uns erfrischenden Schatten. Frau Mathilde unterbrach denn auch endlich unsere genießende Stille: »Wie reizend das ist!« sagte sie. »Die Sonne so heiter und die Welt so warm; und unser Versteck doch so kühl!« Wir drei schwiegen weiter. Frau Mathilde wunderte sich eine Weile, dann sagte sie: »Warum stimmt mir niemand zu?« Hans blickte sie träumerisch an: »Weil sich nichts dagegen sagen läßt!«
Ich kehre zu 1866 zurück, zu dem großen Jahr, das zwischen den deutschen Großmächten die weltgeschichtliche Entscheidung und uns den Norddeutschen Bund brachte, den Vorläufer und Herold des Deutschen Reichs. Mit unendlicher Freude hatte ich 1864 die Befreiung Schleswig-Holsteins von der dänischen Herrschaft begrüßt, das fernere Schicksal dieser Provinzen [201] mit Gottvertrauen der Zukunft überlassen; was wird nun aber aus Preußen, aus Deutschland? Das lag uns, den Sehnsüchtigen, schwer und schwerer auf der Brust. Im Frühjahr 1866 flogen die ersten Sturmvögel auf; die Rüstungen in Österreich und Vreußen begannen, die diplomatischen Noten gingen wie noch abgestumpfte Pfeile zwischen Berlin und Wien hin und her, jeder schob dem andern das »Angefangen haben« und den bösen Willen zu. Es ward aber immer deutlicher: wenn nicht in Wien, dann gewiß in Berlin wollen sie den Krieg! Und wenn ihn der alte König Wilhelm, wie es schien, nicht wollte, wer konnte ihn dann wollen als sein Ministerpräsident, der bisher sv bitter gehaßte Bismarck? Mein Herz, das immer lauter, immer hoffnungsvoller schlug, begann auch für diesen Gehaßten zu schlagen; als säh' ich, wie sich um seine trotzig feste Brust der Kriegspanzer legte, wie auf seiner geheimnisvollen Stirn der eiserne Helm erschien, den die Geschichte ihren Helden auf den Scheitel drückt. Eine heilige Notwendigkeit war dieser Waffengang – und hieße er auch einstweilen Bürgerkrieg! Durch dieses blutbespritzte Tor mußten wir hindurch. Jenseits des Tors ragte das Deutsche Reich einer Gralsburg gleich in die Himmelsluft!
So fühlend und denkend, sah ich Brater wieder, meinen ehemaligen Chefredakteur, meinen herzlich verehrten Freund – und zum ersten Mal sah ich einen geschichtlich gewordenen, trennenden Spalt zwischen ihm und mir. Ich, der Mecklenburger, der Halbpreuße, sozusagen, früh mit dem Glauben an Preußens hohen Beruf getränkt, hoffte jetzt aus tiefster Brust; Brater, [202] der Süddeutsche, der Garnichtpreuße, schüttelte sein sorgenschweres Haupt und schien nur die Gefahr zu sehn. Von dem Schicksalshelm auf Bismarcks Scheitel entdeckten seine verstandesklaren blauen Augen nichts; er hielt den preußischen Junker nach wie vor für ein Schaumgebilde, er zitierte das Wort, das Napoleon III. von ihm gesagt haben sollte:ce n'est pas un homme sérieux! In unsern Wünschen waren wir einig, in unsern Erwartungen hüben und drüben. Erst die böhmischen Schlachten sollten den Spalt überbrücken, der uns am Vorabend trennte.
Ich war mit Frau Klara, Hans und dem lieblichen kleinen Klärchen Heyse in Tegernsee, in der Sommerfrische, als der Krieg begann. Ich hatte mittlerweile auch Shakespeare zu verdeutschen begonnen, als Mitarbeiter des neuen Bodenstedtschen Unternehmens; im Frühling hatte ich den Coriolanus übersetzt, jetzt wollte ich »Viel Lärm um nichts« beginnen. Aber eine fieberhafte Erregung schwelte mir im Blut. Übermütiges Draufloshoffen habe ich stets verachtet oder gehaßt; nun stand mit Österreich auch halb Deutschland gegen Preußen, und uns drückte das häßlich beklemmende Gefühl: die preußischen Heere werden von Prinzen geführt, Österreichs Feldherr ist ein Mann des allgemeinen Vertrauens, ein bewährter Held! – Wir müssen siegen, wir werden siegen, dacht' ich doch; aber wie viel blutiges Lehrgeld wird wohl vor dem Sieg gezahlt? – So kamen die ersten Schlachtdepeschen aus Böhmen, über Wien; wir lasen sie in den Münchener Blättern, die zu uns ins Gebirg flogen: die Preußen geworfen, geschlagen! Gestern bei Nachod, [203] heut bei Skalitz! Die Tegernseer jubelten. Uns ward schlecht zu Mut. Skalitz – Nachod – wir hörten von diesen Orten zum ersten Mal. Wir hatten keinen Atlas, nichts. Nur wenn wir in unser Wirtshaus zum Essen gingen, kamen wir im Vorgemach an einer großen Wandkarte von Deutschland vorüber; sie war elend, nichts als Punkte und Kreise mit Städtenamen; aber Nordösterreich war auch dabei. Ich blieb stehen und suchte Nachod und Skalitz; endlich fand ich Nachod nicht weit von Glatz. In Böhmen! So weit waren also die Vreußen gekommen; hatte man sie dann zurückgeworfen ins Glatzer Gebirg L Lag Skalitz in diesem Gebirg? Da war's nicht zu finden. Nein – landeinwärts in Böhmen lag's! Da stand's auf der Karte. Die Vreußen waren vorwärts geworfen, die Österreicher hatten rückwärts gesiegt.
So wußte ich denn, wie es stand. Noch wenige Tage, dann kam die Beglaubigung: Königgrätz.
Wohl nicht oft, seit es Schlachten gibt, hat eine so wie diese in die Menschen hineingeschlagen und ihre Meinungen umgedreht. Als hätte ein Gottesurteil entschieden, so überwältigte und verwandelte sie dieser Zusammenbruch des tapferen österreichischen Heers; er überwältigte alle, die Österreicher, die Süddeutschen und die widerspenstigen Liberalen in Preußen. Es war etwas Feierliches, darf man sagen, in dieser blitzartig hereinbrechenden Entscheidung. Es war wohl die wunderhafteste, aber auch die ersehnteste Freude meines Lebens.
Und eine reine Lösung war's: Deutschland und Österreich durch das Schwert getrennt, um sie dereinst [204] durch tiefe Erkenntnis einer höheren Notwendigkeit wieder zu verbinden.
Bismarck aber, der nun mit seinem König den Norddeutschen Bund schuf, dem seine Hasser nun zujauchzten oder sich bewundernd, widerstrebend neigten – ich konnte ihn nur noch lieben als der dankbarste der Deutschen: denn er hatte mir das freie Atmen auf dieser Erde erst wahrhaft möglich gemacht. Wie oft dachte ich wohl seitdem – als er sein deutsches Werk dann vollendet hatte –: Was du uns Deutschen warst und bist, das können hundert Herolde nicht verkündigen. Was du mir ins besondere bist, das ist unaussprechlich!
Beim Einzug der siegreichen Truppen in Berlin, am zwanzigsten September, sah ich ihn selber zum ersten Mal. Er war es, der weltgeschichtliche Held, wie ich ihn in meiner ersten Ahnung gesehn; nicht im Panzer, nur im Waffenrock, nicht im eisernen Helm, nur unter der Pickelhaube: aber wie in Erz gegossen oder aus Stein gehauen, der verkörperte Geist der Geschichte, unvergeßlich ernst und groß, daß es mein jauchzendes Herz erschütterte, so ritt er hinter seinem König durch das Siegestor.
Dann kam ich nach Rostock ins Elternhaus, und der glückselige Sohn fand einen freudestrahlenden Vater; glücklicher hab' ich ihn nie gesehn. Sein demokratisches Herz, das sich den Siegesweg des vaterländischen Gedankens wohl ganz anders geträumt hatte, war noch immer ein Jünglingsherz: die Weltgeschichte brauchte ihm nur eine Stunde Unterricht zu geben, so hatte es umgelernt. Ich sehe noch das himmlische [205] Leuchten seiner braunen Augen, sein innig dankbares Lächeln. Wie es nun gekommen war, so war's gut; und was noch nicht gekommen war, das kam gewiß!
Dieses schönste Wiedersehn war auch unser letztes; er, der unverwüstlich schien, sollte schon im Juni des nächsten Jahres vergehn. War es die zweijährige Gefangenschaft als »Hochverräter«, die sich doch tiefer in die Wurzel des Lebens eingegraben hatte, als wir alle meinten? Oder hatte er zu schonungslos – auch zu »rastlos« – in seinen Arbeiten und Studien gelebt? Er fing an zu kränkeln, dann dahinzusiechen. Ehe der Juni zu Ende ging, schlossen die strahlenden Feueraugen sich zum letzten Mal.
Erst durch einen Brief meiner armen Mutter nach dem Tod gerufen, kam ich zu spät, um ihn noch zu sehn. Nur in sein Grab konnte ich ihm nachrufen:
»Hier wird gefreit und anderswo begraben«; in demselben Juni 1867, in dem mein Vater zur Ruhe ging, führte Paul Heyse ein schönes, junges Münchener Kind, Anna Schubart, als zweite Frau in sein Haus. Nach vierjährigem Witwertum, das von tiefer Trauer um sein verlorenes reiches Eheglück erfüllt war, hatte ihn eine neue, große Liebe wie im Sturm ergriffen; er war eben für seine siebenunddreißig Jahre noch so überjung, wie er es dreißig, vierzig Jahre später für sein »Greisenalter« war und ist. Der Sturm hatte aber das Rechte getan; Frau Anna, trotz ihrer Jugend seinen Kindern von Anbeginn eine gute und geliebte Mutter, ward ihm die richtige, treueste, beglückendste Gefährtin für den langen Weg.
Das Zusammenleben des »Vierblatis« war nun aus, Frau Klara, Hans und ich schlossen uns zu einer »Truppe« zusammen; wir blieben aber in demselben Haus, zu ebener Erde. Es war nun ganz ein Künstlerhaus: [207] unten wir, im zweiten Stock Heyses, im ersten Hornsteins, die Besitzer; alle in guter Freundschaft vereint. Der Freiherr von Hornstein (der Vater von Lenbachs zweiter Frau) war ein interessant wunderlich humorvoller Kopf, in dem sich allerlei Kobolde tummelten, aber auch zarte musikalische Genien ihre lieblich tönenden Flügel schwangen; besonders viele beseelte Lieder hat er komponiert und zu Shakespeares »Wie es euch gefällt« und andern Dichtungen reizende Musik gemacht. Seine schöne Frau, eine Rheinfrankin, hab' ich oft als heitere »Lebensvirtuosin« gepriesen; sie war die liebenswürdige Wirtin einer aus allen Künsten gemischten, geist- und temperamentvollen Geselligkeit. Unvergeßlich ist mir ein Abend oder eine Nacht, zu der sich Hornsteins und Heyses zusammengetan und ihre Stockwerke gleichsam vereinigt hatten: ein Maskenfest, so poetisch, wie ich je eins gesehn. Es war der allgemeine Ehrgeiz geweckt, diesem Fest Geist und Gehalt zu geben; sei es durch die Maske, durch lebendigen Humor oder durch gereimte und ungereimte Dichtung. Ich kam, frech genug, als Ritter Blaubart und hielt eine Rede, in der ich mein »konzessioniertes Heiratsbureau« den Junggesellen anpries. So mancher ehrliche Mann werde durch die Lebenslänglichkeit der Ehe abgeschreckt; mein Bureau vermittele Heiraten nach einer neuen und bewährten Methode: rascher Stoffwechsel; Garantie für nur zweijährige Dauer. Es habe die glänzendsten Erfolge aufzuweisen: »gar mancher Junggeselle, der schon am Rande der Verzweiflung und des Köchinnenpantoffels gestanden, ist jetzt glücklicher Gatte seiner dritten Frau und Vater [208] von vier herzigen Halbgeschwistern. Mehrere unserer geehrten Geschäftsfreunde sind bereits bei der achten glücklichen Ehe angelangt und befinden sich dabei so wohl, daß sie noch die zwanzigste zu erleben hoffen«. Von so wilden oder auch sanfteren Humoren schwirrte viel herum; unvergleichlich und entzückend war aber ein Gespräch in gereimten Versen, das unser junge PoetWilhelm Hertz und der viel ältere, aber noch behaglich sinnig mitlebende Melchior Meyr, der Verfasser der »Erzählungen aus dem Ries«, miteinander verabredet und gedichtet hatten. Als alles beim festlichen Mahl an den langen Tafeln saß, hatten Hertz und Meyr sich einander gegenübergesetzt; beide in altgriechischer Tracht, beide außerordentlich charaktervoll lebendig, Hertz als der heitere, lebenbejahende Philosoph, Meyer als der verneinende, stoische, sich kasteiende. Das Bezaubernde an der Sache war, daß sie beide bewußt, und doch dichterisch darüberstehend, sich selber spielten, daß der junge Schwab Wilhelm Hertz von Saft, Kraft und Lebenswillen strotzte, der früh gealterte Franke Melchior Meyr mager und hager, sein und kränklich war und von den Resten eines schwachlebigen Idealismus zehrte. Er hatte aber doch Feuer, Grazie und Humor genug, um seine Sache ebenso beredt zu führen wie sein kampffreudiger Gegner; und man konnte keine schönere Komödie sehn, als wie nun beim Mahl, wie von ungefähr, ihr Gespräch begann, sich zum Streit erhöhte, die Angriffe wie schöngeschnitzte Pfeile herüber und hinüber flogen, die Beleidigungen immer gröber, witziger, belustigender wurden; alles so wohlgeformt, daß es das reinste Genießen [209] blieb. Sie spielten beide täuschend gut, als werde jeder dieser Verse vom Augenblick geboren. Es ward denn auch ein stürmischer Ausbruch verwunderter Bewunderung, als der letzte Reim verklang.
Melchior Meyr überlebte diesen Ehrenabend (den 9. Januar 1869) nur um ein paar Jahre, er starb im April 1871. Wilhelm Hertz ward bald nach diesem Maskenfest außerordentlicher, neun Jahre später ordentlicher Professor der deutschen Sprache und Literatur an der technischen Hochschule zu München; dort hat er sein Leben schön und reich gelebt, als Dichter, Forscher, Nach- und Umbildner germanischer und romanischer Dichtungen gleich geschätzt und wert. Er war ein Mensch, den man liebhaben mußte; bis in den Kern gesund, wahr und frisch, seinem Lebenssinn mit Behagen und mit Heroismus getreu, von Humor wie von Poesie durchwärmt.
Ich hatte mittlerweile, den großen Aufgaben noch ausweichend, mein schon in Rom entworfenes Blücherdrama »Die Deutschen in Frankreich« (später »Frieden im Krieg«) 1866 und 1867 geschrieben, dann die ersten Novellen: Heimat, Reseda, die Verschollenen mit neu gewonnenen Kräften vollendet. Ich kehrte zur Bühne zurück und schrieb das zweiaktige Lustspiel »Die Verlobten«; nach einem eigenen Erlebnis, das mir Geibel erzählt hatte: eine plötzliche Ballverlobung, die schon am nächsten Morgen gütlich fröhlich gelöst wurde, warf ich meine Komödie jugendlich übermütig und unreif hin. Sie ward im Wiener Burgtheater angenommen, blieb dann aber ungespielt; im Münchener Hoftheater kam sie (1868) auf die Bretter: [210] mein Bühnenleben begann. Um mich bei dieser ersten Aufführung des dummen Lampenfiebers zu erwehren, das ein so unwürdig nutzloser Kraft- und Zeitraub ist, schrieb ich nachmittags an einem neuen Stück, »Die Vermäluten«, bis die Zeit herankam, zum Theater zu gehn. Ich ging mit Frau Klara und Hans, in heiterem Gespräch; ich setzte mich in die Loge des Intendanten, der mich eingeladen hatte, und fühlte mich noch immer gefeit. Erst als ich den Vorhang emporrauschen hörte, schlug mir plötlich ein Hammer auf die Brust... Nun war aber die Kugel aus dem Lauf, die Darsteller hatten das Wort, und ich blieb mein mit Maß erregter Zuschauer bis zum guten Ende.
Das Ende war gut, der Erfolg war freundlich, weil Frau Dahn-Hausmann die Hauptrolle der Meta mit ihrer reisen Kunst und ihrer erstaunlich langatmigen Jugend entzückend gespielt hatte; hier hieß es mit Recht: sie trug das Stück. Ich kannte sie und ihren Gatten, der ein geringerer Schauspieler, aber ein liebenswürdiger Mensch war, schon lange: aus der fernen Zeit, wo ich als blutjunger Theaterreferent der Süddeutschen Zeitung die kritische Feder schwang. Nun war ich selbst »der Sünde bloß«! – Doch als von Herzen dankbarer Sünder lud ich die holde Meta und ihren Mann zu uns ein, Frau Klara und Hans feierten sie mit mir; und zum ersten Mal sattelte ich das Musenroß zum Dichterdank:
[212] Die hier angekündigte »Dramenüberschwemmung« trat ein: in demselben Jahr 1868 entstanden noch die Lustspiele »Die Vermählten«, »Unerreichbar«, »Die Lebensmüden«, im Jahr 1869 das Schauspiel »Der Graf von Hammerstein«, die Lustspiele »Durch die Zeitung« und »Jugendliebe«; 1870 neben den Lustspielen »Die Wahrheit lügt« und »Die Maler« endlich auch das erste Trauerspiel: »Gracchus der Volkstribun«. Es begann denn auch die Zeit der großen Erfolge, die sich über Deutschland und Österreich verbreiteten; was aber mein Schaffen vor allem förderte und spornte, war die außerordentlich herzliche Gastfreundschaft, die ich in unserm Münchener Hoftheater fand. Baron Karl von Perfall, der 1867 zur Leitung dieses Theaters berufen, dann wirklicher Intendant und zuletzt Generalintendant wurde, wandte meiner Produktion und mir sogleich seine freundschaftliche Neigung zu, die mir ohne jede Trübung bis ans Ende treu blieb. Die schöne Mischung von Kavalier und Künstler, die ihn so anmutig und erfrischend machte, machte ihn auch zu dem Muster eines Intendanten; bureaukratische Ungemütlichkeit war ihm völlig fremd, seine Denkart war so vornehm wie sein Geschmack, und die ihm anvertraute Bühne höher und höher zu heben war nicht nur sein Ehrgeiz, auch inneres Bedürfnis. Ihm versagte auch die nötige Tatkraft nicht; so setzte er es mit unermüdlicher Zähigkeit durch, das Stiefschwesterchen des großen Hoftheaters, das architektonisch reizvolle, aber vom Publikum gemiedene Residenztheater wieder zu Ehren zu bringen und zu dem zu machen, was es sein sollte und konnte: die schönste Ergänzung der oft [213] übergroßen Schwester für intimeres Schauspiel und Spieloper. Er scheute kein Opfer und keinen Verdruß, bis er seine Münchner ins Residenztheater hinein erzog. Sein eigenes Schaffen als Komponist, so fröhlich eifrig er es auch betrieb und so herzlich jeder Erfolg ihn freute, trat dem Intendanten nie in den Weg; er gab jedem Schaffenden gastfrei sein Recht, mochte er nun Verse oder Noten schreiben.
Jeder Intendant, auch der beste, braucht einen tüchtigen Direktor oder Oberregisseur; den hatte Baron Perfall zum Glück des Theaters und der Dichter inJenke gefunden, einem seinen Kopf von großer Erfahrung und geschmackvollster Künstlerschaft; er spielte nach zuweilen mit. Auch mit Jenke war ich bald gut Freund; er half meine ersten Bühnenschritte leiten, war mit jedem gewünschten guten Rat zur Hand und tat, was er konnte, meine Erstlinge würdig und glücklich aus der Taufe zu heben. Die Darsteller blieben nicht zurück; ich habe von Anfang an auf den »heißen Brettern« fast nur gute Tage gehabt. Wer von den Schauspielern nicht Unmögliches verlangt, wer ihnen die notwendige Freiheit und Unbefangenheit läßt, wer ihren Humor mit Humor erwidert, der wird auf jeder besseren Bühne finden, daß mit ihnen zu leben ist. Von den älteren Mitgliedern waren mir besonders Dahn und seine Frau, Richter, Lang und Christen schätzenswert und angenehm; dazu kamen die jüngeren, Rüthling, Rohde, Häusser, Marie Meyer, die Ramlo und andere. Wohl als stärkstes Talent und bester Kopf war Possart hinzugetreten, der sich mir in meinen letzten Münchener Jahren besonders freundschaftlich anschloß; [214] bis eine Entfremdung zwischen uns eintrat, die aus innersten Ursachen kam und dadurch unüberwindlich ward.
Die liebenswürdigste Neuerung, die Freiherr von Perfall einführte, waren die festlichen Abende, an denen er und die Freifrau die ganze Künstlerschaft in ihren behaglichen Räumen versammelten; Schauspiel und Oper, auch der Ballettmeister und die erste Tänzerin fehlten nicht; desgleichen der Theaterdichter Adolf Wilbrandt nicht. Hier ward ich denn auch mit der Oper befreundet; mit Kindermann, dessen wunderhafter Bariton nach fünfunddreißig ohne jede Schonung und Vorsicht (sein Stolz) versungenen Jahren noch jung und schön war; mit dem EhepaarVogl, denen der Oberregisseur des Schauspiels, Jenke, auch Opernrollen höchst segensreich einstudierte; mit der Stehle, der Mallinger, der Deinet, die dann Possart heimführte. Es waren so heitere, urgemütliche Künstlerabende, wie ich sie selten erlebt habe; der Hausherr und die Hausfrau verbreiteten durch alle Räume die zwangloseste Stimmung süddeutscher Geselligkeit, und Tisch- und Festreden gaben eine Art von Weihe hinzu. Am ersten Abend hatte ich das Wort ergriffen, um meine Freude und Fröhlichkeit auszusprechen und die edlen Wirte nach Verdienst zu feiern; und um möglichst weit verstanden zu werden, da die Gesellschaft sich in verschiedene Säle verteilt hatte, war ich an den Pfosten einer offenen Tür getreten und redete von dort in die Welt hinein. Dieser Pfosten war von da an die Kanzel; wer einen Trinkspruch oder sonst eine Seelenstimmung von sich geben wollte, stellte sich dort in die Tür.
[215] Während ich so meine Flitterjahre mit dem Theater verlebte, blieb ich doch auch meinen andern Dichtertrieben getreu; ich fuhr fort, Novellen zu schreiben, darunter die Jugendgeschichte meiner Großmutter Annette, »Die Brüder«, und Anfang 1869 erschien der erste Novellenband. Er war meiner geliebten Pflegerin Frau Klara gewidmet, die das noch öfter wiedergekehrte Elend der rückfälligen Nerven mit holdester Geduld mitgetragen hatte; in ihr Widmungsexemplar schrieb ich ihr hinein:
Mit Sorge und Schmerz gemischte Freude hatte Frau Klara auch an dem Treiben ihres geliebten Benjamin Hans, der in diesen Jahren als Maler große Schritte machte, aber immer wieder durch sein Martyrium gehemmt und angenagelt stehen blieb; einen ungetrübten Trost brachte ihr jetzt der ältere Sohn,Bernhard, ins Haus. Er hatte sich 1862 in Tübingen als Privatdozent der Geschichte angesiedelt; nach und nach ward er dort Lehrer eines württembergschen Prinzen, außerordentlicher Professor, endlich ordentlicher; auch noch ein »Lehrauftrag«, ich weiß nicht mehr was für einer, hatte ihn beschäftigt. Mit der[216] »Liebe«, die wir ihm wünschten, wollte es aber lange nicht werden; gegen diesen Zauber schien er wie Siegfried gehärtet oder sonst gepanzert zu sein. Weihnachten 1866 – als er uns wieder einmal besuchte – hatte ich ihm ernstlich mit Amors Rache gedroht, hatte den kleinen Unhold tüchtig über ihn lachen lassen:
Wenn man so einer Weissagung nur Zeit läßt, geht sie doch einmal in Erfüllung. Bernhard hatte uns in demselben Jahr eine liebenswürdige rheinfränkische Familie Zöppritz in unsre Sommerfrische zu Lenggries [217] an der Isar gebracht, darunter eine schlanke, schöne Tochter Else, die uns sehr gefiel. Zwei Jahre später hatte der kleine Gott endlich seine Schlacht gewonnen und dem außerordentlichen Professor den Verlobungspfeil in die Brust geschossen; im März 1869 führte der Professor seine Else heim. Es ward eine Ehe, wie man sie nicht glücklicher wünschen konnte; und wie mich mit ihm schon lange brüderliche Freundschaft verband, so bald auch mitihr. Darin wie in allem blieb sie sich treu, nur in einem nicht: eine so erstaunliche Veränderung wird man selten sehn. Als junges Mädchen, noch als Braut war sie lichtblond gewesen mit bleich leuchtender Haut; so hat damals Hans sie reizend gemalt. Als ich sie nach langen Jahren wiedersah, war sie eine vollkommen andre Schönheit geworden: ein prächtig bräunliches Gesicht, umrahmt von schwarzem Haar.
Meine Werdezeit – sie hatte lange gedauert! – ging dem Ende zu; der höchste, herrlichste Segen sollte ihr noch kommen: die Vollendung des Deutschen Reichs durch den französischen Krieg. Ich predige nicht den Krieg, wer kann das; aber dieser stand als unausbleiblich, als urnotwendig an den Himmel geschrieben – und vielleicht hat er den Besiegten ebensosehr wie den Siegern genützt. Uns Deutschen zeigte er wie in einem gewaltigen Feuerschein mit erhabener Deutlichkeit, was wir sind und können; er zeigte nicht nur, was für Krieger und was für Schlachtenlenker wir haben, sondern wie viel sich in uns verbirgt oder schlummert, bis ein großes Schicksal es zu Tage ruft. Ich staunte damals hundertfach, wie die Menschen[218] wuchsen; hab' mich oft geschämt, daß ich von diesem oder jenem doch zu klein gedacht hatte. Nicht daß ich uns übergroß machen oder gar uns schmeicheln will; aber ich glaub', ich darf sagen: den Segen, der uns damals zu teil ward, haben wir verdient.
Hätte ich nur mithelfen und mitdienen können! Ich war erst dreiunddreißig Jahre alt, aber diese so oft gestärkten und so oft wieder »rastlos« mißhandelten Nerven waren noch immer, oder eben wieder, zu zart und zu dauerlos, als daß sie den Kriegsstrapazen widerstanden hätten. Sie zogen nur immer dem Heere nach, auf den Flügeln der Phantasie und der Sehnsucht; sie lebten den ganzen Feldzug mit. Wie oft trat ich morgens in mein Arbeitszimmer, um meine eigene Sache zu fördern (an den »Malern« schrieb ich); dann sah ich da links an der Tür den Tisch, auf dem der Atlas, die neu gekauften Karten von Frankreich und die neusten Extrablätter lagen. Ich blieb »nur einen Augenblick« stehn. Der Augenblick ward stundenlang. Der Mittag kam und ich hatte an meinem Stück nicht ein Wort geschrieben.
Endlich war das Deutsche Reich erbaut, mit Blut statt mit Mörtel, und wie durch einen ungeheuren Humor der Weltgeschichte im Königschloß von Versailles proklamiert. Der Waffenstillstand folgte, der eigentlich schon der Friede war; von der Münchener Frauenkirche und von allen Häusern wehten die Fahnen, alle Glocken sangen; mein Herz sang den ganzen Tag. Wir versammelten uns beim Siegesfest, beim Bankett der Männer; viele der besten dabei, alle höher gestimmt. Viele standen auf und feierten in Reden den großen [219] Tag; alle meinten's gut; aber wie wir Menschen schon sind: ein halbes Jahr und mehr war dahingegangen, das Feuer der ersten Zeiten war mit der Asche der Alltäglichkeitsprosa leise zugedeckt, der arbeitsame Deutsche war wieder »sachlich« geworden. Sie redeten viel und gar zu korrekt. Ich hielt's nicht mehr aus. Ich nahm auch das Wort; »nicht in Versen, aber doch wenigstens wie ein Dichter!« dacht' ich. Mir fielen die alten Griechen ein, die zur Zeit ihrer Perserkriege ähnlich großes erlebt hatten; mir fiel ihr Meerglaukos ein, der Gott der Brandung, der finstere Alte, der jährlich an den Küsten von Hellas erschien, den erschreckten Menschenkindern Not und Seuchen zu verkünden. Meine Tischrede schilderte ihn: eine wilde Unform aus Mensch und Fisch, Muscheln im triefenden Bart, Seetang in den Leibesfalten, Lebensüberdruß in der Brust. Die Fischer hören ihn stöhnen und rufen: »Weh, daß ich keine Ruhe finde, leben, leben muß! Ich hab' vom Kraut des Lebens genossen, und ich kann nicht sterben!« – Da erscheint das Jahr, wo Hellas – wie Deutschland jetzt – seine großen Feinde daniederwarf, beide an einem Tag: die Karthager bei Himera, die Perser bei Salamis. Und wieder erscheint der Alte an den umbrandeten Küsten; aber sein wildes Haupt, aus dem Gischt emportauchend, erstrahlt vor Freude und seine Stimme steigt segnend zum Himmelsgewölb hinauf. »Hellas, Hellas,« ruft er, »freue, freue dich! Deine Feinde liegen im Staub, frei sind Land und Meer! Hoch ragst du nun, schönes Hellas, wirst noch höher streben und steigen! Nun segn' ich mein Leben, da ich das erlebte; nun [220] will ich wieder und wieder essen von des Lebens Kraut, um nie zu vergehn!«
Die Nutzanwendung und den Schluß meiner Rede sagt sich jeder selbst. Der alte Meerglaukos und der junge Schwärmer hatten die Asche von dem Feuer weggeblasen; es folgte ein schöner, großer Ausbruch vaterländischer Begeisterung. Mit dreien dieser deutschen Hellenen mußte ich Brüderschaft trinken; einer war Freund Hornstein, der zweite Freiherr von Stauffenberg, der Politiker.
So festlich hatte das Jahr 1871 begonnen; als eines meiner Schicksalsjahre wuchs und endete es. Im Juni fuhr ich nach Wien, um der ersten, glänzenden und siegreichen Aufführung meines Lustspiels »Die Vermählten« beizuwohnen; ich lernte das Burgtheater und Auguste Baudius kennen, die zwei Jahre später meine Hausfrau ward. Ich kam im Oktober wieder und erlebte den ebenso herzerfreuenden Erfolg meiner »Maler«; ich sah, hörte und fühlte: dein Boden ist Wien! Auf dem Festmahl nach der ersten Aufführung, bei dem mich Dingelstedt und die Burgschauspieler als einen der Ihrigen aufs herzlichste begrüßten, hatte ich »auf die deutsche Schauspielkunst der Burg und die Burg der deutschen Schauspielkunst« getrunken; wie sehr die »Burg« diese Burg war und was sie dem Theaterdichter bedeutete, davon wußte ich nun genug. Eine Fülle großer und größter Talente, die edelste und wurzelfesteste Tradition – und für mich Wohlwollen und Freundschaft, so viel ich begehrte. Wie schmerzhaft ungern ich auch meinen teuren Münchener Intendanten verlor, wie tüchtige Künstler [221] auch unter seiner Fahne dienten, mit der »Burg« konnte sich sein Theater nicht vergleichen. Ebensowenig München mit Wien; mit dem so kunstgeschulten wie kunstfrohen Wien, das eben einer neuen Blütezeit entgegenging, während München noch nicht die Hälfte war von dem, was es heute ist. An der Isar fehlte die große Welt, das volle Leben; fehlte mir schon lange.
So entschied ich mich denn noch im Herbst für Wien. Schwer wie nur je eine Trennung ward mir die von meinen Geliebtesten, von Frau Klara und Hans; wie sie mir fehlen würden – und auch ich wohl ihnen – das fühlte ich gleichsam fürs ganze Leben voraus; denn sie fehlen mir ja heute noch. Freilichhab' ich sie auch heute noch: denn so innig zugehörige Menschen sterben einem nicht! – Werte und herzliebe Freunde ließ ich auch sonst nur zu viele an der Isar zurück; Windscheids waren freilich im März fortgezogen, Geibel hatte München schon 1868 verlassen, Brater war 1869 gestorben. Ich ließ noch eines zurück, das erst 1871 zur Welt gekommen war: das Deutsche Reich. Was tut's! dachte ich; wo ich auch bin, dich verlier' ich nie!
Des Deutschen Reiches und meine Werdezeit fallen ungefähr zusammen; das ist mir ein gar eigenes, freundliches, herzbewegendes Gefühl. Als 1848 der Reichsgedanke zuerst Form gewann, aus der Frankfurter Paulskirche die Reichsverfassung ans Licht trat und sich dem König von Preußen als zukünftigem Kaiser vor die Füße legte, da war's doch noch ein zu junges Kind, dieses Deutsche Reich, konnte noch nicht unter den Großen, Gewordenen bestehn; war nach ebenso [222] ein Traum wie die Welt in mir. Dann erwachte es wieder in der Sehnsucht der Menschen, 1859; da erwachte auch ich. Ich wuchs und es wuchs; 1864, auf dem Marsch durch Schleswig-Holstein nach Düppel und Alsen, tat es einen großen Schritt; 1866 stand es noch unfertig, unreif, aber doch wie ein erblühender Jüngling da. 1871 war's zum Mann geworden.
Und ich, was hab' ich denn als Jüngling gewollt und als Mann getan? Meines Schaffens Ziel, sobald ich mich gefunden hatte, war und ist noch heut: Wahrheit, Wirklichkeit, angeschaute und erlebte Natur, aber in nicht unedle Form gebracht. Das Häßliche nicht meiden, nach Schönheit streben; in der Welt ist mehr Schönheit, als die Kunst erfassen und erschöpfen kann; nur hoch genug und tief genug schauen, um sie zu sehn! Harmonie erstreben, wie die geheime und geheimnisvolle Schöpferkraft es tut; Harmonie von Wirklichkeitsandacht, Seelenkunde, Großsinn, Formsinn, Anmut, Humor. Auf dem Weg der Großen weiterwandeln, aber als heutiger Mensch.
Mich dünkt, es war ein unermeßlicher Segen, daß unsre neue Literatur fast gleichzeitig mit unsrerMusik entstand. So stiegen alle die guten Geister hinein, die sie lyrisch, melodienreich, vornehm, großgestimmt, seelenvoll machten; von unsern herrlichen Kirchenliederdichtern an, über Christian Günther und Bürger zu den großen Schöpfern, vor denen wir uns auch heute noch dankbar und verehrend neigen, wenn wir nicht selbstanbetende Eintagsfliegen sind. So entgingen wir der Gefahr, an der unsre Malerei im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert trotz so großer[223] Talente halb gescheitert ist: sich mit Kleinmeistersinn so lange ins Dürftige, Allzuwirkliche, Häßliche zu vertiefen, bis die sonst so redlichen Augen verlernt haben, das Große und Schöne zu sehn.
Der Germane neigt zu dieser Gefahr, ohne sie zu kennen.
Möge nie in der deutschen Dichtung die Musik vergehn!
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