Christoph Martin Wieland
Oberon
Ein romantisches Heldengedicht
in zwölf Gesängen

[162] An den Leser

Die Romanzen und Ritterbücher, womit Spanien und Frankreich im zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert ganz Europa so reichlich versehen haben, sind, eben so wie die fabelhafte Götter- und Heldengeschichte der Morgenländer und der Griechen, eine Fundgrube von poetischem Stoffe, welche, selbst nach allem was Bojardo, Ariost, Tasso, Allemanni, und andere daraus gezogen haben, noch lange für unerschöpflich angesehen werden kann.

Ein großer Teil der Materialien zu gegenwärtigem Gedichte, besonders dessen was man in der Kunstsprache die Fabel nennt, ist aus dem alten Ritterbuche von Huon de Bordeaux genommen, welches durch einen der Bibliotheque Universelle des Romans einverleibten freien Auszug, aus der Feder des verstorbenen Grafen von Tressan, allgemein bekannt ist. Aber der Oberon, der in diesem alten Ritterromane die Rolle des Deus ex machina spielt, und der Oberon, der dem gegenwärtigen Gedichte seinen Namen gegeben, sind zwei sehr verschiedene Wesen. Jener ist eine seltsame Art von Spuk, ein Mittelding von Mensch und Kobold, der Sohn Julius Cäsars und einer Fee, der durch eine sonderbare Verzauberung in einen Zwerg verwandelt ist; der meinige ist mit dem Oberon, welcher in Chaucers Merchant's-Tale und Shakespeares Midsummer-Night's-Dream als ein Feen- oder Elfenkönig (King of Fairies) erscheint, eine und eben dieselbe Person; und die Art, wie die Geschichte seines Zwistes mit seiner Gemahlin Titania in die Geschichte Hüons und Rezias eingewebt worden, scheint mir (mit Erlaubnis der Kunstrichter) die eigentümlichste Schönheit des Plans und der Komposition dieses Gedichtes zu sein.

[162] In der Tat ist Oberon nicht nur aus zwei, sondern, wenn man es genau nehmen will, aus drei Haupthandlungen zusammen gesetzt: nämlich, aus dem Abenteuer, welches Hüon auf Befehl des Kaisers zu bestehen übernommen, der Geschichte seiner Liebesverbindung mit Rezia, und der Wiederaussöhnung der Titania mit Oberon; aber diese drei Handlungen oder Fabeln sind dergestalt in Einen Hauptknoten verschlungen, daß keine ohne die andere bestehen oder einen glücklichen Ausgang gewinnen konnte. Ohne Oberons Beistand würde Hüon Kaiser Karls Auftrag unmöglich haben ausführen können: ohne seine Liebe zu Rezia, und ohne die Hoffnung, welche Oberon auf die Treue und Standhaftigkeit der beiden Liebenden, als Werkzeugen seiner eignen Wiedervereinigung mit Titania, gründete, würde dieser Geisterfürst keine Ursache gehabt haben, einen so innigen Anteil an ihren Schicksalen zu nehmen. Aus dieser auf wechselseitige Unentbehrlichkeit gegründeten Verwebung ihres verschiedenen Interesse entsteht eine Art von Einheit, die, meines Erachtens, das Verdienst der Neuheit hat, und deren gute Wirkung der Leser durch seine eigene Teilnehmung an den sämtlichen handelnden Personen zu stark fühlt, als daß sie ihm irgend ein Kunstrichter wegdisputieren könnte.


[163] An Se. Durchlaucht den Prinzen August

von Sachsen-Gotha und Altenburg


Der Grazien schönste weihet, am Altar
der Freundschaft, Bester Prinz, Dir diese Blumen,
gepflegt von einer Muse die Du liebst.
Sie blühten unter Deinen Blicken auf,
und Du ergötztest Dich an ihrem Duft.
Bescheiden ist ihr Glanz; allein mir sagt's
ein Genius, sie werden nie verblühen:
und wenn dereinst nichts übrig ist von mir
als sie – und auch von Dir, o Du Geliebter,
nichts übrig ist, als Deiner schönen Seele
und aller Deiner holden Tugenden
Erinnerung: dann werden noch die Musen,
stilltraurend – denn wer liebte sie wie Du? –
die unverwelklichen um Deine Urne winden.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wieland, Christoph Martin. Verserzählungen. Oberon. An den Leser. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A6DD-7