[314] Neunter Gesang

1.
Es ist nun Zeit, uns auch nach Fatmen umzuschauen,
Die wir, seit Rezia mit Hüon sich ins Meer
Gestürzt, im Schiff, allein und alles Trostes leer
Gelassen, Tag und Nacht das Schicksal ihrer Frauen
Beweinend, und ihr eignes freilich auch.
Denn ach! sie weint, sie schreit, sie rauft ihr Haar vergebens;
Er ist verweht, mit einem einzigen Hauch
Verweht, der ganze Bau der Ruhe ihres Lebens.
2.
Was soll nun aus ihr werden, so allein
In einem Schiff, von zügellosen Söhnen
Des rauhen Meers umringt, die ihren Jammer höhnen,
Mit frechen Augen schon, berauscht in feurigem Wein,
Verschlingen ihren Raub – was wird ihr Schicksal sein?
Zum Glück erbarmet sich der schutzberaubten Schönen
Ein unverhoffter Sturm, der in der zweiten Nacht
Die See zum Tummelplatz empörter Wogen macht.
3.
Die Pinke treibt, indes ein allgemeines Zagen
Das Volk entnervt, auf ungewissem Meer
Herum gejagt, bald west- bald südwärts hin und her;
Bis, da der Winde Wut in sieben schrecklichen Tagen
Erschöpft ist, an den Strand von Tunis sich verschlagen
Der Hauptmann sieht. Den Zufall, der ihn sehr
Zur Unzeit überrascht, in Vorteil zu verwandeln,
Beschließt er Fatmen hier als Sklavin zu verhandeln.
4.
Denn Fatme, die kaum vier und dreißigmal
Den Mai sein Blumenkleid entfalten
Gesehn, war eine aus der Zahl
Der lange blühenden Gestalten,
Die nicht so leicht verwittern noch veralten,
Und die mit Reizen von Gewicht,
Viel Feur im Blick, viel Grübchen im Gesicht,
Euch für den Rosenglanz der Jugend schadlos halten.
[315] 5.
Des Königs Gärtner kam durch Zufall auf den Platz,
Wo alles das um hundert Sultaninen 1
Zu kaufen war. Es schien Bemerkung zu verdienen.
Er trat hinzu, besah's und fand es sei ein Schatz.
Sein grauer Kopf ward nicht zu Rat gezogen.
Es fehlte, dünkt ihn, nichts in seinem Gulistan 2
Als eben dies. Das Gold wird hurtig vorgewogen,
Und Fatme duldet still was sie nicht ändern kann.
6.
Indes verfolgt mit stets gewognem Winde
Der treue Scherasmin den anbefohlnen Lauf.
Kaum nahm Massiliens Port ihn wohlbehalten auf,
So setzt er sich zu Pferd, und eilt so schnell, als stünde
Sein Leben drauf, zum Kaiser nach Paris.
Er hatte schon den Märtrerberg 3 erstiegen
Und sah im Morgenrot die Stadt noch schlummernd liegen,
Als plötzlich sich sein Kopf an einen Zweifel stieß.
7.
»Halt«, sprach sein Geist zu ihm, »und eh wir weiter traben,
Bedenke wohl was du beginnst, mein Sohn!
Zwar sollte das dein weiser Schädel schon
Zu Askalon erwogen haben,
Obgleich der Wind, der dort in Hüons Segel blies,
Dir wenig Zeit zum Überlegen ließ.
Doch, wenn wir ehrlich mit einander sprechen wollen,
Du hättest damals dich ganz anders sträuben sollen.
8.
Denn, unter uns gesagt, es ist doch offenbar
Kein Menschensinn in dieser Ambassade.
Den Kaiser, der vorhin uns nie gewogen war,
Erbittert sie gewiß im höchsten Grade.
Am Ende wär es nur ums reiche Kästchen Schade!
Denn, wahrlich, mit der Hand voll Ziegenhaar,
Und mit den Zähnen da, Gott weiß aus welchem Rachen,
Wird deine Exzellenz sehr wenig Eindruck machen.
9.
Ja, wenn Herr Hüon selbst, mit stattlichem Geleite
Von Reisigen, Trabanten und so fort,
[316]
Und mit der Tochter des Kalifen an der Seite
Herein geschritten wär, und hätte selbst das Wort
Geführt, und mit gehörigen Grimassen,
Wie einem Ritter, Duc und Pair
Geziemt, auf rotem Samt, von goldnen Quasten schwer,
Die Sachen überreicht – da wollt ich's gelten lassen!
10.
Da kommt des Aufzugs Pracht, die Feirlichkeit, der Glanz
Der Sultanstochter, an der Hand des stolzen Gatten,
Kurz, jeder Umstand kommt dem andern da zu Statten,
Und trägt das Seine bei, die Sache rund und ganz
Zu machen. Karlen bleibt nichts weiter einzuwenden,
Er hat den Glauben in den Augen und in Händen;
Der Ritter hat sein Wort gehalten als ein Mann,
Und fordert frei was ihm kein Recht versagen kann.
11.
Das alles geht auf einmal in die Brüche,
Freund Scherasmin, wenn du nicht klüger bist
Als der dich abgeschickt. Wohlan, was Rats? was ist
Zu tun? – Das beste wär, auf allen Fall, er schliche
Mit seinem Kästchen sich ganz sachte wieder ab
Eh jemand ihn bemerkt, und ritt im großen Trab
Geraden Wegs nach Rom, dem Freiport aller Frommen,
Wo hoffentlich sein Herr inzwischen angekommen.«
12.
So sprach zu Scherasmin sein beßrer Genius:
Und da er ihm nach langem Überlegen
Nichts Klügers, wie ihn dünkt, entgegen
Zu setzen hatte, war sein endlicher Entschluß,
Der guten Stadt Paris das Schulterblatt zu weisen,
Und sporenstreichs nach Rom zu seinem Herrn zu reisen.
Er übersteigt die Alpen, langet an,
Und gleich sein erster Gang ist – nach dem Lateran.
13.
Allein, umsonst ermüdet er mit Fragen
Nach seinem Herrn den Schweizer, der die Wach
Am Tore hat, umsonst das ganze Vorgemach,
Kein Mensch kann ihm ein Wort von Ritter Hüon sagen.
[317]
Vergebens rennet er die Stadt von Haus zu Haus
Und alle Kirchen und Spitäler fragend aus,
Und schildert ihn vom Fersen bis zum Scheitel
Den Leuten vor, – all seine Müh ist eitel.
14.
Vier ewige Wochen lang, und dann noch zwei dazu,
Verweilt er sich in stets betrognem Hoffen,
Läßt keinen Tag sich selbst noch andern Ruh
Mit Forschen, ob sein Prinz denn noch nicht eingetroffen;
Und, da kein Warten hilft, beginnt er überlaut
Den großen Schwur des Baskenvolks zu fluchen,
Und schwört, so weit der Himmel blaut,
In einem Pilgerkleid den Ritter aufzusuchen.
15.
Was konnt er anders tun? Sein Geld war aufgezehrt,
Und eine Perle nur vom Kästchen anzugreifen,
(Das billig hundertfachen Wert
In Hüons Augen hat, weil's Oberon ihm verehrt)
Eh ließ er sich den Balg vom Leibe streifen!
Von einem Pilgersmann wird weder Gold begehrt
Noch Silbergeld; er kann mit Muschelschalen
Und Litanein die halbe Welt bezahlen.
16.
So bettelt nun zwei Jahre lang und mehr
Der treue unverdroßne Alte
Sich durch die Welt, die Länge und die Quer,
Und macht an jedem Port, auf jeder Insel Halte,
Fragt überall vergebens seinem Herrn
Und seiner Dame nach – bis ihn zuletzt sein Stern,
Und ein geheimer Trieb, der seine Hoffnung schüret,
Nach Tunis vor die Tür des alten Gärtners führet.
17.
Er setzt sich dort auf eine Bank von Stein,
Um, müd und schwach von langem Fasten,
Im Schatten da ein wenig auszurasten,
Und eine Sklavin bringt ihm etwas Brot und Wein.
Sie sieht dem Mann im braunen Pilgerkleide
Erstaunt ins Aug, und er der Sklavin ebenfalls,
[318]
Und, sich mit einem Schrei des Schreckens und der Freude
Erkennend, fallen sie einander um den Hals.
18.
»Bist du es, Fatme?« ruft an ihrer nassen Wange
Der Pilger freudig aus; »ist's möglich? – Ach! schon lange
Ließ Scherasmin die Hoffnung sich vergehn!
Ist's möglich daß wir uns zu Tunis wieder sehn?
Was für ein Wind hat euch in diese Heidenlande
Verweht? Und wo ist Hüon und Amande?«
»Ach, Scherasmin«, schreit Fatme laut, und bricht
In Tränen aus – »Sie sind – Ich Arme! – Frage nicht!«
19.
»Was sagst du?« ruft der Alte – »Gott verhüte!
Was sind sie? Sprich!« – »Ach, Scherasmin, sie sind –!«
Mehr bringt sie nicht heraus! Das stockende Geblüte
Erstickt die Red in ihrer Brust – »Sie sind? –
O Gott!« schluchzt Scherasmin, und weinet wie ein Kind
An Fatmens Hals – »In ihrer vollen Blüte!
Das ist zu hart! Allein mir schwante lang vorher
Nichts Gutes! Fatme – ach! die Probe war zu schwer!«
20.
So bald die gute Frau zum kläglichen Berichte
Nur wieder Atem hat, erzählt sie Stück für Stock,
Von seiner Abreis an bis auf den Augenblick
Der Schreckensnacht – da, beim auffackelnden Lichte
Der Blitze, Rezia durch alles Volk, das dichte
Auf Hüon drängt, sich stürzt, den Arm in Liebeswut
Um den Geliebten schlingt und in die wilde Flut
Ihn mit sich reißt, – die traurige Geschichte.
21.
Drauf sitzen sie wohl eine Stunde lang
Beisammen, sich recht satt zu klagen und zu weinen,
Und beide sich, aus treuem Liebesdrang,
Zum Preis des schönsten Paares zu vereinen,
Das je die Welt geziert. »Nein«, ruft sie vielmals, »nie,
Nie werd ich eine Frau, wie diese, wieder sehen!«
»Noch ich«, ruft Scherasmin in gleicher Melodie,
»Je einem Fürstensohn wie Er zur Seite stehen!«
[319] 22.
Zuletzt, nachdem er sich wohl dreimal sagen lassen
Wie alles sich begab, geht ihm ein schwacher Schein
Von Glauben auf, und läßt ihn Hoffnung fassen,
Sie könnten beide doch vielleicht gerettet sein.
Je mehr er es bedenkt, je minder geht ihm ein,
Daß Oberon auf ewig sie verlassen.
In allem dem, was er für sie getan,
War Absicht, wie ihn däucht, und ein geheimer Plan.
23.
Bei diesem schwachen Hoffnungsschimmer,
Der wie ein fernes Licht in tiefer Nacht ihm scheint,
Entschließt er sich, von Fatmen nun sich nimmer
Zu trennen, und, mit ihr durch gleichen Schmerz vereint,
Des Schicksals Aufschluß hier in Tunis abzuwarten.
Durch ihren Vorschub tauscht er Pilgerstab und Kleid
Mit einem Sklavenwams und einem Grabescheid,
Und dient um Tagelohn im königlichen Garten.
24.
Indessen Fatme und der wackre Scherasmin
Die Blumenfelder, die sie bauen,
Wie ihrer Lieben Grab, mit Tränen oft betauen;
Sieht Hüon, seit sein prüfend Schicksal ihn
In jene Einsiedlei voll Anmut und voll Grauen
Verbannt, nicht ohne Gram den dritten Frühling blühn.
Unmöglich kann er noch sein Heldenherz entwöhnen,
Ins Weltgetümmel sich mit Macht zurück zu sehnen.
25.
Der kleine Hüonnet, das schönste Mittelding
Von mütterlichem Reiz und väterlicher Stärke,
Das je am Hals von einer Göttin hing,
Und wahrlich doch zu anderm Tagewerke
Bestimmt, als mit der Axt auf seiner Schulter einst
Ins Holz zu gehn, vermehrt nur seinen Kummer.
Auch dich, o Rezia, in Nächten ohne Schlummer,
Belauscht dein Engel oft, wenn du im Stillen weinst.
26.
Tief fühlt ihr beid in dieser Jugendblüte,
Daß Abgeschiedenheit euch unnatürlich ist,
[320]
Fühlt Kraft zu edlerm Tun in eurer Brust, vermißt
Des Heldensinus, der unbegrenzten Güte
Gleich unbegrenzten Kreis! – Umsonst bemühn sie sich
Die Träne, die dem abgewandten Aug entschlich,
Dem alten Vater zu verhehlen;
Ihr Lächeln täuscht ihn nicht, er liest in ihren Seelen.
27.
Und ob ihm diese Welt gleich nichts mehr ist, doch stellt
Er sich an Ihren Platz, in das was sie verloren,
Was ihnen zugehört, wozu sie sich geboren
Empfinden – fühlt aus Ihrer Brust, und hält
Die Träne für gerecht, die sie vor ihm aus Liebe
Verbergen, tadelt nicht die unfreiwilligen Triebe,
Und frischt sie nur, so lang als ihren Lauf
Das Schicksal hemmt, zu stillem Hoffen auf.
28.
An einem Abend einst – das Tagwerk war vollbracht,
Und alle drei, (Amande mit dem Knaben
Auf ihrem Schoß) um an der herrlichen Pracht
Des hellgestirnten Himmels sich zu laben,
Sie saßen vor der Hütt auf einer Rasenbank,
Versenkten sich mit ahnungsvollem Grauen
In dieses Wundermeer, und blickten stillen Dank
Zu ihm, der sie erschuf – gen Himmel aufzuschauen:
29.
Da fing der fromme Greis, mit mehr gerührtem Ton
Als sonst, zu reden an von diesem Erdenleben
Als einem Traum, und vom Hinüberschweben
Ins wahre Sein. – Es war, als wehe schon
Ein Hauch von Himmelsluft zu ihm herüber,
Und trag ihn sanft empor indem er sprach.
Amanda fühlt's; die Augen gehn ihr über,
Ihr ist's, als sähe sie dem Halbverschwundnen nach.
30.
»Mir«, fuhr er fort, »mir reichen sie die Hände
Vom Ufer jenseits schon – Mein Lauf ist bald zu Ende;
Der eurige beginnet kaum, und viel,
Viel Trübsal noch, auch viel der besten Freuden,
[321]
(Oft sind's nur Stärkungen auf neue größre Leiden)
Erwarten euch, indes ihr unvermerkt dem Ziel
Euch nähert. Beides geht vorüber,
Und wird zum Traum, und nichts begleitet uns hinüber;
31.
Nichts als der gute Schatz, den ihr in euer Herz
Gesammelt, Wahrheit, Lieb und innerlicher Frieden,
Und die Erinnerung, daß weder Lust noch Schmerz
Euch je vom treuen Hang an eure Pflicht geschieden.«
So sprach er vieles noch; und als sie endlich sich
Zur Ruh begaben, drückt' er, wie sie dünkte,
Sie wärmer an sein Herz, und eine Träne blinkte
In seinem Aug, indem er schnell von ihnen wich.
32.
In eben dieser Nacht, von dunkeln Vorgefühlen
Der Zukunft aufgeschreckt, erhob Titania
Die Augen himmelwärts – und alle Rosen fielen
Von ihren Wangen ab, indem sie stand, und sah
Und las. Sie rief den lieblichen Gespielen,
Mit ihr zu sehen, was in diesem Nu geschah,
Und wie zu unglückschwangern Zügen
Amandens Sterne schon sich an einander fügen.
33.
Und, dicht in Schatten eingeschleiert, fliegt
Sie schnell dem Lager zu, wo zwischen Mandelbäumen
(Der Knabe neben ihr) die Königstochter liegt,
Aus ihrem Schlaf von ahnungsvollen Träumen
Oft aufgestört. Titania berührt
Die Brust der Schläferin (damit die Unruh schweige
Die in ihr klopft) mit ihrem Rosenzweige,
Und raubt den Knaben weg, der nichts davon verspürt.
34.
Sie kommt zurück mit ihrem schönen Raube,
Und spricht zu ihren Grazien: »Ihr seht
Das grausame Gestirn, das ob Amanden steht!
Eilt, rettet dieses Kind in meine schönste Laube,
Und pfleget sein, als wär's mein eigner Sohn.«
Drauf zog sie aus dem Kranz um ihre Stirne
[322]
Drei Rosenknospen aus, gab jeder holden Dirne
Ein Knöspchen hin, und sprach: »Hinweg, es dämmert schon!
35.
Tut wie ich euch gesagt, und alle Tag und Stunden
Schaut eure Rosen an; und wenn ihr alle drei
Zu Lilien werden seht, so merket dran, ich sei
Mit Oberon versöhnt und wieder neu verbunden.
Dann eilet mit Amandens Sohn herbei,
Denn mit der meinen ist auch ihre Not verschwunden.«
Die Nymphen neigten sich und flohn
In einem Wölkchen schnell hinweg mit Hüons Sohn.
36.
Kaum war der Morgen aufgegangen,
So sucht mit bebendem unruhigem Verlangen
Amanda ihren Freund, der seine Lagerstatt,
Fern von Alfons und ihr, in einem Felsen hat.
So hastig eilt sie fort, daß sie (was nie geschehen
Seitdem sie Mutter war) vor lauter Eil vergißt,
Nach ihrem Sohn, der noch ihr Schlafgeselle ist,
Und ruhig (glaubt sie) schläft, vorher sich umzusehen.
37.
Sie findet ihren Mann, im Garten irrend, auf,
Und beide nehmen auf der Stelle,
Was sie besorgen sich verbergend, nach der Zelle
Des alten Vaters ihren Lauf
Wie klopft ihr Herz, indem sie seinem Lager
Sich langsam nahn! Er liegt, die Hände auf sein Herz
Gefaltet, atemlos, sein Antlitz bleich und hager,
Doch edel jeder Zug, und rein, und ohne Schmerz.
38.
»Er schlummert nur«, spricht Rezia, und legt
Die Hand, so leicht daß sie ihn kaum berühret,
Auf seine Hand – und, da sie kalt sie spüret
Und keine Ader mehr sich regt,
Sinkt sie in stiller Wehmut auf den blassen Erstarrten
Leichnam hin; ein Strom von Tränen bricht
Aus ihrem Aug und badet sein Gesicht:
»O Vater«, ruft sie aus, »so hast du uns verlassen!«
[323] 39.
Sie rafft sich auf, und sinkt an Hüons Brust,
Und beide werfen nun sich bei der kalten Hülle
Der reinsten Seele hin, in ehrfurchtsvoller Stille,
Und sättigen die schmerzlich süße Lust
Zu weinen, – drücken oft, um endlich wegzugehen,
Auf seine Hand der Liebe letzten Zoll,
Und bleiben immer, nie gefühlter Regung voll,
Bei dem geliebten Bild, als wie bezaubert, stehen.
40.
Es war als sähen sie auf seinem Angesicht
Die Dämmerung von einem neuen Leben,
Und wie von reinem Himmelslicht
Den Widerschein um seine Stirne weben,
Der schon zum geistgen Leib den Erdenstoff verfeint,
Und um den stillen Mund, der eben
Vom letzten Segen noch sich sanft zu schließen scheint,
Ein unvergängliches kaum sichtbars Lächeln schweben.
41.
»Ist dir's nicht auch (ruft Hüon, wie entzückt,
Amanden zu, indem er aufwärts blickt)
Als fall aus jener Welt ein Strahl in deine Seele?
So fühlt ich nie der menschlichen Natur
Erhabenheit! noch nie dies Erdenleben nur
Als einen Weg durch eine dunkle Höhle
Ins Reich des Lichts! nie eine solche Stärke
In meiner Brust zu jedem guten Werke!
42.
Zu jedem Opfer, jedem Streit
Nie diese Kraft, nie diese Munterkeit
Durch alle Prüfungen mich männlich durchzukämpfen!
Laß sein, Geliebte, daß der Trübsal viel
Noch auf uns harrt – sie nähert uns dem Ziel!
Nichts soll uns mutlos sehn, nichts diesen Glauben dämpfen!«
So spricht er, sich mit ihr von diesem heiligen Ort
Entfernend – und ihn nimmt das Schicksal gleich beim Wort.
43.
Denn, wie sie Hand in Hand nun wieder
Hervor gehn aus der Zell, und ihre Augenlider
[324]
Erheben – Gott! was für ein Anblick stellt
Sich ihren Augen dar! In welche fremde Welt
Sind sie versetzt! Verschwunden, ganz verschwunden
Ist ihr Elysium, der Hain, die Blumenflur.
Versteinert stehn sie da. Ist's möglich? Keine Spur,
Sogar die Stätte wird nicht mehr davon gefunden!
44.
Sie stehn an eines Abgrunds Rand,
Umringt, wohin sie schaudernd sehen,
Von überhangenden gebrochnen Felsenhöhen;
Kein Gräschen mehr, wo einst ihr Garten stand!
Vernichtet sind die lieblichen Gebüsche,
Der dunkle Nachtigallenwald Zerstört!
Nichts übrig, als ein gräßliches Gemische
Von schroffen Klippen, schwarz, und öd, und ungestalt!
45.
Zu welchen neuen Jammerszenen
Bereitet sie dies grause Schauspiel vor,
»Ach«, rufen sie, und heben, schwer von Tränen,
Den kummervollen Blick zum heilgen Greis empor:
»Ihm wurde dies Gebirg in Frühlingsschmuck gekleidet,
Dies Eden Ihm gepflanzt; um Seinetwillen nur
Genossen wir's; und Schicksal und Natur
Verfolgen uns aufs neu, so bald er von uns scheidet!«
46.
»Ich bin gefaßt«, ruft Rezia, und schlingt
Ein »Ach« zurück das ihrer Brust entsteiget.
Unglückliche! der Tag, der all dies Unglück bringt,
Hat dir noch nicht das Schrecklichste gezeiget!
Sie eilt dem Knaben zu, den sie vor kurzem, süß
Noch schlummernd, (wie sie glaubt) verließ;
Er ist ihr letzter Trost; des Schicksals härtsten Schlägen
Geht sie getrost, mit ihm auf ihrem Arm, entgegen.
47.
Sie fliegt dem Lager zu, wo er
An ihrer Seite lag, und, wie vom Blitz getroffen,
Schwankt sie zurück – der Knab ist weg, das Lager leer.
»Hat er sich aufgerafft? Fand er die Türe offen
[325]
Und suchte sie, O Gott! wenn er verunglückt wär?
Entsetzlich! – Doch vielleicht hat um die Hütte her,
(So denkt sie zwischen Angst und Hoffen)
Vielleicht im Garten nur der Kleine sich verloffen?«
48.
Im Garten, ach! der ist nun felsiger Ruin!
Sie stürzt hinaus, und ruft mit bebenden Lippen
Den Knaben laut beim Namen, suchet ihn
Ringsum, mit Todesangst, in Höhlen und in Klippen.
Der Vater, den ihr Schrein herbei gerufen, spricht
Umsonst den Trost ihr zu, woran's ihm selbst gebricht:
Er werde sich gewiß in diesen Felsgewinden
Gesund und frisch auf einmal wieder finden.
49.
Zwei Stunden schon war alle ihre Müh
Vergeblich. Ach! umsonst, laut rufend, irren sie
Tief im Gebirg umher, besteigen alle Spitzen,
Durchkriechen alle Felsenritzen,
Und lassen sich, um wenigstens sein Grab
Zu finden, kummervoll in jede Kluft hinab:
Ach! keine Spur von ihm entdeckt sich ihrem Blicke,
Und von den Felsen hallt ihr eigner Ton zurücke.
50.
Das Unbegreifliche des Zufalls, daß ein Kind
Von seinem Alter sich verliere,
An einem Ort, wo weder wilde Tiere
Noch Menschen (wilder oft als jene) furchtbar sind,
Mehrt ihre Angst; doch nährt es auch ihr Hoffen:
»Es kann nicht anders sein, er hat sich nur verloffen
Und schlief vielleicht auf irgend einem Stein
Vom Wandern müd, in seiner Unschuld ein.«
51.
Aufs neue wird der ganze Felsenrücken,
Wird jeder Winkel, jeder Strauch
Der ihn vielleicht versteckt, durchsucht mit Falkenblicken.
Die Unruh treibt sogar, wie unwahrscheinlich auch
Die Hoffnung ist ihn dort lebendig aufzuspüren,
Sie bis zum Strand herab, wo, unter dem Gemisch
[326]
Von aufgetürmten Sand und sumpfigem Gebüsch,
Sie endlich unvermerkt einander selbst verlieren.
52.
Auf einmal schreckt Amandens Ohr
Ein ungewohnter Ton. Ihr däucht, es glich dem Schalle
Von Stimmen. Doch, weil's wieder sich verlor,
Und sie bei einem Wasserfalle,
Der mit betäubendem Getöse übern Rand
Von einem hohen Felsenbogen
Herunter stürzt, sich ziemlich nah befand,
Glaubt sie, sie habe sich betrogen.
53.
Ihr schwanet nichts von größerer Gefahr,
Ihr einziger Gedank ist ihres Sohnes Leben:
Und plötzlich, da sie kaum um einen Hügel, neben
Dem Wasserfall, herum gekommen war,
Sieht sie, bestürzt, von einer rohen Schar
Schwarzgelber Männer sich umgeben,
Und hinter einem hohen Riff
Erblickt sie in der Bucht ein ankernd Ruderschiff.
54.
Sie hatten kurz zuvor, um Wasser einzunehmen,
Vor Anker hier gelegt, und waren noch damit
Beschäftigt: als, mit schnell gehemmtem Schritt,
Auf einmal eine Frau vor ihre Augen tritt,
Gemacht beim ersten Blick die schönsten zu beschämen
Erstaunen schien sie alle schier zu lähmen,
An diesem öden Ort, den sonst der Schiffer fleucht,
Ein junges Weib zu sehn, die einer Göttin gleicht.
55.
Der Schönheit Anblick macht sonst rohe Seelen milder,
Und Tiger schmiegen sich zu ihren Füßen hin:
Doch diese fühlen nichts. Ihr stumpfer Räubersinn
Berechnet sich den Wert der schönsten Frauenbilder
(Von Marmor oder Fleisch, gleich viel!) mit kaltem Blut
Bloß nach dem Marktpreis, just wie andres Kaufmannsgut.
»Hier«, ruft der Hauptmann, »sind zehn tausend Sultaninen
Mit Einem Griff, so gut wie hundert, zu verdienen.
[327] 56.
Auf, Kinder, greifet zu! So ein Gesicht wie dies
Gilt uns zu Tunis mehr als zwanzig reiche Ballen:
Der König, wie ihr wißt, liebt solche Nachtigallen;
Und dieser wilden hier gleicht von den Schönen allen
In seinem Harem nichts. Ihr reicht Almansaris,
Die Königin, so schön sie ist, gewiß
Das Wasser kaum. Wie wird der Sultan brennen!
Der Zufall hätt uns traun! nicht besser führen können.«
57.
Indes der Hauptmann dies zu seinem Volke sprach,
Steht Rezia, und denkt zwei Augenblicke nach
Was hier zu wählen ist. »Sind diese Leute Feinde,
So hilft die Flucht mir nichts, da sie so nahe sind:
Vielleicht daß Edelmut und Bitten sie gewinnt.
Ich geh und rede sie als Freunde,
Als Retter an, die uns der Himmel zugesendet.
Vielleicht ist's unser Glück, daß sie hier angeländet.«
58.
Dies denkend, geht, mit unschuldsvoller Ruh
Im offnen Blick, und mit getrosten Schritten,
Das edle schöne Weib auf die Korsaren zu:
Allein sie bleiben taub bei ihren sanften Bitten.
Die Sprache, die zu allen Herzen spricht,
Rührt ihre eisernen entmenschten Seelen nicht.
Der Hauptmann winkt; sie wird umringt, ergriffen,
Und alles läuft und rennt, die Beute einzuschiffen.
59.
Auf ihr erbärmliches Geschrei,
Das durch die Felsen hallt, fliegt Hüon voller Schrecken
Den Wald herab, zu ihrer Hülf herbei.
Ganz außer sich, so bald ihm was es sei
Die Bäume länger nicht verstecken,
Ergreift er in der Not den ersten knotgen Stecken
Der vor ihm liegt, und stürzt, wie aus der Wolken Schoß
Ein Donnerkeil, auf die Barbaren los.
60.
Sein holdes Weib zu sehn, die mit blutrünstgen Armen
Sich zwischen Räubertatzen sträubt,
[328]
Der Anblick, der zu Tigerwut ihn treibt,
Macht bald den Eichenstock in seiner Faust erwarmen.
Die Streiche fallen hageldicht
Auf Köpf und Schultern ein mit stürzendem Gewicht.
Er scheint kein Sterblicher; sein Auge spritzet Funken,
Und sieben Mohren sind schon vor ihm hingesunken.
61.
Bestürzung, Scham und Grimm, von einem einzgen Mann
Den schönen Raub entrissen sich zu sehen,
Spornt alle andern an, auf Hüon los zu gehen,
Der sich, so lang er noch die Arme regen kann,
Unbändig wehrt; bis, da ihm im Gedränge
Sein Stock entfällt, die überlegne Menge
(Wiewohl er rasend schlägt und stößt und um sich beißt)
Ihn endlich übermannt und ganz zu Boden reißt.
62.
Mit einem Schrei gen Himmel sinkt Amande
In Ohnmacht, da sie ihn erwürgt zu sehen glaubt.
Man schleppt sie nach dem Schiff, indes das Volk am Strande
Auf den Gefallnen stürmt, und tobt und Rache schnaubt.
Ihm einen schnellen Tod zu geben,
Wär's auch der blutigste, däucht sie Gelindigkeit:
»Nein«, ruft der Hauptmann aus, »um desto längre Zeit
Der Tode grausamsten zu sterben, soll er leben!«
63.
Sie schleppen ihn tief in den Wald hinein,
So weit vom Strand, daß auch sein lautstes Schrein
Kein Ohr erreichen kann, und binden ihn mit Stricken
Um Arm und Bein, um Hals und Rücken,
An einen Baum. Der Unglückselge blickt
Zum Himmel auf, verstummend und erdrückt
Von seines Elends Last; und laut frohlockend fahren
Mit ihrem schönen Raub nach Tunis die Barbaren.

Fußnoten

1 Sultanin, IX. 5, (Sequin) eine Türkische Goldmünze, deren Wert hier, wo es auf eine sehr genaue Bestimmung nicht ankommt etwa einem Goldgülden oder halben Maxd'or gleich angenommen werden kann.

2 Gulistan, IX. 5. Ein Persisches Wort, welches Blumen– oder Rosengarten bedeutet, bekannt aus einem unter diesem Namen in die vornehmsten Europäischen Sprachen übersetzten Gedichte des berühmten Persischen Dichters Sahdi, oder Scheik Mosleheddin Saadi von Schiras, der um das Jahr Christi 1193 geboren wurde, und bis 1313 unsrer Zeitrechnung gelebt haben soll. – Der Gebrauch dieses Wortes an dieser Stelle bedarf wohl keiner Rechtfertigung.

3 Märtrerberg, IX. 6. Montmartre bei Paris, so genannt, weil nach ehemaligem gemeinem Glauben der heilige Dionysius Areopagita mit seinen Gefährten S. Rustikus und S. Eleutherus den Martertod auf diesem Berg erlitten haben soll.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wieland, Christoph Martin. Verserzählungen. Oberon. Neunter Gesang. Neunter Gesang. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A648-8