Georg Weerth
Die Wohltaten
des Herzogs von Marlborough

Wie erfreulich auch das jetzt überall sich hervortuende Streben ist, den arbeitenden und armen Volksklassen mit Rat und Tat beizuspringen, so bedauernswert ist es andrerseits, daß auch hier nur zu oft Eitelkeit, Scharlatanerie und noch schlimmere Dinge sich einmischen und das reine Werk der Liebe durch unedle Nebenrücksichten trüben und beschmutzen, was um so mehr gegeißelt zu werden verdient, als es noch Leute genug gibt, die das ernste Streben der Sozialisten in eine Kategorie mit jener Scharlatanerie und Modesucht werfen möchten. Diese heuchlerische Wohltätigkeitsschwärmerei nach der Mode treibt leider auch schon überall ihr Wesen. Vetter Michel und sein Nachbar John Bull gebärden sich aber dabei am possierlichsten.

Vor einigen Tagen hieß es in allen englischen Zeitungen, der Herzog von Marlborough habe 200 Stück Rotwild, Hirsche und Rehe, in seinem Park erschießen und dieses schöne, saftige Wildbret an die armen Leute der Umgegend verteilen lassen. Diese Nachricht verbreitete Freude durch das ganze Land. Man sprach von der altenglischen Gastfreiheit, welche sich wieder geltend mache, sang das Lied von dem feinen Gentleman und erhob den Herzog bis in den Himmel. Unglaublich schien die Sache freilich noch immer, da der Herzog sich bisher nur als ein Geizhals erster Größe gezeigt hatte. Es blieb aber [55] dabei, daß die unendliche Not der Armen das Herz des reichen Aristokraten besiegt habe. Leider wird aber in London ein kleines Volksblatt gedruckt, »Punch« geheißen – dieser »Punch« steckt seine Nase in jeden Dreck, und mancher weiß davon zu erzählen. »Punch« ist nicht zufrieden mit den Wildbret-Gerüchten und sendet einenAbgeordneten, um sich an Ort und Stelle von der Großmut des Herzogs zu überzeugen. – Da kam denn die folgende artige Geschichte zum Vorschein: »Als der Herzog von Marlborough vor wenigen Tagen in seinem Park lustwandelte und, wie Patrioten und Philanthropen zu tun pflegen, über die Lage seiner Mitmenschen, der Armen, nachdachte, da fand er sich plötzlich umringt von zirka 2.000 Stück Rotwild. Sämtliche Tiere gehörten ihm. Bei andern Gelegenheiten zeigten die Hirsche, welche den Herzog sehr wohl kannten, stets ihre Leichtfüßigkeit und entfernten sich so rasch wie möglich. Zu der Zeit, wovon wir sprechen, war dies nicht so. Die Hirsche blieben stehen und blickten auf Se. Hoheit. Die Wahrheit ist, daß sie nicht soviel Kraft mehr hatten, um ihre Beine zu bewegen. Auch rollten einigen die hellen Tränen aus den großen Augen, und hätten die Tiere sprechen können, so würden sie alle gesagt haben: ›Ach, lieber Herzog, wir verhungern, du gibst uns kein Heu mehr, das Futter ist rar – ach, Hunger, du bitteres Kraut!‹

Der Herzog verstand die wehmütigen Blicke seiner Hirsche. Er zählte die Rippen derjenigen, die ihm zunächst standen, und wurde sehr nachdenklich. Er dachte an die Lage seines Viehs, und er dachte an den hohen Preis des Heus. ›Was soll ich tun?‹ sprach der Herzog. ›Wenn ich die ganze Bande den Winter hindurch erhalte, verliere ich enorme Summen – ein paar hundert Stück [56] sind außerdem schon zu Schatten herabgesunken – sie werden morgen krepieren, und dann gibt es große Arbeit, sie alle unter die Erde zu schaffen.‹ Plötzlich kam ihm ein herrlicher Gedanke: ›Du rufst die Armen aus der Gegend zusammen, erklärst ihnen, Gott habe dein Herz zur Milde gestimmt, und dann machst du ihnen 200 Stück der abgemagertsten Hirsche zum Geschenk.‹ – Also geschah's, die Hirsche wurden mit allen Ehren erschossen, – die Bauern schleiften sie heim und haben sich an den Knochen die Zähne weidlich zerbissen.«

Dies sind die Wohlfahrtsbestrebungen eines englischen Aristokraten. Wir wollen jetzt sehen, ob sie durch die Taten eines deutschen Gewerb-Vereins übertroffen werden. – Der Herzog erquickt die arbeitenden Klassen durch Haut und Knochen, der Leipziger Gewerb-Verein erfrischt sie durch eine Annonce in der Augsburger »Allgemeinen Zeitung«.

In Nr. 14 der Augsb. Zeitung heißt es:


Bekanntmachung

In Gemäßheit des von der Versammlung deutscher Gewerbetreibenden am 7. Oktober v. J. in Leipzig gefaßten Beschlusses wird hiermit ein Preis von 100 Stück Dukaten für die beste schriftliche Lösung der Frage ausgesetzt: Bei welchen Gewerben im deutschen Zollverbande finden sich vorzugsweise Hilfsbedürftige unter den arbeitenden Klassen, und welches sind die geeigneten Mittel, ihrer Not sicher und dauernd abzuhelfen?

Preisschriften mit Angabe des Verfassers bis 31. August 1845 an J.G. Günther in Leipzig einzusenden.

Der diesjährige Ausschuß für die Versammlungen deutscher Gewerbetreibender.


Also ihr deutschen Leipziger Gewerbetreibenden habt noch nötig, einem Literaten 100 Stück Dukaten zu bieten, [57] um etwas über die Not der arbeitenden Klassen zu erfahren? Habt ihr denn nie die »Rheinische Zeitung« gelesen, wenn sie ihre Korrespondenzen aus der Eifel, von der Lahn oder der Mosel brachte? Habt ihr nie von den Armen Berlins gehört? Nichts über die Bauern in Westfalen, im Ravensbergischen, in der Senne? Sind euch die Vorfälle in Schlesien unbekannt? – Es scheint, daß ihr lange Zeit in festem Schlafe gelegen habt.

Wie viele von euch, ihr Gewerbetreibenden, stolpern in ihren Fabriken, in ihren Spinnereien über bleiche, weinende, verkrüppelte Kinder, über schwindsüchtige Frauen, über ruinierte Männer. Und während ein Schrei der Entrüstung durch die ganze Welt geht, daß in solchen Etablissements die heranwachsenden Geschlechter im Keim verdorben werden, tut ihr, als wenn ihr gar nichts davon wüßtet, und seid naiv genug, euch zu erkundigen, bei welchen Gewerben im deutschen Zollvereine sich vorzugsweise Hilfsbedürftige finden. Gebt doch dem ersten besten Arbeiter eurer Fabriken einen einzigen Dukaten, unter der Bedingung, euch sein Inneres aufzuschließen und einmal ganz so zu sprechen, wie es ihm ums Herz sei, und ihr werdet mehr erfahren wie von zehn Literaten, die euch für 100 Stück Dukaten ihre Meinung sagen sollen. Auf diese Weise spart ihr 99 Stück – die Sache ist so viel billiger.

Ihr nennt euch »eine Versammlung deutscher Gewerbetreibender«; da ist es doch möglich, daß einige Fabrikanten aus Schlesien oder aus Rheinpreußen in eurer Mitte sind. Vielleicht sind sogar Fabrikherren unter euch, in deren Sälen die Kinder genötigt sind, bei dem Anmachen der Fäden stets gebückt zu stehen – eine notwendige Folge der zu niedrig liegenden Maschinen –, so [58] daß die Kinder in Zeit von einem Jahre krumme Beine und krumme Rücken kriegen.

Die Gewerbetreibenden in Leipzig machen es nicht wie die Herren von Köln, welche zusammenkommen und sagen: »Die Not ist da, hier sind wir und helfen!«, nein, sie wollen wissen, wo es denn eigentlich am schauderhaftesten hergeht; sie müssen erst Krüppel und Leichen sehen, ehe sie mit ihrer Hilfe Ernst machen; sie sind nicht damit zufrieden, daß es wirklich Not gibt – sie wollen auch das Blut und die Fetzen beriechen. Als ob es nicht im Grunde einerlei wäre, daß hier ein Winzer am Verhungern ist, dort die Kinder der Fabriken malträtiert werden, daß hier ein Handwerker in dumpfigen Kellergeschossen zugrunde geht, dort ein Weber in seinem Stuhl verkrüppelt. Als ob sich ein so genauer Unterschied zwischen den Leiden der arbeitenden Klassen machen ließe!

Die Not der arbeitenden Klassen liegt gerade euch am allernächsten, und wie dieser Not abzuhelfen ist und wie man der entstehenden vorbeugen kann, das ist auch bereits ausgesprochen und wird es noch täglich, ohne 100 Dukaten. Wäre die Bekanntmachung der Gewerbetreibenden auch in der reinsten Absicht geschehen, so wäre sie mindestens – zwecklos.

Der Redensarten ist man so ziemlich satt – die haben noch keinen auf die Beine gebracht; und wenn ihr Gewerbetreibenden die Arbeiter durch Traktätchen und Bibelsprüche zu mästen und zu trösten hofft, so werden sie wahrscheinlich bei dem Spruch des alten, zornigen Jesaias stehenbleiben: »Wir brummen alle wie die Bären und ächzen wie die Tauben, denn wir harren aufs Recht, so ist's nicht da, aufs Heil, so ist's ferne von uns.«

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Weerth, Georg. Skizzen, Feuilletons, Reportagen. Die Wohltaten des Herzogs von Marlborough. Die Wohltaten des Herzogs von Marlborough. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-977C-B