Vernunft und Wahnsinn

Dem Morgen träumt nicht, was der Abend bringt,
Wenn lächelnd wohl aus rosenrotem Osten
Sein erster Strahl durch Wald und Fluren dringt,
Des Taues frische Perlensaat zu kosten,
Wenn ihr Erwachen hell die Amsel preist
Und Hirsche wandeln zu des Tales Bronnen,
Wenn um die Gletscher still der Adler kreist,
Sich in der Frühe heil'gem Licht zu sonnen.
Blau schaut die Blume aus des Feldes Garben,
Auf Moor und Weiher schwankt des Schilfes Kranz.
Es fließt der Strom in Regenbogenfarben
Zum Meere, wiegend seiner Wellen Tanz.
Und rauschend im gewalt'gen Wogenliede
Dehnt unabsehbar sich die grüne Flut –
Und Freude nur und wundervoller Friede
Auf Festland, Insel und Gewässern ruht.
Doch wie zum Mittag wandelt sich der Morgen,
Hüllt sich in Schleier auch des Tages Pracht.
Was einer frühen Stunde tief verborgen,
Es bricht herein mit Angst und Graus und Nacht.
Der Himmel tönt von rasselnden Gewittern,
Die Erde zuckt und birst zu jähem Spalt,
Und heulend über Fels und Eichensplittern
Der Sturm entfesselt seine Bahnen wallt.
[177]
Es rast die Brandung an zerfetzten Küsten,
Und Dunkel herrscht, bis aus entwölkten Höhn,
Als ob sie nichts von Sturm und Wetter wüßten,
Die Sterne ruhig strahlend niedersehn.
Und die vom Staub bis auf zum Firmamente
Gewälzt sich mit dämonischer Gewalt:
Sie schlummern dann, die starken Elemente,
Bis sie ein neuer Kampf zusammenballt.
So ewiglich, mit wechselndem Gestalten,
Sklavischen Laufes rollt und kreist das All!
Nicht schöner mag sich die Natur entfalten,
Noch wenden sich als zu gewohntem Fall.
Die Welt und Welten aneinander bannte
Mit unerbittlicher Notwendigkeit:
Nur in den Geistern ihrer Menschen brannte
Sie fort zu schrankenloser Herrlichkeit!
Seit von der Lippe greiser Patriarchen
Der Weisheit blumenreiche Rede floß,
Bis wo die Schädel stürzender Monarchen
Zerstampft der Freiheit jugendliches Roß:
Hat die Natur mit ihrer Donnerstimme
Gesungen stets den mahnenden Gesang,
Daß jeder folge seinem Gram und Grimme
Wie seines Herzens liebevollem Drang.
[178]
Die gleich der Möwe keck die See umschwanken,
Die gleich der Schwalbe ihre Heimat baun,
Die gleich der Wolke blitzen den Gedanken
Und gleich dem Falken forschend niederschaun;
Die sich mit Palmen über Hügeln wiegen,
Mit Rosen träumen auf bemooster Flur,
Die gleich dem Tiger ziehn von Krieg zu Kriegen –
Sie sollten folgen ihrem Innern nur!
In gleicher Schönheit flammten durch die Zeiten
Des Raumes Wunder; nur zu höherm Flug
Mocht seines Geistes ries'ge Schwingen breiten
Der Mensch, der alle Kraft im Busen trug,
Der, ob er knechtisch sich im Staube wühlte
Und zitternd sich vor Thron und Altarwand –
Doch wieder keck mit seinen Göttern spielte
Und freier nur und herrlicher erstand!
Der eignen Brust ist Freud und Leid entsprungen;
Vernunft und Wahnsinn! Schon jahrtausendlang
Hat dieses fürchterliche Paar gerungen,
Den Kampf gewälzt vom Auf- zum Niedergang.
Es weht der Staub zermalmter Nationen
In düstern Massen auf von ihrem Pfad;
Und ob sie ruhig beieinander wohnen –
Sie rasten nur zu neuer, größrer Tat!
[179]
In Ost und West ein reges Völkerleben,
Vom Meere schallt's bis zu der Wüste Saum.
Das ist ein Ringen, Schaffen nur und Streben
Auf Feldern, Gassen und der Märkte Raum.
Und kommt der Morgen sacht herangeschritten:
Da scheint's, nur Segen schmücke rings das Land,
Als schaue Liebe süß aus hundert Hütten,
Als herrsche rings nur ordnender Verstand. –
Wohl mag die Blume außen üppig winken,
In ihrem Herzen wohnt nur Angst und Qual!
Wie einst muß heute noch der Weise trinken
Des Wahnsinns giftdurchfluteten Pokal.
Mit Blute leimen sie ihr Werk zusammen,
Die satt durchtaumeln Tempel und Palast;
Die Armut röchelt Wimmern und Verdammen,
Und wild die Lust aus goldnen Schüsseln praßt!
Doch wie der Wahnsinn, folgend seinem Rechte,
Sinnlos mag rasen – so durch alle Welt
Hat die Vernunft ihr Recht, daß sie die Nächte
Des Wahnsinns funkenstiebend auch erhellt,
Daß, eine Löwin, sie die Glieder schüttelt
Und wieder naht in drohender Gestalt,
Daß sie den Wahnsinn aus den Fugen rüttelt
Und über Trümmer fort zum Siege wallt!
[180]
Vernichtet wird der Wahn zu Boden rollen,
Der mit Gewalt und schmeichelndem Geschwätz
Gebeut, daß Alle Einem folgen sollen,
Der Schranken schafft und Regeln und Gesetz,
Der seine Liebe macht zu Aller Liebe
Und seinen Haß zum Hasse Aller nur,
Der sie vergleicht, die menschlich freien Triebe,
Der Elemente sklavischen Natur! –
Der Erde goldner Morgen ist verronnen,
Anbrach der wilde, wetterschwangre Tag.
Es hat den langen, herben Streit begonnen,
Was schlummernd einst in tiefster Seele lag.
Fort mag er sich durch alle Zeiten türmen –
Es kennt der Mensch kein Ruhn und Stillestehn.
Nur aus des Wahnsinns fürchterlichsten Stürmen
Wird die Vernunft zu schönerm Siege gehn!
[181]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Weerth, Georg. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. Vernunft und Wahnsinn. Vernunft und Wahnsinn. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-971D-0