Erst achtzehn Jahr

Ein letztes Glühn! Da zog an brit'scher Küste
Dämmernd herauf die schönste Winternacht;
Im Mondenstrahle floß die Wasserwüste,
Und auf den Hügeln lag des Schnees Pracht.
Leer das Gestad. Es schwieg der Dampfer Sausen;
Matros und Krieger war'n des Tages matt; –
Doch durch die Stille sandte dumpf ihr Brausen
London, der Themse dunkle Riesenstadt.
Ihr galt es gleich, mocht auch der Schlummer drücken
Manch müdes Auge zu ersehnter Ruh;
Es wälzte donnernd über Park und Brücken
Derselbe Lärm sich nur dem Morgen zu.
Zaubrisch und still da draußen das Gefild!
Hier nur das Volk, in buntem Strome, wild
Zusammenflutend, schaffend, ringend, suchend,
Schwelgend und darbend, betend bald und fluchend!
Und Schimmern rings, von Dach und Tor und Fenster;
Dort buhlt die Luft in seidenem Gewand!
Hier überm Golde höhnische Gespenster
Und dort geballt die magre Bettlerhand!
Ein Seufzer hier, ein Kuß dort! Von Terrassen
Und Treppen: Jubel, Flüstern und Gestöhn –
Das ist der Tanz, in dem auf Londons Gassen
Sich rastlos zwei Millionen Menschen drehn!
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Er brauste fort. Da hob auch Sie vom Lager
Sich sacht empor; es fiel der Sterne Licht
Auf die Gestalt, so tief gebeugt, so hager,
Und auf ihr bleiches, starres Angesicht.
Sie sann – nur einen Augenblick; sie preßte
Das kranke Kind an ihre nackte Brust;
Das arme Weib schritt rasch durch die Paläste;
Ach, das Wohin – sie hat es nicht gewußt!
»Der Mutter Brot! Und Kleider diesem Kinde!«
So rief sie. »Oh, wie toll das Herz mir schlägt!
Gern trüg ich dich, mein Sohn, so warm und linde,
Wie wohl die Mutter ihre Kinder trägt.
Noch ist es Zeit! Bist du erst großgezogen
Und siehst am Strand der Schiffe bunte Schar:
Da eilst du treulos durch die blauen Wogen,
Ein wilder Seemann, wie dein Vater war!
Dein Vater? Still! – Das war ein sel'ger Morgen,
Als weinend ich an seiner Brust erwacht!
Es kam der Mai, der Juni drauf, verborgen
Hielt ich, was früh mich schon so bleich gemacht.
Erst als im Herbst das gelbe Laub der Bäume
Leis rauschend in die grüne Themse fiel:
Da ward erfüllt der schönste meiner Träume –
Und achtzehn Jahr, da steh ich schon am Ziel!
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Erst achtzehn Jahr! Und schon so fahl mein Leben!
Erst achtzehn Jahr! Und arm und elend schon!
Doch halt! – Froh will ich meine Stirne heben,
Dem Vaterlande gab ich diesen Sohn!
Ha! Reizt denn niemand mein so junger Leib?
Sagt, die ihr klirrt mit Kreuzen und mit Ketten,
Seid ihr nicht reich genug, um nur ein Weib,
Ein britisch Weib vom Hungertod zu retten?«
Sie schwieg. Dem Gott, der niemals sie erhörte,
Sie sandte kein Gebet ihm himmelwärts.
Trüb ward ihr Blick. – Das siedend sich empörte,
Ihr Blut, zu Eis gerann's – ausschlug ihr Herz!
Die Lippe bebend jetzt von einem Fluche! –
Ein Lächeln dann – sie sank – rings tiefe Ruh –
Und die Natur mit schnee'gem Leichentuche
Deckte das reinste ihrer Kinder zu! –
Geschloßnen Augs, erstarrt der Knabe lag
Fest an der Mutter marmorkalten Brüsten,
Als weit ein Leuchten durch den Nebel brach
Und Sonnenstrahlen Strom und Hügel küßten;
Fern von Westminster feierlich Geläut –
So tönt es an der Kön'ge Sarkophagen;
Es klang so weit – es war, als müßt es heut
Rings nur der Welt den Tod der Armen klagen! –
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Die Glocke klang – doch nicht für dich gerührt,
Armselig Weib! Getrost! Laß sie erdröhnen
Den toten Kön'gen nur. Dir ja gebührt,
Du früh Verblichne, wohl ein ander Tönen.
Dir tönt der Schrei, den jüngst die Not gepreßt
Aus tausend Herzen, der in Ost und West
Die Völker ruft in einen Bund zusammen –
Und deine Mörder werden sie verdammen!
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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Weerth, Georg. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. Erst achtzehn Jahr. Erst achtzehn Jahr. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-96DB-E