Georg Weerth
Rede auf dem Freihandelskongreß
in Brüssel

[128] »Meine Herren, es ist in diesen beiden Tagen von beiden Seiten sehr viel Teilnahme für das Wohl der arbeitenden Klassen an den Tag gelegt worden, und der Einfluß, den die Einführung des Freihandels auf ihr Los haben wird, soll sogar heute den ausschließlichen Gegenstand der Besprechung bilden. Es kommt mir aber etwas wundersam vor, daß ich in diesem Saale bisher einen Vertreter der Arbeiter nicht gesehen habe; nur die Bourgeoisie (die höhere, bemittelte Bürgerklasse) hat ihre Abgeordneten hierher geschickt. Frankreichs Bourgeoisie hat einen Pair, Englands Bourgeoisie hat mehr als ein Parlamentsglied, Belgien sogar einen ehemaligen Minister hierher gesandt; selbst Deutschlands Bourgeoisie ist in einer ihrer Stellung unter den industriellen Völkern Europas ganz angemessenen Weise vertreten; aber wo sind die Sprecher der Arbeiter? Erlauben Sie mir daher, meine Herren, im Namen der Arbeiter das Wort zu nehmen.« (Beifall.) »Ich fordere es im Namen der Arbeiter und besonders der 3 Millionen englischer Arbeiter, in deren Mitte ich mehrere der fruchtreichsten Jahre meines Lebens verbracht und deren Erinnerung stets eine der teuersten meines Herzens sein wird.« (Rauschender Applaus.)

»Ich habe die arbeiterfreundlichen Gesinnungen dieser Versammlung mit vielem Vergnügen wahrgenommen. Und wahrlich, die Arbeiter haben großen Anspruch auf [128] etwas mehr Großmut, als ihnen bisher zuteil geworden. Man hat sie bisher in der ökonomischen Wissenschaft so wie in der industriellen Praxis behandelt: nicht wie lebende, fühlende Menschen, ja nicht einmal so gut wie Lasttiere, sondern lediglich wie einen Ballen irgendeiner Ware. Man hat ihr Los abhängen lassen nicht von ihren menschlichen Bedürfnissen, sondern von einem starren Gesetze, von den unbarmherzigen Zufällen der Nachfrage und Zufuhr. Ja, in England hat sich diese Anschauungsweise in der Bourgeoisie so entschieden eingewurzelt, daß die dortigen Fabrikanten nicht sagen: Ich beschäftige 100 Leute, sondern 200 Hände (hands). Daher hat auch die Bourgeoisie nie Anstand genommen, Arbeiter ihren früheren Geschäftskreisen zu entziehen und in einer neuen Fabrikation zu verwenden, wenn es im Interesse der Herren Kapitalisten lag, und sie hat sich ebensowenig je gescheut, ihre Arbeiter auf die Straße und außer Brot zu setzen, wenn die Arbeit derselben dem Kapital nicht mehr Zinsen genug abzuwerfen schien. So ist es denn auch dahin gekommen, daß die Lage dieser Parias der industriellen Gesellschaften überall gleich scheußlich und entsetzlich ist. Wohin Sie immer Ihren Blick wenden mögen, meine Herren, sei es an der Rhone blühenden Gestaden oder nach den schmutzigen und stinkigen Gäßchen von Manchester, Leeds und Birmingham, sei es nach Schlesiens, und Sachsens Gebirgen oder Westfalens Ebenen, sei es auch nur hinab in die Straßen dieser Hauptstadt – überall, überall werden Sie jammerstieren, hungerbleichen Arbeitergesichtern begegnen, überall werden Sie dasselbe Elend des Proletariats finden, das vergeblich nach seinem Platz und seinem Rechte in der Gesellschaft späht.« (Großes Aufsehen.) [129] »Ich weiß nicht, ob diese fürchterliche Lage so vieler Millionen eine Schuld des Systems der Schutzzölle ist; aber was ich weiß, ist, daß dieses System kein Heilmittel für dieses grausame Übel besitzt. Soweit reicht seine Macht nicht. Jedenfalls aber ist die Lage des Arbeiters so tief gesunken, daß ein Schlimmerwerden nicht möglich ist, und darum heißt er und heiße ich mit ihm jede Änderung willkommen, sei sie auch nur ein Umdrehen des vom Liegen wunden Kranken auf eine andere Seite. – Darum verwerfe ich die Schutzzölle.« (Beifall.) »Ich bin entschieden für den Freihandel, ich will ihn; aus welchem Standpunkte man ihn immer verteidige: ich gebe keinen Heller für einen Schutzzöllner. Aber ich bin weit entfernt, die Illusionen der Freihandelsmänner zu teilen und mit ihnen zu glauben, daß der Freihandel auf bleibende Weise das Los der Arbeiter verbessern wird.

Der Freihandel wird dem Prinzip der freien Konkurrenz seine volle Entfaltung geben, ich erkenne es gern an und will hier nicht untersuchen, ob dies Prinzip wirklich zur Grundlage einer Gesellschaft sich eigne. Ich will bereitwillig zugestehen, daß die größere Konkurrenz eine Erniedrigung der Preise aller Waren herbeiführen, daß aus dieser Erniedrigung ein größerer Verbrauch, aus diesem wieder eine vermehrte Produktion, also die Beschäftigung einer größeren Anzahl von Arbeitern folgen wird, und daß somit eine Zeltlang die Arbeiter den Doppelvorteil hoher Löhne und billiger Warenpreise genießen werden. Aber wie lange wird diese Herrlichkeit dauern? Ach, nur geringe Zeit!

Neben ihren guten Folgen wird die freie Konkurrenz bald auch ihre ebenso unausbleiblichen schlimmen entfalten. Die freie Konkurrenz der nicht mehr auf ein Land beschränkten Kapitalien wird [130] in noch höherem Maßstabe als jetzt eintreten. Sie führt notwendig zu Versuchen noch größerer und wohlfeilerer Produktion durch Erfindung neuer Maschinen usw. Die Maschinenkraft wird, wie immer, Arbeiter unnütz machen; diese, die leben müssen, werden immer wieder die Rolle spielen, die heute die Irländer gegenüber den englischen Arbeitern haben; sie werden ihre Arbeit zu geringeren Preisen anbieten; der Fabrikant, der stets auf Verringerung seiner Produktionskosten sinnen muß, wenn er nicht der Konkurrenz erliegen will, wird nicht unterlassen, von dieser Konkurrenz der Arbeiter Nutzen zu ziehen, und so wird sehr bald der Tagelohn wieder auf den jetzigen Satz herabgedrückt sein, d.h. auf die Kleinigkeit, die eben unerläßlich ist, damit der Arbeiter irgendwie lebe. Nach wie vor wird der Arbeiter das Opfer der Konkurrenz der Kapitalien sein. Denn, meine Herren, nach wie vor auch werden wir Überproduktion, Überfüllung der Märkte und Handelskrisen haben; ja sie werden noch umfassender, noch heftiger sein als jetzt. Und Sie, meine Herren Freihandelsmänner, täuschen sich durchaus, der freie Handel werde den Krisen ein Ende machen – nein, sie müssen wiederkehren, denn sie sind eben auch nur eine Folge der durch nichts geregelten freien Konkurrenz der Kapitalien, die sich nur von der Rücksicht ihrer Profite leiten lassen, wenn sie sich einem Industriezweig zuwenden und ohne alle Voraussicht des Bedarfs und des Verhältnisses desselben zur Produktion sind, von deren Umfang ja auch die Einzelnen kaum sich einen richtigen Begriff machen können.« (Anhaltende gespannte Aufmerksamkeit im Saale.)

»Sie sehen also, meine Herren, der Freihandel wirdnur für den Augenblick das Los des Arbeiters verbessert [131] haben, und derselbe wird bald wieder in jenes Elend zurücksinken, was heutzutage sein gewöhnliches Los ist.

Meine Herren, es sind nicht meine individuellen Ansichten, die ich hier ausspreche; es sind die der einsichtsvollsten und aufgeklärtesten unter den englischen Arbeitern. Einige Tatsachen werden es Ihnen beweisen. Sechs volle Jahre hatte die League in England schon ihre Freihandelsagitation betrieben, und noch hatte sie die Chartisten nicht zum Beitritt bewegen können. Dieselben wußten zu gut, daß die Freihandelsmänner ihre natürlichsten Feinde seien und daß ein Bündnis mit ihnen nicht der Mühe lohne; sie gedachten der Vorgänge von 1842 in Manchester und des hartnäckigen Widerstandes der Bourgeoisie gegen die Zehnstunden-Bill, welche die Arbeiter wollten. Erst im siebenten Jahre traten die Chartisten der League bei, um den gemeinsamen Feind, den die Bourgeoisie allein nicht bezwingen konnte, die Bodenaristokratie, zu besiegen. Aber nie haben die englischen Arbeiter auch nur ein Wort der trügerischen Verheißungen der Herren Cobden, Bright und Kollegen geglaubt; nie hofften sie die Erfüllung von cheap bread, plenty to do and high wages (billig Brot, Arbeit in Fülle und hohe Löhne) von den Bourgeois. Nein, sie suchten ihr Heil stets in ihren eigenen Bemühungen und scharten sich nur um so enger um das Banner der Volkscharte und ihrer Führer, des unermüdlichen Freiheitskämpfers Duncombe und des trotz aller Verleumdungen der Bourgeoisiepresse nun doch zu Ihrem Kollegen, meine Herren englischen Parlamentsmitglieder, erwählten irischen AgitatorsFeargus O'Connor.« (Beifall.)

»Im Namen dieser Millionen nun, die mit mir nicht glauben, daß der Freihandel eine Panazee für ihre Leiden [132] ist, fordere ich Sie auf, auch noch an andere Mittel als den Freihandel zu denken, wenn Sie die Lage der arbeitenden Klassen wirklich verbessern wollen. Denken Sie daran auch in Ihrem eigenen Interesse, meine Herren. Denn nicht mehr feindliche Einfälle der Kosaken haben Sie zu fürchten, aber den Krieg Ihrer Arbeiter gegen Sie, den Krieg der Armen gegen die Reichen, den Krieg der weißen Sklaven gegen ihre Unterdrücker. Die Arbeiter sind satt der Versprechungen ohne Erfüllung; sie wollen nichts mehr wissen von den nimmer bezahlten Anweisungen auf den Himmel.

Sie verlangen eine materiellere Genugtuung. Sie verlangen Taten von Ihnen; Ihren Worten trauen sie nicht mehr. Und wundern Sie sich dessen nicht; die Arbeiter, die in London die Reform-Bill-Agitation unterstützt, die sich in den Gassen von Paris und Brüssel 1830 für Sie geschlagen, erinnern sich sehr gut, daß sie damals von Ihnen geliebkost und fetiert wurden, daß sie aber – als sie später Brot forderten, Arbeit verlangten, um zu leben –, daß sie da in Paris und in Lyon und in Manchester statt des Brotes Flintenkugeln erhielten. Und Sie, meine Herren aus Deutschland, denken Sie an das Riesengebirge und seine Weber; die Weber haben nichts vergessen und viel gelernt. Darum nochmals sage ich es Ihnen, meine Herren: Wollen Sie den Arbeitern wirklich helfen, so denken Sie auf etwas mehr als auf den Freihandel!«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Weerth, Georg. Skizzen, Feuilletons, Reportagen. Rede auf dem Freihandelskongreß in Brüssel. Rede auf dem Freihandelskongreß in Brüssel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9699-2