Erster Aufzug
Ein Arbeitszimmer, dessen Wände mit Bildern behängt sind. In der Hinterwand befindet sich rechts rechts und links immer vom Schauspieler aus die Tür zum Vorplatz und links die Tür zu einem Wartezimmer. In der rechten Seitenwand vorn führt eine Tür ins Wohnzimmer. An der linken Seitenwand vorn steht der Schreibtisch, auf dem aufgerollte Pläne liegen; neben dem Schreibtisch an der Wand ein Telefon. Rechts vorn ein Diwan, davor ein kleinerer Tisch; in der Mitte, etwas nach hinten, ein größerer Tisch. Büchergestelle mit Büchern; Musikinstrumente, Aktenbündel und Noten.
Der Marquis von Keith sitzt am Schreibtisch, in einen der Pläne vertieft. Er ist ein Mann von ca. 27 Jahren: mittelgroß, schlank und knochig; er hätte eine musterhafte Figur, wenn er nicht auf dem linken Beine hinkte. Seine markigen Gesichtszüge sind nervös und haben zugleich etwas Hartes, stechende graue Augen, kleiner blonder Schnurrbart, das widerborstige, kurze, strohblonde Haar sorgfältig in der Mitte gescheitelt. Er ist in ausgesuchte gesellschaftliche Eleganz gekleidet, aber nicht geckenhaft. Er hat die groben roten Hände eines Clown.
Molly Griesinger kommt aus dem Wohnzimmer und
setzt eine gedeckte Tablette auf das Tischchen vor dem Diwan. Sie ist ein unscheinbares brünettes Wesen, etwas scheu und verhetzt, in unscheinbarer häuslicher Kleidung, hat aber große, schwarze, seelenvolle Augen.
MOLLY.
So, mein Schatz, hier hast du Tee und Kaviar und kalten Aufschnitt. Du bist ja heute schon um neun Uhr aufgestanden.
VON KEITH
ohne sich zu rühren.
Ich danke dir, mein liebes Kind.
MOLLY.
Du mußt gewaltig hungrig sein. Hast du denn jetzt Nachricht darüber, ob der Feenpalast auch zustande kommt?
VON KEITH.
Du siehst, ich bin mitten in der Arbeit.
[431]MOLLY.
Das bist du ja immer, wenn ich komme. Dann muß ich alles, was dich und deine Unternehmungen betrifft, von deinen Freundinnen erfahren.
VON KEITH
sich im Sessel umwendend.
Ich kannte eine Frau, die sich beide Ohren zuhielt, wenn ich von Plänen sprach. Sie sagte: Komm und erzähl mir, wenn du etwas getan hast!
MOLLY.
Das ist ja mein Elend, daß du schon alle Arten von Frauen gekannt hast. Da es klingelt. Du barmherziger Gott, wer das wieder sein mag! Sie geht auf den Vorplatz hinaus, um zu öffnen.
VON KEITH
für sich.
Das Unglückswurm!
MOLLY
kommt mit einer Karte zurück.
Ein junger Herr, der dich sprechen möchte. Ich sagte, du seist mitten in der Arbeit.
VON KEITH
nachdem er die Karte gelesen.
Der kommt mir wie gerufen!
Molly läßt Hermann Casimir eintreten und geht ins Wohnzimmer ab.
HERMANN CASIMIR
ein fünfzehnjähriger Gymnasiast in sehr elegantem Radfahrkostüm.
Guten Morgen, Herr Baron.
VON KEITH.
Was bringen Sie mir?
HERMANN.
Es ist wohl am besten, wenn ich mit der Tür ins Haus falle. Ich war gestern abend mit Saranieff und Zamrjaki im Café Luitpold zusammen. Ich erzählte, daß ich durchaus hundert Mark nötig hätte. Darauf meinte Saranieff, ich möchte mich an Sie wenden.
VON KEITH.
Ganz München hält mich für einen amerikanischen Eisenbahnkönig!
HERMANN.
Zamrjaki sagte, Sie hätten immer Geld.
VON KEITH.
Zamrjaki unterstütze ich, weil er das größte musikalische Genie ist, das seit Richard Wagner lebt. Aber diese Straßenräuber sind doch wohl kein schicklicher Umgang für Sie!
HERMANN.
Ich finde diese Straßenräuber interessant. Ich kenne die Herren von einer Versammlung der Anarchisten her.
VON KEITH.
Ihrem Vater muß es eine erfreuliche Überraschung sein, daß Sie Ihren Lebensweg damit beginnen, sich in revolutionären Versammlungen herumzutreiben.
[432]HERMANN.
Warum läßt mich mein Vater nicht von München fort!
VON KEITH.
Weil Sie für die große Welt noch zu jung sind!
HERMANN.
Ich finde aber, daß man in meinem Alter unendlich mehr lernen kann, wenn man wirklich etwas erlebt, als wenn man bis zur Großjährigkeit auf der Schulbank herumrutscht.
VON KEITH.
Durch das wirkliche Erleben verlieren Sie nur die Fähigkeiten, die Sie in Ihrem Fleisch und Blut mit auf die Welt gebracht haben. Das gilt ganz speziell von Ihnen, dem Sohn und einstigen Erben unseres größten deutschen Finanzgenies. – Was sagt denn Ihr Vater über mich?
HERMANN.
Mein Vater spricht überhaupt nicht mit mir.
VON KEITH.
Aber mit andern spricht er.
HERMANN.
Möglich! Ich bin die wenigste Zeit zu Hause.
VON KEITH.
Daran tun Sie unrecht. Ich habe die finanziellen Operationen Ihres Vaters von Amerika aus verfolgt. Ihr Vater hält es nur für gänzlich ausgeschlossen, daß irgend jemand anders auch noch so klug ist wie er. Deshalb weigert er sich auch bis jetzt noch so starrköpfig, meinem Unternehmen beizutreten.
HERMANN.
Ich kann es mir mit dem besten Willen nicht denken, wie ich einmal an einem Leben, wie es mein Vater führt, Gefallen finden könnte.
VON KEITH.
Ihrem Vater fehlt einfach die Fähigkeit, Sie für seinen Beruf zu interessieren.
HERMANN.
Es handelt sich in dieser Welt aber doch nicht darum, daß man lebt, sondern es handelt sich doch wohl darum, daß man das Leben und die Welt kennenlernt.
VON KEITH.
Der Vorsatz, die Welt kennenzulernen, führt Sie dazu, hinterm Zaun zu verenden. Prägen Sie sich vor allen Dingen die allergrößte Hochschätzung für die Verhältnisse ein, in denen Sie geboren sind! Das schützt Sie davor, sich so leichten Herzens zu erniedrigen.
HERMANN.
Durch meinen Pumpversuch, meinen Sie? Es gibt doch wohl aber höhere Güter als Reichtum!
VON KEITH.
Das ist Schulweisheit. Diese Güter heißen nur deshalb höhere, weil sie aus dem Besitz hervorwachsen und nur durch den Besitz ermöglicht werden. Ihnen steht es ja [433] frei, nachdem Ihr Vater ein Vermögen gemacht hat, sich einer künstlerischen oder wissenschaftlichen Lebensaufgabe zu widmen. Wenn Sie sich dabei aber über das erste Weltprinzip hinwegsetzen, dann jagen Sie Ihr Erbe Hochstaplern in den Rachen.
HERMANN.
Wenn Jesus Christus nach diesem Weltprinzip hätte handeln wollen ...!
VON KEITH.
Vergessen Sie bitte nicht, daß das Christentum zwei Drittel der Menschheit aus der Sklaverei befreit hat! Es gibt keine Ideen, seien sie sozialer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Art, die irgend etwas anderes als Hab und Gut zum Gegenstand hätten. Die Anarchisten sind deshalb ihre geschworenen Feinde. Und glauben Sie ja nicht, daß sich die Welt hierin jemals ändert. Der Mensch wird abgerichtet oder er wird hingerichtet. Hat sich an den Schreibtisch gesetzt. Ich will Ihnen die hundert Mark geben. Zeigen Sie sich doch auch mal bei mir, wenn Sie gerade kein Geld nötig haben. Wie lange ist es jetzt her, daß Ihre Mutter starb?
HERMANN.
Drei Jahre werden es im Frühling.
VON KEITH
gibt ihm ein verschlossenes Billett.
Sie müssen damit zur Gräfin Werdenfels gehen, Briennerstraße Nr. 23. Sagen Sie einen schönen Gruß von mir. Ich habe heute zufällig nichts in der Tasche.
HERMANN.
Ich danke Ihnen, Herr Baron.
VON KEITH
geleitet ihn hinaus; indem er die Tür hinter ihm schließt.
Bitte, war mir sehr angenehm. – Darauf kehrt er zum Schreibtisch zurück; in den Plänen kramend. Sein Alter traktiert mich wie einen Hundefänger. – – Ich muß möglichst bald ein Konzert veranstalten. – Dann zwingt ihn die öffentliche Meinung, sich meinem Unternehmen anzuschließen. Im schlimmsten Fall muß es auch ohne ihn gehen. – – Da es klopft. Herein!
Anna, verwitwete Gräfin Werdenfels, tritt ein. Sie ist eine üppige Schönheit von dreißig Jahren. Weiße Haut, Stumpfnase, helle Augen, kastanienbraunes, üppiges Haar.
[434]VON KEITH
geht ihr entgegen.
Da bist du, meine Königin! – Ich schickte eben den jungen Casimir mit einem kleinen Anliegen zu dir.
ANNA.
Das war der junge Herr Casimir?
VON KEITH
nachdem er ihr flüchtig die dargereichten Lippen geküßt.
Er kommt schon wieder, wenn er dich nicht zu Hause trifft.
ANNA.
Der sieht seinem Vater aber gar nicht ähnlich.
VON KEITH.
Lassen wir den Vater Vater sein. Ich habe mich jetzt an Leute gewandt, von deren gesellschaftlichem Ehrgeiz ich mir eine flammende Begeisterung für mein Unternehmen verspreche.
ANNA.
Aber vom alten Casimir heißt es allgemein, daß er junge Schauspielerinnen und Sängerinnen unterstützt.
VON KEITH
Anna mit den Blicken verschlingend.
Anna, sobald ich dich vor mir sehe, bin ich ein anderer Mensch, als wärst du meines Glückes lebendiges Unterpfand. – Aber willst du nicht frühstücken? Hier ist Tee und Kaviar und kalter Aufschnitt.
ANNA
nimmt auf dem Diwan Platz und frühstückt.
Ich habe um elf Uhr Stunde. Ich komme nur auf einen Moment. – Die Bianchi sagt mir, ich könne in einem Jahr die erste Wagnersängerin Deutschlands sein.
VON KEITH
zündet sich eine Zigarette an.
Vielleicht bist du auch in einem Jahr schon so weit, daß sich die ersten Wagnersängerinnen um deine Protektion bemühen.
ANNA.
Mir soll's recht sein. Mit meinem beschränkten weiblichen Verstande sehe ich allerdings nicht ein, auf welche Weise es mit mir gleich so hoch hinaus soll.
VON KEITH.
Das kann ich dir im voraus auch nicht erklären. Ich lasse mich einfach willenlos treiben, bis ich an ein Gestade gelange, auf dem ich mich heimisch genug fühle, um mir zu sagen: Hier laßt uns Hütten bauen!
ANNA.
Dabei hast du in mir jedenfalls den treusten Spießgesellen. Ich habe seit einiger Zeit vor lauter Lebenslust manchmal Selbstmordgedanken.
VON KEITH.
Der eine raubt es sich und der andere bekommt es geschenkt. Als ich in die Welt hinauskam, war mein kühnstes Hoffen, irgendwo in Oberschlesien als Dorfschulmeister zu sterben.
[435]ANNA.
Du hättest dir damals wohl schwerlich träumen lassen, daß dir München einmal zu Füßen liegen werde.
VON KEITH.
München war mir aus der Geographiestunde bekannt. Wenn ich mich deshalb heute auch nicht gerade eines makellosen Rufes erfreue, so darf man nicht vergessen, aus welchen Tiefen ich heraufkomme.
ANNA.
Ich bete jeden Abend inbrünstig zu Gott, daß er etwas von deiner bewundernswürdigen Energie auf mich übertragen möge.
VON KEITH.
Unsinn, ich habe gar keine Energie.
ANNA.
Dir ist es aber doch einfach Lebensbedürfnis, mit dem Kopf durch die Wände zu rennen.
VON KEITH.
Meine Begabung beschränkt sich auf die leidige Tatsache, daß ich in bürgerlicher Atmosphäre nicht atmen kann. Mag ich deshalb auch erreichen, was ich will, ich werde mir nie das geringste darauf einbilden. Andere Menschen werden in ein bestimmtes Niveau hineingepflanzt, auf dem sie ihr Leben lang fortvegetieren, ohne mit der Welt in Konflikt zu geraten.
ANNA.
Du bist dagegen als abgeschlossene Persönlichkeit vom Himmel gefallen.
VON KEITH.
Ich bin Bastard. Mein Vater war ein geistig sehr hochstehender Mensch, besonders was Mathematik und so exakte Dinge betrifft, und meine Mutter war Zigeunerin.
ANNA.
Wenn ich nur wenigstens deine Geschicklichkeit hätte, den Menschen ihre Geheimnisse vom Gesicht abzulesen! Dann wollte ich ihnen mit der Fußspitze die Nase in die Erde drücken.
VON KEITH.
Solche Fertigkeiten erwecken mehr Mißtrauen, als sie einem nützen. Deshalb hegt auch die bürgerliche Gesellschaft, seit ich auf dieser Welt bin, ein geheimes Grauen vor mir. Aber diese bürgerliche Gesellschaft macht, ohne es zu wollen, mein Glück durch ihre Zurückhaltung. Je höher ich gelange, desto vertrauensvoller kommt man mir entgegen. Ich warte auch tatsächlich nur noch auf diejenige Region, in der die Kreuzung von Philosoph und Pferdedieb ihrem vollen Wert entsprechend gewürdigt wird.
ANNA.
Man hört wirklich in der ganzen Stadt von nichts mehr sprechen, als von deinem Feenpalast.
[436]VON KEITH.
Der Feenpalast dient mir nur als Sammelplatz meiner Kräfte. Dazu kenne ich mich viel zu gut, um etwa von mir vorauszusetzen, daß ich nun Zeit meines Lebens Kassenrapporte revidieren werde.
ANNA.
Was soll denn dann aber aus mir werden. Glaubst du vielleicht, ich habe Lust, bis in alle Ewigkeit Gesangsunterricht zu nehmen? Du sagtest gestern noch, daß der Feenpalast speziell für mich gebaut werde.
VON KEITH.
Aber doch gewiß nicht, damit du bis an dein Lebensende auf den Hinterpfoten tanzst und dich von Preßbengeln kuranzen läßt. Du hast nur etwas mehr Lichtpunkte in deiner Vergangenheit nötig.
ANNA.
Einen Stammbaum kann ich allerdings nicht aufweisen, wie die Frauen von Rosenkron und von Totleben.
VON KEITH.
Deshalb brauchst du noch auf keine von beiden eifersüchtig zu sein.
ANNA.
Das hoffe ich sehr! Welcher weiblichen Vorzüge wegen sollte ich denn auch auf irgendeine Frau eifersüchtig sein?
VON KEITH.
Ich mußte die beiden Damen als Vermächtnis meines Vorgängers mit der Konzertagentur übernehmen. Sobald ich meine Stellung befestigt habe, mögen sie mit Rettichen hausieren oder Novellen schreiben, wenn sie leben wollen.
ANNA.
Ich bin um die Schnürstiefel, in denen ich spazierengehe, besorgter, als um deine Liebe zu mir. Weißt du auch, warum? Weil du der rücksichtsloseste Mensch bist und weil du nach nichts anderem in dieser Welt als nur nach deinem sinnlichen Vergnügen fragst! Deshalb würde ich auch, wenn du mich verläßt, wirklich nichts anderes als Mitleid mit dir empfinden können. Aber sieh dich vor, daß du nicht vorher selber verlassen wirst!
VON KEITH
Anna liebkosend.
Ich habe ein wechselvolles Leben hinter mir, aber jetzt denke ich doch ernstlich daran, mir ein Haus zu bauen; ein Haus mit möglichst hohen Gemächern, mit Park und Freitreppe. Die Bettler dürfen auch nicht fehlen, die die Auffahrt garnieren. Mit der Vergangenheit habe ich abgeschlossen und sehne mich nicht zurück. Dazu ging es zu oft um Leben und [437] Tod. Ich möchte keinem Freunde raten, sich meine Laufbahn zum Muster zu nehmen.
ANNA.
Du bist allerdings nicht umzubringen.
VON KEITH.
Dieser Eigenschaft verdanke ich in der Tat auch so ziemlich alles, was ich bis jetzt erreicht habe. – Ich glaube, Anna, wenn wir beide in zwei verschiedenen Welten geboren wären, wir hätten uns dennoch finden müssen.
ANNA.
Ich bin allerdings auch nicht umzubringen.
VON KEITH.
Wenn uns die Vorsehung auch nicht durch unsere märchenhaften Geschmacksverwandtschaften füreinander bestimmt hätte, das eine haben wir doch jedenfalls miteinander gemein ...
ANNA.
Eine unverwüstliche Gesundheit.
VON KEITH
setzt sich neben sie und liebkost sie.
Soweit es Frauen betrifft, sind mir nämlich Klugheit, Gesundheit, Sinnlichkeit und Schönheit unzertrennliche Begriffe, aus deren jedem sich die andern drei von selbst ergeben. Wenn dieses Erbteil sich in unsern Kindern potenziert ...
Sascha, ein dreizehnjähriger Laufbursche in galoniertem Jackett und Kniehosen, tritt vom Vorplatz ein und legt einen Armvoll Zeitungen auf den Mitteltisch.
VON KEITH.
Was sagt der Kommerzienrat Ostermeier?
SASCHA.
Der Herr Kommerzienrat gaben mir einen Brief mit. Er liegt bei den Zeitungen.
Geht in das Wartezimmer ab.
VON KEITH
hat den Brief geöffnet.
Das danke ich dem Zufall, daß du bei mir bist! Liest. »... Ich habe mir von Ihrem Plane schon mehrfach erzählen lassen und bringe ihm ein lebhaftes Interesse entgegen. Sie treffen mich heute mittag gegen zwölf Uhr im Café Maximilian ...« Das gibt mir die Welt in die Hände! Jetzt kann der alte Casimir meine Rückseite besehen, wenn er noch mitkommen will. Mit diesen Biedermännern im Bunde bleibt mir auch meine Alleinherrschaft unangetastet.
ANNA
hat sich erhoben.
Kannst du mir tausend Mark geben?
VON KEITH.
Bist du denn schon wieder auf dem trocknen?
ANNA.
Die Miete ist fällig.
VON KEITH.
Das hat bis morgen Zeit. Mache dir deswegen nicht die geringste Sorge darum.
[438]ANNA.
Wie du meinst. Graf Werdenfels prophezeite mir auf seinem Sterbebette, ich werde das Leben noch einmal von der allerernstesten Seite kennenlernen.
VON KEITH.
Hätte er dich etwas richtiger eingeschätzt, dann wäre er vielleicht sogar selbst noch am Leben.
ANNA.
Bis jetzt hat sich seine Prophezeiung noch nicht bewahrheitet.
VON KEITH.
Ich schicke dir das Geld morgen mittag.
ANNA
während von Keith sie hinausgeleitet.
Nein, bitte nicht; ich komme selber und hole es.
Die Szene bleibt einen Augenblick leer. Dann kommt Molly Griesinger aus dem Wohnzimmer und räumt das Teegeschirr zusammen. von Keith kommt vom Vorplatz zurück.
VON KEITH
ruft.
Sascha! – Nimmt eines der Bilder von der Wand. Das muß mir über die nächsten vierzehn Tage hinweghelfen!
MOLLY.
Du hoffst also immer noch, daß die Wirtschaft so fortgehen kann?
SASCHA
kommt aus dem Wartezimmer.
Herr Baron?
VON KEITH
gibt ihm das Bild.
Geh hinüber zum Tannhäuser. Er soll den Saranieff ins Fenster stellen. Ich gebe ihn für dreitausend Mark.
SASCHA.
Sehr wohl, Herr Baron.
VON KEITH.
In fünf Minuten komme ich selber. Warte! Er nimmt vom Schreibtisch eine Karte, auf der »3 000 M.« steht, und befestigt sie unter den Rahmen des Bildes. Dreitausend Mark! – Geht zum Schreibtisch. Ich muß nur vorher rasch noch einen Zeitungsartikel darüber schreiben.
Sascha mit dem Bilde ab.
MOLLY.
Wenn sich bei der Großtuerei nur auch einmal eine Spur von reellem Erfolg sehen ließe!
VON KEITH
schreibend.
»Das Schönheitsideal der modernen Landschaft.«
MOLLY.
Wenn dieser Saranieff malen könnte, dann brauchte man nicht erst Zeitungsartikel über ihn zu schreiben.
VON KEITH
sich umwendend.
Wie beliebt?
[439]MOLLY.
Ich weiß, du bist wieder mitten in der Arbeit.
VON KEITH.
Wovon wolltest du reden?
MOLLY.
Ich habe einen Brief aus Bückeburg.
VON KEITH.
Von deiner Mama?
MOLLY
sucht den Brief aus der Tasche und liest.
»Ihr seid uns jeden Tag willkommen. Ihr könnt die beiden Vorzimmer im dritten Stock beziehen. Ihr könnt dann in Ruhe abwarten, bis eure Verhandlungen in München zum Abschluß gelangen.«
VON KEITH.
Siehst du denn aber nicht ein, mein liebes Kind, daß du durch solche Schreibereien meinen Kredit untergräbst?
MOLLY.
Wir haben morgen kein Brot auf dem Tisch.
VON KEITH.
Dann speisen wir im Hotel Continental.
MOLLY.
Da bringe ich nicht einen Happen hinunter vor Angst, daß uns der Gerichtsvollzieher derweil unsere Betten versiegelt.
VON KEITH.
Der überlegt sich das noch. Warum lebt in deinem Köpfchen kein anderer Gedanke als Essen und Trinken! Du könntest dich deines Daseins so unendlich mehr erfreuen, wenn du etwas mehr Würdigung für seine Lichtseiten hättest. Du hegst eine unbezähmbare Liebhaberei für das Unglück.
MOLLY.
Ich finde, du hegst diese Liebhaberei für das Unglück! Anderen Menschen fällt ihr Lebensberuf zu leicht, sie brauchen mit keinem Gedanken daran zu denken. Dafür existieren sie eins fürs andere in ihrem behaglichen Heim, wo ihrem Glück nichts in die Quere kommt. Und du, bei all deinen Geistesgaben, wirtschaftest wie ein Rasender auf deine Gesundheit ein, und dabei ist tagelang nicht ein Pfennig im Haus.
VON KEITH.
Aber du hast doch noch jeden Tag satt zu essen gehabt! Daß du nichts für Toiletten ausgibst, ist wahrhaftig nicht meine Schuld. Sobald dieser Zeitungsartikel geschrieben ist, habe ich dreitausend Mark in der Hand. Dann nimm eine Droschke und kauf alles zusammen, worauf du dich im Augenblick besinnen kannst.
MOLLY.
Der bezahlt dir für das Bild so gewiß dreitausend Mark, wie ich mir deinetwegen seidene Strümpfe anziehe.
VON KEITH
erhebt sich unwillig.
Du bist ein Juwel!
[440]MOLLY
fliegt ihm an den Hals.
Habe ich dir weh getan, mein Herz? Verzeih mir, bitte! Was ich dir eben sagte, das ist meine heiligste Überzeugung.
VON KEITH.
Wenn das Geld auch nur bis morgen abend reicht, dann werde ich das Opfer schon nicht zu bedauern haben!
MOLLY
heulend.
Ich wußte, wie häßlich es von mir war. Schlag mich doch nur!
VON KEITH.
Der Feenpalast ist nämlich so gut wie gesichert.
MOLLY.
Dann laß mich wenigstens deine Hand küssen. Ich beschwöre dich, laß mich deine Hand küssen.
VON KEITH.
Wenn ich nur noch einige Tage meine Haltung bewahren kann.
MOLLY.
Auch das nicht! Wie kannst du so unmenschlich sein!
VON KEITH
zieht die Hand aus der Tasche.
Es wäre doch vielleicht nachgerade Zeit, daß du mit dir zu Rate gehst, sonst kommt die Erleuchtung plötzlich von selbst.
MOLLY
seine Hand mit Küssen bedeckend.
Warum willst du mich denn nicht schlagen? Ich habe es mir doch so redlich verdient!
VON KEITH.
Du betrügst dich um dein Lebensglück mit allen Mitteln, die eine Frau zu ihrer Verfügung hat.
MOLLY
springt empört auf.
Bilde dir doch nicht ein, daß ich mich durch deine Courmachereien in Schrecken jagen lasse! Uns beide umschlingt ein zu festes Band. Wenn das einmal reißt, dann halte ich dich nicht mehr; aber solange du im Elend bist, gehörst du mir.
VON KEITH.
Das wird dir zum Verhängnis, Molly, daß du mein Glück mehr fürchtest als den Tod. Wenn ich morgen die Arme frei habe, dann hältst du es nicht eine Minute mehr bei mir aus.
MOLLY.
Dann ist ja alles gut, wenn du das weißt.
VON KEITH.
Ich bin aber in keinem Elend!
MOLLY.
Erlaube mir nur so lange, bis du die Arme frei hast, noch für dich zu arbeiten.
VON KEITH
setzt sich wieder an den Schreibtisch.
Tue, was du nicht lassen kannst! Du weißt, daß mir an einer Frau nichts unsympathischer ist, als wenn sie arbeitet.
MOLLY.
Um deinetwillen mache ich noch keinen Affen und keinen Papagei aus mir. Wenn ich mich an den Waschtrog stelle, statt halbnackt mit dir auf Redouten zu [441] fahren, so werde ich dich damit wohl nicht zugrunde richten.
VON KEITH.
Dein Starrsinn hat etwas Überirdisches.
MOLLY.
Das glaube ich, daß das deine Kapazität übersteigt!
VON KEITH.
Wenn ich dich auch begriffe, damit wäre dir leider noch nicht geholfen.
MOLLY
triumphierend.
Ich brauchte es dir auch nicht auf die Nase zu binden, aber ich gebe es dir schwarz auf weiß, wenn du willst! Ich verdiente ja mein Lebensglück nicht, wenn ich mir dir gegenüber den geringsten Zwang antäte und mich besser geben wollte, als ich von Gott geschaffen worden bin – weil du mich liebst!
VON KEITH.
Das ist doch selbstverständlich.
MOLLY
triumphierend.
Weil du ohne meine Liebe nicht leben kannst! Hab darum auch nur die Arme frei, soviel du willst! Ob ich bei dir bleibe, das hängt davon ab, ob ich dir von deiner Liebe für andere Weiber etwas übriglasse! Die Weiber sollen sich aufdonnern und dich vergöttern, soviel es ihnen Vergnügen macht; das spart mir die Komödien. Du hängtest dich lieber heute als morgen an deine Ideale; das weiß ich recht gut. Käme es je dazu – aber das hat noch gute Wege! –, dann will ich mich lebendig begraben lassen.
VON KEITH.
Wenn du dich nur wenigstens des Glückes erfreuen wolltest, das sich dir bietet!
MOLLY
zärtlich.
Aber was bietet sich mir denn, mein süßer Schatz? Das war doch in Amerika auch immer dieser Schrecken ohne Ende. Alles scheiterte immer an den letzten drei Tagen. In Sankt Jago wurdest du nicht zum Präsidenten gewählt und wärst um ein Haar erschossen worden, weil wir an dem entscheidenden Abend keinen Brandy auf dem Tische hatten. Weißt du noch, wie du riefst: »Einen Dollar, einen Dollar, eine Republik für einen Dollar!«
VON KEITH
springt wütend auf und geht zum Diwan.
Ich bin als Krüppel zur Welt gekommen. So wenig wie ich mich deshalb zum Sklaven verdammt fühle, so wenig wird mich der Zufall, daß ich als Bettler geboren bin, je daran hindern, den allerergiebigsten Lebensgenuß als mein rechtmäßiges Erbe zu betrachten.
[442]MOLLY.
Betrachten dürfen wirst du den Lebensgenuß, solange du lebst.
VON KEITH.
An dem, was ich dir hier sage, ändert nur mein Tod etwas. Und der Tod traut sich aus Furcht, er könnte sich blamieren, nicht an mich heran. Wenn ich sterbe, ohne gelebt zu haben, dann werde ich als Geist umgehen.
MOLLY.
Du leidest eben einfach an Größenwahn.
VON KEITH.
Ich kenne aber noch meine Verantwortung! Du bist als fünfzehnjähriges unzurechnungsfähiges Kind, von der Schulbank weg, mit mir nach Amerika durchgebrannt. Wenn wir uns heute trennen und du bleibst dir selbst überlassen, dann nimmt es das denkbar schlimmste Ende mit dir.
MOLLY
fällt ihm um den Hals.
Dann komm doch nach Bückeburg! Meine Eltern haben ihre Molly seit drei Jahren nicht gesehen. In ihrer Freude werfen sie dir ihr halbes Vermögen an den Kopf. Und wie könnten wir zwei zusammen leben!
VON KEITH.
In Bückeburg?
MOLLY.
Alle Not hätte ein Ende!
VON KEITH
sich losmachend.
Lieber suche ich Zigarrenstummel in den Cafés zusammen.
SASCHA
kommt mit dem Bild zurück.
Der Herr Tannhäuser sagt, er kann das Bild nicht ins Fenster stellen. Der Herr Tannhäuser haben selbst noch ein Dutzend Bilder von dem Herrn Saranieff.
MOLLY.
Das wußte ich ja im voraus!
VON KEITH.
Dafür bist du ja bei mir! – Geht zum Schreibtisch und zerreißt das Schreibpapier. Dann brauche ich doch wenigstens den Zeitungsartikel nicht mehr darüber zu schreiben!
Sascha geht, nachdem er das Bild auf den Tisch gelegt, ins Wartezimmer.
MOLLY.
Diese Saranieffs, siehst du, und diese Zamrjakis, das sind Menschen von einem ganz anderen Schlag als wir. Die wissen, wie man den Leuten die Taschen umkehrt. Wir beide sind eben nun einmal zu einfältig für die große Welt!
[443]VON KEITH.
Dein Reich ist noch nicht gekommen. Laß mich allein. – Bückeburg muß sich noch gedulden.
MOLLY
da es auf dem Korridor läutet, klatscht schadenfroh in die Hände.
Der Herr Gerichtsvollzieher! Sie eilt, um zu öffnen.
VON KEITH
sieht nach der Uhr.
– – Was läßt sich dem Glück noch opfern ...?
MOLLY
geleitet Ernst Scholz herein.
Der Herr will mir seinen Namen nicht nennen.
Ernst Scholz ist eine schmächtige, äußerst aristokratische Erscheinung von etwa siebenundzwanzig Jahren; schwarzes Lockenhaar, spitzgeschnittener Vollbart, unter starken langgezogenen Brauen große wasserblaue Augen, in denen der Ausdruck der Hilflosigkeit liegt.
VON KEITH.
Gaston! – Wo kommst du her?
SCHOLZ.
Dein Willkomm ist mir eine gute Vorbedeutung. Ich bin so verändert, daß ich voraussetzte, du werdest mich überhaupt kaum wiedererkennen.
Molly will das Frühstücksgeschirr mit hinausnehmen, fürchtet aber, nach einem Blick auf Scholz, dadurch zu stören und geht ohne das Geschirr ins Wohnzimmer ab.
VON KEITH.
Du siehst etwas verlebt aus; aber das Dasein ist wirklich auch keine Spielerei!
SCHOLZ.
Für mich am allerwenigsten; deshalb bin ich nämlich hier. Und ich komme nur deinetwegen nach München.
VON KEITH.
Dafür danke ich dir; was die Geschäfte von mir übriglassen, gehört dir.
SCHOLZ.
Ich weiß, daß du schwer mit dem Leben zu kämpfen hast. Nun ist es mir aber ganz speziell um deinen persönlichen Verkehr zu tun. Ich möchte mich gern auf einige Zeit deiner geistigen Führung überlassen, aber nur unter der einen Bedingung, daß du mir dafür erlaubst, dir mit meinen Geldmitteln zu Hilfe zu kommen, soweit du es brauchen kannst.
VON KEITH.
Aber wozu denn das. Ich bin eben im Begriff, Direktor eines ungeheuren Aktienunternehmens zu werden. Und dir geht es also auch ganz gut? Wir haben uns, wenn mir recht ist, vor vier Jahren zum letztenmal gesehen.
[444]SCHOLZ.
Auf dem Juristenkongreß in Brüssel.
VON KEITH.
Du hattest kurz vorher dein Staatsexamen absolviert.
SCHOLZ.
Du schriebst damals schon für alle erdenklichen Tagesblätter. Erinnerst du dich vielleicht zufällig noch der Vorwürfe, die ich dir deines Zynismus wegen auf dem Ball im Justizpalais in Brüssel machte?
VON KEITH.
Du hattest dich in die Tochter des dänischen Gesandten verliebt und gerietst in Wut über meine Behauptung, daß die Frauen von Natur aus viel materieller veranlagt sind, als wir Männer es durch den reichlichsten Genuß jemals werden können.
SCHOLZ.
Du bist mir auch heute noch, wie während unserer ganzen Jugendzeit, geradezu ein Ungeheuer an Gewissenlosigkeit; aber – du hattest vollkommen recht.
VON KEITH.
Ein schmeichelhafteres Kompliment hat man mir in diesem Leben noch nicht gemacht.
SCHOLZ.
Ich bin mürbe. Obschon ich deine ganze Lebensauffassung aus tiefster Seele verabscheue, vertraue ich dir heute das für mich unlösbare Rätsel meines Daseins an.
VON KEITH.
Gott sei gelobt, daß du dich aus deinem Trübsinn endlich der Sonne zuwendest!
SCHOLZ.
Ich schließe damit nicht etwa eine feige Kapitulation. Das letzte Mittel, das einem selbst zur Lösung des Rätsels freisteht, habe ich umsonst versucht.
VON KEITH.
Um so besser für dich, wenn du das hinter dir hast. Ich sollte während der Kubanischen Revolution mit zwölf Verschwörern erschossen werden. Ich falle natürlich auf den ersten Schuß und bleibe tot, bis man mich beerdigen will. Seit jenem Tage fühle ich mich erst wirklich als den Herrn meines Lebens. Aufspringend. Verpflichtungen gehen wir bei unserer Geburt nicht ein, und mehr als dieses Leben wegwerfen, kann man nicht. Wer nach seinem Tode noch weiterlebt, der steht über den Gesetzen. – Du trugst dich damals in Brüssel mit der Absicht, dich dem Staatsdienst zu widmen?
SCHOLZ.
Ich trat bei uns ins Eisenbahnministerium ein.
VON KEITH.
Ich wunderte mich noch, daß du es bei deinem enormen Vermögen nicht vorzogst, als Grandseigneur deinen Neigungen zu leben.
[445]SCHOLZ.
Ich hatte den Vorsatz gefaßt, vor allem erst ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Wäre ich als der Sohn eines Tagelöhners geboren, dann ergäbe sich das ja auch als etwas ganz Selbstverständliches.
VON KEITH.
Man kann seinen Mitmenschen nicht mehr in dieser Welt nützen, als wenn man in der umfassendsten Weise auf seinen eigenen Vorteil ausgeht. Je weiter meine Interessen reichen, einer desto größeren Anzahl von Menschen biete ich den nötigen Lebensunterhalt. Wer sich aber darauf, daß er seinen Posten ausfüllt und seine Kinder ernährt, etwas einbildet, der macht sich blauen Dunst vor. Die Kinder danken ihrem Schöpfer, wenn man sie nicht in die Welt setzt, und nach dem Posten recken hundert arme Teufel die Hälse!
SCHOLZ.
Ich konnte aber in der Tatsache, daß ich ein reicher Mann bin, keinen zwingenden Grund sehen, als Tagedieb in der Welt herumzuschlendern. Künstlerische Veranlagungen besitze ich nicht, und um meine einzige Lebensbestimmung im Heiraten und Kinderzeugen zu erblicken, dazu schien ich mir nicht unbedeutend genug.
VON KEITH.
Du hast aber den Staatsdienst quittiert?
SCHOLZ
läßt den Kopf sinken.
Weil ich in meinem Amt ein entsetzliches Unglück verschuldet habe.
VON KEITH.
Als ich von Amerika zurückkam, erzählte mir jemand, der dich ein Jahr vorher in Konstantinopel getroffen hatte, du habest zwei Jahre auf Reisen zugebracht, lebest jetzt aber wieder zu Haus und stehest eben im Begriff, dich zu verheiraten.
SCHOLZ.
Meine Verlobung habe ich vor drei Tagen aufgelöst. – Ich war bis jetzt nur ein halber Mensch. Seit dem Tage, an dem ich mein eigner Herr wurde, ließ ich mich lediglich von der Überzeugung leiten, ich könne mich meines Daseins nicht eher erfreuen, als bis ich meine Existenz durch ehrliche Arbeit gerechtfertigt hätte. Diese einseitige Anschauung hat mich dahin geführt, daß ich heute aus reinem Pflichtgefühl, nicht anders, als gälte es eine Strafe abzubüßen, den rein materiellen Genuß aufsuche. Sobald ich aber dem Leben die Arme öffnen will, dann lähmt mich die Erinnerung an jene unglücklichen [446] Menschen, die nur durch meine übertriebene Gewissenhaftigkeit in der entsetzlichsten Weise ums Leben gekommen sind.
VON KEITH.
Was war denn das für eine Geschichte?
SCHOLZ.
Ich hatte ein Bahnreglement geändert. Es lag eine beständige Gefahr darin, daß dieses Bahnreglement unmöglich genau respektiert werden konnte. Meine Befürchtungen waren natürlich übertrieben, aber mit jedem Tage sah ich das Unglück näherkommen. Mir fehlt eben das seelische Gleichgewicht, das dem Menschen aus einem menschenwürdigen Familienheim erwächst. – Am ersten Tage nach Einführung meines neuen Reglements erfolgte ein Zusammenstoß von zwei Schnellzügen, der neun Männern, drei Frauen und zwei Kindern das Leben kostete. Ich inspizierte die Unglücksstätte noch. Es ist nicht meine Schuld, daß ich den Anblick überlebte.
VON KEITH.
Dann gingst du auf Reisen?
SCHOLZ.
Ich ging nach England, nach Italien, fühle mich nun aber erst recht von allem lebendigen Treiben ausgeschlossen. In lachender, scherzender Umgebung, bei ohrbetäubender Musik, entringt sich mir plötzlich ein geller Schrei, weil ich mir unversehens wieder jenes Unglücks bewußt worden bin. Ich habe auch im Orient nur wie eine verscheuchte Eule gelebt. Aufrichtig gesagt, bin ich auch seit jenem Unglückstag erst recht davon überzeugt, daß ich mir meine Lebensfreude nur durch Selbstaufopferung zurückkaufen kann. Aber dazu brauche ich Zutritt zum Leben. Diesen Zutritt zum Leben hoffte ich vor einem Jahr dadurch zu finden, daß ich mich mit dem ersten besten Mädchen allerniedrigster Herkunft verlobte, um mit ihr in den Ehestand zu treten.
VON KEITH.
Wolltest du das Geschöpf wirklich zur Gräfin Trautenau machen?
SCHOLZ.
Ich bin kein Graf Trautenau mehr. Das entzieht sich deinem Verständnis. Die Presse hatte meinen Rang und Namen zu dem Unglück, das ich heraufbeschworen, in wirkungsvollen Kontrast gesetzt. Ich hielt mich deshalb meiner Familie gegenüber für verpflichtet, einen anderen Namen anzunehmen. Ich heiße seit zwei Jahren Ernst Scholz. Daher konnte auch meine Verlobung niemanden[447] mehr überraschen; aber es wäre auch daraus nur wieder Unglück erwachsen. In ihrem Herzen keinen Funken Liebe, in meinem nur das Bedürfnis, mich aufzuopfern, der Verkehr eine endlose Kette der trivialsten Mißverständnisse ... Ich habe das Mädchen jetzt derart dotiert, daß sie für jeden ihres Standes eine begehrenswerte Partie ist. Sie konnte sich vor Freude über ihre wiedergewonnene Freiheit gar nicht fassen. Und ich muß nun endlich die schwere Kunst erlernen, mich selbst zu vergessen. Dem Tod sieht man mit klarem Bewußtsein ins Auge; aber niemand lebt, der sich nicht selbst vergessen kann.
VON KEITH
wirft sich in einen Sessel.
– Mein Vater würde sich vor Schreck im Grabe umkehren bei dem Gedanken, daß du – mich um meinen Rat bittest.
SCHOLZ.
So schlägt das Leben die Schulweisheit auf den Mund. Dein Vater hat redlich sein Teil zu meiner einseitigen geistigen Entwicklung beigetragen.
VON KEITH.
Mein Vater war so selbstlos und gewissenhaft, wie es der Hauslehrer und Erzieher eines Grafen Trautenau nun einmal sein muß. Du warst sein Musterknabe, und ich war sein Prügeljunge.
SCHOLZ.
Erinnerst du dich nicht mehr, wie zärtlich du bei uns auf dem Schloß von unseren Kammerjungfern abgeküßt wurdest, und zwar mit Vorliebe dann, wenn ich zufällig gerade daneben stand?! –Sich erhebend. Ich werde die nächsten zwei bis drei Jahre einzig und allein darauf verwendenUnter Tränen. um mich zu einem Genußmenschen auszubilden.
VON KEITH
aufspringend.
Gehen wir heute abend erst einmal nach Nymphenburg auf den Tanzboden! Das ist unser so unwürdig, wie nur irgendwie möglich. Aber bei all dem Regenwetter und Gletscherwasser, das sich über meinen Kopf ergießt, reizt es mich selbst, wieder einmal im Schlamm zu baden.
SCHOLZ.
Mich dürstet nicht nach Marktgeschrei.
VON KEITH.
Du hörst kein lautes Wort, nur das dumpfe Brausen des aus seinen Tiefen aufgewühlten Ozeans. München ist ein Arkadien zugleich und ein Babylon. Der stumme saturnalische Taumel, der sich hier bei jeder Gelegenheit [448] der Seelen bemächtigt, behält auch für den Verwöhntesten seinen Reiz.
SCHOLZ.
Woher sollte ich denn verwöhnt sein! Ich habe von meinem Leben bis heute buchstäblich noch nichts genossen.
VON KEITH.
Der Gesellschaft werden wir uns auf dem Tanzboden erwehren müssen! An solchen Orten wirkt mein Erscheinen wie das Aas auf die Fliegen. Aber dafür, daß du dich selbst vergißt, stehe ich dir gut. Du wirst dich noch in drei Monaten selbst vergessen, wenn du an unseren heutigen Abend zurückdenkst.
SCHOLZ.
Ich habe mich schon allen Ernstes gefragt, ob nicht mein ungeheurer Reichtum vielleicht der einzige Grund meines Unglücks ist.
VON KEITH
empört.
Das ist Gotteslästerung!
SCHOLZ.
Ich habe tatsächlich schon erwogen, ob ich nicht wie auf meinen Adel auch auf mein Vermögen verzichten soll. Solang ich lebe, wäre mir die ser Verzicht aber nur zugunsten meiner Familie möglich. Eine nützliche Verfügung über mein Eigentum kann ich allenfalls, nachdem mein Leben an ihm zuschanden geworden, auf dem Sterbebette treffen. Hätte ich von Jugend auf um meinen Unterhalt kämpfen müssen, dann stände ich bei meinem sittlichen Ernst und meinem Fleiß, statt ein Ausgestoßener zu sein, heute wahrscheinlich mitten in der glänzendsten Karriere.
VON KEITH.
Oder du schwelgtest mit deinem Mädchen aus niedrigstem Stande im allergewöhnlichsten Liebesquark und putztest dabei deiner Mitwelt die Stiefel.
SCHOLZ.
Das nehme ich jeden Augenblick mit Freuden gegen mein Los in Tausch.
VON KEITH.
Bilde dir doch nicht ein, daß dieses Eisenbahnunglück zwischen dir und dem Leben steht. Du sättigst dich nur deshalb an diesen scheußlichen Erinnerungen, weil du zu schwerfällig bist, um dir irgendwelche delikatere Nahrung zu verschaffen.
SCHOLZ.
Darin magst du recht haben. Deswegen möchte ich mich deiner geistigen Führung anvertrauen.
VON KEITH.
Wir finden heute abend schon was zu beißen. – Ich kann dich jetzt leider nicht bitten, mit mir zu frühstücken. Ich habe um zwölf Uhr ein geschäftliches Rendezvous [449] mit einer hiesigen Finanzgröße. Aber ich gebe dir ein paar Zeilen mit an meinen Freund Raspe. Verbring den Nachmittag mit ihm; um sechs Uhr treffen wir uns im Hofgarten-Café.
Er ist an den Schreibtisch gegangen und schreibt ein Billett.
SCHOLZ.
Womit beschäftigst du dich denn?
VON KEITH.
Ich treibe Kunsthandel, ich habe eine Zeitungskorrespondenz, eine Konzertagentur – alles nicht der Rede wert. Du kommst eben recht, um das Entstehen eines großangelegten Konzerthauses zu erleben, das ausschließlich für meine Künstler gebaut wird.
SCHOLZ
nimmt das Bild vom Tisch und betrachtet es.
Du hast eine hübsche Bildergalerie.
VON KEITH
aufspringend.
Das gebe ich nicht um zehntausend Mark. Ein Saranieff. – Dreht es ihm in den Händen um. Du mußt es anders herum nehmen.
SCHOLZ.
Ich verstehe nichts von Kunst. Ich bin auf meinen Reisen nicht in einem einzigen Museum gewesen.
VON KEITH
gibt ihm das Billett.
Der Mann ist internationaler Kriminalbeamter; sei deshalb nicht gleich zu offenherzig. Ein entzückender Mensch. Aber die Leute wissen nie, ob sie mich beobachten sollen, oder ob ich da bin, um sie zu beobachten.
SCHOLZ.
Ich danke dir für dein liebenswürdiges Entgegenkommen. Also heute abend um sechs im Hofgarten-Café.
VON KEITH.
Dann fahren wir nach Nymphenburg. Ich danke dir, daß auch du schließlich Vertrauen zu mir gewonnen hast.
Von Keith geleitet Scholz hinaus. Die Szene bleibt einen Moment leer. Dann kommt Molly Griesinger aus dem Wohnzimmer und nimmt das Teegeschirr vom Tisch. Gleich darauf kommt von Keith zurück.
VON KEITH
ruft.
Sascha! – Geht ans Telefon und läutet. Siebzehn, fünfunddreißig – Kommissär Raspe!
SASCHA
kommt aus dem Wartezimmer.
Herr Baron!
VON KEITH.
Meinen Hut! Meinen Paletot!
Sascha eilt nach dem Vorplatz.
MOLLY.
Ich beschwöre dich, laß dich doch mit diesem Patron nicht ein! Der käme doch nicht zu uns, wenn er uns nicht ausbeuten wollte.
[450]VON KEITH
spricht ins Telefon.
Gott sei Dank sind Sie da! Warten Sie zehn Minuten. – – Das werden Sie merken. – Zu Molly, während ihm Sascha in den Paletot hilft. Ich fahre rasch auf die Redaktionen.
MOLLY.
Was soll ich Mama antworten?
VON KEITH
zu Sascha.
Einen Wagen!
SASCHA.
Jawohl, Herr Baron.
Ab.
VON KEITH.
Leg ihr meine Ehrerbietung zu Füßen.Geht zum Schreibtisch. Die Pläne – der Brief von Ostermeier – morgen früh muß München wissen, daß der Feenpalast gebaut wird!
MOLLY.
Dann kommst du nicht nach Bückeburg?
VON KEITH
nimmt, die zusammengerollten Pläne unter dem Arm, seinen Hut vom Mitteltisch und stülpt ihn auf.
Nimmt mich wunder, wie sich der zum Genußmenschen ausbildet! Rasch ab.
[451]