Zweiter Aufzug
Ein geräumiger Salon in weißer Stukkatur mit breiter Flügeltür in der Hinterwand. Zu beiden Seiten derselben hohe Spiegel. In beiden Seitenwänden je zwei Türen; dazwischen links eine Rokokokonsole mit weißer Marmorplatte, darüber Lulus Bild als Pierrot in schmalem Goldrahmen in der Wand eingelassen. In der Mitte des Salons ein schmächtiges, hellgepolstertes Sofa Louis XV: Breite hellgepolsterte Fauteuils mit dünnen Beinen und schmächtigen Armlehnen. Rechts vorn ein kleiner Tisch. Links hinten Entreetür. Die vordere Tür führt zum Speisezimmer. Die Mitteltür steht offen und läßt im Hinterzimmer einen breiten Bakkarattisch, von türkischen Polstersesseln umstellt, sehen. Alwa Schön, Rodrigo Quast, der Marquis Casti-Piani, Bankier Puntschu, Journalist Heilmann, Lulu, die Gräfin Geschwitz, Magelone, Kadidja, Bianetta, Ludmilla Steinherz bewegen sich im Salon in lebhafter Konversation. Die Herren sind in Gesellschaftstoilette. – Lulu trägt eine weiße Direktoirerobe mit mächtigen Ärmeln und einer vom oberen Taillensaum frei auf die Füße fallenden weißen Spitze; die Arme in weißen Glacés, das Haar hochfrisiert mit einem kleinen weißen Federbusch. – Die Geschwitz in hellblauer, mit weißem Pelz verbrämter, mit Silberborten verschnürter Husarentaille. Weißer Schlips, enger Stehkragen und steife Manschetten mit riesigen Elfenbeinknöpfen. – Magelone in hellem regenbogenfarbigen Changeantkleid mit sehr breiten Ärmeln, langer schmaler Taille und drei Volants aus spiralförmig gewundenen Rosabändern und Veilchenbuketts. Das Haar in der Mitte gescheitelt, tief über die Schläfen fallend, an den Seiten gelockt. Auf der Stirn ein Perlmutterschmuck, von einer feinen, unter das Haar gezogenen Kette gehalten. – Kadidja, ihre Tochter, zwölf Jahre alt, in hellgrünen Atlasstiefeletten, die den Saum der weißseidenen Socken freilassen; der Oberkörper in weißen Spitzen; hellgrüne, enganliegende [343] Ärmel; perlgraue Glacés; offenes schwarzes Haar unter einem großen hellgrünen Spitzenhut mit weißen Federn. – Bianetta in dunkelgrünem Samt; perlenbesetzter Göller, Blusenärmel, faltenreicher Rock ohne Taille, der untere Saum mit großen, in Silber gefaßten falschen Topasen besetzt. – Ludmilla Steinherz in einer grellen, blau und rot gestreiften Seebadtoilette.
RODRIGO
das volle Glas in der Hand.
Meine Herren und Damen – entschuldigen Sie mich – seien Sie bitte ruhig – ich trinke – gestatten Sie mir, daß ich trinke – denn es ist das Geburtstagsfest von unserer liebenswürdigen Wirtin – Lulu am Arm nehmend. der Gräfin Adelaide d'Oubra – verdammt und zugenäht! – Ich trinke also – und so weiter meine Damen!
Alle umringen Lulu und stoßen mit ihr an.
ALWA
zu Rodrigo, ihm die Hand drückend.
Ich gratuliere dir.
RODRIGO.
Ich schwitze wie ein Schweinebraten.
ALWA
zu Lulu.
Laß uns sehen, ob im Spielzimmer alles in Ordnung ist.
Beide ins Spielzimmer ab.
BIANETTA
zu Rodrigo.
Eben erzählte man mir, mein Herr, Sie seien der stärkste Mann der Welt.
RODRIGO.
Das bin ich, mein Fräulein. Darf ich Sie bitten, über meine Kräfte zu verfügen.
MAGELONE.
Ich liebe eigentlich mehr die Kunstschützen. Vor drei Monaten trat ein Kunstschütze im Kasino auf und jedesmal, wenn er Bumm machte, dann ging es bei mir so!
Sie zuckt mit den Hüften.
GRAF CASTI-PIANI
spricht während des ganzen Aktes in müdem gelangweilten Ton, zu Magelone.
Sag mal, Teuerste, wie kommt das eigentlich, daß man deine Auf Kadidja zeigend. niedliche kleine Prinzessin heute zum erstenmal hier sieht?
MAGELONE.
Findest du sie wirklich so entzückend? – Sie ist noch im Kloster. Sie muß nächsten Montag wieder in der Schule sein.
[344]KADIDJA.
Wie sagst du, Mütterchen?
MAGELONE.
Ich erzähle den Herren eben, daß du letzte Woche die erste Note in der Geometrie bekommen hast.
JOURNALIST HEILMANN.
Was die für hübsches Haar hat!
CASTI-PIANI. Sehen Sie sich mal die Füße an! Die Art, wie die geht!
PUNTSCHU.
Weiß Gott, die hat Rasse!
MAGELONE
lächelnd.
Aber haben Sie doch Mitleid, meine Herren; sie ist ja noch vollkommen Kind!
PUNTSCHU
zu Magelone.
Das würde mich verdammt wenig genieren! – Zu Heilmann. Zehn Jahre meines Lebens gebe ich darum, wenn ich das gnädige Fräulein in die Zeremonien unseres Geheimkultus einführen könnte!
MAGELONE.
Dazu bekommen Sie meine Zustimmung aber nicht für eine Million! Ich will nicht, daß man dem Kinde seine Jugend verdirbt, wie man mir das getan hat!
CASTI-PIANI. Bekenntnisse einer schönen Seele! Zu Magelone. Würdest du deine Einwilligung auch nicht für eine Garnitur echter Diamanten erteilen?
MAGELONE.
Renommier doch nicht! Du schenkst mir sowenig echte Diamanten wie meinem Kind! Das weißt du selber am allerbesten!
Kadidja geht ins Spielzimmer.
DIE GESCHWITZ.
Aber wird denn heute abend gar nicht gespielt?
LUDMILLA STEINHERZ.
Aber selbstverständlich, Komtesse! Ich rechne sogar sehr darauf.
BIANETTA.
Dann wollen wir doch gleich unsere Plätze einnehmen! Unsere Herren kommen dann schon nach.
DIE GESCHWITZ.
Darf ich Sie bitten, mich nur noch eine Sekunde zu entschuldigen. Ich habe noch ein Wort mit meiner Freundin zu sprechen.
CASTI-PIANI Bianetta den Arm bietend. Darf ich um die Ehre bitten, halbpart mit Ihnen zu spielen? Sie haben eine so glückliche Hand!
LUDMILLA STEINHERZ.
Nun geben Sie mir mal Ihren anderen Arm und dann führen Sie uns in die Spielhölle!
Casti-Piani mit den beiden Damen ins Spielzimmer ab.
MAGELONE.
Sagen Sie, Herr Puntschu, haben Sie vielleicht noch einige Jungfrauaktien für mich?
[345]PUNTSCHU.
Jungfrauaktien? Zu Heilmann. Das verehrte Fräulein meinen die Aktien der Drahtseilbahn auf die Jungfrau. Die Jungfrau ist nämlich ein Berg, auf den man eine Drahtseilbahn bauen will.Zu Magelone. Wissen Sie, nur damit keine Verwechselungen entstehen. Wie leicht wäre das in diesem erwählten Kreise möglich. – Ich habe allerdings noch etwa viertausend Jungfrauaktien, aber die möchte ich gerne für mich behalten. Es bietet sich nicht so bald wieder Gelegenheit, sich unterderhand ein kleines Vermögen zu machen.
HEILMANN.
Ich habe bis jetzt nur eine einzige von diesen Jungfrauaktien. Ich möchte auch gern noch mehr haben.
PUNTSCHU.
Ich will's versuchen, Herr Heilmann, Ihnen welche zu besorgen. Aber das sage ich Ihnen im voraus, Sie zahlen Apothekerpreise dafür!
MAGELONE.
Mir hat meine Wahrsagerin dazu geraten, daß ich mich beizeiten umtat. Meine sämtlichen Ersparnisse bestehen jetzt aus Jungfrauaktien. Wenn das nicht glückt, Herr Puntschu, dann kratz ich Ihnen die Augen aus!
PUNTSCHU.
Ich bin mir meiner Sache vollkommen sicher, meine Teuerste.
ALWA
der aus dem Spielzimmer zurückgekommen ist, zu Magelone.
Ich kann Ihnen garantieren, daß Ihre Befürchtungen vollkommen unbegründet sind. Ich habe meine Jungfrauaktien sehr teuer bezahlt und bedauere es keinen Augenblick. Sie steigen ja von einem Tag auf den andern. So was ist noch gar nicht dagewesen.
MAGELONE.
Um so besser, wenn Sie recht haben.Puntschus Arm nehmend. Kommen Sie, mein Freund! Jetzt wollen wir unser Glück im Bakkarat versuchen!
Magelone, Puntschu, Alwa, Heilmann gehen ins Spielzimmer. – Rodrigo und die Gräfin Geschwitz bleiben zurück.
RODRIGO
kritzelt etwas auf einen Zettel und faltet ihn zusammen; die Geschwitz bemerkend.
Hm, gräfliche Gnaden ... Da die Geschwitz zusammenzuckt. Seh ich denn so gefährlich aus? Für sich. Ich muß ein Bonmot machen. Laut. Darf ich mir vielleicht etwas herausnehmen?
[346]DIE GESCHWITZ.
Scheren Sie sich zum Henker!
CASTI-PIANI Lulu in den Saal führend. Sie erlauben mir nur zwei Worte.
LULU
während ihr Rodrigo unbemerkt seinen Zettel in die Hand drückt.
Bitte, soviel Sie wollen.
RODRIGO.
Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen.
Ins Spielzimmer ab.
CASTI-PIANI zur Geschwitz. Lassen Sie uns allein!
LULU
zu Casti-Piani.
Habe ich Sie wieder durch irgend etwas gekränkt?
CASTI-PIANI da sich die Geschwitz nicht vom Fleck rührt. Sind Sie taub?
Die Geschwitz geht tief aufseufzend ins Spielzimmer ab.
LULU.
Sag es nur gleich heraus, wieviel du haben willst.
CASTI-PIANI. Mit Geld kannst du mir nicht mehr dienen.
LULU.
Wie kommst du auf den Gedanken, daß wir kein Geld mehr haben?
CASTI-PIANI. Weil du mir gestern euren letzten Rest ausgehändigt hast.
LULU.
Wenn du dessen sicher bist, wird es ja wohl so sein.
CASTI-PIANI. Ihr seid auf dem trocknen, du und dein Schriftsteller.
LULU.
Wozu denn die vielen Worte? – Wenn du mich bei dir haben willst, brauchst du mir nicht erst mit dem Henkerbeil zu drohen.
CASTI-PIANI. Das weiß ich. Ich habe dir aber schon mehrmals gesagt, daß du gar nicht mein Fall bist. Ich habe dich nicht ausgeraubt, weil du mich liebtest, sondern ich habe dich geliebt, um dich ausrauben zu können. Bianetta ist mir von oben bis unten angenehmer als du. Du stellst die ausgesuchtesten Leckerbissen zusammen, und wenn man seine Zeit verplempert hat, ist man hungriger als vorher. Du liebst schon zu lang, auch für unsere hiesigen Verhältnisse. Einem gesunden jungen Menschen ruinierst du nur das Nervensystem. Um so vorteilhafter eignest du dich für die Stellung, die ich dir ausgesucht habe.
LULU.
Du bist verrückt! – Habe ich dich beauftragt, mir eine Stellung zu verschaffen?
[347]CASTI-PIANI. Ich sagte dir doch, daß ich Stellenvermittlungsagent bin.
LULU.
Du sagtest mir, du seiest Polizeispion.
CASTI-PIANI. Davon allein kann man nicht leben. Ursprünglich war ich Stellenvermittlungsagent, bis ich über ein Pfarrerstöchterchen stolperte, dem ich eine Stellung in Valparaiso verschafft hatte. Das Herzblättchen hatte sich in seinen kindlichen Träumen das Leben noch berauschender vorgestellt als es ist und beklagte sich deshalb bei Mama. Darauf wurde ich festgesetzt. Durch charaktervolles Benehmen gewann ich mir aber rasch das Vertrauen der Kriminalpolizei. Mit einem Monatswechsel von hundertfünfzig Mark schickte man mich hierher, weil man wegen der ewigen Bombenattentate unser hiesiges Kontingent verdreifachte. Aber wer kommt hier mit hundertfünfzig Mark im Monat aus? – Meine Kollegen lassen sich von Weibern aushalten. Mir lag es natürlich näher, meinen früheren Beruf wieder aufzunehmen, und von den unzähligen Abenteurerinnen, die sich hier aus den besten Familien der ganzen Welt zusammenfinden, habe ich schon manches lebenshungrige junge Geschöpf an den Ort seiner natürlichen Bestimmung befördert.
LULU
mit Entschiedenheit.
Ich tauge nicht für diesen Beruf.
CASTI-PIANI. Deine Ansichten über diese Frage sind mir vollkommen gleichgültig. Die Staatsanwaltschaft bezahlt demjenigen, der die Mörderin des Doktor Schön der Polizei in die Hand liefert, tausend Mark. Ich brauche nur den Polizisten heraufzupfeifen, der unten an der Ecke steht, dann habe ich tausend Mark verdient. Dagegen bietet das Etablissement Oikonomopulos in Kairo sechzig Pfund für dich. Das sind zwölfhundert Mark, also zweihundert Mark mehr, als der Staatsanwalt bezahlt. Übrigens bin ich immerhin noch soweit Menschenfreund, um meinen Lieben lieber zum Glücke zu verhelfen, als daß ich sie ins Unglück stürze.
LULU
wie oben.
Das Leben in einem solchen Haus kann ein Weib von meinem Schlag nie und nimmer glücklich machen. Als ich fünfzehn Jahre alt war, hätte mir das gefallen können. Damals verzweifelte ich daran, daß ich [348] jemals glücklich werden würde. Ich kaufte mir einen Revolver und lief nachts barfuß durch den tiefen Schnee über die Brücke in die Anlagen, um mich zu erschießen. Dann lag ich aber glücklicherweise drei Monate im Krankenhaus, ohne einen Mann zu Gesicht zu bekommen. In jener Zeit gingen mir die Augen über mich auf und ich erkannte mich. In meinen Träumen sah ich Nacht für Nacht den Mann, für den ich geschaffen bin und der für mich geschaffen ist. Und als ich dann wieder auf die Männer losgelassen wurde, da war ich keine dumme Gans mehr. Seither sehe ich es jedem bei stockfinsterer Nacht auf hundert Schritt Entfernung an, ob wir füreinander bestimmt sind. Und wenn ich mich gegen meine Erkenntnis versündige, dann fühle ich mich am nächsten Tage an Leib und Seele beschmutzt und brauche Wochen, um den Ekel, den ich vor mir empfinde, zu überwinden. Und nun bildest du dir ein, ich werde mich jedem Lumpenkerl hingeben!
CASTI-PIANI. Lumpenkerle verkehren bei Oikonomopulos in Kairo nicht. Seine Kundschaft setzt sich aus schottischen Lords, aus russischen Würdenträgern, indischen Gouverneuren und unseren flotten rheinischen Großindustriellen zusammen. Ich muß nur dafür garantieren, daß du Französisch sprichst. Bei deinem eminenten Sprachtalent wirst du übrigens auch rasch genug so viel Englisch lernen, wie du zu deiner Tätigkeit nötig hast. Dabei residierst du in einem fürstlich ausgestatteten Appartement mit dem Ausblick auf die Minaretts der El Azhar-Moschee, wandelst den ganzen Tag auf faustdicken persischen Teppichen, kleidest dich jeden Abend in eine märchenhafte Pariser Balltoilette, trinkst soviel Sekt wie deine Kunden bezahlen können; und schließlich bleibst du ja auch bis zu einem gewissen Grad deine eigene Herrin. Wenn dir der Mann nicht gefällt, dann brauchst du ihm keinerlei Empfindung entgegenzubringen. Du läßt ihn seine Karte abgeben und damit holla! Wenn sich die Damen darauf nicht einübten, dann wäre die ganze Sache überhaupt unmöglich, weil jede nach den ersten vier Wochen mit Sturmschritt zum Teufel ginge.
LULU
mit zitternder Stimme.
Ich glaube wirklich, seit gestern [349] ist in deinem Gehirn irgend etwas nicht mehr wie es sein soll! Soll ich mir einreden lassen, daß der Ägypter für eine Person, die er gar nicht kennt, fünfhundert Francs bezahlt?
CASTI-PIANI. Ich habe mir erlaubt, ihm deine Bilder zu schicken!
LULU.
Die Bilder hast du ihm geschickt, die ich dir gab?
CASTI-PIANI. Du siehst, daß er sie besser zu würdigen weiß als ich. Das Bild, auf dem du als Eva vor dem Spiegel stehst, wird er, wenn du dort bist, wohl unter der Haustür aufhängen. Dann kommt für dich noch eins in Betracht. Bei Oikonomopulos in Kairo bist du vor deinen Henkern sicherer, als wenn du dich in einen kanadischen Urwald verkriechst. Man überführt so leicht keine ägyptische Kurtisane in ein deutsches Gefängnis, erstens schon aus Sparsamkeitsrücksichten und zweitens aus Furcht, man könnte dadurch der ewigen Gerechtigkeit zu nahe treten.
LULU
stolz, mit heller Stimme.
Was schert mich eure ewige Gerechtigkeit! Du kannst dir an deinen fünf Fingern abzählen, daß ich mich nicht in ein solches Vergnügungslokal sperren lasse.
CASTI-PIANI. Dann erlaubst du, daß ich den Polizisten heraufpfeife?
LULU
verwundert.
Warum bittest du mich nicht einfach um zwölfhundert Mark, wenn du das Geld nötig hast?
CASTI-PIANI. Ich habe gar kein Geld nötig! – Übrigens bitte ich dich deshalb nicht darum, weil du auf dem trocknen bist.
LULU.
Wir haben noch dreißigtausend Mark.
CASTI-PIANI. In Jungfrauaktien! Ich habe mich nie mit Aktien abgegeben. Der Staatsanwalt bezahlt in deutscher Reichswährung und Oikonomopulos zahlt in englischem Gold. Du kannst morgen früh an Bord sein. Die Überfahrt dauert nicht viel mehr als fünf Tage. In spätestens vierzehn Tagen bist du in Sicherheit. Hier stehst du dem Gefängnis näher als irgendwo. Es ist ein Wunder, das ich als Geheimpolizist nicht verstehe, daß ihr ein volles Jahr unbehelligt habt leben können. Aber so gut wie ich euren Antezedenzien auf die Spur kam, kann bei deinem starken Verbrauch an Männern jeden Tag einer meiner Kollegen die glückliche Entdeckung machen. [350] Dann darf ich mir den Mund wischen, und du verbringst deine genußfähigsten Lebensjahre im Zuchthaus. Willst du dich, bitte, gleich entscheiden. Um halb ein Uhr fährt der Zug. Sind wir bis elf Uhr nicht handelseinig, dann pfeife ich den Polizisten herauf. Andernfalls packe ich dich, so wie du dastehst, in einen Wagen, fahre dich nach dem Bahnhof und begleite dich morgen abend aufs Schiff.
LULU.
Es kann dir damit doch unmöglich ernst sein?
CASTI-PIANI. Begreifst du denn nicht, daß es mir nur um deine leibliche Rettung zu tun ist?
LULU.
Ich gehe mit dir nach Amerika, nach China; aber ich kann mich selbst nicht verkaufen lassen! Das ist schlimmer als Gefängnis.
CASTI-PIANI. Lies einmal diesen Herzenserguß! Er zieht einen Brief aus der Tasche. Ich werde ihn dir vorlesen. Hier ist der Poststempel »Kairo«, damit du nicht glaubst, ich arbeite mit gefälschten Dokumenten. Das Mädchen ist Berlinerin, war zwei Jahre verheiratet, und das mit einem Mann, um den du sie beneidet hättest, einem ehemaligen Kameraden von mir. Er reist jetzt in Diensten einer Hamburger Kolonialgesellschaft.
LULU
munter.
Dann besucht er seine Frau ja vielleicht gelegentlich?
CASTI-PIANI. Das ist nicht ausgeschlossen. Aber höre diesen impulsiven Ausdruck ihrer Gefühle! Mein Mädchenhandel erscheint mir durchaus nicht ehrenvoller, als ihn der erste beste Richter taxieren würde; aber solch ein Freudenschrei läßt mich für den Augenblick eine gewisse sittliche Genugtuung empfinden. Ich bin stolz darauf, mein Geld damit zu verdienen, daß ich das Glück mit vollen Händen ausstreue. Er liest. »Lieber Herr Meier!« – So heiße ich als Mädchenhändler. – »Wenn Sie nach Berlin kommen, gehen Sie bitte sofort in das Konservatorium an der Potsdamer Straße und fragen Sie nach Gusti von Rosenkron – das schönste Weib, das ich je in Natur gesehen habe; entzückende Hände und Füße, von Natur schmale Taille, gerader Rücken, strotzender Körper, große Augen und Stumpfnase – ganz so, wie Sie es bevorzugen. Ich habe ihr schon geschrieben. Mit der Singerei[351] hat sie keine Aussicht. Die Mutter hat keinen Pfennig. Leider schon zweiundzwanzig, aber verschmachtend nach Liebe. Kann nicht heiraten, weil vollkommen mittellos. Habe mit Madame gesprochen. Man nimmt mit Vergnügen noch eine Deutsche, wenn gut erzogen und musikalisch Italienerinnen und Französinnen können mit uns nicht wetteifern, weil zu wenig Bildung. Wenn Sie Fritz sehen sollten ...« – Fritz ist der Mann; er läßt sich natürlich scheiden – »... dann sagen Sie ihm, alles war Langeweile. Er wußte es nicht besser, ich wußte es auch nicht ...« Jetzt folgt die genauere Aufzählung ...
LULU
verhetzt.
Ich kann nicht das einzige verkaufen, das je mein eigen war.
CASTI-PIANI. Laß mich doch weiter lesen!
LULU
wie oben.
Ich liefere dir heute abend noch unser ganzes Vermögen aus.
CASTI-PIANI. Glaub mir doch um Gottes willen, daß ich euren letzten Heller schon bekommen habe. Wenn wir nicht bis elf Uhr das Haus verlassen haben, dann transportiert man dich morgen mit deiner Sippschaft per Schub nach Deutschland.
LULU.
Du kannst mich nicht ausliefern!
CASTI-PIANI. Meinst du, das wäre das schlimmste, was ich in meinem Leben gekonnt habe?! Ich muß für den Fall, daß wir heute nacht fahren, nur rasch noch ein Wort mit Bianetta reden.
Casti-Piani geht ins Spielzimmer, die Tür hinter sich auflassend. Lulu starrt vor sich hin, das Billett, das ihr Rodrigo zusteckte und das sie während des ganzen Gespräches zwischen den Fingern hielt, mechanisch zerknitternd. Alwa erhebt sich hinter dem Spieltisch, ein Wertpapier in der Hand und kommt in den Salon.
ALWA
zu Lulu.
Brillant! Es geht brillant! Die Geschwitz setzt eben ihr letztes Hemd. Puntschu hat mir noch zehn Jungfrauaktien versprochen. Die Steinherz macht ihre kleinen Profitchen. Er geht nach rechts vorne ab.
LULU
allein.
Ich in ein Bordell? – – Sie liest den Zettel, den sie in der Hand hält, und lacht wie toll.
[352]ALWA
kommt von rechts vorn zurück, eine Kassette in der Hand.
Machst du denn nicht mit?
LULU.
Gewiß, gewiß. Warum nicht!
ALWA.
Apropos, im »Berliner Tageblatt« steht heute, daß sich der Alfred Hugenberg im Gefängnis ins Treppenhaus hinuntergestürzt hat.
LULU.
Ist denn der auch im Gefängnis?
ALWA.
Nur in einer Art von Präventivhaft.
Alwa geht ins Spielzimmer ab. Lulu will ihm folgen.
In der Tür tritt ihr die Gräfin Geschwitz entgegen.
DIE GESCHWITZ.
Du gehst, weil ich komme?
LULU
entschlossen.
Weiß Gott, nein. Aber wenn du kommst, dann gehe ich.
DIE GESCHWITZ.
Du hast mich um alles betrogen, was ich an Glücksgütern auf dieser Welt noch besaß. Du könntest in deinem Verkehr mit mir zum allerwenigsten die äußerlichen Anstandsformen wahren.
LULU
wie oben.
Ich bin gegen dich so anständig, wie gegen jede andere Frau. Ich bitte dich nur, es auch mir gegenüber zu sein.
DIE GESCHWITZ.
Hast du die leidenschaftlichen Beteuerungen vergessen, durch die du mich, während wir zusammen im Krankenhaus lagen, dazu verführtest, daß ich mich für dich ins Gefängnis sperren ließ?
LULU.
Wozu hast du mir denn vorher die Cholera angehängt?! Ich habe während des Prozesses noch ganz andere Dinge beschworen, als was ich dir versprechen mußte. Mich schüttelt das Entsetzen bei dem Gedanken, daß das jemals Wirklichkeit werden sollte!
DIE GESCHWITZ.
Dann betrogst du mich also mit vollem Bewußtsein?!
LULU
munter.
Um was bist du denn betrogen? Deine körperlichen Vorzüge haben hier einen so begeisterten Bewunderer gefunden, daß ich mich frage, ob ich nicht noch einmal Klavierunterricht geben muß, um mein Dasein zu fristen. Kein siebzehnjähriges Kind macht einen Mann liebestoller, als du Ungeheuer den braven Kerl durch deine Widerspenstigkeit machst!
DIE GESCHWITZ.
Von wem sprichst du? Ich verstehe kein Wort.
[353]LULU
wie oben.
Ich spreche von deinem Kunstturner, von Rodrigo Quast. Er ist Athlet; er balanciert zwei gesattelte Kavalleriepferde auf seinem Brustkasten. Kann sich eine Frau etwas Herrlicheres wünschen? Er sagte mir eben noch, daß er diese Nacht ins Wasser springe, wenn du dich seiner nicht erbarmst.
DIE GESCHWITZ.
Ich beneide dich nicht um deine Geschicklichkeit, die hilflosen Opfer, die dir durch unerforschliche Bestimmung überantwortet sind, zu martern. Ich kann dich überhaupt nicht beneiden. Ein Bedauern, wie ich es mit dir fühle, hat mir mein eigener Jammer noch nicht abgerungen. Ich fühle mich frei wie ein Gott bei dem Gedanken, welcher Kreaturen Sklavin du bist!
LULU.
Von wem sprichst du denn?
DIE GESCHWITZ.
Ich spreche von Casti-Piani, dem die verworfenste Niederträchtigkeit in lebenden Buchstaben auf der Stirn geschrieben steht.
LULU.
Schweig! Ich gebe dir Tritte in den Leib, wenn du schlecht von dem Jungen sprichst. Er liebt mich mit einer Aufrichtigkeit, gegen die deine abenteuerlichsten Aufopferungen eine Bettelei sind. Er gibt mir Beweise von Selbstverleugnung, die mir dich erst in deiner ganzen Abscheulichkeit zeigen. Du bist im Leib deiner Mutter nicht fertig geworden, weder als Weib noch als Mann. Du bist kein Menschenkind wie wir andern. Für einen Mann war der Stoff nicht ausreichend und zum Weib hast du zuviel Hirn in deinen Schädel bekommen. Deshalb bist du verrückt! Wende dich an Fräulein Bianetta. Die ist gegen Bezahlung zu allem zu haben. Drück ihr ein Goldstück in die Hand, dann gehört sie dir.
Bianetta, Magelone, Ludmilla Steinherz, Rodrigo, Casti-Piani, Puntschu, Heilmann und Alwa kommen aus dem Spielzimmer in den Salon.
LULU.
Um Gottes willen, was ist passiert?
PUNTSCHU.
Aber nicht das geringste! Wir haben Durst; das ist alles!
MAGELONE.
Alle Welt hat gewonnen; es ist nicht zu glauben!
BIANETTA.
Mir scheint, ich habe ein ganzes Vermögen gewonnen!
LUDMILLA STEINHERZ.
Rühmen Sie sich dessen nicht, mein Kind! Das bringt kein Glück.
[354]MAGELONE.
Aber die Bank hat ja auch gewonnen! Wie ist das nur möglich!
ALWA.
Es ist ganz pyramidal, wo all das Geld herkommt!
CASTI-PIANI. Fragen wir nicht danach! Genug, daß man den Champagner nicht zu sparen braucht!
HEILMANN.
Ich kann mir nachher wenigstens ein Abendessen in einem anständigen Restaurant bezahlen!
ALWA.
Zum Büfett, meine Damen! Kommen Sie zum Büfett!
Die ganze Gesellschaft begibt sich ins Speisezimmer. – Lulu wird von Rodrigo zurückgehalten.
RODRIGO.
Einen Moment, mein Herz. – Hast du meinen Liebesbrief gelesen?
LULU.
Droh mir mit Anzeigen soviel du Lust hast! Ich habe das Geld nicht mehr zwanzigtausendweis zur Verfügung.
RODRIGO.
Lüg mich nicht an, du Dirne! Ihr habt noch vierzigtausend in Jungfrauaktien; dein sogenannter Gatte hat eben selbst noch damit geprahlt!
LULU.
Dann wende dich mit deinen Erpressungen doch an ihn! Mir ist es egal, was er mit seinem Gelde tut.
RODRIGO.
Ich danke dir! Bei dem Hornochsen brauche ich zweimal vierundzwanzig Stunden, bis er begreift, wovon die Rede ist. Und dann kommen seine Auseinandersetzungen, denen gegenüber einem sterbensübel wird. Derweil schreibt mir meine Braut: »Aus ist es!« und ich kann den Leierkasten umhängen.
LULU.
Hast du dich denn hier verlobt?
RODRIGO.
Ich hätte dich wohl erst um Erlaubnis fragen sollen? Was war hier mein Dank dafür, daß ich dich auf Kosten meiner Gesundheit aus dem Gefängnis befreit habe? – Ihr habt mich preisgegeben! Ich hätte Packträger werden können, wenn mich dieses Mädchen nicht aufgenommen hätte. Bei meinem Auftreten warf man mir gleich am ersten Abend einen Samtfauteuil an den Kopf. Diese Nation ist zu heruntergekommen, um noch gediegene Kraftleistungen zu würdigen. Wäre ich ein boxendes Känguruh, dann hätten sie mich interviewt und in allen Zeitungen abgebildet. Gott sei Dank hatte ich schon die Bekanntschaft meiner Cölestine gemacht. Sie hat die Ersparnisse zwanzigjähriger Arbeit auf der [355] Staatsbank deponiert. Dabei liebt sie mich um meiner selbst willen. Sie geht nicht wie du nur auf Gemeinheiten aus. Sie hat drei Kinder von einem amerikanischen Bischof, die alle zu den schönsten Hoffnungen berechtigen. Übermorgen früh werden wir uns standesamtlich trauen lassen.
LULU.
Meinen Segen hast du dazu.
RODRIGO.
Dein Segen kann mir gestohlen werden! Ich habe meiner Braut gesagt, ich hätte zwanzigtausend in Wertpapieren auf der Bank liegen.
LULU
vergnügt.
Dabei prahlt der Kerl noch, daß ihn die Person um seiner selbst willen liebt!
RODRIGO.
Meine Cölestine verehrt den Gemütsmensch in mir, und nicht den Kraftmenschen, wie du das getan hast und all die anderen. Das ist jetzt überstanden! Erst rissen sie einem die Kleider vom Leib und dann wälzten sie sich mit der Kammerjungfer herum. Ich will ein Totengerippe sein, wenn ich mich noch jemals auf solche Belustigungen einlasse!
LULU.
Warum zum Henker verfolgst du denn eigentlich die unglückliche Geschwitz mit deinen Anträgen?
RODRIGO.
Weil das Frauenzimmer von Adel ist. Ich bin Weltmann und verstehe mich besser als irgendeiner von euch auf den vornehmen Konversationston. – Aber jetzt hängt mir das Gespräch zum Halse heraus. Wirst du mir bis morgen abend das Geld verschaffen oder nicht?
LULU.
Ich habe kein Geld.
RODRIGO.
Ich will Hühnerdreck im Kopf haben, wenn ich mich damit abspeisen lasse! Er gibt dir den letzten Pfennig, den er hat, wenn du nur einmal deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit tust! Du hast den armen Jungen hierher gelockt, und jetzt kann er sehen, wo er ein passendes Engagement für seine Kenntnisse auftreibt.
LULU.
Was schert es dich, ob er das Geld mit Weibern oder am Spieltisch vertut?!
RODRIGO.
Wollt ihr denn mit Gewalt den letzten Pfennig, den sich sein Vater an der Zeitung verdient hat, diesem wildfremden Pack in den Rachen jagen?! Du machst vier Menschen glücklich, wenn du fünf gerade sein läßt [356] und dich einem wohltätigen Zweck opferst! Muß es denn immer und immer nur Casti-Piani sein!
LULU
munter.
Soll ich ihn vielleicht bitten, daß er dir die Treppe hinunter leuchtet?
RODRIGO.
Wie Sie wünschen, Frau Gräfin! Wenn ich bis morgen abend die zwanzigtausend Mark nicht habe, dann erstatte ich Anzeige bei der Polizei und eure Hofhaltung hat ein Ende. – Auf Wiedersehen!
Journalist Heilmann kommt atemlos von rechts hinten.
LULU.
Sie suchen Fräulein Magelone? – Sie ist nicht hier.
HEILMANN.
Nein, ich suche etwas anderes.
RODRIGO
ihm die gegenüberliegende Entreetür weisend.
Die zweite Tür links, bitte.
LULU
zu Rodrigo.
Hast du das bei deiner Braut gelernt?
HEILMANN
stößt in der Entreetür auf Bankier Puntschu.
Pardon, mein Engel!
PUNTSCHU.
Ach, Sie sind's! Fräulein Magelone erwartet Sie im Lift.
HEILMANN.
Fahren Sie doch bitte mit ihr hinauf. Ich bin gleich zurück.
Eilt durch die Entreetür ab. Lulu geht ins Speisezimmer; Rodrigo folgt ihr.
PUNTSCHU
allein.
Ist das eine Hitze! – – Schneid ich dir die Ohren nicht ab, schneidst du sie mir! – – Kann ich nicht vermieten mein Josaphat, muß ich mir helfen mit meinem Verstand! – Wird er nicht runzlig, mein Verstand; wird er nicht unpäßlich; braucht er nicht zu baden in Eau de Cologne.
Bob, ein Groom in rotem Jackett, prallen Lederhosen und blinkenden Stulpstiefeln, fünfzehn Jahr alt, überbringt ein Telegramm.
BOB.
Herrn Bankier Puntschu!
PUNTSCHU
erbricht das Telegramm und murmelt.
»Jungfrau Drahtseilbahn-Aktien gefallen auf ...« – Ja, ja, so ist die Welt –! Zu Bob. Warte! Gibt ihm ein Trinkgeld. Sag mal – wie heißt du eigentlich?
BOB.
Ich heiße eigentlich Fredy, aber man nennt mich Bob, weil das jetzt Mode ist.
[357]PUNTSCHU.
Wie alt bist du denn?
BOB.
Fünfzehn.
KADIDJA
tritt zögernd aus dem Speisezimmer ein.
Entschuldigen Sie, können Sie mir nicht sagen, ob Mama nicht hier ist?
PUNTSCHU.
Nein, mein Kind. – Für sich. Zum Teufel, die hat Rasse!
KADIDJA.
Ich suche sie überall; ich kann sie gar nirgends finden.
PUNTSCHU.
Deine Mama kommt schon wieder zum Vorschein; so wahr ich Puntschu heiße! – – Auf Bob sehend. Und das Paar Kniehosen! – – Gott der Gerechte! – – Es wird einem unheimlich! Nach rechts hinten ab.
KADIDJA
zu Bob.
Haben Sie nicht vielleicht meine Mama gesehen?
BOB.
Nein, aber Sie brauchen nur mit mir zu kommen.
KADIDJA.
Wo ist sie denn?
BOB.
Sie ist im Lift hinaufgefahren. Kommen Sie nur!
KADIDJA.
Nein, nein, ich fahre nicht mit hinauf.
BOB.
Wir können uns oben auf dem Korridor verstecken.
KADIDJA.
Nein, nein – ich komme nicht, sonst krieg ich Schelte.
Magelone stürzt in heilloser Aufregung durch die Entreetür herein und bemächtigt sich Kadidjas.
MAGELONE.
Ha, da bist du ja endlich, du gemeines Geschöpf!
KADIDJA
heulend.
O Mama, Mama, ich habe dich gesucht!
MAGELONE.
Du hast mich gesucht?! Hab ich dich geheißen, mich zu suchen?! Was hast du mit diesem Mannsbild gehabt?
Heilmann, Alwa, Ludmilla Steinherz, Puntschu, die Gräfin Geschwitz und Lulu treten aus dem Speisezimmer ein. – Bob hat sich gedrückt.
MAGELONE
zu Kadidja.
Daß du mir den Leuten nichts vorheulst! das sag ich dir!
Alle umringen Kadidja.
LULU.
Aber du weinst ja, mein süßes Herzblatt! Warum weinst du denn?
PUNTSCHU.
Weiß Gott, sie hat wahrhaftig geweint! Wer hat dir denn was zuleide getan, du kleine Göttin!
LUDMILLA STEINHERZ
kniet vor ihr nieder und schließt sie in die Arme.
Sag mir, mein Engelsgeschöpfchen, was es [358] Schlimmes gegeben hat. Willst du Kuchen? Willst du Schokolade?
MAGELONE.
Das sind die Nerven. Das kommt viel zu früh bei dem Kind. Das beste wäre jedenfalls, man achtete gar nicht darauf!
PUNTSCHU.
Das sieht Ihnen ähnlich! Sie sind eine Rabenmutter! Das Gericht wird Ihnen das Kind noch fortnehmen und mich zu seinem Vormund bestellen! Kadidja die Wangen streichelnd. Nicht wahr, meine kleine Göttin?
DIE GESCHWITZ.
Ich wäre froh, wenn man endlich wieder mit Bakkarat anfinge?
Die Gesellschaft begibt sich ins Speisezimmer; Lulu wird an der Tür von Bob zurückgehalten, der ihr etwas zuflüstert.
LULU.
Gewiß! Laß ihn nur eintreten!
Bob öffnet die Tür zum Korridor und läßt Schigolch eintreten. Schigolch trägt Frack, weiße Halsbinde, schiefgetretene Lackstiefel und einen schäbigen Klapphut, den er aufbehält.
SCHIGOLCH
mit einem Blick auf Bob.
Wo hast du den her?
LULU.
Aus dem Zirkus.
SCHIGOLCH.
Wieviel Lohn bekommt er?
LULU.
Frag ihn, wenn es dich interessiert. Zu Bob. Schließ die Türe.
Bob geht ins Speisezimmer und schließt die Tür hinter sich.
SCHIGOLCH
sich setzend.
Ich brauche nämlich notwendig Geld. Ich habe meiner Geliebten eine Wohnung gemietet.
LULU.
Hast du dir hier auch noch eine Geliebte genommen?
SCHIGOLCH.
Sie ist Frankfurterin. In ihrer Jugend war sie die Frau des Königs von Neapel. Sie sagt mir jeden Tag, daß sie früher einmal sehr bestrickend gewesen sei.
LULU
scheinbar in vollkommenster Ruhe.
Braucht sie das Geld sehr nötig?
SCHIGOLCH.
Sie will sich eine eigene Wohnung einrichten. Solche Summen spielen doch bei dir keine Rolle.
LULU
plötzlich von einem Weinkrampf überwältigt, stürzt Schigolch zu Füßen.
O du allmächtiger Gott!
[359]SCHIGOLCH
sie streichelnd.
Nun? – Was gibt es denn wieder?
LULU
schluchzt krampfhaft.
Es ist zu grauenhaft!
SCHIGOLCH
zieht sie auf seine Knie und hält sie wie ein kleines Kind in den Armen.
Hm – du übernimmst dich, mein Kind. – Du mußt dich ausnahmsweise mal mit einem Roman zu Bett legen. – Weine nur; weine dich nur recht aus. – So hat es dich auch schon vor fünfzehn Jahren geschüttelt. Es hat seitdem kein Mensch mehr so geschrien, wie du damals hast schreien können. – Damals trugst du noch keinen weißen Federbusch auf dem Kopf und hattest auch keine durchsichtigen Strümpfe an. Du hattest weder Stiefel noch Strümpfe an deinen Beinen.
LULU
heulend.
Nimm mich mit dir nach Haus! Nimm mich diese Nacht mit zu dir! Ich bitte dich! Wir finden unten Wagen genug!
SCHIGOLCH.
Ich nehme dich mit; ich nehme dich mit. – Was gibt es denn?
LULU.
Es geht um meinen Hals! Man zeigt mich an!
SCHIGOLCH.
Wer? Wer zeigt dich an?
LULU.
Der Springfritze.
SCHIGOLCH
mit größter Seelenruhe.
Dem besorg ich es!
LULU
flehentlich.
Besorg es ihm! Ich bitte dich, besorg es ihm! Dann tu mit mir, was du willst!
SCHIGOLCH.
Wenn er zu mir kommt, ist er abgetan. Mein Fenster geht aufs Wasser. – Aber Den Kopf schüttelnd. er kommt nicht, er kommt nicht.
LULU.
Welche Nummer wohnst du?
SCHIGOLCH.
376, das letzte Haus vor dem Hippodrom.
LULU.
Ich schicke ihn hin. Er kommt mit der verrückten Person, die mir um die Füße kriecht; er kommt noch heute abend. Geh nach Hause, damit sie es behaglich finden.
SCHIGOLCH.
Laß sie nur kommen.
LULU.
Morgen bring mir seine goldenen Ringe, die er in den Ohren trägt.
SCHIGOLCH.
Hat er Ringe in den Ohren?
LULU.
Du kannst sie herausnehmen, bevor du ihn hinunterläßt. Er merkt nichts davon, wenn er betrunken ist.
SCHIGOLCH.
Und dann, mein Kind? Was dann?
LULU.
Dann gebe ich dir das Geld für deine Geliebte.
[360]SCHIGOLCH.
Das nenne ich aber geizig.
LULU.
Was du sonst noch magst! Was ich habe!
SCHIGOLCH.
Bald sind es zehn Jahre, daß wir uns nicht mehr kennen.
LULU.
Wenn es weiter nichts ist? Aber du hast doch eine Geliebte.
SCHIGOLCH.
Meine Frankfurterin ist nicht mehr von heute.
LULU.
Aber dann schwöre!
SCHIGOLCH.
Aber habe ich dir je nicht Wort gehalten?
LULU.
Schwöre, daß du es ihm besorgst!
SCHIGOLCH.
Ich besorge es ihm.
LULU.
Schwöre es mir! Schwöre es mir!
SCHIGOLCH
legt seine Hand an ihren Fußknöchel.
– Bei allem was heilig ist! – Heute nacht, wenn er kommt. –
LULU.
Bei allem, was heilig ist! – – Wie das kühlt!
SCHIGOLCH.
Wie das glüht!
LULU.
Fahre nur gleich nach Haus. Sie kommen in einer halben Stunde! Nimm einen Wagen!
SCHIGOLCH.
Ich gehe schon.
LULU.
Rasch! Ich bitte dich! – – – Allmächtiger ...
SCHIGOLCH.
Was starrst du mich jetzt schon wieder so an?
LULU.
Nichts ...
SCHIGOLCH.
Nun? – Ist dir deine Zunge angefroren?
LULU.
Mein Strumpfband ist aufgegangen ...
SCHIGOLCH.
Wennschon! Was weiter?
LULU.
Was bedeutet das?
SCHIGOLCH.
Was das bedeutet? Ich binde es dir, wenn du still hältst.
LULU.
Das bedeutet ein Unglück!
SCHIGOLCH
gähnend.
Nicht für dich, mein Kind. Sei getrost, ich besorg es ihm. – Ab.
Lulu setzt den linken Fuß auf einen Schemel, bindet ihr Strumpfband und geht ins Spielzimmer ab. – Rodrigo wird von Casti-Piani aus dem Speisezimmer in den Salon gepufft.
RODRIGO.
Behandeln Sie mich doch wenigstens anständig!
CASTI-PIANI vollkommen apathisch. Was könnte mich denn dazu veranlassen?! Ich will wissen, was Sie vorhin mit der Frau hier gesprochen haben!
[361]RODRIGO.
Dann können Sie mich gernhaben!
CASTI-PIANI. Willst du Hund mir Rede und Antwort stehn! Du hast von ihr verlangt, sie soll mit dir im Lift hinauffahren!
RODRIGO.
Das ist eine unverschämte perfide Lüge!
CASTI-PIANI. Sie erzählte es mir selbst! Du hast ihr gedroht, sie zu denunzieren, wenn sie nicht mit dir kommt! Soll ich dich über den Haufen schießen?
RODRIGO.
Die schamlose Person! – Als könnte mir so etwas einfallen! – Wenn ich sie selber haben will, brauche ich ihr, weiß Gott im Himmel, nicht erst mit Gefängnis zu drohen!
CASTI-PIANI. Danke schön. Weiter wollte ich nichts wissen.
Durch die Entreetür ab.
RODRIGO.
So ein Hund! – Ein Kerl, den ich an die Decke werfe, daß er klebenbleibt, wie ein Limburger Käse! – – Komm her, wenn ich dir die Därme um den Hals wickeln soll! – – Das wäre noch schöner!
LULU
kommt aus dem Speisezimmer, lustig.
Wo bleibst denn du? – Man muß dich suchen wie eine Stecknadel.
RODRIGO.
Dem habe ich gezeigt, was es heißt, mit mir anzufangen!
LULU.
Wem denn?
RODRIGO.
Deinem Casti-Piani! Wie kannst du Dirne dem Kerl erzählen, ich hätte dich verführen wollen?!
LULU.
Hast du nicht von mir verlangt, daß ich mich für zwanzigtausend in Jungfrauaktien dem Sohn meines verstorbenen Mannes hingebe?!
RODRIGO.
Weil es deine Pflicht ist, dich des armen Jungen zu erbarmen! Du hast ihm seinen Vater in den schönsten Lebensjahren vor der Nase weggeschossen! Aber dein Casti-Piani überlegt es sich, bevor er mir wieder unter die Augen kommt. Dem gebe ich eins vor den Bauch, daß ihm die Kaldaunen wie Leuchtkugeln zum Himmel fliegen. Wenn du keinen besseren Ersatz für mich hast, dann bedaure ich, jemals deine Gunst besessen zu haben!
LULU.
Die Geschwitz hat die fürchterlichsten Zustände. Sie windet sich in Krämpfen. Sie ist im stande und springt ins Wasser, wenn du sie noch länger warten läßt.
RODRIGO.
Worauf wartet das Vieh denn?
[362]LULU.
Auf dich, daß du sie mitnimmst.
RODRIGO.
Dann sag ihr, ich lasse sie grüßen und sie soll ins Wasser springen.
LULU.
Sie leiht mir zwanzigtausend Mark, um mich vor dem Verderben zu retten, wenn du sie selber davor bewahrst. Wenn du sie heute mit dir nimmst, deponiere ich morgen zwanzigtausend Mark für dich auf irgendeiner Bank.
RODRIGO.
Und wenn ich sie nicht mitnehme?
LULU.
Dann zeig mich an! Alwa und ich sind auf dem trockenen.
RODRIGO.
Himmel, Tod und Wolkenbruch!
LULU.
Du machst vier Menschen glücklich, wenn du fünfe gerad sein läßt und dich einem wohltätigen Zweck opferst.
RODRIGO.
Das wird nicht gehn; ich weiß es im voraus. Ich habe das jetzt genug ausprobiert. Wer rechnet bei dem Knochengerüste auch auf solch ein ehrliches Gemüt! Was die Person für mich hatte, war der Umstand, daß sie Aristokratin ist. Mein Benehmen war so gentlemanlike, wie man es bei deutschen Artisten überhaupt nicht findet. Hätte ich sie nur jemals in die Waden gekniffen!
LULU
lauernd.
Sie ist noch Jungfrau.
RODRIGO
seufzend.
Wenn es einen Gott im Himmel gibt, dann werden dir deine Witze noch einmal heimgezahlt! Das prophezeie ich dir!
LULU.
Die Geschwitz wartet. Was soll ich ihr sagen?
RODRIGO.
Meine ergebenste Empfehlung und ich sei pervers.
LULU.
Das werde ich ausrichten.
RODRIGO.
Warte noch! – Ist es sicher, daß ich zwanzigtausend Mark von ihr erhalte?
LULU.
Frag sie selbst!
RODRIGO.
Dann sag ihr, ich sei bereit. Ich erwarte sie im Speisezimmer. Ich muß nur erst noch eine Tonne Kaviar versorgen.
Rodrigo geht ins Speisezimmer. Lulu öffnet die Tür zum Spielzimmer und ruft mit heller Stimme: »Martha!«, worauf die Gräfin Geschwitz in den Salon tritt und die Tür hinter sich schließt.
LULU
vergnügt.
Mein liebes Herz, du kannst mich heute vor dem Tode retten.
[363]DIE GESCHWITZ.
Wie kann ich das?
LULU.
Wenn du mit dem Springfritzen nach einem Absteigequartier fährst.
DIE GESCHWITZ.
Wozu das, mein Lieb?
LULU.
Er sagt, du müßtest ihm heute abend noch angehören, sonst zeigt er mich morgen an.
DIE GESCHWITZ.
Du weißt, daß ich keinem Manne gehören kann; ich bin von meinem Verhängnis nicht dazu bestimmt.
LULU.
Wenn du ihm nicht gefällst, dann hat er das mit sich selbst auszumachen. Warum verliebt er sich in dich!
DIE GESCHWITZ.
Aber er wird brutal werden wie ein Henkersknecht. Er wird sich für seine Enttäuschung rächen und mir die Schläfen einschlagen. Ich habe das schon erlebt. – Ist es nicht möglich, daß du mir diese schwerste Prüfung ersparst?
LULU.
Was gewinnst du dabei, wenn er mich anzeigt?
DIE GESCHWITZ.
Ich habe in meinem Vermögen noch so viel, daß wir beide als Zwischendeckpassagiere nach Amerika fahren können. Dort wärst du vor all deinen Verfolgern in Sicherheit.
LULU
vergnügt und munter.
Ich will hier bleiben; ich kann in keiner anderen Stadt mehr glücklich sein. Du mußt ihm sagen, daß du ohne ihn nicht leben kannst. Dann fühlt er sich geschmeichelt und wird lammfromm. Du mußt auch den Kutscher bezahlen. Gib dem Kutscher diesen Zettel; da steht die Adresse drauf. Nummer 376 ist ein Hotel sechsten Ranges, in dem man dich mit ihm heute abend erwartet.
DIE GESCHWITZ.
Wie soll dir eine solche Ungeheuerlichkeit das Leben retten? – Ich verstehe das nicht. – Du hast, um mich zu martern, das furchtbarste Verhängnis heraufbeschworen, das über mich Geächtete hereinbrechen kann.
LULU
lauernd.
Vielleicht heilt dich die Begegnung!
DIE GESCHWITZ
seufzend.
O Lulu, wenn es eine ewige Vergeltung gibt, dann möchte ich nicht für dich einstehen müssen! Ich kann mich nicht darein finden, daß kein Gott über uns wacht. Und doch wirst du wohl recht haben, daß es nichts damit ist. Denn womit habe ich unbedeutender Wurm seinen Zorn gereizt, um nur Entsetzen [364] zu erleben, wo die ganze lebendige Schöpfung vor Seligkeit die Besinnung verliert!
LULU.
Du hast dich nicht zu beklagen. Wenn du glücklich wirst, dann bist du hundert- und tausendmal glücklicher, als es einer von uns gewöhnlichen Sterblichen jemals wird.
DIE GESCHWITZ.
Das weiß ich auch; ich beneide niemanden! Aber ich warte noch darauf. Du hast mich nun schon so oft betrogen.
LULU.
Ich bin dein, mein Liebling, wenn du den Springfritzen bis morgen beruhigst. Er will nur seine Eitelkeit befriedigt sehen; du mußt ihn beschwören, daß er sich deiner erbarme.
DIE GESCHWITZ.
Und morgen?
LULU.
Ich erwarte dich, mein Herz. Ich werde die Augen nicht aufschlagen, bevor du kommst. Ich sehe keine Kammerfrau, ich empfange keinen Friseur, ich werde die Augen nicht aufschlagen, bevor du bei mir bist.
DIE GESCHWITZ.
Dann laß ihn kommen.
LULU.
Aber du mußt dich ihm an den Hals werfen, mein Lieb! Hast du die Hausnummer noch?
DIE GESCHWITZ.
376. – Jetzt aber rasch!
LULU
ruft ins Speisezimmer.
Darf ich bitten, mein Liebling?
RODRIGO
kommt aus dem Speisezimmer.
Die Damen entschuldigen, daß ich das Maul voll habe.
DIE GESCHWITZ
ergreift seine Hand.
Ich bete Sie an! Erbarmen Sie sich meiner Not!
RODRIGO.
A la bonne heure! Besteigen wir das Schafott!
Er bietet der Gräfin Geschwitz den Arm und verläßt mit ihr den Salon.
LULU.
Gute Nacht, meine Kinder! – Sie begleitet das Paar auf den Korridor hinaus und kommt gleich darauf mit Bob zurück. Rasch, rasch, Bob! Wir müssen noch diesen Augenblick fort! Du begleitest mich! Aber wir müssen die Kleider wechseln.
BOB
kurz, hell.
Wie die gnädige Frau befehlen!
LULU
ihn bei der Hand nehmend.
Ach was, gnädige Frau! Du gibst mir deine Kleider und ziehst meine Kleider an. Komm!
Lulu und Bob ins Speisezimmer ab. Im Spielzimmer entsteht Lärm; die Türen werden aufgerissen. Puntschu, [365] Heilmann, Alwa, Bianetta, Magelone, Kadidja und Ludmilla Steinherz kommen in den Salon.
HEILMANN
ein Wertpapier in der Hand, auf dessen Titelkopf ein Alpenglühen zu sehen ist, zu Puntschu.
Wollen Sie wohl diese Jungfrauaktie akzeptieren, mein Herr!
PUNTSCHU.
Aber das Papier hat keinen Kurs, lieber Freund.
HEILMANN.
Sie Spitzbube! Sie wollen mir einfach keine Revanche geben!
MAGELONE
zu Bianetta.
Verstehen Sie vielleicht etwas von dem, was hier los ist?
LUDMILLA STEINHERZ.
Puntschu hat ihm all sein Geld abgenommen und jetzt gibt er das Spiel auf.
HEILMANN.
Jetzt kriegt er kalte Füße, der Saujude!
PUNTSCHU.
Wieso gebe ich das Spiel auf? Wieso krieg ich kalte Füße? Der Herr soll doch nur einfach bares Geld setzen! Bin ich hier in meiner Wechselstube? Seinen Wisch kann er mir ja morgen früh anbieten!
HEILMANN.
Einen Wisch nennen Sie das? – Die Aktie steht meines Wissens auf 210.
PUNTSCHU.
Gestern stand sie auf 210, da haben Sie recht. Heute steht sie überhaupt nicht mehr. Und morgen finden Sie gar nichts Billigeres und Geschmackvolleres zur Tapezierung Ihres Treppenhauses.
ALWA.
Wie ist denn das möglich?! – Dann wären wir ja auf dem Pflaster!
PUNTSCHU.
Was soll denn ich erst sagen, der ich mein ganzes Vermögen dabei verliere! Morgen früh habe ich das Vergnügen, den Kampf um eine gesicherte Existenz zum sechsunddreißigstenmal aufzunehmen!
MAGELONE
sich vordrängend.
Aber träum ich denn oder hör ich nicht recht?! Die Jungfrauaktien sollen gesunken sein??
PUNTSCHU.
Noch tiefer gesunken als Sie! – Sie können sie auch beim Lockenbrennen verwerten!
MAGELONE.
O du allmächtiger Gott! Zehn Jahre Arbeit!
Sie sinkt in Ohnmacht.
KADIDJA.
Wach auf, Mama! Wach auf!
BIANETTA.
Sagen Sie, Herr Puntschu, wo werden Sie heute zu Abend essen, weil Sie doch Ihr ganzes Vermögen verloren haben?
[366]PUNTSCHU.
Wo es Ihnen beliebt, mein Fräulein! Führen Sie mich, wohin Sie wollen; aber rasch! Hier wird es jetzt fürchterlich.
Puntschu und Bianetta verlassen den Salon.
HEILMANN
ballt seine Aktie zusammen und wirft sie zu Boden.
Das hat man von dem Pack!
LUDMILLA STEINHERZ.
Warum spekulieren Sie auch auf die Jungfrau? Schicken Sie doch einige kleine Notizen über die Gesellschaft hier an die deutsche Polizei, dann gewinnen Sie schließlich doch noch was dabei.
HEILMANN.
Ich habe das noch nie in meinem Leben versucht, aber wenn Sie mir dabei behilflich sein wollen ...?
LUDMILLA STEINHERZ.
Lassen Sie uns in ein Restaurant gehen, das die ganze Nacht geöffnet ist. Kennen Sie den Fünffüßigen Hammel?
HEILMANN.
Ich bedaure sehr –
LUDMILLA STEINHERZ.
Oder Das Saugkalb oder den Rauchenden Hund? – Das liegt alles hier in der Nähe. Wir sind dort ganz unter uns. Bis zum Morgengrauen haben wir einen kleinen Artikel fertig.
HEILMANN.
Schlafen Sie denn nicht?
LUDMILLA STEINHERZ.
O gewiß; aber doch nicht bei Nacht!
Heilmann und Ludmilla Steinherz verlassen den Salon durch die Entreetür.
ALWA
seit längerer Zeit über Magelone gebeugt, die er aus ihrer Ohnmacht zu wecken sucht.
Eiskalte Hände hat sie! Ach – ist das ein prachtvolles Weib! – Man müßte ihr die Taille aufknöpfen! – Komm, Kadidja, knöpf deiner Mutter die Taille auf! Sie ist so furchtbar fest geschnürt.
KADIDJA
ohne sich vom Platz zu rühren.
Ich fürchte mich.
Lulu kommt aus dem Speisezimmer in Jockeimütze, rotem Jackett, weißen Lederhosen und Stulpstiefeln, einen Radmantel um die Schultern.
LULU.
Hast du noch bares Geld, Alwa?
ALWA
aufblickend.
Bist du verrückt geworden?
LULU.
In zwei Minuten kommt die Polizei. Wir sind angezeigt. Du kannst ja hierbleiben, wenn du Lust hast!
[367]ALWA
aufspringend.
Allbarmherziger Himmel!
Lulu und Alwa durch die Entreetür ab.
KADIDJA
ihre Mutter schüttelnd, unter Tränen.
Mama! Mama! Wach doch auf! Alle sind fortgelaufen!
MAGELONE
zu sich kommend.
Und die Jugend dahin! – – Und die schönen Tage dahin! – – Oh, dieses Leben!
KADIDJA.
Aber ich bin doch jung, Mama! Warum soll denn ich kein Geld verdienen! – Ich mag nicht mehr ins Kloster. Ich bitte dich, Mama, behalte mich bei dir!
MAGELONE.
Gott segne dich, mein Herzblatt! Du weißt ja nicht, was du sprichst. – Ach nein, ich werde mich nach einem Engagement an einem Varietétheater umsehen und den Leuten mein Mißgeschick mit den Jungfrauaktien vorsingen. So was wird immer beklatscht.
KADIDJA.
Aber du hast ja keine Stimme, Mama!
MAGELONE.
Ach ja, das ist ja wahr!
KADIDJA.
Nimm mich doch mit in das Varietétheater!
MAGELONE.
Nein, es zerreißt mir das Herz! Aber wenn's denn nicht anders sein soll, und es ist dir mal so bestimmt, dann kann ich nichts daran ändern! – – Wir können ja morgen zusammen in die Olympiasäle gehen!
KADIDJA.
O Mama, wie ich mich darauf freue!
EIN POLIZEIKOMMISSÄR
in Zivil, vom Korridor eintretend.
Im Namen des Gesetzes – Sie sind verhaftet!
CASTI-PIANI ihm müde folgend. Aber was machen Sie denn da für Unsinn? Das ist ja gar nicht die Rechte!
[368]