Franziskas Abendlied

Weiß die Mutter doch so gut,
Wann die Äpfel reifen.
Und ihr eigen Fleisch und Blut
Will sie nicht begreifen!
Wenn ich nicht so trostlos wär,
Ging's mir wohl um Treue;
Kommt das Glück von ungefähr,
Folgt ihm keine Reue.
Seht euch nur dies Leben an,
Hühner, Enten, Gänse –
Drüben schwingt der Schnittersmann
Schon die blanke Sense.
Baut ich auf den lieben Gott,
Baut auf meine Karten,
Ward bei beiden mir zum Spott,
Lernte fleißig warten!
Zwanzig Sommer sind vorbei,
Armes kurzes Leben –
Hast nun einen süßen Mai
Heimlich doch gegeben!
Ist die Nacht nicht gar so still,
Stiller wird's am Tage;
Weiß man einmal, was man will,
Scheut man keine Plage.
Mütterchen zergrübelt sich,
Streicht die weißen Haare,
Träumt so mancherlei für mich,
Träumt sich nicht das Wahre.
[476]
Schrecklich ist die Einsamkeit
Nur auf Gottes Erden.
Schön ist auch ein Glück zu zweit,
Will's zu dritt nicht werden.
Kommen viele Jahre noch,
Langes kaltes Sterben;
Durft ein einzig Mal ich doch
Um mein Schicksal werben!
Not und Schande, Angst und Pein,
Alles will ich tragen.
Wird es nur kein Mägdelein,
Will ich gar nicht klagen.
[477]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wedekind, Frank. Gedichte. Die vier Jahreszeiten. Herbst. Franziskas Abendlied. Franziskas Abendlied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-94A3-5