12
Niemand war in den Stuben. Das Bett, in welchem Karen gestorben, war hinausgeschafft worden.
Christian schritt eine Weile auf und ab, dann ließ er sich am Tische nieder und stützte den Kopf in die Hand. Er dachte: Ruth hat Karen weggerufen, Ruth wird noch viele wegrufen; was ist die Welt ohne Ruth? Ruth war von allem der Kern, von allem die Seele. Und was ist geschehen mit Ruth, was ist eigentlich mit ihr geschehen? Etwas ungeheuer Gräßliches, ungeheuer Verworfenes, aber auch ungeheuer Geheimnisvolles. Es zu ergründen, mußte man jegliches andre Gefühl und Geschäft hintansetzen, jede Lust, jeden Schmerz, jegliches Vorhaben; Nahrung, Schlaf und selbst das Schauen.
Er dachte über die Verwirrung nach, die Karens Tod in ihm erzeugt hatte. Es war so viel leerer Raum um ihn, seit Karen fort war; der Raum schrie nach ihr und wurde nicht still; Trauer löste sich nur widerstrebend los; dies Dasein war so grell und heftig gewesen wie ein brennender Berg. Man horchte in die geronnene Luft; der Berg war versunken, und an seiner Stelle dehnte sich wüstes Gelände weit.
Es schallten Schritte, die Tür öffnete sich, Niels Heinrich trat ein.
Er nickte geringschätzig gegen den Tisch hin, wo Christian saß. Er trug einen steifen Hut, zurückgeschoben, und behielt ihn auf dem Kopf. Er schaute sich um wie jemand, der eine ausgeschriebene Wohnung mieten will. Er ging in die zweite [315] Stube, kam wieder zurück, stellte sich frech vor Christian hin und schnitt eine Grimasse.
»Was wünschen Sie?« fragte Christian.
Es müßten die Sachen abgeholt werden, antwortete Niels Heinrich, die Witwe habe ihn hergeschickt. Er nannte seine Mutter stets die Witwe. Seine Fistelstimme drang bis in die Ecken. Kleider, Wäsche, Stiefel, überhaupt das Eigentum der Verstorbenen müsse ausgeliefert werden, nachgezählt, fortgeschafft.
Ruhig sagte Christian: »Ich hindere Sie nicht. Tun Sie, was Ihnen beliebt.«
Niels Heinrich pfiff leise durch die Zähne. Er drehte sich um und gewahrte Karens Holzkoffer, der in einem Winkel stand. Er zog ihn in die Mitte der Stube, und da er verschlossen war, hieb er erst mit der Faust, dann mit dem Stiefelabsatz auf den Deckel. Christian sagte, es sei nicht nötig, Gewalt anzuwenden, den Schlüssel habe die Isolde Schirmacher. Da kehrte sich Niels Heinrich schroff zu ihm und fragte, ob da die Perlen drin seien? Als Christian verwundert schwieg, fügte er hinzu, und sein Ton wurde immer gereizter, die Witwe habe ihm die Ohren vollgeblasen von einer Perlenschnur mit Perlen, so groß wie Taubeneier. Wem die zufielen? Die hätten doch zweifelsohne der Verstorbenen gehört, die habe er doch zweifelsohne dem Mädchen geschenkt; wem die zufielen? Die müßten doch der Familie zufallen, wolle er hoffen, den rechtmäßigen Erben, da würden doch hoffentlich keine Fisematenten gemacht.
»Sie sind im Irrtum,« entgegnete Christian kalt; »die Perlen haben Karen nicht gehört. Sie gehören meiner Mutter, und ich war durch ein Versprechen verpflichtet, sie ihr zurückzugeben. Ich werde sie bei nächster sicherer Gelegenheit nach Frankfurt schicken.«
Niels Heinrich stand eine Weile unbeweglich; in den Augen kochte grüne Wut. Soso, ließ er sich endlich vernehmen, nun wolle der Herr vermutlich die Firma liquidieren? Ein armes, [316] dämliches Weibsluder betakeln, sie jahrelang an der Nase herumführen, bis sie hin sei, und dann nicht mal was Anständiges für die trauernden Hinterbliebenen berappen. Aber so billig komme der Herr nicht davon, da habe er, Niels Heinrich, auch noch ein Wörtchen dreinzureden. Und wenn der Herr nicht mit einer tüchtigen Portion Pimperlinge herausrücke, dann könne er was erleben. Dann solle er mal erfahren, wer Niels Heinrich Engelschall sei. Dieser Toback lobe sich selbst, wie es bei Nathusius immer geheißen habe. Er lachte schallkurz und krätschte die Beine.
»Ich weiß, wer Sie sind, aber ich fürchte Sie nicht,« sagte Christian mit einem beinahe heiteren Gesichtsausdruck.
Niels Heinrich stutzte. Sein unsicher werdender Blick fiel auf Christians feine, schmale und gepflegte Hände. Plötzlich musterte er seine eigenen Hände, streckte sie aus, spreizte die Finger. Diese Gebärde interessierte Christian ungemein, er konnte sich über den Grund keine Rechenschaft geben. Der ganze Mensch fesselte ihn auf einmal von einer Seite, die er bisher nicht wahrgenommen hatte, lediglich wegen der Gebärde mit den Händen. Niels Heinrich bemerkte es und stutzte von neuem.
Ob das alles sei, was der Herr zu erwidern habe? forschte er finster; der Herr verstehe sich ja aufs Hochdeutsche, da sei nicht dran zu tippen, und wenn der Herr wünsche, könne auch er, Niels Heinrich, sich hochdeutsch ins Benehmen setzen, weshalb denn nicht? Aber wenn man von Familie sei, von einer so hochnobligen außerdem, wo die Millionenzucht im Schwange sei wie beim Pächter Rademacher die Kaninchenzucht, sei es schofel, sich zu drücken wie ein Zechpreller. Man verlange ja nicht gerade die Perlen. Man verzichte auf die Perlen, obschon er es dahingestellt sein lasse, ob das mit dem leihweisen Geschenk nicht ein Aufsitzer und blitzblauer Humbug sei, ein Gentleman täte so was jedenfalls nicht. Aber Abfindung, die verlange man, darauf bestehe man, das sei[317] man seiner Ehre schuldig, das hätte sich die Verstorbene auch sicherlich so gedacht.
Er musterte wieder seine Hände.
Christian sah ihn aufmerksam an. Er antwortete: »Sie befinden sich auch in dieser Hinsicht im Irrtum. Ich verfüge nicht über Geldmittel. Meine Bewegungsfreiheit ist, was das Geld betrifft, geringer als die Ihre, geringer als die irgendeines Menschen, der durch Arbeit sein Brot verdient.« Er unterbrach sich, als er das Hohnlächeln Niels Heinrichs wahrnahm. In dem Lächeln war so viel Gemeinheit, daß es ihn förmlich blendete.
An die Geschichten glaube er nicht, versetzte Niels Heinrich, und wenn er dafür sollte gerädert werden; der Herr möge ihm sagen, was dahinter stecke, dann werde ers vielleicht glauben; aber es müsse ja einer Regenwürmer im Kopfe haben, um so was zu tun. Der Herr möge ihm sagen, was dahinter stecke, dann gehe ihm vielleicht ein Seifensieder auf. Daß etwas dahinter stecke, wolle er gerne glauben; wer konnte wissen, was für schauderbare Sachen der Herr auf dem Gewissen habe; Herr Papa und Frau Mama verweigerten den Kies und er mache blümerante Flausen. Aber man könne dem Herrn noch allerlei Widerwärtigkeiten bereiten; es gebe ohnehin manche, nicht bloß in der Stolpischen Straße, sondern auch anderswo, denen der Liebeshandel zwischen ihm und der ermordeten Jüdin nicht recht koscher erscheine; er, Niels Heinrich, wisse dies und das, andre wüßten andres, der Herr werde gleichfalls seinen Teil wissen, und werde Farbe zu bekennen haben, wenn man ihm ordentlich auf den Leib rücke. Man brauche bloß an geeigneter Stelle eine Silbe zu reden, und der Herr werde sich noch deutlicher als bisher in den Zeitungen gedruckt lesen, in schöner Eintracht mit dem Bluthund Joachim Heinzen. Da liege dann der Hase im Dreck; oder, um sich hochdeutsch auszuquetschen, da sei dann der Herr bis über die Ohren kompromittiert.
[318] In Christians Miene zeigte sich nicht die leiseste Spur von Empörung oder Ekel. Er schaute mit gesenkten Augen vor sich hin, als denke er darüber nach, wie er möglichst sachlich erwidern könne. Dann sagte er: »Ihre versteckten Drohungen schrecken mich ebensowenig wie die offenen. Wo man meinen Namen nennt und unter welchen Umständen, gesprochen, geschrieben oder gedruckt, berührt mich nicht im mindesten. Kompromittiert werden kann ich in gar keiner Weise. Niemand hat durch seine Meinung oder durch sein persönliches Verhältnis Einfluß auf mich, auch die nicht, die mir früher am nächsten gestanden sind. Es ist das also der dritte Irrtum, den ich Ihnen rauben muß. Allem, was Sie vorgebracht haben, fehlt die reale Unterlage, besonders Ihrer Anspielung auf meine Beziehung zu Ruth Hofmann. Darüber ist keinem Menschen etwas bekannt, und ich habe mich zu keinem Menschen darüber geäußert. Ruth hat es gewiß nicht getan. Mit welchem Recht maßen Sie sich also ein Urteil an, und noch dazu ein so schimpfliches? Sie ahnen gar nicht, wie weit es von der Wahrheit entfernt ist. Trotzdem wundert es mich, daß Sie von ihm eine Wirkung erwarten, und daß Sie annehmen, eine so falsche und inhaltlose Beschuldigung könnte mich treffen oder ängstigen. Aber wollen Sie nicht lieber Platz nehmen? Sie stehen so feindselig da. Es ist gar kein Anlaß zu Feindseligkeit zwischen uns, ich wollte Ihnen das schon längst sagen. Wenn Sie über etwas noch im unklaren sind, was mich oder Ihre verstorbene Schwester angeht, will ich Ihnen mit Vergnügen Auskunft geben; dafür möchte ich auch Sie bitten, mir ein paar Fragen zu beantworten. Setzen Sie sich doch.« Er wies höflich auf einen Stuhl.
Diese Worte, diese Ruhe, diese Höflichkeit verblüfften Niels Heinrich außerordentlich. Er war auf ein Aufbrausen gefaßt gewesen, auf zornige oder stolze Zurückweisung; auf die übliche Gegendrohung, mit der ein unverhüllter Erpressungsversuch wie der seine abgefertigt zu werden pflegt; auf Bestürzung,[319] auf Kleinmut schließlich; auf diese Höflichkeit war er nicht gefaßt gewesen. Sie war so grundverschieden von allem, was er im Verkehr mit Menschen erfahren hatte, daß seine Augen eine Weile bloß rund stierten, als habe er einen Unzurechnungsfähigen vor sich, dessen Gebaren halb lächerlich, halb mißtrauenerweckend war. Er griff nach dem Stuhl und setzte sich: angriffsbereit und hämisch geduckt.
»Der Herr redet wie 'n Linksanwalt,« spottete er; »der Herr könnte bei Jericht sein Ilücke machen. Wat wolln Se mir denn fragen? Schießen Se man los. Nur keene Bange nich. Und da sich der Herr einer so jebildeten Rede befleißigt, kann ich mir ja den unjewaschenen Schnabel 'n bisken pomadisieren. Ick versteh mir, wie jesagt, ooch uf jebildet. Ick laß mir in dem Punkte nich lumpen. Habe sogar als kleener Junge mal in 't Jymnasium jerochen. Die Witwe hatte damals noch Ambitionen.«
Der Hohn klang auf einmal mühselig; er biß auf das Eisen der Kette.
»Sie erwähnten vorhin Joachim Heinzen,« sprach Christian; »Sie sagten, er sei ein Bluthund. Ist das wirklich Ihre Meinung über ihn? Sie waren ja oft mit ihm beisammen, Sie müssen eine ziemlich genaue Kenntnis seines Charakters haben. Halten Sie ihn wirklich für fähig, einen Mord zu begehen? Ich bitte, überlegen Sie sich Ihre Antwort noch einen Augenblick; es hängt viel davon ab. Warum sehen Sie mich so an? Was ist denn?« Christian erhob sich unwillkürlich, denn der Blick, den Niels Heinrich auf ihn heftete, war geradezu furchtbar.
Wozu er solchen Blödsinn frage? erwiderte Niels Heinrich beinahe schreiend und erhob sich in derselben Sekunde; was das denn heißen solle? Eine Pappschachtel lag auf dem Tisch; er nahm sie in die Hand und schleuderte sie wieder hin. Der Unvorsichtigkeit seines Ausbruchs innewerdend und ihn bereuend, meckerte er. Weshalb denn nicht fähig? fuhr er lauernd [320] fort, mit farblosen, gleitenden Augen; habe Heinzen die Jüdin abgemurkst, so müsse ers selber am besten wissen. Wie der Herr dazu komme, sich in so was einzumischen, ob er vielleicht ein Achtgroschenjunge sei, ein Spitzel? »Ich kenne den Menschen,« sagte er, immer mit farblosen, gleitenden Augen, denen er vergeblich Stetigkeit zu geben versuchte, indes das fahle, schlaffe Muskelwerk des Gesichts sich wieder zu festigen anfing, »ich kenne den Menschen. Freilich, wie soll man eenen auskennen? Hatte keenen blassen Schimmer davon, daß er dergleichen im Hirne wälzte. Der Deiwel muß ihn jeritten haben; Jift muß er jesoffen haben. Sagt es ihm oft; Junge, sagt ick ihm, det wird noch 'n beeses Ende nehmen.« Er steckte die Fäuste in die Hosentaschen, machte ein paar Schritte und lehnte sich prahlerisch an den Ofen.
Christian trat auf ihn zu. Ruhig sagte er: »Mein Eindruck war, daß er lügt. Er belügt den Richter, er belügt sich. Er weiß nicht, was er spricht, er weiß nicht, was er tut, und er weiß nicht, wessen er sich bezichtigt. Sind Sie denn nicht auch der Meinung, daß sein Geist gänzlich verworren ist? Er ist sicher nur das Werkzeug eines andern. Es muß ein entsetzlicher Zwang auf ihn ausgeübt worden sein, und unter diesem Zwang hat er Angaben gemacht, die ihn so stark belasten, daß er sich bereits rettungslos verstrickt hat. Wenn nicht ein Wunder geschieht, oder der wahre Schuldige entdeckt wird, ist er verloren.«
Niels Heinrichs Hals ward wie ein Stengel. Der Adamsapfel schlickerte nervös. Alle Haut an ihm war weiß, ausgenommen die Ohren, die die Röte rohen Fleisches hatten. »Möchten Sie mir mal gütigst erklären, Verehrtester: was kümmert Sie denn eigentlich die ganze Angelegenheit?« fragte er in der Fistel, die oben brach; fragte es mit einem unerwarteten Verlassen seines rüden Jargons, von dem nur die Schärfe und rhythmische Gehacktheit blieben; »was ziehen Sie denn da für Schlüsse? Wo wollen Sie denn damit hinaus? [321] Und was, zum Henker, geht mich das alles an? Möchten Sie mir das mal gütigst erklären?«
»Es geht Sie insofern an,« erwiderte Christian tiefaufatmend, »als Sie doch häufigen Umgang mit Joachim Heinzen gehabt haben und mir möglicherweise einen Fingerzeig geben können. Sie müssen sich doch bestimmte Gedanken über den Fall machen. Die Sache muß Sie, so oder so, irgendwie berühren. Da nun nach meiner unerschütterlichen Überzeugung Heinzen der Mörder nicht ist, nicht sein kann, und er zugleich, wovon ich ebenfalls durchdrungen bin, unter der Beeinflussung des wirklichen Mörders handelt, so muß dieser unter den Leuten zu finden sein, mit denen Heinzen zu tun hatte. Ich kann mir nicht denken, daß er nicht jedem einzelnen in dem Kreis aufgefallen sein sollte, denn es muß ein Mensch sein, der sich von den andern wesentlich unterscheidet. Daß er dem Arm der Gerechtigkeit bis jetzt entschlüpft ist, bestätigt nur meine Ansicht über ihn; aber wissen muß man von ihm, übersehen werden konnte einer nicht, der das zu tun imstande war. Und deswegen wollte ich mich an Sie wenden. Wären Sie nicht gekommen, so wäre ich zu Ihnen gegangen.«
Niels Heinrich grinste. »Zu liebenswürdig,« sagte er mit verzerrten Lippen, »hätte mich kolossal jefreut.« Beklommenheit und wühlende Erregung verriet sich an den krampfhaft emporgezogenen Brauen. Er suchte sich zu sammeln, stotterte aber dennoch, als er fortfuhr: »Soso. Das ist also Ihre Überzeugung. Unerschütterliche Überzeugung; soso. Und woher nehmen Sie denn die, wenn es jestattet ist, zu fragen? Warum soll er sie denn nich abjemurkst haben, wo er es doch bei Jericht freiwillig gestanden hat? Warum denn nicht, wenn man fragen darf? Is doch aufgelegter Quatsch, das alles. Haben Sie sich höchsteijenhändig aus den Redaktionsfingern jelutscht, Verehrtester. Wie kommen Sie denn dazu?«
»Das will ich Ihnen sagen,« antwortete Christian, dessen Gesichtsausdruck von Minute zu Minute grübelnder wurde; [322] »ein Mensch wie dieser Joachim Heinzen konnte nicht fähig gewesen sein, Ruth zu töten. Zu töten! Was das allein bedeutet. Und Ruth zu töten! Nein, es ist vollständig ausgeschlossen. Er ist ja ein Schwachsinniger. Viele glauben, eben deshalb sei ihm die Tat zuzutrauen. Aber ein Schwachsinniger konnte Ruth nicht töten. Wenn man sich auch vorstellt, daß er einem tierischen Instinkt gehorcht hat, in einer bestialischen Raserei alle Selbstbeherrschung, ja alle Menschenähnlichkeit verloren hat; bis zum Letzten konnte er nicht gelangen, bis zum Mord niemals. Dieser Mensch nicht. Es ist vollständig ausgeschlossen. Ich habe mir seine Hände angesehen. Seine Hände und seine Augen. Es ist vollständig ausgeschlossen.«
Er machte eine Pause. Niels Heinrich lehnte noch am Ofen, die Hände hinter sich, zwischen Rücken und Kacheln.
Christian fuhr mit leiser, aber ungemein klarer und eindringlicher Stimme fort: »Es ist darum ausgeschlossen, weil er eben die entscheidenden Eigenschaften dafür nicht besitzt. Ich habe getrachtet, mich so tief in ihn zu versetzen, als es möglich war. Es ist mir gelungen, alle andern Gedanken und Vorstellungen auszuschalten, um mir ein Bild seines Charakters zu machen, sowie auch von der Rolle, die er bei der Tat gespielt haben müßte. Und wenn ich ihn mir in der scheußlichsten Entfesselung denke, in der scheußlichsten tollwütigsten Gier, so sage ich mir: im letzten Augenblick wäre er Ruth gegenüber unterlegen. Wenn er den Arm aufgehoben und Ruth ihn angeschaut hätte, wäre er, so wie er ist und ich ihn beurteile, schwach geworden. Er hätte sich auf die Knie geworfen und vor ihr gewinselt; er hatte eher sich selbst umgebracht als ihr ein Leid zugefügt. Und hätte sie ihm einmal einen Funken von Besonnenheit, einen Funken von Empfindung eingehaucht, so hätte sie ihn auch ganz für sich gewonnen. Sie werden einwenden: das sind Hypothesen und Vermutungen; aber das ist durchaus nicht der Fall, wenn [323] man weiß, wer Ruth war. Haben Sie sie gekannt? Sind Sie ihr nie begegnet?«
Diese unbefangene, harmlose Frage rief eine geisterhafte Fahlheit in Niels Heinrichs Gesicht hervor. Er murmelte etwas und zuckte die Achseln.
»Sie werden ferner einwenden: derselbe Zwang, unter dem er seine Geständnisse ablegt, hätte ihn ja auch zum Mord treiben können. Was tut nicht alles ein Mensch in der Verfinsterung und Manie; ein so niedriger, brutaler, haltloser Mensch. Aber seine Geständnisse haben nach meiner Ansicht gar keinen Wert. Sie sind ihm eingegeben und befohlen, das merkt man ja. Er verwickelt sich in Widersprüche, hat heute vergessen, was er gestern behauptet, und Folgerichtigkeit liegt nur in der Art, wie er immer wieder sich selbst beschuldigt. Nicht nur Folgerichtigkeit liegt darin, sondern auch etwas andres, nämlich Verzweiflung und Entsetzen, und das äußert sich nicht so, wie es sich bei einem Schuldigen und von seinem Gewissen Gefolterten äußern müßte, sondern so wie bei einem Kind, das eine Nacht lang in einem finstern Raum hat verbringen müssen, wo es von einem unheimlichen und grausigen Gespensterspuk bis in den innersten Grund der Seele verstört worden ist. Sein Gewissen hätte doch eben durch das Geständnis erleichtert werden müssen; es zeigt sich aber das Gegenteil. Wie ist das zu erklären? Und dann: er soll Ruth an einen verborgenen Ort gelockt haben. Natürlich, es muß ja ein verborgener Ort gewesen sein, wenn es nicht im Wald oder auf freiem Felde war. Aber trotz der sorgfältigsten Nachforschungen hat man diesen Ort noch nicht zu ermitteln vermocht, und in keinem Verhör hat Heinzen dazu überredet werden können, ihn anzugeben. Es wird ihm ununterbrochen mit Fragen zugesetzt; über diesen Punkt schweigt er beharrlich oder antwortet ungereimtes Zeug. Man hat zweierlei Erklärungen dafür. Die eine ist, daß er einen Komplizen schonen will, dessen Spur man sofort finden würde, wenn der Schauplatz [324] des Verbrechens bekannt wäre; die andre, daß eine jener Gedächtnisstörungen, sogar völliges Aufhören der Erinnerung eingetreten ist, wie man es bei geistig Anormalen bisweilen wahrnimmt. Ich glaube weder an das eine, noch an das andre. Er weiß den Ort gar nicht; das ist meine Ansicht. Er war bei der Verübung des Mordes vielleicht gar nicht zugegen. Es ist möglich, daß er schwer betrunken war oder aus einem trunkenen Zustand eben zu sich kam, als er die Leiche neben sich erblickte. Es ist möglich, daß er durch den Anblick der Leiche zu der fürchterlichen Täuschung kam oder durch irgendwelche Kniffe dazu gebracht wurde, sich selbst für den Mörder zu halten ...«
Niels Heinrich trat einen Schritt vor. Seine Kinnlade schlotterte. Ihm war auf einmal wie in einem Platzregen glühender Steine. Ein finster grausendes Erstaunen malte sich in seinen Zügen. Er hatte schweigen gewollt; er hatte höhnen gewollt; er hatte gehen gewollt; er hatte nichts und doch alles begriffen; er wollte kalt sein und ahnungslos scheinen, denn da rückte die Gefahr heran, die endliche Gefahr, die Rache, das Schwert, der Strick, das Beil. Da rückten sie heran; dennoch war er nicht imstande, sich zu bemeistern; es war stärker als alles. »Mensch,« kam es orgelnd aus der schluckenden Kehle, »Mensch ...« Dann, in der dämonischen Angst, daß er durch sein Benehmen die Gefahr nur vergrößert: das könne man ja nicht aushalten, das greife einem an die Nerven; was habe man denn zu schaffen damit? Und wieder Verstummen vor dem ein wenig blinzelnden Blick Christians, gespanntes Hinstarren und Lauern; jetzt durfte man ihn nicht mehr außer acht lassen, jetzt wurde die Geschichte sengerig, jetzt hieß es, sich seiner Haut wehren. Was würde es denn noch quasseln, das verdammte Maul?
Christian ging zum Fenster und kehrte zurück; umkreiste den Tisch und kehrte zurück; er hatte die Regung Niels Heinrichs wahrgenommen; er hatte davon den Eindruck gehabt, [325] wie wenn ein Reifen platzt und Schleimiges aus den Dauben quillt, doch wurde dies erst später greifbar; er hatte nur das sonderbare Gefühl, eine Bestätigung erfahren zu haben, und wollte Gedankengänge und innerlich Geschautes, dem er selbst noch zaghaft gegenüberstand, weiterentwickeln. Er sagte: »Um Ruth an den Ort zu locken, wo sie getötet worden ist, dazu bedurfte es einer gewissen Verschlagenheit. Es mußten umsichtige Vorbereitungen und Vorsichtsmaßregeln getroffen werden, die sich auch bewährt haben, wie der Erfolg zeigt. Aber nach der Aussage aller Zeugen, die ihn kennen, fehlt Heinzen hiezu jegliche Eignung. Er wird als so blöde geschildert, daß er sich nicht einmal einen Namen oder eine Zahl merken konnte. Und den Mord verübte er dann mit der ganzen brutalen, mitleidlosen Gewalt eines vertierten Wollüstlings, wird angenommen. Die kriminalistischen Sachverständigen behaupten, diese Mischung von Tücke und Brutalität sei das Charakteristische solcher Individuen und Verbrechen. Das mag schon sein. Aber es ist nichts damit erwiesen. So einfach war es hier nicht. Ruth ist einen andern Weg gegangen als den zu Joachim Heinzen.«
»Einen andern? Und welchen denn? Ei, ei!« quakte Niels Heinrich. »Kieck mal an, da kriste de Motten. Da muß doch gleich ne olle Wand wackeln.« Er griff nach seinem Hut, den er zu Beginn des Gesprächs an den Schrankaufsatz gehängt hatte, schob ihn verwegen aufs Ohr und schickte sich an zu gehen. Christian wußte aber, daß er nicht gehen würde, und er folgte Niels Heinrich mit einem Blick, der leidenschaftlich fragte. Sein Gemüt war schrecklich bewegt.
Niels Heinrich ging wirklich nur bis zur Tür. Dort drehte er sich um, mit einer verkniffenen, spähenden Miene, langte scheinbar gleichgültig in seine Tasche und zog einen kleinen Revolver hervor. Mit der einen Hand hielt er ihn, mit den Fingern der andern spielte er am Hahn und an der Sicherung: scheinbar gleichgültig und wie um sich zu zerstreuen.
[326] Christian beachtete das perfide Spiel mit der Waffe nicht; er sah es kaum. Er stand in der Mitte des Zimmers, und in der unhemmbaren Erregung, von der er gepackt war, preßte er die Rechte auf die Augen. Er sagte: »Ich habe es vielleicht nur geträumt, daß sie sich freiwillig entschlossen hat, zu sterben. Mord, ja, es war Mord, aber sie hat ihre Einwilligung dazu gegeben. Diese letzten Stunden von ihr! Sie müssen unerhört gewesen sein, das Letzte der Welt; kein Gefühl kommt dahin. Schritt für Schritt; und dann hat sie selbst um das Ende gebeten. Ich habe es vielleicht nur geträumt, aber es ist, als hätte ichs gesehen ...«
Er brach ab, denn ein scharfer, peitschenartiger Knall erschallte. Ein Schuß war losgegangen. Einer der Stühle am Tisch erzitterte. Die Kugel war in das Stuhlbein gefahren; aber sie hatte auchs Niels Heinrichs Handrücken gestreift, und aus der Wunde, die einem Schnitt glich, strömte Blut. Er fluchte erbost und schüttelte sich.
»Sie haben sich verletzt!« rief Christian teilnehmend und trat auf ihn zu. Doch lauschten beide noch; wie Verschworene lauschten sie gegen die Tür. Die Dazwischenkunft eines Dritten schien jedem von ihnen unerwünscht. Obgleich die Detonation gering gewesen, war sie in den Nachbarwohnungen gehört worden; Türen wurden aufgerissen; man vernahm fragende, schimpfende, ängstliche Stimmen, und nach einigen Minuten wurde es wieder still. Die Leute waren an allerlei Alarm gewöhnt und beruhigten sich schnell.
Niels Heinrich wickelte sein nicht ganz sauberes Sacktuch um die blutende Hand; indessen war Christian ins Nebenzimmer geeilt und brachte Wasser im Krug und ein reines Tuch. Er wusch die Wunde und verband sie kunstgerecht. Dabei verfuhr er mit solcher Zartheit und Sorgfalt, daß ihn Niels Heinrich mit angestrengt gerunzelter Stirn und einer düsteren Scheu betrachtete. Dergleichen war ihm, bei einem Mann wenigstens, noch niemals untergekommen. Er ließ es sich [327] gefallen: verächtlich, der Verachtung nicht recht sicher; er konnte nicht umhin, es sich gefallen zu lassen.
»Es hätte schlimmer ausgehen können,« murmelte Christian, als er fertig war.
Niels Heinrich antwortete nicht, und nun entstand ein ziemlich langes, merkwürdiges Schweigen.
»Nanu, was solls denn also?« stieß Niels Heinrich barsch hervor, denn er spürte die schreckliche Bedeutung dieses Schweigens.
Christian stützte die Hände auf die Stuhllehne und schaute Niels Heinrich an. Er war bleich und kämpfte um das Wort. »Wichtig wäre es, festzustellen, wo sich Michael während der ganzen Zeit versteckt gehalten hat, in der er verschwunden war,« begann er; und er sprach anders als vorher, hintastender, forschender, bebender, ungewisser, so als richte er während des Redens beständig Fragen an sich selbst; »es wäre äußerst wichtig. Michael ist Ruths Bruder; Sie werden gehört haben, daß er sechs Tage lang absolut unauffindbar war. Sooft ihn der Kommissär oder der Untersuchungsrichter darüber vernehmen will, bekommt er einen hysterischen Anfall. Man hat sich entschlossen, einstweilen zu verzichten, und überwacht ihn streng. Aber er rührt sich nicht aus der Stube und gibt keinen Laut von sich. Die Gerichtsärzte schütteln den Kopf; niemand weiß Rat. Es hängt alles davon ab, daß man ihn endlich zum Sprechen veranlaßt; es würde sicherlich Licht in das Geheimnis bringen; aber, wie gesagt, es wäre schon viel gewonnen, wenn man erfahren könnte, wo er sich versteckt gehalten hat.«
Niels Heinrich starrte finster bestürzt. Der Mensch wurde ihm immer fürchterlicher. In seinen Augen zuckte Fluchterwägung. »Wie soll ick denn dat wissen?« knurrte er; »det is mir überhaupt ejal. Wie soll ick denn dat wissen? Ick sagte Ihnen ja schon, wat jeht mir denn das an?« Er griff wieder zur Mundart, als schütze ihn die.
[328] »Ich dachte nur, daß man Ihnen vielleicht Gerüchte zugetragen hat, daß vielleicht Leute in der Gegend der Heinzenschen Wohnung etwas bemerkt oder gehört haben. Entsinnen Sie sich nicht?«
Die Frage war so ernst und mahnend, beinahe flehend, daß Niels Heinrich, statt dem Antrieb zum Zorn nachzugeben, aufhorchte, auf die Stimme horchte und das Aussehen eines mit Stricken Gefesselten hatte. Und da entsann er sich wirklich einer Kunde von solcher Art, die zu ihm gedrungen war. Es gab in seinem Bekanntenkreis eine Dirne namens Molly Gutkind; man hieß sie, wegen ihres fetten Leibes und der weißen Haut, die kleine Made. Sie war noch sehr jung, kaum siebzehn. Vor ein paar Tagen hatte man ihm erzählt, die kleine Made habe ziemlich lange Zeit einen Jungen bei sich beherbergt, habe ihn angelegentlich vor jedermann verborgen und sei überhaupt seitdem wie ausgewechselt; vorher munter und sorglos, sei sie nun melancholisch und gehe nicht mehr auf die Straße.
Man hatte ihm dies mitgeteilt, wie man ihn von allen Vorfällen in der Dirnen- und Zuhälterwelt unterrichtet; er hatte der Sache keine Beachtung geschenkt und sie aus dem Sinn verloren. Nun tauchte sie auf und paßte her; er witterte es, daß sie herpaßte, aber das Gefühl seiner Wehrlosigkeit gegen den Menschen wuchs dadurch, und außerdem war ihm, als schaue der Mensch in ihn hinein, als entreiße er ihm nicht nur Verschwiegenes und Verhehltes, sondern auch Vergessenes. Der Geschichte mußte nachgegangen werden; sie mußte in aller Heimlichkeit ergründet und geprüft werden. Um etwas zu sagen und sich loszureißen, murmelte er widerwillig, er wolle zusehen, was sich machen lasse, aber auf ihn rechnen solle der Herr mitnichten, zum Spionieren sei er nicht der richtige Mann. Er ging zur Tür, schief, schleifend, mit unentschlossenem, welkem Ausdruck; er rieb die Finger aneinander, die feucht geworden waren, zündete eine Zigarette an, fröstelte in der [329] Kälte, die ihm vom Flur entgegenschlug und stülpte den Kragen seines gelben Überziehers hoch.
Christian geleitete ihn artig bis zur Schwelle. Er sagte leise: »Ich hoffe, Sie bald zu sehen. Ich erwarte Sie.«
Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock blieb Niels Heinrich stehen und meckerte sinnlos in die Luft hinein.