Sechstes Lied
An die Sabinerin.
Dein gedenk' ich, Nazarene,
Wenn das Schiff mich nach dem Eiland
Theokrits, auf griech'sche Erde,
Nach der Heimat des Ulysses,
Ueber's weite Meer entführt.
Aber unsre Wünsche schwinden
Oft wie Rauch dahin; der Frühling
Er erfreut, und wir genießen
Wohl den Balsamduft der Blüten,
Doch die reifen Früchte nicht.
[82]
Glüht uns auch die volle Traube
Schon entgegen, lechzt der Gaumen
Nach dem Trunke, so entführet
Uns der Gott im Sinnenrausche
Den gebornen süßen Wein.
Nie mehr soll ich denn die Felsen,
Nimmermehr die Feigenhügel,
Luft'ge holde Schattenwege
Der Kastanienhaine, nimmer
Mein Olevano mehr sehn?
Nimmermehr der Serpentara
Rauhe wilde Wand besteigen,
Nimmermehr die schönen Berge
Tief im Lichtblau eines sanften
Mädchenauges lächeln sehn?
Weil sie meinem Leben drohen,
Und mich hassen, wie den Pluto,
Der dem blumenvollen Enna
Mit verwegner Kraft die schönste
Schäferin hinweggeraubt?
Sei's denn, liebe Nazarene,
Ob wir auch uns wiedersehen,
Ob du mit dem Nonnenschleier
Auch vertauschest deine farb'ge
Feenhafte Zaubertracht,
Eine Schuld doch muß ich sühnen,
Eine andere begehend,
Einer meine Treue brechend,
Einer andern sie bewahrend,
Beiden meine Reue weihn.
[83]
Zwar die Schönste bleibst du immer
Deines reizenden Geschlechtes,
Zwar vollkommner malte Sanzio
Nie ein Weib, und nie Correggio
Einer Grazie Wunderbild.
Doch es gibt ein Herz voll Liebe,
Voll Geduld und Treu und Langmuth,
Wie's in seiner geist'gen Schöne,
So lebendig, leidend, fühlend,
Ariosto nicht besang.
Alles schuld' ich ihm, vor allen
Dieses Herz! Ich kann's nicht theilen,
Und damit nicht seine Leiden
Ueber unsern Frevel kommen,
Sag' ich dir mein Lebewohl!