28. An Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg

1780.


Stolberg, über der Stadt am schiffbaren Busen der Ostsee,
Wo du, mich einst zur Seite der Braut im Schatten des Frühlings
Grüßend, des Liebenden Glück durch Freundschaft glücklicher machtest:
Kränzt den Bord, der vor Alters die höheren Fluten zurückzwang,
Hoch und verwachsen, ein Wald voll Kühlung und ahndender Schauer.
Allda ruht' ich vom sinnenden Gang', am beschatteten Bergquell,
Horchend der lockenden Wachtel im grünlichen Rauche der Ähren,
Und dem Wogengeräusch, und dem fernher säuselnden Südwind.
Über mir wehten mit änderndem Grün die verschlungenen Buchen;
Und es strahlte verstohlen ein flüchtiger Schimmer der Sonne,
Jetzt auf den finstern Quell, und jetzt auf die blinkende Stechpalm',
Jetzo mir blendend aufs Lied des grauen ionischen Sängers.
Aber mit Einmal, siehe! da leuchtet' es: Hain und Gefilde
Schwanden in Licht; es erscholl, wie von tausend Nachtigallchören;
Und ein Gedüft, wie der Rosen, doch duftender, atmete ringsum.
Und nun trat aus dem Licht ein Unsterblicher: seine Gestalt war
Morgenglanz, sein Gewand ein feurigwallender Nordschein.
Zitternd verhüllt' ich mein Antlitz; allein der Unsterbliche nahm mich
Sanft bei der Hand, und Wonne durchschauerte meine Gebeine.
Und er begann zu reden, und sprach mit melodischer Stimme:
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Fürchte nicht, o Jüngling, den Maioniden Homeros,
Welchen du Einsamer oft mit herzlicher lauter Entzückung
Nanntest! Ich komme zu dir, nicht aus dem stygischen Abgrund;
Denn kein Aides herrscht, kein Minos richtet die Toten
Drunten in ewiger Nacht: ich komm' aus dem lichten Gefilde,
Wo auch mein Gesang zum Vater aller emporsteigt.
Als mit himmlischer Harfe der isaïdische Seher
Gott den unsichtbaren im Allerheiligsten feirte,
Sang ich mit irdischer Harfe den schwacherleuchteten Völkern
Stammelnd den sichtbaren Gott im Heiligtume der Schöpfung;
Und, gleich Davids, lohnte der Vater mein kindliches Stammeln.
Sorgsam pflückte mein Lied die Blume jeglicher Tugend,
Wie sie am schwächeren Strahle der göttlichen Wahrheit entblühte:
Unschuld, goldene Treu und Einfalt; dankende Ehrfurcht
Vor der Natur und der Kunst wohlthätigen Kräften, der Urkraft
Genien! flammende Liebe des Vaterlandes, der Eltern,
Und des Gemahls und des Herrn; und menschenerhaltende Kühnheit.
Diese schimmernden Blumen, erfrischt vom Taue des Himmels,
Gab ich, in Kränze geflochten, der jungen ionischen Sprache.
Denn zur Priesterin weiht' ich die keusche heilige Jungfrau
Im Orakel der hohen Natur: daß sie täglich mit Nektar
Sprengend die sternenhellen und töneduftenden Kränze,
Aus dem Getön weissagte; und Völker von Morgen und Abend
Beteten an die Natur, des Unendlichen sichtbare Gottheit.
Aber nun stürmte der Schwarm des barbarischen Wahns und der Dummheit
Wütend daher, und zerschlug den Altar, und vertilgte der Kränze
Viele; die Priesterin floh mit den übrigen kaum in des Felsens
Kluft, und starb. Und siehe! die Kränze meines Gesanges,
Unerfrischt vom Nektar der Jungfrau, dufteten welkend
Leiseren Laut, gleich fernverhallenden Harfentönen.
Oft zwar stieg in die Kluft ein Beschwörer, vom Geiste der Jungfrau
Nektar zu heischen; allein sie erschien, ein täuschendes Unbild,
Und antwortete nicht dem ungeheiligten Schwätzer.
Auch stieg manche hinab der lebenden Sprachen, der toten
Priesterin Kränze zu rauben; doch schnell verschwanden die Kränze
Unter der Buhlerin Hand: dann pflückte sie heimische Blumen,
Ähnlich jenen, und flocht weissagende Kränze; mit Opfern
Strömte das Volk in den Tempel, und horchte der Afterprophetin.
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Sohn der edleren Sprache Teutonia, die mit der jüngern
Schwester Jonia einst auf thrazischen Bergen um Orpheus
Spielte, von einerlei Kost der Nektartraube genähret;
Dann im Bardenhain, mit dem keuschen Volke der Freiheit,
Frei und keusch, die Gespielen verachtete, welche des Auslands
Klirrende Fessel trugen, von jedem Sieger geschändet:
Deine göttliche Mutter Teutonia, welche mein Klopstock
Von Siona geführt, mit Engelpalmen und Blumen
Vom edenischen Strome bekränzt' und zur Seherin Gottes
Weihete: sie nur verdient der Natur weissagende Kränze.
Auf! und heilige dich, daß du, ihr würdiger Herold,
Einen der Kränze, besprengt mit erfrischendem Nektar, heraufbringst.
Fleuch der Ehre vergoldeten Saal, des schlauen Gewinstes
Lärmenden Markt, und die Gärten der Üppigkeit, wo sie in bunter
Muschelgrotte ruht, und an der geschnittenen Laubwand.
Suche den einsamen Nachtigallhain, den rosenumblühten
Murmelnden Bach, und den See, mit Abendröte bepurpert,
Und im reifenden Korne den haselbeschatteten Rasen;
Oder den glatten Kristall des Winterstroms, die Gebüsche
Blühend von duftigem Reif, und in hellfrierenden Nächten
Funkelnde Schneegefilde, von Mond und Sternen erleuchtet.
Siehe da wird mein Geist dich umschweben mit lispelnder Ahndung,
Dich die stille Pracht der Natur und ihre Gesetze
Lehren, und meiner Sprache Geheimnisse: daß in der Felskluft
Freundlich erscheinend dir die Jungfrau reiche den Nektar.
Furchtbar ist, o Jüngling, die Laufbahn, welche du wandelst;
Aber zittere nicht: denn siehe! dich leitet Homeros!
Wie von der Sonne geführt am goldenen Bande, die Erde
Tanzet den wirbelnden Tanz; im Schmuck der Blumen und Früchte
Lächelt sie jetzt, und singt mit tausend Stimmen; doch jetzo
Hüllt sie ihr Antlitz in Wolken, umheult von Orkanen, des Weltmeers
Steigender Flur, und dem Feuer, das hinströmt; aber sie wandelt
Ruhig fort, und segnet mit Licht und Wärme die Völker:
Also wandle auch du, vom Kusse der Braut erheitert,
Und dem Lallen des Sohns am Busen des lächelnden Weibes;
Oder gehüllt in Schmerz, wann dir dein redlicher Vater
Starb, und die einzige Schwester, die frischaufblühende Rose!
Dreißig Monden daure die heilige Weihe; dann steige
Kühn und demutsvoll in die schaudrichte Höhle des Felsens.
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Unerschreckt vom Gekrächze der Raben, die dich umflattern,
Flehe der Priesterin Geist, empfang' in goldener Schale
Ihren sprudelnden Nektar, und sprenge den Kranz, der Odysseus
Tugenden tönt; den andern gebührt ein anderer Herold.
Diesen trag' in der hohen Teutonia Tempel. Der Welt nicht,
Aber der Nachwelt Dank sei dir Lohn, und über den Sternen
Unter Palmen ein Sitz zur Seite deines Homeros.
Also sprach er. Da ward mir, als ob mein Leben in Schlummer
Sanft hinflösse. Ein Meer von Morgenrot umrauschte
Wiegend meinen Geist mit tönenden Harmonieen.
Als ich endlich gestärkt der sanftumwallenden Kühlung
Schaudernd entstieg; da erwacht' ich, und siehe! Hain und Gefilde
Grünten wie vor; allein die niedergesunkene Sonne
Schien mir unter den Zweigen mit rötlichem Schimmer ins Antlitz.
Freudig und ernstvoll ging ich durch tauende Roggengefilde
Heim, und erreichte bald die kleine Pforte der Mauer,
Wo mir Ernestine mit ausgebreiteten Armen
Lächelnd entgegensprang, und zürnete, daß sie so lange
Mir umsonst in der Laube die süßen Kirschen gesparet.
»Aber du siehst ja so bleich, mein Lieber? Sage, was fehlt dir?«
Sprach sie und sah mich an. Allein ich wandte des Tages
Brennende Hitze vor, und sagte nicht, was geschehen war.

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TextGrid Repository (2012). Voß, Johann Heinrich. Gedichte. Oden und Elegien. 28. An Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg. 28. An Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8883-1