Viertes Kapitel.
Das erste Zusammentreffen.
Bei Tagesanbruch war kein Land mehr in Sicht. Vom wolkenlosen Himmel glänzte die Sonnenscheibe blendend auf den ungeheuern Kreis der Meeresfläche nieder. Das Wetter war herrlich, und als ob der Dampfer sich ebenfalls der Schönheit der Natur erfreute, glitt er rasch dahin und zerteilte, wie in freundschaftlichem Kampfe, die kecken, kurzen Wellen, die ihm eine frische Brise aus Nordwesten entgegentrieb.
Als der Steuermann das sechste Glas anschlug, verließ der Kapitän Pip die Kommandobrücke, auf der er die ganze Nacht geblieben war, und übergab dem Obersteuermann die Führung des Schiffes.
»Westlichen Kurs halten, sagte er noch.
– Schön, Herr Kapitän«, antwortete der zweite Offizier, der nun die Brücke bestieg.
– Die Backbordwache zum Deckwaschen!« lautete sein erster Befehl.
Statt unmittelbar seine Kammer aufzusuchen, hatte der Kapitän erst noch einen Rundgang angetreten, wobei er alles auf dem Schiffe mit scharfem, prüfendem Auge musterte.
Er ging bis auf das Vorderkastell und beobachtete hier, über den Steven hinausgebeugt, wie sich der Dampfer auf den Wellen hob und senkte. Dann suchte er das Hinterdeck auf und betrachtete längre Zeit das hellere Kielwasser. Von da aus begab er sich nach dem Oberlichte des Maschinenraumes und horchte aufmerksam auf das metallische Dröhnen der Bleuelstangen und der auf- und absteigenden Kolben in den Dampfzylindern.
Schon wollte er sich entfernen, als sich eine galonierte Mütze aus einer engen Öffnung erhob. Der erste Maschinenmeister, Mr. Bishop, betrat das Deck, um sich hier einmal an der frischen Morgenbrise zu erquicken.
Die beiden Offiziere drückten einander die Hände, blieben dann aber Auge in Auge schweigend vor einander stehen, während der Kapitän einen forschenden Blick in die Tiefe warf, wo das eiserne Ungetüm, die Maschine, arbeitete.
Mr. Bishop verstand die stumme Frage.
[35] »Ja, Herr Kommandant, es ist so!« sagte er mit einem leisen Seufzer.
Er erklärte sich nicht weiter. Der Kapitän schien durch die knappe Antwort jedoch hinlänglich unterrichtet zu sein, denn er stellte keine weitere Frage, sondern begnügte sich, sichtbar unzufrieden, mit dem Kopfe zu schütteln. Nachher setzten die beiden Offizier gemeinsam die vom Kapitän begonnene Besichtigung fort.
Noch gingen sie hier- und dorthin, als Thompson sichtbar wurde und das Spardeck bestieg.
Als dieser es auf der einen Seite betrat, kam auch Morgan von der andern herauf.
»Ah sieh, rief Thompson, da ist ja unser Herr Morgan. Na, haben Sie denn gut geschlafen, Herr Professor? Sind Sie zufrieden mit Ihrer schönen Kabine... Herrliches Wetter das, Herr Professor, nicht wahr?«
Morgan hatte instinktiv den Kopf umgedreht; er erwartete einen Passagier hinter sich zu sehen. Der Titel »Professor« konnte doch hier seiner bescheidnen Person nicht gelten.
Er kam aber nicht dazu, etwas auf die Anrede zu erwidern. Thompson hatte seine Rede plötzlich abgebrochen. Ihm schien ein andrer Gedanke durch den Kopf gefahren zu sein, denn er eilte spornstreichs die Treppe hinunter auf das Hauptdeck.
Morgan sah sich um, konnte aber nirgends einen Grund für dieses fluchtähnliche Verschwinden entdecken. Außer zwei Passagieren, die eben heraufgekommen waren, war das Spardeck völlig leer. Man hätte glauben können, das Erblicken der beiden Reisenden hätte Thompson vertrieben. Ihr Aussehen war jedoch keineswegs erschreckend... originell freilich und sonderbar, aber das ist doch etwas ganz andres.
Wenn es den Franzosen im Notfalle möglich ist, eine andre Nationalität als die ihrige anzunehmen, ohne die Zweifelsucht ihrer improvisierten Landsleute zu erwecken, so ist den Söhnen Albions eine solche Verwandlung doch ganz unmöglich. Um andre zu täuschen, haften am Engländer viel zu charakteristische Kennzeichen seiner Rasse, die zu verdecken ihm niemals gelingt.
Einer der beiden Passagiere, die hier herausgekommen waren und jetzt auf Morgan zuschritten. lieferte das schlagendste Beispiel für die Richtigkeit dieser Beobachtung: es war unmöglich, noch mehr Engländer zu sein. Er wäre sogar ein großer Engländer gewesen, wenn die Höhe seiner Gestalt genügt hätte, ihn als solchen zu bezeichnen. Übrigens war er ziemlich hager, jedenfalls um das [36] Gleichgewicht des Körpers zu sichern und um das Gesamtgewicht nicht zu überschreiten, auf das ein normal gebautes Menschenkind ein Recht hat.
Sein langer Rumpf ruhte auf langen Beinen, die wieder in lange Füße ausliefen, mit denen er so fest auftrat, als wollte er von dem Boden um sich gleich Besitz nehmen.
Doch von einem Engländer weiß man's ja: wo er auch hinkommt, ist es stets sein erstes, den Unionjack aufzupflanzen.
Seiner äußern Erscheinung nach hatte dieser Passagier viel Ähnlichkeit mit einem alten Baume. Dessen Knorren vertraten bei ihm runzliche Gelenke, die bei der geringsten Bewegung schabten und knarrten wie die Zahnräder einer schlechtgeölten Maschine. Was seinen Körper anging, fehlte es ihm jedenfalls an der nötigen Gelenkschmiere, und nach der ersten Beobachtung zu urteilen, mochte er wohl geistig ebenso schwer beweglich sein.
Das mußte man wenigstens annehmen, wenn man die Augen über das Gesicht des Mannes vom untern nach dem obern Teile des Kopfes schweifen ließ.
Da sah man zuerst eine lange, dünne Nase mit scharfer Spitze. An jeder Seite dieses gefährlichen Gebirgskammes brannten an der gewöhnlichen Stelle der Augen zwei kleine Kohlen, und darunter lag eine schmale Spalte, die nur, wer mit den Naturgesetzen vertraut war, als einen Mund erkennen konnte, welcher zu Bosheiten wie geschaffen aussah. Als Rahmen diente dem Bilde endlich ein Heiligenschein von lebhaftem Rot, der auf dem höchsten Teile des Schädels mit sorgfältig geglätteten, durch einen schnurgeraden Scheitel geteilten Haaren anfing und in unbestimmbare Spitzen eines wolkigen Backenbartes auslief. »Steifigkeit!« so schrien einen Scheitel und Backenbart förmlich an.
Das Gesicht im ganzen war eine Reihe von Buckeln und Tälern. Gott, der die Menschen mit seinen Händen formte, hatte in diesem Falle offenbar nur mit Faustschlägen gearbeitet, und das Ergebnis, dieses Gemisch von Feinheit, Malice, Bosheit und Steifigkeit wäre kein glückliches gewesen, wenn auf den bergigen Zügen, die an ein Gebiet vulkanischen Ursprungs erinnerten, nicht gleichzeitig das Bild einer ausgeglichenen, ruhigen Seele geleuchtet hätte.
Der seltsame Herr war in der Tat noch ruhiger, als man sich's vorstellen kann. Er ließ sich durch nichts hinreißen, erhitzte sich niemals, erhob niemals seine Stimme, die nur einen einzigen Ton hatte, lauter und wirkte damit wie der Generalbaß, der die andern Instrumente eines Musikstückes leitet.
[37] Der hier beschriebene Herr war auf dem Spardeck nicht allein. Er führte oder schleppte vielmehr eine Art wandelnde Festung hinter sich, einen noch größern Mann als er selbst, der auch verhältnismäßig dick und breit war, einen Koloß von überwältigender, aber gutmütiger Erscheinung.
Die beiden Gestalten traten an Robert Morgan heran.
»Haben wir das Vergnügen, Herrn Professor Morgan vor uns zu sehen? fragte der erste mit einer so harmonischen Stimme, als ob er gerade Kieselsteine zerkaute.
– Zu Ihren Diensten, meine Herren, antwortete Morgan mehr maschinenmäßig.
– Den sprachkundigen Begleiter der Reisegesellschaft?
– Wie Sie sagen.
– Ah, sehr angenehm, Herr Professor, versicherte mit eisiger Kälte der Herr, der mit den Fingern durch seinen hochroten Backenbart strich. Mein Name ist Saunders, augenblicklich Passagier.«
Morgan machte eine leichte Verbeugung.
»Da wir uns nun über das Nötigste klar sind, Herr Professor, erlauben Sie mir, Ihnen Herrn Van Piperboom aus Rotterdam vorzustellen, dessen Erscheinen den Reiseunternehmer, Herrn Thompson, ganz besonders in Verlegenheit zu setzen schien.«
Als er seinen Namen nennen hörte, verneigte sich der Herr Van Piperboom mit größter Höflichkeit.
Morgan sah den Wortführer mit einem gewissen Erstaunen an. Thompson hatte sich jedenfalls »salviert«. Doch weshalb hätte er sich beim Anblick seiner Passagiere beunruhigen sollen, und wie kam dieser Herr Saunders dazu, gegen den Angestellten genannten Thompsons eine solche Bemerkung fallen zu lassen?
Saunders äußerte sich nicht über seine Gründe. Sein Gesicht blieb ernst und kalt wie immer. Nur seine etwas hervorlugende Zungenspitze hätte Morgan bei näherer Kenntnis des Herrn verraten müssen, daß dieser eine recht treffende Bemerkung gemacht zu haben glaubte.
»Herr Van Piperboom, fuhr er fort, kennt ganz und gar keine andre Sprache als die holländische und hat sich bisher vergeblich bemüht, einen Dolmetscher zu finden, wie ich aus dieser Karte erkannt habe, womit er sich vorsichtigerweise versehen hat.«
[38] Saunders brachte bei diesen Worten eine Visitenkarte zum Vorschein, auf der Morgan lesen konnte:
Piperboom glaubte das auf der Karte ausgesprochene Gesuch wohl noch bekräftigen zu müssen, denn er sagte mit einer Flötenstimme, die mit seinen Körpermaßen in grellem Widerspruch stand:
»Inderdaad, Mynheer, ik ken geen woord engelsch...
– Da hat es Herr Piperboom schlecht getroffen, denn holländisch verstehe ich ebensowenig wie Sie.«
Der dicke Passagier setzte seine Anrede fort:
»...ach zal ik dikwyls Uw raad invinnen op die reis.«
Er begleitete seinen Satz mit einem liebenswürdigen Gruße und einem einnehmenden Lächeln.
»Wie, Sie sprechen nicht holländisch?... Bezieht sich denn das hier nicht auf Sie?« rief Saunders, indem er aus der Tiefe seiner Tasche ein Papier hervorholte, das er Morgan hinhielt.
Dieser ergriff das ihm vorgewiesene Blatt. Darauf stand außer dem Reiseprogramme Wort für Wort der Text der ersten Plakate, und ganz unten auch die auf den begleitenden Dolmetscher bezügliche Bemerkung, doch soweit verändert, daß sie nun lautete:
»Ein Professor der Universität von Frankreich, deralle Sprachen beherrscht, hat sich freundlichst herbeigelassen, sich den geehrten Herren Reiseteilnehmern als sprachkundiger Führer zur Verfügung zu stellen.«
Als Morgan das gelesen hatte, erhob er die Augen zu Saunders, richtete sie dann nochmals auf das Papier und sah sich hierauf überallhin um, als hoffte er auf dem Deck eine Erklärung für die Tatsache zu finden, die ihm unfaßbar vorkam. Da erblickte er Thompson, der sich über das Oberlicht des Maschinenraumes beugte und in die Betrachtung der Bleuelstangen und der Dampfzylinder versunken zu sein schien.
[39] Sofort ließ er Saunders und Piperboom stehen und lief, vielleicht etwas schnell, zu dem Agenten hin, dem er das unglückselige Programm entgegenstreckte.
Thompson schien diesen Überfall vorhergesehen zu haben... der Thompson, der sich immer Rat wußte.
Gemächlich und freundschaftlich schob er seinen Arm unter den Morgans und zog den erzürnten Dolmetscher ruhig, aber entschlossen, mit sich fort. Es sah ganz so aus, als ob sich zwei gute Bekannte friedlich von Regen oder schönem Wetter unterhielten.
Morgan war jedoch nicht der Mann, der sich mit solch leichter Münze abfinden ließ.
»Können Sie mir erklären, Herr Thompson, rief er heftig, was diese Zusicherungen in Ihrem Programm bedeuten sollen? Habe ich wohl je ein Wort davon gesagt, daß ich alle Sprachen spräche?«
Thompson lächelte harmlos.
»Na, na, nur gemach, antwortete er besänftigend, dergleichen bringt das Geschäft nun einmal mit sich, lieber Herr!
– Eine Unwahrheit läßt sich damit aber niemals entschuldigen«, entgegnete Morgan trocken.
Thompson zuckte verächtlich mit den Achseln. »Ach was, was zur Reklame gehört, könnte man doch niemals eine eigentliche Lüge nennen.«
»Sagen Sie mir nur, lieber Herr Morgan, worüber haben Sie sich im Grunde zu beklagen? Jene Bemerkung, behaupte ich, ist ja völlig zutreffend. Sind Sie denn nicht Franzose?... Sind Sie nicht Professor?... Haben Sie nicht auf der Universität von Frankreich studiert und Ihre Diplome nicht von dieser erhalten?«
Thompson schwelgte ordentlich in der Kraft seiner Beweisgründe; er lauschte seinen eignen Worten, er überredete sich selbst.
Morgan war nicht in der Laune, ein so nutzloses Gespräch weiter fortzuführen.
»Ja ja, Sie haben ganz recht, begnügte er sich ironisch zu antworten. Ich kenne natürlich alle Sprachen, das ist ja selbstverständlich.
– Nun also!... Wie, alle Sprachen? wiederholte Thompson. Das heißt natürlich nur, alle ›nützlichen‹ Sprachen. Freilich, das Wort ›nützliche‹ war vergessen worden. Na, wahrlich, das ist doch kaum der Rede wert!«
[40] [43]Morgan wies mit der Hand auf Piperboom hin, der aus einiger Entfernung dem Zwiegespräche in Gesellschaft von Saunders gelauscht hatte. Gegen dieses Beweismittel gab es keinen Widerspruch.
Thompson beurteilte das wahrscheinlich doch etwas anders, denn er knackte nur zerstreut mit den Fingern. Dann kam ein Laut wie »Lappalie« über seine zusammengepreßten Lippen, und darauf ließ er, sich ungezwungen auf den Fersen umdrehend, den jungen Mann einfach stehen.
Morgan hätte die Auseinandersetzung doch vielleicht noch weiter geführt, da bekamen seine Gedanken aber durch einen Zwischenfall eine andre Richtung. Eben trat nämlich ein Passagier aus dem zu den Kabinen führenden Gange und kam geraden Wegs auf ihn zu.
Blond, von hohem Wuchs und von anspruchsloser, doch sorgfältiger Eleganz, hatte dieser Passagier ein bestimmtes Etwas von einem »Nicht-Engländer« an sich, worüber Morgan sich gar nicht täuschen konnte. Er hörte sich auch mit Vergnügen, doch ohne Überraschung, in seiner Muttersprache anreden.
»Herr Professor, begann der Ankömmling mit einer Art ansteckender guter Laune, man hat mir gesagt, daß Sie sich als Dolmetscher an Bord befänden.
– So ist es, mein Herr.
– Und da ich, wenn wir in die Gebiete Spaniens kommen, jedenfalls Ihrer Unterstützung bedürfen werde, wollte ich, als Landsmann, mich Ihrem besondern Wohlwollen empfehlen. Erlauben Sie, mich vorzustellen: Roger de Sorgues, Leutnant im vierten Jägerregiment, gegenwärtig zum Zwecke der Erholung beurlaubt.
– Der Dolmetscher Robert Morgan steht ganz zu Ihren Diensten, Herr Leutnant.«
Die beiden Franzosen verabschiedeten sich voneinander. Während sein Landsmann nach dem Vorderteile ging, wendete sich Morgan wieder der Stelle zu, wo Saunders und der ungeschlachte Holländer gestanden hatten. Er fand sie jedoch nicht mehr: Saunders war verschwunden, und mit ihm der sanftmütige Piperboom.
Saunders war zuerst weggegangen, und augenblicklich seines sperrigen Begleiters ledig, spazierte er um den Kapitän Pip herum, dessen Verhalten ihn zu reizen schien.
Kapitän Pip hatte, das ließ sich nicht leugnen, auch sonderbare Züge und merkwürdige Gewohnheiten an sich.
[43] Wenn ihn irgendetwas, Kummer oder Freude, erregte und er in den »Seelenzustand« kam, wo der Mensch im allgemeinen das Verlangen nach einem Vertrauten empfindet, da blieb der Kapitän bis aufs äußerste zugeknöpft, da kam kein Wort über seine Lippen: erst nach Verlauf einer gewissen Zeit, nachdem sich in seinem Innern eine geheimnisvolle Arbeit abgespielt hatte empfand er das Bedürfnis, eine »verschwisterte Seele« zu finden, in deren Brust er ausschütten konnte, was ihn bedrückte. Hier sei gleich bemerkt, daß er diese »verschwisterte Seele« ohne Schwierigkeit fand, freilich hatte sie vier Füße und hielt sich stets gegen zwanzig Zentimeter hinter den Fersen ihres Herrn.
Von der Rasse der zottigen englischen Griffons, aber von nicht nachweisbarer Abstammung, hörte dieser treue Freund folgsam auf den Namen Artimon. Hatte der Kapitän einen Ärger oder ein Vergnügen, so rief er Artimon zu sich und vertraute seiner Verschwiegenheit die Gedanken, die ihm dabei aufgestiegen waren.
Am heutigen Morgen bedurfte der Kapitän ohne Zweifel notwendig eines Vertrauten, denn kaum war der Herr Bishop weg, als er eiligen Schrittes auf den Besanmast zuging und mit kurz abgerissener Stimme nach seinem Artimon rief.
Vollkommen gewöhnt an eine solche Aufforderung, erschien der abscheuliche schmutziggelbe Kläffer, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, sogleich vor ihm, setzte sich auf sein Hintergestell und erhob, mit allen Zeichen gespannter Aufmerksamkeit, die klugen Augen zu seinem Gebieter.
Der Kapitän Pip schwieg aber zunächst noch still. Was in ihm kochte, war noch nicht gar genug, herausgegeben zu werden. Noch eine Zeitlang blieb er stumm und unbeweglich stehen, nur seine Augenbrauen waren gerunzelt, und den Artimon ließ er in einer peinlichen Ungewißheit sitzen.
Jedenfalls wollte er sein Herz von einer Sorge, gewiß von keiner freudigen Erfahrung entlasten. Die verschwisterte Seele konnte sich darüber nicht täuschen, denn der Hund sah das an dem aufgespreizten Schnurrbart seines Freundes und an dem unheimlich leuchtenden Feuer seiner Augen, deren Pupillen vom Unmut weiter auseinandergedrängt erschienen.
Diesen wütenden Blick ließ der Kapitän, während er grausam seine Nasenspitze knetete, von den Kranbalken bis zum Hackbord und vom Hackbord wieder bis zu den Kranbalken hinschweifen. Nachdem er dann kräftig ins Meer hinuntergespuckt hatte, stampfte er mit dem Fuße auf und rief, indem er Artimon dazu gerade ansah, mit zornbebender Stimme:
[44] »Nein, die ganze Geschichte ist der reine Jammer, Herr!«
Artimon neigte wie verzweifelt den Kopf.
»Wenn uns nun so ein richtiges Wetterchen überfiele... wie?... Was denn dann, Master?«
Der Kapitän machte eine Pause und mißhandelte seine Nase von neuem.
»Das würde hübsch werden, Herr!« sagte er mit triumphierendem Nachdruck.
Die vertraulichen Mitteilungen seines Herrn waren niemals lang; Artimon glaubte deshalb, hiermit entlassen zu sein und hielt sich für berechtigt, nun einige Bewegung zu machen. Die Stimme seines Herrn fesselte ihn jedoch nochmals an seinen Platz. In den Zügen des Kapitäns spielte ein grimmiges Hohnlächeln, während er die Angaben des Prospektes ziemlich vernehmbar vor sich hinmurmelte:
»›Prächtiger Dampfer.‹ Ah... ja freilich!... Von › zweitausendfünfhundert Tonnen‹!«
Da erhob sich eine hohle Stimme zwei Schritte neben ihm:
»Bordelaiser Tonnen 1, Herr Kapitän!«
Pip beachtete die Unterbrechung nicht.
»›... und mit dreitausend Pferdekräften‹! fuhr er fort, Herr, das nenn' ich ›den Mund vollnehmen‹.
– Ponykräfte, Herr Kapitän, dreitausend kleine Ponies,« ertönte dieselbe Stimme.
Diesmal horchte der Kommandant etwas genauer darauf. Er warf dem frechen Störenfried einen zornigen Blick zu und entfernte sich dann, während sein passiver Vertrauter, der nun wieder zur Rolle des Hundes zurückkehrte, sich davonschlich.
Als Saunders – denn der war es, der jene Bemerkungen hingeworfen hatte – den Kapitän sich entfernen sah, überließ er sich einem Ausbruche von Heiterkeit, der sich zwar nicht in der gewöhnlichen Weise zeigte, doch von dem Zucken und Schütteln seiner Glieder deutlich verraten wurde.
Nach dem ersten Frühstück füllte sich das Spardeck bald mit Passagieren, von denen die einen gemächlich auf und ab spazierten und die andern, in Gruppen zusammensitzend, plauderten.
[45] Eine dieser Gruppen erregte besonders die Aufmerksamkeit Morgans. Sie bestand, fern von ihm auf dem Vorderteile des Spardecks, aus drei Personen, unter diesen zwei Damen. In der einen aber, die eben die letzte Nummer der Times durchflog, erkannte er die liebliche Erscheinung von gestern Abend, seine schöne Kabinennachbarin.
Ob verheiratet oder Witwe, jedenfalls war es eine Frau etwa im Alter von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren. Er hatte übrigens recht gehabt, sie reizend zu finden, denn im Sonnenschein machte sie einen eben so bezaubernden Eindruck wie im künstlichen Lichte.
Ihre Gefährtin war ein junges Mädchen von neunzehn bis zwanzig Jahren, der auffallenden Ähnlichkeit nach jedenfalls ihre Schwester.
Der zu der Gruppe gehörige Herr hatte auf den ersten Blick gerade nichts Anziehendes an sich. Klein, mager, mit herabhängendem Schnurrbarte und eingefallener Nase, sowie mit zwei Spürhundangen und doch unbestimmbarem Blicke... die ganze Erscheinung gefiel Morgan nicht im geringsten.
»Na, das ist ja am Ende gleichgültig,« sagte er für sich.
Dennoch konnte er seine Aufmerksamkeit nicht sogleich von dem Manne abwenden Eine unwillkürliche Ideenverbindung erinnerte ihn beim Anblick dieser unsympathischen Persönlichkeit an den Raucher, der ihn am verflossenen Abend zum Rückzuge vom Salonskylicht genötigt hatte.
»Jedenfalls ein eifersüchtiger Ehemann,« dachte Morgan, die Achseln zuckend.
In diesem Augenblicke verstärkte sich der Wind, der schon vom Morgen an die Neigung aufzufrischen gezeigt hatte, zu einer Art plötzlicher und kurzer Bö. Das Zeitungsblatt, worin die junge Frau las, wurde ihr aus der Hand gerissen und flatterte nach dem Meere zu. Morgan nahm sofort die Verfolgung des Flüchtlings auf und hatte das Glück, ihn gerade noch zu packen, als er für immer verschwinden wollte. Spornstreichs brachte er das Blatt seiner reizenden Nachbarin zurück, die ihm mit einem freundlichen Lächeln dankte.
Nach Verrichtung dieses leichten Ritterdienstes wollte sich Morgan eben feinfühlig zurückziehen, als Thompson ihm den Weg vertrat, nein, richtiger: sich auf ihn stürzte.
»Bravo, Herr Professor!... Bravo! rief er. Frau Lindsay, Fräulein Clarck und Herr Lindsay, gestatten Sie mir, Ihnen Herrn Robert Morgan, Professor der Universität von Frankreich, vorzustellen, der die Güte gehabt hat, für die Reisegesellschaft die undankbare Rolle eines Dolmetschers zu übernehmen, [46] was Ihnen noch einmal den Beweis liefern wird – wenn ein solcher überhaupt noch nötig wäre – daß die Agentur nichts verabsäumt hat, das Vergnügen und die Bequemlichkeit der Reisenden zu sichern.«
Thompson war prächtig, wenn er eine solche Tirade losließ, prächtig in seiner Kühnheit und seiner Überzeugungstreue, Morgan dagegen, was seine Person anging, in großer Verlegenheit. Durch sein Schweigen wurde er ja zum Mitschuldigen an jenen Unwahrheiten. Einen peinlichen Auftritt wollte er anderseits aber auch nicht hervorrufen. Thompsons Erklärung mußte ihm ja zum Vorteil sein. Jedenfalls würde man einem Professor mit mehr Achtung begegnen, als einem einfachen sprachkundigen Führer.
Eine Aufklärung bezüglich der vorliegenden Frage überließ er deshalb der Zukunft und verabschiedete sich einfach mit einer gemessenen höflichen Verbeugung.
»Das ist ja ein recht angenehmer Herr,« sagte Frau Lindsay, die Morgan mit den Blicken folgte, zu Thompson.
Thompson nahm einen vielsagenden Gesichtsausdruck an. Er warf nachdrucksvoll den Kopf in die Höhe, blies die Backen auf und spitzte die Lippen, um damit zu erkennen zu geben, eine wie hervorragende Persönlichkeit der Dolmetscher der »Seamew« wäre.
»Ich bin ihm um so mehr verbunden, mein Journal gerettet zu haben, nahm Frau Lindsay wieder das Wort, weil es eine Mitteilung enthält, die einen unsrer Reisegefährten betrifft, folglich auch uns alle ein wenig angeht. Urteilen Sie selbst,« setzte sie dann hinzu und las mit lauter Stimme:
»Heute, am 11. Mai, wird der vom Reisebureau Thompson und Kompagnie gecharterte Dampfer »Seamew« zu der von der Agentur veranstalteten Rundreise in See stechen. Wir hören, daß sich auch Herr E. T., ein Mitglied des Klubs der Selbstmörder, unter den Passagieren befindet. Das läßt erwarten, daß jedenfalls bald interessante Vorfälle zu berichten sein werden.«
»Wa... was? stieß Thompson hervor. Um Verzeihung, gnädige Frau, wollen Sie mir erlauben?...«
Damit nahm er Frau Lindsay das Zeitungsblatt schon aus der Hand und durchlas den betreffenden Satz mit größter Aufmerksamkeit.
»Wahrlich, das ist ein bißchen stark! rief er endlich. Was hat denn dieses Original hier vor? Und wer von den Reiseteilnehmern mag es wohl sein?
Thompson durchmusterte eilends die Passagierliste.
[47] »Der einzige, erklärte er, auf den die Anfangsbuchstaben E. T. passen, ist ein Herr Edward Tigg, der... Doch Achtung! Den sehen Sie dort ganz allein, die Augen aufs Wasser gerichtet, an den Wanten des Fockmastes stehen. Nur er kann gemeint sein. Er ist es ganz bestimmt. Aufgefallen war er mir ja nicht, und doch hat er ein so finstres, so unheildrohendes Gesicht!«...
Thompson wies dabei auf einen etwa vierzigjährigen Herrn mit gebräuntem Teint, gekräuselten Haaren und spitzem Barte, der übrigens einen recht guten Eindruck machte.
»Was ist denn das überhaupt mit diesem Klub der Selbstmörder? fragte Fräulein Clarck.
– Das wird Ihnen, geehrtes Fräulein Clarck, als Amerikanerin allerdings kaum bekannt sein. Der Verein der Selbstmörder ist eine ganz spezifisch englische Gesellschaft, wie ich zu behaupten wage, antwortete Thompson mit sichtbarer Selbstbefriedigung. Er besteht nur aus Leuten, die des Lebens überdrüssig sind. Ob daran bei ihnen schmerzliche Erfahrungen schuld sind oder nur die Qual der Langenweile, alle Mitglieder haben die Absicht, sich über kurz oder lang selbst umzubringen. Ihre Gespräche drehen sich nur um diesen heikeln Punkt und ihre Zeit vergeht damit, daß sie nach einer originellen Art und Weise suchen, ihrem Leben ein Ende zu machen. Ohne Zweifel rechnet dieser Herr Tigg nur auf einen unvorhergesehenen Vorfall während der Reise, um sich da auf seltene und aufsehenerregende Weise den Tod zu geben.
– Der arme Mann! riefen beide Schwestern gleichzeitig und mit einem bedauernden Blick auf den Verzweifelten.
– Ach, ich bitte Sie! sagte dazu Thompson, den die Sache weit weniger aufzuregen schien. Für das Weitere lassen Sie mich nur sorgen. Ein Selbstmord an Bord, na wahrlich, das wäre ja gar zu lustig! Erlauben Sie mir, Sie zu verlassen, gnädige Frau. Ich werde die Sache bekannt machen, damit alle auf diesen interessanten Passagier ein Auge haben.
– Es ist doch ein liebenswürdiger Mann, der Herr Thompson! meinte Dolly, als der redselige Manager sich entfernt hatte. Er kann unsern Namen kaum aussprechen, ohne einen schmeichelhaften Zusatz einzuflechten. Da ist die hübsche Miß Dolly hier und die reizende Mistreß Alice Lindsay da. Er erschöpft sich niemals!
– Kleine Närrin, wehrte ihr Alice mit mildem Ernst.
– Brummige Mutter!« gab ihr Dolly mit schalkhaftem Lächeln zurück.
[48] [51]Inzwischen hatten sich, einer nach dem andern, alle Passagiere auf dem Spardeck eingefunden.
Mit dem Wunsche, sich so viel wie möglich über die Reisegefährten, die ihm der Zufall beschert hatte, zu unterrichten, hatte Morgan sich eines Schaukelstuhls bemächtigt und betrachtete, die Passagierliste in der Hand, das Bild, das sich vor ihm aufrollte.
Die Liste enthielt zuerst die Offiziere, die Mannschaft und das sonstige Personal der »Seamew«. In dem Verzeichnisse fand Morgan auch seinen Namen an hervorragender Stelle.
Ehre, dem Ehre gebührt! Thompson machte mit dem Titel »General-Administrator« den Anfang. Dann folgte der Kapitän Pip und diesem unmittelbar der erste Maschinist, Herr Bishop. Gleich nachher aber stand der Herr Professor Robert Morgan aufgezeichnet. Der General-Administrator wollte seinen sprachkundigen Führer offenbar in Ehren gehalten wissen.
Den höchsten Autoritäten an Bord schloß sich dann der Obersteuermann an und diesem endlich die ganze Menge von Matrosen und dienstbaren Geistern. Morgan hätte, wenn's ihm eingefallen wäre, auch die Namen der Betreffenden lesen können: Flyship, Obersteuermann... Brown, Leutnant... Sky, Bootsmann, und dann die Namen der fünfzehn Seeleute und Schiffsjungen, den des zweiten Maschinisten und die der sechs Heizer, ferner die der sechs Stewards, der vier Stewardessen, der beiden Küchenvorsteher und endlich die zweier pechschwarzer Neger, deren einer furchtbar groß, der andre furchtbar mager war, so daß sie von einem Witzbold schon die Namen Mister Rostbeaf und Mister Sandwich bekommen hatten.
Morgan, der sich ja nur für die Passagiere interessierte, die in der Zahl von dreiundsechzig aufgeführt waren, übersprang jene öde Aufzählung. Er bemühte sich, von den Reiseteilnehmern zu erkennen, welche davon Familien bildeten, und den Gesichtern, die bei ihm vorüberkamen, die Namen beizulegen.
Das wäre freilich ein schwieriges und zu vielen Irrtümern Anlaß gebendes Unterfangen gewesen, wenn Thompson jetzt nicht die Rollen getauscht hätte und seinem Dolmetscher als Cicerone zu Hilfe gekommen wäre.
»Aha, ich sehe, was Sie beschäftigt, sagte er, neben ihm Platz nehmend. Wünschen Sie, daß ich Ihnen helfe? Es ist ja gut, daß Sie einige von den vornehmen Gästen der »Seamew« kennen lernen. Die Familie Lindsay brauche ich nicht besonders zu erwähnen. Ich habe sie Ihnen heute früh vorgestellt.
[51] Sie kennen schon Frau Alice Lindsay, eine steinreiche Amerikanerin, ebenso deren Schwester, Fräulein Dolly Clarck, und auch Herrn Lindsay, den Schwager der schönen Frau...
– Das ist ihr Schwager, sagen Sie? unterbrach ihn Morgan. Die Frau Lindsay ist also nicht verheiratet?
– Nein, sie ist Witwe,« antwortete Thompson.
Morgan wäre sehr in Verlegenheit gekommen, wenn er hätte sagen sollen, warum es ihm angenehm war, das zu erfahren.
»Doch weiter, fuhr Thompson fort, wir wollen mit Ihrer Erlaubnis mit der alten Dame anfangen, die Sie dort, zehn Schritte von uns, sehen. Das ist Lady Heilbuth, ein Original, die keine Reise ohne ihr Dutzend Hunde und Katzen unternimmt. Der hinter ihr steht, der steife Mann mit den Galons, das ist ihr Diener, der, wie gewöhnlich, den gerade bevorzugten Wauwau im Arme hält. Etwas weiterhin, das ist ein mir noch unbekanntes Pärchen. Es gehört aber nicht viel Scharfsinn dazu, zu erraten, daß es ein junges Ehepaar und hier auf der Hochzeitsreise ist. Der große, starke Herr, der alle Welt mit dem Ellbogen stößt, nennt sich Johnson. Der kann einen tüchtigen Schluck vertragen. Wenden Sie sich nun dem hintern Teile des Decks zu. Sehen Sie da den langen Herrn, der in den Falten seines Überrocks fast verschwindet? Das ist Hochehrwürden Cooley, ein hochgeachteter Geistlicher.
– Und die andre, stocksteife Persönlichkeit, die zwischen Frau und Tochter – denn dafür halte ich die beiden – immer hin- und herpendelt?
– Oho, sagte Thompson mit besonderm Nachdruck, das ist der hochvornehme Sir Georges Hamilton, die hochedle Lady Evangelina Hamilton und beider Tochter, Miß Margarett Hamilton. Ja, die verstehen sich auf ihre hohe Rangstellung! Wie sie schweigsam, ernst und fern von den andern dahinspazieren! Wer wäre hier, vielleicht mit Ausnahme der Lady Heilbuth, auch würdig, zum vertrautern Verkehr mit den Dreien zugelassen zu werden?«
Morgan sah den Agenten mit großem Interesse an. Amüsant war er jedenfalls, der vielseitige Mann; wenn nötig, ein Schmeichler mit gutem Mundwerk.
Nach Abschießung seines Pfeils hatte sich Thompson erhoben. Er liebte es nicht, lange bei einer Sache zu verweilen.
»Ich sehe weiter nichts von Bedeutung, mein lieber Professor, was ich Ihnen noch mitzuteilen hätte, sagte er noch. Die übrigen Passagiere werden Sie [52] ja mit der Zeit selbst kennen lernen. Erlauben Sie also, daß ich mich meinen Obliegenheiten wieder zuwende.
– Doch nur noch der andre große Herr, fragte Morgan weiter, der etwas zu suchen scheint, und den drei Damen und ein halber Knabe begleiten?
– Der dort? versetzte Thompson, nun, wissen Sie, das Vergnügen, dessen Bekanntschaft zu machen, soll Ihnen überlassen bleiben, denn wenn ich nicht irre, hat er es auf Sie abgesehen.«
Der betreffende Herr schien in der Tat plötzlich zu einem Entschlusse gekommen zu sein: er kam geradeswegs auf Morgan zu, vor den er grüßend hintrat, als Thompson sich schleunigst entfernte.
»Sapperment, lieber Herr, begann er, sich die Stirn abtrocknend, das war eine schwere Aufgabe, Sie zu finden. ›Vielleicht Herr Morgan?‹ habe ich einen nach dem andern gefragt. – ›Herrn Morgan? Kenne ich nicht!' lautete, Sie können's mir glauben, ein- und allemal dieselbe Antwort.«
Morgan war etwas erstaunt über die besondre Art der Einleitung eines Gesprächs. Bös durfte er darum nicht werden, denn eine Absicht, zu beleidigen, lag dabei gewiß nicht vor. Während der Worte ihres Herrn und Gebieters erschöpften sich die drei Frauen in graziösen Verbeugungen, und der Knabe stand mit weitaufgerissenen Augen da, aus denen eine ungeheuchelte Bewunderung hervorleuchtete.
»Darf ich fragen, mein Herr, mit wem ich die Ehre habe zu sprechen?« fragte Morgan ziemlich kalt.
Diese Kälte war nur zu natürlich. Besonders einnehmend sah er nicht aus, der große, etwas gewöhnliche Mann, dessen Äußeres eine Portion Grobheit, doch auch eine sichtbare Selbstüberhebung und große Wertschätzung seiner Familie verriet, die, ohne den Knaben zu zählen, aus einer schon etwas überreifen Frau und zwei dürren, beinahe häßlichen Töchtern bestand, welche wohl dicht an die Dreißig streiften.
»Natürlich!... Das versteht sich ja von allein, antwortete der beleibte Mann, doch ehe er die gewünschte Auskunft gab, sah er sich nach Sitzgelegenheiten für sich und die Seinigen um, und als er einige Stühle aufgeklappt hatte, machte sich's die ganze Familie darauf bequem.
»Setzen Sie sich doch auch,« forderte der noch immer Unbekannte Morgan mit einladender Handbewegung auf.
[53] Dieser folgte, entschlossen, der Sache die beste Seite abzugewinnen, der kurzen Einladung.
»Es ist doch immer besser, zu sitzen, nicht wahr? rief der dicke Mann, laut lachend. Ah, bald hätte ich's vergessen, Sie fragten ja, wer ich wäre. Mein Name ist Blockhead, überall, und das mit Ehren, bekannt in weiter Nachbarschaft. Die Gewürzhandlung Blockhead von der Trafalgar Street! Echt wie Gold, mein Herr, echt wie reines Gold.«
Morgans Gesichtszüge verrieten, daß er sich um diese Abschweifung nicht kümmerte.
»Jetzt fragen Sie mich vielleicht, wie ich, Blockhead, der geachtete Gewürzhändler, hier auf das Schiff gekommen bin. Da muß ich Ihnen gestehen, daß ich bis gestern das Meer noch niemals gesehen hatte. Etwas stark... He?... Doch, was glauben Sie, bester Herr, im Handel, da heißt's tüchtig auf dem Damme sein, wenn man nicht im Workhouse (Arbeitshaus, doch nicht Strafanstalt) enden will. Da werden Sie freilich einwenden: Aber der Sonntag, der Sonntag!... Einerlei, in dreißig Jahren sind wir noch mit keinem Schritte aus der Stadt gekommen, bis wir uns endlich, als die Verhältnisse es erlaubten, vom Geschäft zurückgezogen haben.
– Und nun wollen Sie die verlorne Zeit wieder einbringen? fragte Morgan, der sich wenigstens den Anschein eines interessierten Zuhörers gab.
– Na, so schnell geht's nicht weiter. Erst haben wir einmal gründlich ausgeruht, dabei begannen wir uns aber ebenso gründlich zu langweilen. Das Knurren und Murren der Ladendiener, das Bedienen der Kundschaft, alles das fehlte uns gar so sehr. Da habe ich nun schon oft zu Mistreß Blockhead gesagt: Mistreß Blockhead, wir sollten doch einmal eine kleine Reise machen. Sie wollte davon aber nichts hören, Sie verstehen wohl, es war wegen der Unkosten, bis mir endlich vor zehn Tagen eine Ankündigung des Thompsonschen Bureaus in die Augen fiel. Das war genau am einunddreißigsten Jahrestage, wo ich Georgina geheiratet hatte. Mistreß Blockhead heißt nämlich mit dem Vornamen Georgina. Da besorgte ich sofort die Billetts, ohne ein Wort davon zu sagen. Und wer war damit vor allem zufrieden? Das waren meine Töchter, die ich Ihnen hier vorstelle. Beß und Mary, begrüßt den Herrn einmal, wie sich's gebührt. Mistreß Blockhead hat freilich ein bißchen gebrummt; als sie dann aber hörte, daß ich für Abel – Abel ist nämlich mein Sohn, Herr Professor. Nimm hübsch die Mütze ab, Abel, Höflichkeit ziert den gebildeten Menschen!...[54] ja, mein Herr, daß ich für Abel nur den halben Preis bezahlt hatte, da gab sie klein bei. Abel wird erst am zweiten Juni zehn Jahre alt. Das trifft sich doch herrlich, meinen Sie nicht auch?
– Sind Sie denn nun mit Ihrem Entschlusse zufrieden? fragte Morgan, nur um etwas zu sagen.
– Zufrieden? rief Blockhead. Sagen Sie lieber: entzückt! Das Meer, das Schiff, die Kabinen! Braucht man einen Diener, flugs ist er zur Stelle! Das ist ja alles ausgezeichnet! Ich spreche, wie ich's meine, bester Herr. Echt wie Gold, Blockhead ist echt wie reines Gold, mein Herr Professor.«
Morgan antwortete nochmals mit einer flüchtigen Geste der Zustimmung.
»Das ist aber noch nicht alles, fuhr der unerschöpfliche Schwätzer fort. Als ich hörte, daß ich mit einem französischen Professor fahren würde, schlug mir das Herz gleich stärker; ich habe nämlich mein Lebtag noch keinen französischen Professor gesehen!«
Morgan, der sich zum Wundertier umgeprägt fühlte, verzog leicht das Gesicht.
»Da kam mir gleich der Gedanke, zwei Fliegen mit einem Schlage zu treffen. Nicht wahr, es wird Sie doch nicht belästigen, meinem Sohn ein paar französische Unterrichtsstunden zu erteilen? Die Anfangsgründe kennt er schon.
– Ah, Ihr Sohn hat also bereits...
– Jawohl. Er kennt zwar nur einen Satz, den aber aus dem Fundament. Abel, sage dem Herrn einmal deinen Satz her.«
Abel sprang sofort auf, und mit dem Tone eines Schulbuben, der eine auswendig gelernte Aufgabe, doch ohne alles Verständnis ihres Sinnes, ableiert, begann er französisch: »Daß die ehrbaren Gewürzkrämer lustige Käuze sind, darüber ist doch kein Wort zu verlieren!« Das sprach er wirklich mit französischem, fast mit Pariser Vorstadtakzent aus.
Morgan mußte laut auflachen, erregte damit aber den Unwillen Blockheads und seiner Familie.
»Da ist gar nichts zu lachen, knurrte der Gewürzhändler a. D. Abel kann keine schlechte Aussprache haben, denn es war ein französischer Maler, der ihn den Satz gelehrt hat.«
Um dem lächerlichen Zwischenfalle ein Ende zu machen, erklärte Morgan höflich, aber bestimmt, daß er auf das ihm gemachte Angebot nicht eingehen könne, da ihm seine Verpflichtungen hier keine Zeit dazu ließen, und um jeden [55] Preis wollte er den aufdringlichen Krämer von sich abschütteln, als ihm dabei ein glücklicher Zufall zu Hilfe kam.
Seit einiger Zeit lief Van Piperboom – aus Rotterdam – schon auf dem Spardeck hin und her, unermüdlich auf der Jagd nach dem Dolmetscher. Er hielt alle Reiseteilnehmer an und fragte einen nach dem andern, ohne eine andre Antwort zu erhalten, als eine Geste ohnmächtigen Unverständnisses. Bei jedem mißlungenen Versuch wurde sein Gesicht immer länger und dessen Ausdruck immer verzweifelter.
Einzelne, von dem Unglücklichen ausgestoßene Wörter drangen bis zu Blockhead heran, der dabei sofort die Ohren spitzte.
»Was für ein Herr ist das, fragte er Morgan, und welch drolliges Kauderwelsch spricht er?
– Ein Holländer, antwortete Morgan maschinenmäßig, und ein Reisegenosse, der sich nicht gerade in angenehmer Lage befindet.«
Auf das Wort »Holländer« hatte sich Blockhead erhoben.
»Komm mit, Abel!« befahl er streng.
Schnellen Schrittes und von seiner ganzen Familie in ehrerbietiger Entfernung begleitet, ging er davon.
Als Piperboom die sich ihm nähernde Gruppe gewahr wurde, ging er ihr entgegen. Kam hier endlich der ersehnte Dolmetscher?
»Mynheer, kunt U my den tolk van het schip wyzen? wendete er sich mit höflicher Verbeugung an Blockhead.
– Mein Herr, erwiderte dieser feierlich, ich hatte bisher noch nie einen Holländer gesehen, nun bin ich glücklich und stolz darüber, daß mein Sohn sich einen Zugehörigen dieses durch seinen Käse berühmten Volks betrachten kann.«
Piperboom machte große Augen; jetzt war ja die Reihe nichts zu verstehen an ihm, doch unbeirrt fuhr er fort:
»Ik verstaa U niet, Mynheer. Ik vraag U, of gij mij den tolk van het schip wilt...
–... wyzen,« vollendete Blockhead mit Selbstbefriedigung die Frage des Holländers. Als der dieses Wort vernahm, klärte sich sein Gesicht freudig auf. Endlich? Blockhead fuhr jedoch (englisch) fort:
»Das ist jedenfalls holländisch. Ich bin außerordentlich zufrieden, gleich etwas davon begriffen zu haben. Ja, das ist doch ein Vorteil, den man von einer großen Reise hat,« während seine Familie voll Bewunderung an seinen Lippen hing.
[56] Piperboom sah wieder niedergeschlagen aus: offenbar verstand ihn der hier ebensowenig wie die andern.
Plötzlich aber fing er an zu murren, als er Thompsons ansichtig wurde, den kannte er ja. Er hatte ihn gesehen, als er die Dummheit begangen hatte, sein Billett zur Fahrt zu nehmen. Jetzt mußte er finden, was er suchte, oder der Kuckuck sollte...
Thompson, der ihm noch hätte ebenso ausweichen können, wie er's am Morgen getan hatte, erwartete den Feind stehenden Fußes. Eine Auseinandersetzung mußte ja doch einmal erfolgen, und dann besser jetzt als später.
Piperboom trat mit ausgesuchter Höflichkeit vor ihn hin und begann mit seinem unvermeidlichen Satze: »Mynheer, kunt U mij den tolk van het schip w yzen?« Durch ein Zeichen deutete Thompson an, daß er ihn nicht verstände.
Piperboom wiederholte halsstarrig seine Worte, nur noch etwas lauter. Kühl abweisend machte Thompson dieselbe Bewegung wie vorher.
Piperboom entschloß sich noch zu einem dritten Versuche, diesmal aber mit so lauter Stimme, daß sich alle Passagiere nach ihm umwandten, sogar bis auf Flyship, der sich von der Kommandobrücke aus für den Vorfall zu interessieren schien.
Nur Thompson regte sich nicht über die Sache auf. Ruhig und stolz bekannte er seine Unwissenheit mit der wiederholten gleichen Bewegung.
Gegenüber dieser Kälte, dieser Nutzlosigkeit seiner Bemühungen, kam nun Piperboom aber außer Rand und Band. Seine Stimme steigerte sich zum Schreien. Mit ärgerlichen Gesten stieß er halb unartikulierte Laute hervor und warf als letztes Argument Thompson das berühmte, von ihm aus Wut zerknitterte Programm vor die Füße, das Programm, das ihm ein Bekannter wohl übersetzt haben mochte und auf dessen Inhalt vertrauend er sich zu der Reise entschlossen hatte.
Unter den vorliegenden Umständen erwies sich Thompson wie immer der Sachlage gewachsen. Ohne eine Miene zu verziehen, hob er das zerknüllte Blatt auf, glättete es sorgfältig, faltete es zusammen und schob es dann ruhig in seine Rocktasche. Erst hiernach richtete er den Blick auf Piperbooms Gesicht, worauf jetzt der Ausdruck unverhüllten Zornes lag.
Thompson erzitterte davor jedoch nicht.
»Mein Herr, sagte er trocknen Tones, obgleich Sie einen ganz unverständlichen Jargon sprechen, habe ich doch begriffen, was Sie denken. Sie entrüsten [57] sich über dieses Programm und glauben sich seinerhalb zu Vorwürfen berechtigt. War das aber Grund genug, sich in einen solchen Zustand zu versetzen? Pfui, mein Herr, das sind nicht die Manieren eines gebildeten Mannes!«
Piperboom erwiderte kein Wort auf diese herausfordernde Rede; er horchte nur gespannt darauf und erschöpfte sich mit übermenschlicher Anstrengung, etwas davon zu verstehen. Sein zaghafter Blick bewies jedoch, daß er daran verzweifelte.
Thompson triumphierte über die Niederlage seines Gegners, und, kühner geworden, trat er um zwei Schritte weiter vor, während Piperboom um ebensoviel zurückwich.
»Was haben Sie denn auszusetzen an dem Programm, mein Herr? fuhr er in verschärftem Tone fort. Sind Sie mit Ihrer Kabine unzufrieden? Haben Sie sich über die Verpflegung zu beklagen? Hat Ihnen jemand zur Bedienung gefehlt? Sprechen Sie, so sprechen Sie sich doch aus! Nun... also nichts von alledem! Warum erzürnen Sie sich aber dann? Wirklich nur, weil Sie, gerade Sie, keinen Dolmetscher finden?«
Thompson betonte die letzten Worte mit unverhüllter Mißachtung. Er war wirklich bewundernswert, wie er hier so heftige Worte hervorsprudelte, so fieberhaft gestikulierte und seinen offenbar gelähmten Gegner zurückdrängte. Bestürzt, mit weitaufgerissenen Augen und schlaff herabhängenden Armen hörte ihm der erschrockene Holländer zu.
Die Passagiere, die einen Kreis um die kriegführenden Parteien gebildet hatten, beobachteten voller Spannung den lärmenden Auftritt: die meisten singen schon an, darüber zu lächeln.
»Ist es etwa mein Fehler? polterte Thompson, den Himmel zum Zeugen anrufend. Was?... Wie?... Das sagen Sie?... Das Programm verspricht einen Dolmetscher, der alle Sprachen versteht?... Nun ja, das steht ja deutlich gedruckt zu lesen. Hat sich jemand von Ihnen – er wandte sich an die Um, stehenden – deshalb vielleicht zu beklagen?«
Thompson sah sich mit triumphierender Miene im Kreise um.
»Nein!... Also sind Sie es ganz allein, mein Herr! Ja, alle Sprachen kennt der Dolmetscher, natürlich aber die holländische nicht. Das ist ja überhaupt keine wirkliche Sprache, sondern nur ein Dialekt, höchstens ein Patois, mein Herr, dabei bleibe ich! Wenn ein Holländer verstanden zu werden erwartet, mein Herr, merken Sie sich das... da muß er hübsch zu Hause bleiben!«
[58] Ein donnerndes Gelächter brach in dem Kranze der Zuhörer aus, fand ein Echo bei den Schiffsoffizieren und verbreitete sich dann noch unter der Mannschaft bis hinab zum tiefsten Raume. Zwei Minuten lang wurde der Dampfer von einem wenig teilnahmsvollen, aber ununterdrückbaren Lachkrampfe erschüttert.
Thompson verließ kaltblütig seinen völlig niedergeschmetterten Feind und begab sich wieder auf das Spardeck, wo er, sich mit wichtiger Miene die Stirn abwischend, zwischen den hier verweilenden Passagieren umherspazierte.
Das allgemeine Gelächter war noch nicht verstummt, als die Glocke – es war die Mittagsstunde – zum zweiten Frühstück rief.
Thompson dachte jetzt sogleich wieder an Tigg, den er über dem Zwischenfall mit Piperboom vergessen hatte. Wenn man den Mann von seinem selbstmörderischen Vorhaben abbringen wollte, galt es unbedingt, ihn nach allen Seiten zufrieden zu stellen und ihm jedenfalls an der Tafel einen guten Platz anzuweisen.
Was Thompson jedoch jetzt sah, beruhigte ihn vollständig. Die Geschichte Tiggs trug bereits ihre Früchte. Gefühlvolle Seelen nahmen sich des Verzweifelten an. Von den beiden Töchtern Blockheads begleitet, war Tigg auf dem Wege zum Speisesaale, und zwischen diesen nahm er auch an der Tafel Platz. Es entspann sich ein ordentlicher Wettkampf, wer ihm ein Kissen unter die Füße schieben, ihm das Brot vorschneiden oder ihm die leckersten Speisen vorlegen sollte. Die beiden Mädchen entwickelten einen wirklich frommen Eifer und vernachlässigten nichts, in ihm wieder die Lust zu leben und vielleicht zu... heiraten zu erwecken.
Thompson setzte sich an der Mitte der Tafel nieder und Kapitän Pip ihm gegenüber. Als Nachbarinnen hatten die beiden Lady Heilbuth, Lady Hamilton und zwei andre vornehme Damen.
Die übrigen Passagiere hatten, wie es der Zufall fügte oder eine schon etwas nähere Bekanntschaft sie zusammenführte, in bunter Reihe Platz genommen. Morgan, der aus Höflichkeit einen Sessel am Ende der Tafel gewählt hatte, saß hier zwischen Roger de Sorgues und Saunders, nicht weit von der Familie Lindsay... ein Zufall, über den er sich nicht beklagte.
Zu Anfang verlief das Mahl unter allgemeinem Schweigen; als aber der erste Appetit befriedigt war, begannen zuerst Gespräche zwischen je zweien, dann folgten solche zwischen einzelnen Gruppen, bis endlich ein allgemeines Geplauder im Gange war.
[59] Nach Austragung des Nachtisches hielt es Thompson für angezeigt, einen der Gelegenheit angepaßten Speech zu halten.
»Meine Damen und Herren, rief er im Rausche selbstgefälligen Triumphes, ist es nicht wirklich herrlich, in dieser Weise zu reisen? Wer von uns würde nicht immer gern die Speisesäle der Hotels auf dem Lande gegen diesen schwimmenden Speisesaal vertauschen?«
Diese Einleitung fand einstimmigen Beifall. Thompson fuhr fort:
»Nun vergleichen Sie gefälligst einmal unsre Lage mit der auf einer Einzelreise. Allein auf die eignen Hilfsmittel angewiesen, darauf beschränkt, nur immer Selbstgespräche zu halten, bewegt man sich doch in bedauernswerter Weise von einem Orte zum andern. Wir dagegen genießen den Vorzug eines luxuriösen Unterkommens, und jeder findet unter den Reiseteilnehmern gewiß einen liebenswürdigen, passenden Gesellschafter. Wem aber, hochgeehrte Anwesende, wem verdanken wir alles das, wem verdanken wir es, für so verschwindend niedrigen Preis einen unvergleichlichen Ausflug machen zu können, wenn nicht der bewundernswerten Erfindung der Gesellschaftsreisen, die es, in einer neuen Form der Kooperation, jedem ermöglichen, deren Vorzüge mit zu genießen?«
Ermüdet von diesem langen Satze, schöpfte Thompson erst einmal tief Atem. Er wollte dann eben seine Lobrede fortsetzen, als ihm ein Zwischenfall das Konzept verdarb.
Schon seit einigen Minuten erbleichte der junge Abel Blockhead zusehends. Während er in der freien Luft noch verschont geblieben war von den ersten Symptomen der Seekrankheit, dieser so gewöhnlichen Wirkung des Wogenganges, der übrigens allmählich an Stärke zunahm, meldete sich bei ihm das peinliche Übel, sobald er das Deck verlassen hatte. Erst etwas gerötet, sah er nachher weiß aus, und die weiße Farbe verwandelte sich zu einer grünlichen, als eine anschlagende Woge die Krankheit zum Ausbruche brachte: während das Schiff in das Wellental zurücksank, beugte sich der Knabe über seinen Teller nieder.
»Eine tüchtige Dosis Ipekakuanha hätte auch nicht besser wirken können,« erklärte der phlegmatische Saunders unter allgemeinem Stillschweigen.
Der Zwischenfall erregte natürlich eine nicht geringe Störung. Mehrere Passagiere hatten sich voller Widerwillen abgewendet, und für die Familie Blockhead war er das Signal zu schleunigster Flucht. In einer Minute schillerten über die Gesichter ihrer Mitglieder alle Farben des Regenbogens hinweg, dann schnellten die beiden Töchter in die Höhe und entflohen in größter Eile, indem [60] sie Tigg seinem Schicksale überließen. Die Mutter trug ihren unglücklichen Sprößling auf den Armen davon, und ihren Spuren folgte Absyrthus Blockhead, der sich mit den Händen den auch schon rebellischen Magen hielt.
Als die dienstbaren Geister die Ordnung wiederhergestellt hatten, versuchte Thompson seine dithyrambische Ansprache fortzusetzen. Die Tischgenossen waren aber nicht mehr in der richtigen Stimmung. Mit erschlafften Zügen erhob sich jeden Augenblick einer von den Passagieren und verschwand, um in der freien Luft ein zweifelhaftes Hilfsmittel gegen das grausame und doch komische Leiden zu suchen, das immer mehr Opfer forderte. Bald war die Tafel von zwei Dritteln der Gäste verlassen, und nur die Seefestesten hielten noch auf ihrem Platze aus.
Zu diesen gehörten die Hamiltons. Wie hätte es die Seekrankheit auch wagen können, so hochvornehme Persönlichkeiten zu überfallen? Deren würdigen Ernst hatte nichts stören können. Sie speisten in gemessener Haltung weiter unter vollkommener Nichtbeachtung der Wesen, die sie umgaben.
Lady Heilbuth dagegen hatte zum Rückzug blasen müssen. Der Dame folgte ihr Diener, der, den erwählten vierbeinigen Liebling tragend, auch schon unverkennbare Vorzeichen der Krankheit verriet.
Unter den Überlebenden des Gemetzels befand sich ebenfalls Elias Johnson. Wie die Hamiltons, bekümmerte auch er sich nicht im mindesten um die übrige Welt, obwohl seine Interesselosigkeit keineswegs aus Mißachtung entsprang. Er aß; vor allem trank der Mann. Die Gläser vor ihm füllten und leerten sich wie durch ein Wunder und zum größten Entsetzen seines Nachbars, des Geistlichen Cooley. Auf Johnson machte das aber keinen Eindruck, er befriedigte seine Leidenschaft schamlos weiter.
Wenn Johnson dem Getränke huldigte, so hielt sich Van Piperboom – aus Rotterdam – ans Essen, und während das Ellbogengelenk des einen eine große Geschmeidigkeit erkennen ließ, handhabte der andre seine Gabel mit bemerkenswerter Maëstria. Jedes Glas, das Johnson trank, beantwortete Piperboom mit dem Verschlucken eines gewaltigen Bissens. Von seiner Wut jetzt völlig geheilt, zeigte er ein ruhiges, zufriedenes Antlitz. Offenbar hatte er sich mit der Sachlage abgefunden und seine Sorgen auf später verschoben... vorläufig ernährte er sich einfach, doch wirklich nicht zu wenig.
Ein Dutzend Passagiere, darunter Morgan, die Lindsays, Roger und Saunders, bekränzten mit den Genannten allein noch die große Tafel, an der Thompson und der Kapitän Pip wie vorher den Vorsitz einnahmen.
[61] Ein recht beschränkter Kreis, doch nach Thompsons Urteile nicht unwürdig, die ihm auf der Zunge brennende, so ungebührlich unterbrochene Rede weiter anzuhören. Das Schicksal war ihm aber feindlich gesinnt. Gerade als er den Mund auftun wollte, erschallte eine scharfe Stimme in dem herrschenden Schweigen.
»Steward! rief Saunders, während er seinen Teller verächtlich zurückschob, kann man denn hier nicht zwei Eier auf den Mann bekommen? So wie hier ist es ja wahrlich kein Wunder, daß wir so viele Seekranke haben! Bei einer so kärglichen Abspeisung bliebe auch der Magen einer alten Teerjacke nicht gesund!«
Das war nun freilich etwas übertrieben. Das Frühstück verdiente zwar nur die Zensur mittelmäßig, es war jedoch leidlich gut gewesen. Was kümmert das aber einen systematischen Unzufriedenen? Der Charakter dieses Saunders prägte sich ja deutlich genug in seinen Gesichtszügen aus. Was man in denen las, deutete leicht genug auf einen unbelehrbaren Nörgler hin. Eine recht angenehme Natur! Er hatte doch stets – mit oder ohne Veranlassung – vorher verborgene Gründe bei der Hand, sich an Thompson zu reiben und zwischen dem General-Unternehmer und den andern Zwietracht zu säen.
Ein halbersticktes Lachen durchlief die dünne Reihe der Tischgenossen. Thompson allein lachte nicht, und wenn er jetzt im Gesichte grün wurde, so war die Seekrankheit dafür sicherlich nicht verantwortlich zu machen.