Jules Verne
Ein Lotterie-Loos


1. Capitel

[5] I.

»Wie viel Uhr ist es? fragte Frau Hansen, nachdem sie die Asche aus ihrer Pfeife geschüttelt, deren letzte Rauchwölkchen sich zwischen den buntfarbigen Deckenbalken verloren.

– Um acht Uhr, Mutter, antwortete Hulda.

[5] – Es ist nicht anzunehmen, daß während der Nacht Reisende ankämen; das Wetter ist zu schlecht.

– Ich glaube auch nicht, daß Jemand kommt. Jedenfalls sind unsere Stuben in Stand gesetzt, und ich würde es gewiß hören, wenn Einer von draußen riefe.

– Dein Bruder ist noch nicht zurückgekommen?

– Noch nicht.

– Hat er nicht hinterlassen, heute wieder heimzukehren?

– Nein, Mutter. Joël bringt einen Reisenden nach dem Tinn-See, und da er erst ziemlich spät weggefahren ist, glaub' ich nicht, daß er vor morgen nach Dal zurückkehren kann.

– Er wird also in Moel übernachten?

– Wahrscheinlich, wenn er nicht noch bis Bamble fährt, um einen Besuch bei dem Pächter Helmboë abzustatten...

– Und bei dessen Tochter?

– Gewiß, auch um Sigrid, meine beste Freundin, zu sehen, die ich wie eine Schwester liebe! erwiderte lächelnd das junge Mädchen.

– Nun, so schließ' die Thür, Hulda; wir wollen schlafen gehen.

– Du bist doch nicht wieder leidend, Mütterchen?

– O nein, ich denke sogar, morgen recht frühzeitig aufzustehen. Ich muß nun einmal nach Moel...

– Nach Moel?... Warum?

– Ei, müssen wir nicht daran denken, unsere Speisekammern für die bevorstehende Jahreszeit gefüllt zu erhalten?

– So ist der Bote von Christiania mit seinem Wagen voll Speisen und Getränken in Moel schon eingetroffen?

– Ja, Hulda, diesen Nachmittag, bestätigte Frau Hansen. Lengling, der Werkführer in der Sägemühle, ist ihm begegnet und hat es mir im Vorübergehen mitgetheilt. Unsere Vorräthe an Schinken und geräuchertem Lachs sind stark zusammengeschmolzen, und ich mag nicht Gefahr laufen, deshalb erst in Verlegenheit zu kommen. Jeden Tag, vorzüglich wenn die Witterung sich bessern sollte, können die Touristen nun ihre Ausflüge durch Telemarken wieder beginnen. Unser Haus 1 [6] muß ebenso bereit sein, diese aufzunehmen, wie ihnen alles für ihren Aufenthalt Erforderliche liefern zu können. Weißt Du, Hulda, daß wir schon den fünfzehnten April schreiben?

– Ach ja, schon den fünfzehnten April! murmelte das junge Mädchen.

– Morgen also, fuhr Frau Hansen fort, werde ich alles Nöthige besorgen. Binnen zwei Stunden können meine Einkäufe abgemacht sein, die der Bote hierher schaffen mag, während ich mit Joël im Schußkarren zurückkomme.

– Wenn Du dabei den Postcourier träfst, liebe Mutter, so vergiß ja nicht zu fragen, ob er etwa einen Brief für uns hat...

– Vorzüglich einen für Dich! Das wäre wohl möglich, den Oles letztes Schreiben ist nun schon einen Monat alt.

– Ja, einen Monat... einen ganzen langen Monat alt!

– Sorge Dich darum nicht, Hulda, an einer solchen Verzögerung ist doch nichts zu verwundern. Und wenn der Postcourier von Moel nichts mitgebracht hätte, kann das, was über Christiania nicht eintraf, nicht etwa über Bergen kommen?

– Gewiß, liebe Mutter, darum härme ich mich auch nicht. Mir wird das Herz nur so schwer, weil es von hier bis nach den Fischgründen von New-Found-Land gar so weit ist. Von dort gilt es ein ganzes Weltmeer zu durchsegeln, und obendrein bei schlechtem Wetter. Nun ist mein armer Ole schon fast ein ganzes Jahr lang fort, und wer weiß, ob wir ihn überhaupt in Dal wiedersehen werden!...

– Wenn wir nur bei seiner Rückkehr noch hier sind!« murmelte Frau Hansen, aber so leise, daß ihre Tochter es nicht verstehen konnte.

Hulda schloß die Thür des Gasthauses, welche auf die Straße nach dem Vestfjorddal hinausführte, nahm sich aber gar nicht die Mühe, den Schlüssel nur einmal im Schlosse umzudrehen. In dem gastlichen Norwegen sind solche Vorsichtsmaßregeln entbehrlich. Man hält es hier für selbstverständlich, daß jeder Reisende, am Tage wie in der Nacht, müsse in das Wohnhaus der Gaards (Gehöfte) oder Säters (Landgüter) eintreten können, ohne daß ihm Jemand erst zu öffnen brauchte.

Eine Heimsuchung durch Landstreicher oder andere Uebelthäter ist hier weder in vereinzelten Pachthöfen, noch in den oft weit im Lande verlorenen Weilern zu befürchten, und kein verbrecherischer Anschlag gegen Gut oder Leben hat je die Sicherheit der friedlichen Bewohner gestört.

[7] Mutter und Tochter bewohnten zwei Stübchen an der Vorderseite des ersten Stockwerks der Herberge, zwei kühle saubere Stübchen, freilich mit einer nur bescheidenen Ausstattung, welche aber nirgends das Schaffen und Walten verständig sorgender Hände vermissen ließ. Darüber und unter dem Dache, das gleich dem einer Sennhütte ein Stück vorsprang, befand sich das Stübchen Joëls, welches durch ein, mit geschmackvoll geschnitztem Tannenholzrahmen versehenes Fenster erhellt wurde. Von hier aus umfaßte der Blick einen Horizont von mächtigen Bergen und konnte auch bis zum Grunde des engen Thales hinausschweifen, das der Maan – halb ein Bergbach, halb ein Flüßchen – murmelnd durchzog. Eine Holztreppe mit festem Geländer und spiegelblanken Stufen führte von der großen Stube des Erdgeschosses aus nach den oberen Stockwerken. Man konnte sich kaum etwas mehr Anheimelndes denken, als den Anblick dieses Hauses, in dem der Reisende eine, in den Landgasthöfen Norwegens seltene Bequemlichkeit vorfand.

Hulda und ihre Mutter bewohnten also das erste Stockwerk, wohin sie sich, wenn sie allein waren, stets zeitig zurückzogen. Schon hatte Frau Hansen, die einen buntfarbigen Glasleuchter in der Hand hielt, die ersten Stufen erstiegen, als sie plötzlich noch einmal stehen blieb.

Draußen klopfte es an die Thür und eine Stimme rief:

»He, Frau Hansen! Frau Hansen!«

Die Angerufene ging wieder hinunter.

»Wer könnte so spät noch kommen? sagte sie.

– Es wird doch Joël kein Unfall zugestoßen sein!« rief Hulda erschrocken.

Sie eilte sofort nach der Thür.

Vor derselben stand ein junger Bursche – einer jener halbwüchsigen Jungen, welche häufig als »Skydskarl« (Schußknecht) dienen, als welcher sie hinten auf dem Karren Platz nehmen und nach zurückgelegter Fahrstrecke das Pferd nach der betreffenden Station heimzuführen haben. Dieser hier war zu Fuß gekommen und stand dicht vor der Schwelle.

»Nun, was willst Du noch zu dieser Stunde? fragte Hulda.

– Zunächst Ihnen einen guten Abend wünschen, antwortete der Bursche.

– Ist das Alles?

– Nein, gewiß nicht, doch muß man zuerst nicht immer höflich sein?

– Du hast Recht. Doch wer sendet Dich?

– Ihr Bruder Joël schickt mich.


Der Junge ließ keinen Tropfen in der dargereichten Tasse. (S. 11.)

[8]

– Joël ... Und weshalb?« ließ sich Frau Hansen vernehmen.

Sie ging dabei mit jenem langsamen, gemessenen Schritte, der den Bewohnern Norwegens eigenthümlich ist, nach der Thür zu. In den Adern ihres Erdbodens mag sich vielleicht Quecksilber finden, in den Adern der Leute hier gewiß keines.

Jene Antwort hatte die Mutter aber offenbar etwas beunruhigt, denn sie beeilte sich, ihrer Frage hinzuzusetzen:

»Meinem Sohne ist doch nichts zugestoßen?

[9] – Doch! Mit dem Postcourier von Christiania ist ein Brief von Drammen eingetroffen...

– Ein Brief, der von Drammen kommt? sagte Frau Hansen, die Stimme senkend, rasch.

– Das kann ich nicht behaupten, antwortete der Bursche. Ich weiß nur, daß Joël vor morgen nicht nach Hause kommen kann und daß er mich hierher geschickt hat, um diesen Brief abzugeben.

– Ist derselbe denn so eilig?

– Es scheint so.

– Gieb her, sagte Frau Hansen in einem Tone, der ihre lebhafte Unruhe verrieth.

– Hier ist er ganz sauber und unzerknittert, für Sie ist der Brief aber gar nicht.«

Frau Hansen schien erleichtert aufzuathmen.

»Für wen denn? fragte sie.

– Für Ihre Tochter.

– Für mich! rief Hulda. Das ist bestimmt ein Brief von Ole, der über Christiania eingetroffen sein wird. Mein Bruder hat mich auf denselben nicht wollen warten lassen!«

Hulda hatte das Schreiben in Empfang genommen und nachdem sie den auf einem Tische niedergesetzten Leuchter herbeigeholt, sah sie die Adresse genauer an.

»Ja, es ist von ihm! Es ist wahrhaftig von ihm. O, könnte er mir melden, daß der »Viken« nun heimkehren wird!«

Inzwischen sagte Frau Hansen zu dem Burschen:

»Du kommst ja gar nicht herein?

– Nun, auf eine Minute. Ich muß noch heut' Abend zu Hause zurück sein, da ich morgen früh einen Schußkarren zu fahren habe.

– So nimm wenigstens den Auftrag mit, Joël zu sagen, daß ich morgen selbst kommen würde; er soll mich erwarten.

– Morgen Abend?

– Nein, im Laufe des Vormittags. Jedenfalls soll er Moel nicht verlassen, ehe er mich getroffen hat. Wir werden dann zusammen nach Dal zurückfahren.

– Abgemacht, Frau Hansen.

– Na, willst Du nicht einen Tropfen Branntwein?

[10] – Mit Vergnügen!«

Der junge Bursche hatte sich dem Tische genähert und Frau Hansen ihm ein wenig von dem landesüblichen stärkenden Aquavit vorgesetzt, der so vortrefflich gegen die Schädlichkeit der Abendnebel schützt. Jener ließ keinen Tropfen in der ihm dargereichten kleinen Tasse.

»God aften! sagte er dann.

– God aften, mein Junge!«

So lautet das norwegische Gute Nacht, das hier ganz einfach, ohne die geringste Neigung des Kopfes ausgewechselt wurde. Und der junge Bursche zog seines Weges, unbekümmert um die lange Strecke, die er noch zurückzulegen hatte. Bald schwand er unter den Bäumen des Fußsteiges, der den murmelnden Fluß begleitet, aus den Augen.

Hulda betrachtete inzwischen noch immer den Brief Oles, beeilte sich aber gar nicht, ihn zu öffnen. Doch man bedenke nur! Diese gebrechliche Papierhülle hatte den ganzen Ocean überschreiten müssen, um zu ihr zu gelangen, das ganze große Weltmeer, in dem sich die Küsten des westlichen Norwegens verlieren. Sie prüfte die verschiedenen Poststempel. Am 15. März aufgegeben, kam dieser Brief doch erst am 15. April in Dal an; Ole hatte ihn also schon vor einem Monate geschrieben. Was hatte sich nicht Alles während dieses Monats ereignen können in der Nähe der Gestade von New-Found-Land! – wie die Engländer statt der französischen Bezeichnung Terre-Nenve sagen. War jetzt nicht noch Winter, die gefährliche Zeit der Tag- und Nachtgleiche? Und jene Fischgründe gehören zu den gefährlichsten der Welt, da hier sehr häufig furchtbare Windstöße vorkommen, welche der Pol über die Ebenen Nordamerikas hinabsendet. O, es ist ein mühseliges und gefährliches Leben, das des Hochseefischers, welches auch Ole führte. Und den reichen Gewinn davon brachte er nicht einmal für sich selbst heim oder für die Verlobte, die er bei seiner Rückkehr heiraten wollte. Armer Ole! Was schrieb er wohl in diesem Briefe? Gewiß, daß er Hulda noch immer liebte, wie Hulda ihn stets lieben würde, daß ihre Gedanken sich trotz der Entfernung begegneten, und daß er den Tag seiner Rückkehr nach Dal herbeisehne.

Ja, das mußte er sagen, Hulda wußte es gewiß. Vielleicht schrieb er auch noch, daß seine Heimkehr nahe bevorstehe, daß diese Fischereicampagne, welche die Fischer von Bergen ihrer Heimat so sehr weit entführt, endlich zu Ende gehen sollte. Vielleicht berichtete ihr Ole auch, daß der »Viken« nur noch [11] seine Ladung verstaue und sich zum Lichten der Anker rüste, daß die letzten Tage des April nicht vergehen würden, ohne Beide wieder in dem glücklichen Hause des Vestfjorddals vereinigt zu sehen? Vielleicht meldete er ihr gar, daß schon der Tag bestimmt werden könne, an dem der Pfarrer von Moel hinüberkommen solle, um sie in der kleinen hölzernen Kapelle zu vereinigen, deren Glockenthurm aus einer dichten Baumgruppe, einige hundert Schritte von der Herberge der Frau Hansen, hervorlugte?

Um das zu erfahren, hätte es ja genügt, das Siegel des Umschlages zu lösen, den Brief Oles herauszuziehen und diesen unter Thränen des Schmerzes oder der Freude, die sein Inhalt den Augen Huldas eben entlocken mochte, zu lesen. Und ohne Zweifel hätte ein ungeduldigeres Kind des Südens, ja auch ein Mädchen aus Dalarne, aus Dänemark oder Holland schon längst gewußt, was die junge Norwegerin jetzt noch nicht wußte. Aber Hulda träumte eben, und Träume enden bekanntlich nicht eher, als bis es Gott gefällt sie abzubrechen. Und wie oft bedauert man sie, da die Wirklichkeit nicht selten gar so enttäuschend ist!

»Mein Kind, begann da Frau Hansen, ist denn der Brief, den Dein Bruder Dir sendet, wirklich von Ole?

– Ja, ich erkenne die Handschrift.

– Und willst Du mit dem Lesen desselben etwa bis morgen warten?«

Hulda betrachtete zum letzten Male den Umschlag. Nachdem sie denselben dann ohne besondere Eile geöffnet, entnahm sie daraus einen sorgfältig schön geschriebenen Brief und las wie folgt:


Saint-Pierre-Miquelon, 15. März 1862.


»Meine liebste Hulda!


Du wirst mit Vergnügen hören, daß wir einen glücklichen Fischfang gehabt haben und denselben binnen wenigen Tagen schließen. Ja, endlich nahen wir uns dem Ende dieser Campagne! Wie werde ich nach einjähriger Abwesenheit glücklich sein, nach Dal zurückzukehren und die einzige Familie wiederzufinden, die mir noch geblieben und welche die Deinige ist.

Mein Gewinnantheil ist recht beträchtlich und wird für uns zur ersten Einrichtung ausreichen. Die Herren Gebrüder Help Söhne, unsere Rheder in Bergen, sind schon benachrichtigt, daß der »Viken« voraussichtlich zwischen dem 15. und dem 20. Mai zurück sein wird. Du kannst also darauf rechnen, mich etwa zu dieser Zeit, d. h. höchstens nach einigen Wochen, zu sehen.

[12] Theure Hulda, ich hoffe Dich ebenso wie bei meiner Abreise und ebenso wie Deine Mutter bei bester Gesundheit wieder zu finden. Munter und frisch auch den muthigen und entschlossenen Kameraden, meinen Vetter Joël, Deinen Bruder, der sich nichts Besseres wünscht, als auch der meinige zu werden.

Beim Empfang des Gegenwärtigen grüße mir auch herzlich Frau Hansen, die ich von hier aus in ihrem Holzlehnstuhle nahe dem Ofen in der großen Stube deutlich vor mir sehe. Versichere ihr, daß ich sie zweimal lieb habe, einmal, weil sie Deine Mutter, und dann, weil sie meine Tante ist.

Jedenfalls bemühe Dich nicht damit, mir nach Bergen entgegenkommen zu wollen. Es wäre möglich, daß der »Viken« noch eher einträfe, als ich voraussetze. Doch wie dem auch sei, theuerste Hulda, sicher kannst Du darauf rechnen, mich vierundzwanzig Stunden nach unserer Landung in Dal zu finden, nur erschrick nicht, wenn ich noch frühzeitiger ankomme.

Wir sind durch die rauhe Witterung dieses Winters tüchtig umhergeworfen worden; ja, diese war so schlecht, wie unsere Seeleute sie noch kaum erlebt haben. Zum Glück lieferte wenigstens der Kabeljau an der großen Bank einen ausgezeichneten Ertrag. Der »Viken« bringt davon fünfhundert Centner mit, die in Bergen abzuliefern und durch die Bemühung der Herren Help Söhne schon verkauft sind.

Mit einem Worte, das wird Euch Beide ja am meisten interessiren, wir haben einen guten Fang gemacht und der Ertrag wird auch für mich, der ich jetzt einen ganzen Antheil beziehe, recht gut sein. Bringe ich nun auch nicht gerade Reichthümer mit nach Hause, so hab' ich doch den Gedanken, ja eine Art Vorgefühl, daß mich diese bei der Rückkehr erwarten. Ja, Reichthümer... ohne des Glücks zu erwähnen! Wie?... Das ist mein Geheimniß, liebste Hulda, und Du wirst mir schon verzeihen, ein Geheimniß für mich zu behalten. Es ist ja das Einzige, und ich werde es auch Dir noch offenbaren.... Wann?... Nun, sobald die Zeit dazu gekommen ist – vor unserer Hochzeit, wenn diese durch einen unvorhergesehenen Umstand verzögert werden sollte – nach derselben, wenn ich zur angegebenen Zeit eintreffe, und wenn Du in der Woche nach meiner Rückkehr nach Dal mein herziges Weib geworden bist, wie ich das ja von ganzer Seele wünsche.

Ich umarme Dich, meine Hulda, und bitte Dich, an meiner Statt Frau Hansen und meinen Vetter Joël zu umarmen. Ich küsse im Geiste [13] Deine Stirn, der die strahlende Krone der Neuvermählten von Telemarken wie ein Heiligenschein stehen wird. Zum letzten Male, lebe wohl, meine theure Hulda, lebe wohl!

Für immer Dein

Ole Kamp

Fußnoten

1 In dem dünn bevölkerten Norwegen, ebenso wie in Schweden, ruht auf gewissen Häusern, Gjestgisverier genannt, neben dem Rechte, Reisende zu beherbergen, auch die Pflicht, diese mittelst zweiräderiger Wagen, »Schuß«, norwegisch Skyds genannt, zu behördlich bestimmtem Preise zu befördern.

D. Uebers.

2. Capitel

II.

Dal besteht nur aus wenigen Häusern, von denen die einen längs einer Straße stehen, die eigentlich nur den Namen eines Fußwegs verdient, und die anderen auf benachbarten Anhöhen zerstreut liegen. Sie wenden die vordere Seite dem Vestfjorddal, den Rücken den Bergen im Norden zu, an deren Fuße hin der Maan verläuft. Alle Gebäude zusammen würden etwa einen der im Lande sehr häufigen »Gaards« bilden, wenn sie von einem einzigen Feldeigenthümer oder einem Zinspächter verwaltet würden. Doch wenn nicht den Namen eines Fleckens, so beanspruchen dieselben doch mit Recht den eines Weilers. Eine kleine, 1855 erbaute Kapelle, deren Chorhaube durch zwei schmale Glasfenster unterbrochen wird, erhebt in der Nähe durch das Baumgewirr ihren vierseitigen Glockenthurm – Alles in Holz. Da und dort sind über die Bäche welche dem Flusse zueilen, einige kreuzförmig gezimmerte Brückchen geschlagen, deren Zwischenräume von bemoosten Steinen ausgefüllt werden.

Etwas weiterhin hört man das Knarren von ein oder zwei sehr ursprünglichen, durch Bergwässer getriebenen Sägemühlen, mit einem Schaufelrade zur Bewegung der Säge und einem anderen zur Fortschiebung des Balkens oder der Planken. Und wiederum in einiger Entfernung scheint das Ganze, Kapelle, Sägemühlen, Häuser und Hütten, in einen weichen Dunst von Grün gebettet, hier dunkel durch Tannen, dort blaugrün durch Birken, in einem Rahmen, den die einzelnen oder in Gruppen stehenden Bäume von den gewundenen Ufern des Maan bis zum Kamme der hohen Berge von Telemarken bilden.

So erscheint der frische und lachende Weiler von Dal mit seinen malerischen, äußerlich farbig angestrichenen Wohnstätten, von denen die einen zarte [14] Farbentöne in Hellgrün oder Lichtrosa, die anderen schreiende Farben, wie lebhaftes Gelb oder Blutroth, zeigen. Ihre mit Birkenrinde abgedeckten Dächer, überzogen mit frischgrünem Rasen, den man im Herbst abmäht, sind mit natürlichen Blumen geschmückt. Alles das ist reizend und gehört zum herrlichsten Lande der Welt. Kurz, Dal liegt eben in Telemarken, Telemarken aber in Norwegen, in Norwegen – mit mehreren tausend Fjords, welche dem Meere gestatten, um den Fuß seiner Berge zu branden.

Telemarken liegt inmitten jenes weit ausladenden, kolbenförmigen Theiles, den Norwegen zwischen Bergen und Christiania bildet. Diese, zu dem Amte Bratsberg gehörige Vogtei hat Berge und Gletscher, wie die Schweiz, aber sie ist nicht die Schweiz; sie hat großartige Wasserfälle, wie Nordamerika, aber sie ist nicht Nordamerika; sie hat Dörfer mit gemalten Häusern und gelegentlich Processionen mit Trachten aus verschwundenen Zeiten bekleideter Einwohner, wie manche Ortschaften Hollands, aber sie ist auch nicht Holland. Telemarken ist schöner, wie diese alle, es ist eben Telemarken, eine durch die natürliche Schönheit, welche sie enthält, vielleicht in der ganzen Welt einzig dastehende Landschaft.

Der Verfasser hat das Vergnügen gehabt, dasselbe zu besuchen. Er hat es auf Schußkarren durchstreift und das Pferd an jeder Station gewechselt – wenn solche zu haben waren – und davon einen tiefgehenden poetischen Eindruck mit heimgebracht, der noch heute so lebhaft in seiner Erinnerung ist, daß er dieser einfachen Erzählung wohl einen Anflug davon verleihen zu können wünschte.

Zur Zeit, wo diese Geschichte spielt – im Jahre 1862 – war Norwegen noch nicht von der Eisenbahn durchfurcht, welche es heute gestattet, von Stockholm über Christiania bis Drontheim zu reisen. Jetzt ist ein ungeheures Schienenband zwischen den beiden skandinavischen Ländern, die so wenig Neigung zeigen, ein gemeinschaftliches Leben zu führen, ausgespannt. Im Waggon der Eisenbahn eingeschlossen, sieht der Reisende freilich, während er schneller als früher mittelst Schuß dahinfährt, nichts oder sehr wenig von der Schönheit der ehemaligen Fahrstraße. Ihm entgeht damit die hochinteressante Fahrt durch das mittlere Schweden, auf dem Göta-Canal, dessen Dampfboote von Schleuse zu Schleuse gehoben, eine Höhe von dreihundert Fuß erklettern. Er verweilt nicht bei den berühmten Trollhättafällen, nicht in Drammen oder Kongsberg, so wenig wie bei den Wundern von Telemarken.


Eine Sägemühle in Dal. (S. 14.)

[15]

Jener Zeit war also die Eisenbahn erst geplant. Noch einige zwanzig Jahre sollten vergehen, ehe man das skandinavische Königreich von einer Küste zur anderen in achtundvierzig Stunden durchfliegen und nach dem Nordcap oder mit Retourbillet nach Spitzbergen gehen konnte. Dal bildete nun damals – und bildet hoffentlich noch lange Zeit – den eigentlichen Mittelpunkt, der fremde oder einheimische Touristen anlockte, welch' letztere übrigens meist aus Studenten von Christiania bestanden. Von hier können dieselben sich leicht über ganz Telemarken und Hardanger zerstreuen, das Vestfjorddal zwischen dem Mjös- und[16] Tinn-See hinabwandern und die wundervollen Wasserfälle des Rjukan erreichen. In genanntem Weiler findet sich freilich nur eine Herberge, aber diese ist so anziehend, so hübsch und bequem, wie man sich eine solche nur wünschen kann, und dazu ziemlich geräumig, denn sie enthält vier Zimmer für Fremde – mit einem Worte, es ist das Haus der Frau Hansen.

Einige Bänke umschließen den hinteren Theil seiner rosenfarbenen Wände, die vom Erdboden durch eine solide Grundmauer aus Granit isolirt sind. Die tannenen Balken und Planken seiner »Mauern« haben im Laufe der Zeit eine [17] solche Härte angenommen, daß eine stählerne Axt daran stumpf werden würde. Zwischen diesen vierkantig zugehauenen, wagrecht übereinander gelagerten Balken füllt eine Ansiedlung von Moos mit etwas Thonerde die Fugen aus, so daß selbst der heftigste Winterregen keinen Eingang findet.


Frau Hansen zählte fünfzig Jahre. (S. 22.)

In den Zimmern ist die Sparrendecke roth gemalt und sticht damit stark ab gegen die milden und heiteren Farben des Wandgetäfels. In einer Ecke der großen Stube steht der große Kachelofen, dessen Rohr nach der Esse über dem Küchenherd mündet. Hier wieder bewegt die große, von einem Holzkasten umschlossene Uhr ihre schön gearbeiteten und spitz auslaufenden Zeiger über ein großes Emailzifferblatt und bezeichnet jede Secunde durch ein lautes Tiktak. Dort steht der alte Schreibtisch mit braunem Simswerk vor einem eichenartig angestrichenen, dreibeinigen Sessel. Auf einem Untersetzer prangt ein Leuchter aus gebranntem Thon, der, wenn man ihn umkehrt, einen dreiarmigen Kandelaber darstellt. Die schönsten Möbel des Hauses zieren überhaupt diesen Raum. Der Tisch aus Birkenwurzel mit geschweiften Füßen. Die große Truhe mit verzierten Beschlägen, in der sich der Sonn- und Festtagsstaat befindet. Der große hölzerne Lehnstuhl, der schon mehr einem Kirchstuhl gleicht, die Stühle aus bemaltem Holz; das altehrwürdige Spinnrad, dessen grünliche Verzierungen lebhaft mit dem Rocke der Spinnerinnen contrastiren. Ferner der Topf für die eingesetzte Butter und die Rolle zum Festrühren derselben, sowie der Tabakskasten und die Reibe aus geschnittenem Knochen. Ueber der nach der Küche führenden Thür endlich blinken auf breitem Gestelle die Reihen von Kupfer- und Zinngeschirr neben Tellern und Schüsseln mit glänzendem Email aus Fayence und solchen aus Holz, der kleine Schleifstein, der halb in seinem gefirnißten Behälter verschwindet, der alte und ehrwürdige Eierhalter, der nöthigenfalls als Kelch dienen könnte, und dazu die hochinteressanten Wände, welche mit Stickereien in Leinwand bedeckt sind, die in bunten Farben Scenen aus der Bibel wiedergeben. Die Zimmer für Reisende sind zwar einfacher in der Ausstattung, doch nicht minder anheimelnd mit ihren höchst sauberen Möbeln; vor den Fenstern mit dem Vorhange aus frischem Grün, der sich von der Kante des berasten Daches herabzieht, mit dem breiten Bett und dessen weißem Linnenzeug, das ein Blumenmuster zeigt, wie mit den Bettwänden, auf denen, gelb auf rothem Grunde, Bibelsprüche aus dem alten Testament geschrieben stehen.

Unerwähnt darf hierbei auch nicht bleiben, daß die Dielen des größten Raumes, wie die aller Zimmer des Erdgeschosses und des ersten Stockwerks, [18] mit Birken-, Tannen- und Wachholderreisig bestreut sind, dessen Blätter und Nadeln das ganze Haus mit erfrischendem Wohlgeruch erfüllen.

Könnte sich wohl Jemand eine reizendere Posada in Italien, eine entzückendere Fonda in Spanien vorstellen?

Gewiß nicht. Und hier hat der Strom englischer Touristen – wenigstens zur Zeit, wo unsere Erzählung spielt – noch nicht wie in der Schweiz die Preise in die Höhe geschnellt. In Dal wird die Börse des Reisenden nicht gleich um Guineen und Pfunde Sterling erleichtert, hier bildet der silberne Speciesthaler, im Werthe von viereinhalb Mark, die größte Münze; meist handelt es sich beim Bezahlen nur um dessen Unterabtheilungen, die Mark im Werthe von ungefähr siebenundfünfzig Pfennigen und den Kupferschilling, den man ja nicht mit dem englischen Schilling verwechseln darf, denn jener entspricht nur etwa einem französischen Sous. 1 Ebenso wenig ist es die anspruchsvolle Banknote, welche der Tourist in Telemarken stets auszugeben oder zu verschwenden hat. Hier sieht man nur den einfachen Papierspecies von weißer Farbe, das Fünfspecies-Billet (blau), das zu zehn (gelb), das zu fünfzig (grün) und zu hundert Species (roth); es fehlen also nur zwei, sonst wären alle sieben Regenbogenfarben vertreten.

Ferner – und damit bietet dieses gastliche Haus einen weiteren beachtenswerthen Vorzug – ist Speise und Trank hier vortrefflich, was man von den anderen Gasthäusern der Umgebung nicht allemal sagen kann. Telemarken rechtfertigt nur zu sehr seinen Spitznamen des »Landes der geronnenen Milch«. Tief im Inneren, wie in Tineß, Listhuus, Tinoset und an anderen Orten, gibt es fast niemals Brot oder doch nur so schlechtes, daß man besser davon absieht; nichts als eine Art Hafermehlscheiben, das trockene schwärzliche und wie steife Pappe harte »Flatbröd«, oder höchstens eine Art groben Kuchen, dem gemahlene Birkenrinde, gemischt mit Mais und Häcksel, zugesetzt ist. Nur selten findet man Eier, außer wenn die Hühner vielleicht schon acht Tage vorher gelegt hatten; in Ueberfluß dagegen ein sehr mittelmäßiges Bier, süße und saure geronnene Milch (Filbunk) und zuweilen etwas Kaffee, diesen aber so dick, daß er mehr einem destillirten Producte der Mokka-, Bourbon- oder Rio-Nunezbohne ähnelt.

Bei Frau Hansen dagegen sind Küche und Keller wohl bestellt, so daß auch verwöhnte Touristen keine Ursache zur Klage haben. Hier gibt es gekochten, [19] gesalzenen und geräucherten Lachs, »Hores«, das sind Binnensee-Lachse, welche niemals im Salzwasser gewesen sind; Fische aus den Flüssen Telemarkens, weder zu hartes, noch zu mageres Geflügel, Eier in Menge, wohlschmeckende Platzkuchen aus Roggen-und Gerstenmehl, Früchte, und vor Allem Erdbeeren, Schwarzbrot von seltener Güte, Bier und abgelagerte Flaschen mit schönem Saint-Julien, der den guten Ruf der Gewächse Frankreichs bis in diese entlegenen Gegenden verbreitet.

In allen Ländern des nördlichen Europa steht die Gjestgisveri von Dal auch in bestem Ansehen.

Das erkennt man außerdem sehr leicht beim Durchblättern des Fremdenbuches mit vergilbtem Papier, in das die Reisenden neben ihrem Namen gern einige Lobsprüche für Frau Hansen eingetragen; in der Mehrzahl sind das Schweden und Norweger, die aus allen Theilen Skandinaviens herstammen.

Zudem finden sich auch viele Engländer darunter, und Einer derselben, der lange Zeit gewartet hatte, um den Nebel vom Gipfel des Gusta sich auflösen zu sehen, hatte als echter Sohn Albions auf eine jener Seiten geschrieben:

Patientia omnia vincit. 2

Auch einigen Franzosen begegnet man wohl, von denen der Eine, der hier besser ungenannt bleibt, sich zuschreiben erlaubte:

»Wir haben uns nur lobend auszusprechen über die Aufnahme, die man uns in dieser Herberge »gemacht« hat!«

Auf den grammatischen Fehler kommt hierbei ja nicht viel an. Wenn die Worte mehr lobend als sprachlich richtig sind, so enthalten sie doch eine herzlich gemeinte Anerkennung für Frau Hansen und ihre Tochter, die reizende Hulda des Vestfjorddals.

Fußnoten

1 Neuerdings – seit 1875 – ist in den drei skandinavischen Läudern die Goldwährung eingeführt und die Krone (112 1/2 deutsche Pfennige) Münzeinheit geworden. D. Ueb.

2 »Geduld überwindet Alles.«

3. Capitel

III.

Ohne in der Ethnographie allzu sehr bewandert zu sein, kann man doch mit mehreren Gelehrten zu dem Glauben kommen, daß zwischen den Familien der hohen Aristokratie Englands und den alten Familien des skandinavischen [20] Königreichs eine gewisse Verwandtschaft herrscht. Zahlreiche Beweise liefern dafür die alterthümlichen Namen, welche in beiden Ländern übereinstimmend vorkommen. Und doch gibt es in Norwegen keine eigentliche Aristokratie; aber wenn hier auch Demokratie herrscht, so verhindert das keineswegs, im höchsten Grade aristokratisch zu sein. Hier sind so zu sagen Alle an Höhe, statt an Niedrigkeit gleich. Bis in die geringsten Hütten findet man noch den hoch in Ehren gehaltenen Stammbaum, der keineswegs dadurch, daß er in plebejischer Erde Wurzel faßte, minderwerthig geworden ist. Hier viertheilen sich die Schilder der vornehmen Familien aus der Feudalzeit, von denen diese einfachen Bauern abstammen.

Ganz das Nämliche war der Fall mit den Hansen's von Dal, die, wenn auch nur entfernt, jedenfalls verwandt sind mit den gleichnamigen, bald nach dem Einfalle Rollon's von der Normandie geschaffenen Pairs von England. Nehmen sie auch nicht deren hohen Rang ein und erfreuen sie sich nicht des gleichen Reichthums, so haben sie sich doch mindestens den alten Stolz bewahrt, oder vielmehr eine gewisse Würde, welche ja in jeder gesellschaftlichen Stellung am Platze ist.

Doch das kümmerte sie nichts. Trotz seiner Vorfahren von hoher Geburt war Harald Hansen doch Gastwirth in Dal geworden. Das Haus rührte schon von seinem Vater und Großvater her, an deren Stellung im Lande er sich gern erinnerte. Nach ihm hatte auch seine Witwe das Geschäft in einer Art und Weise fortgesetzt, die ihr die öffentliche Achtung sicherte.

Ob schon Harald bei seinem Geschäfte Vermögen erworben, ist nicht bekannt geworden; sicherlich hatte er seinen Sohn Joël und seine Tochter Hulda auf- und erziehen können, ohne daß den Kindern ihre erste Lebenszeit zu beschwerlich gewesen wäre. Außerdem hatte er auch den Sohn einer Schwester seiner Frau, Ole Kamp, den der Tod seiner Eltern seiner Sorge anvertraute, ganz wie seine eigenen Sprößlinge erzogen. Ohne seinen Onkel Harald wäre dieser Waisenknabe unzweifelhaft eines jener armen kleinen Wesen geworden, die nur zur Welt kommen, um sie baldigst wieder zu verlassen. Ole Kamp erwies seinen Pflegeeltern dafür auch eine wahrhaft kindliche Dankbarkeit, und nichts sollte je im Stande sein, die Bande zu sprengen, die ihn mit der Familie Hansen verknüpften. Im Gegentheil sollte seine Verheiratung mit Hulda diese nur noch enger schließen und für das Leben befestigen.

Harald war nun vor achtzehn Monaten gestorben. Außer dem Gasthause in Dal hinterließ er seiner Witwe noch einen kleinen, auf dem Berge gelegenen[21] »Saeter«. Der Saeter ist eine Art einzeln liegender Farm von im Allgemeinen geringem, oft ganz verschwindendem Ertrage. Gerade die letzten Monate waren ziemlich ungünstig gewesen. Alle Culturen hatten darunter zu leiden gehabt, selbst die bloßen Weiden, und zwar in Folge jener »eisernen Nächte«, wie der norwegische Bauer sagt, Nächte mit eiskaltem Nordostwinde, welche Felder und Wiesen bis tief hinab ausdörren und schon so manchen Bauer von Telemarken und Hardanger dem Untergange nahe gebracht haben.

Wenn Frau Hansen gewiß über ihre Lage klar war, so hatte sie darüber doch gegen Niemand, selbst nicht gegen ihre Kinder, etwas fallen lassen. Von kühlem, schweigsamem Charakter, war sie natürlich wenig mittheilsam, was Joël und Hulda oft genug schmerzlich empfanden. Bei der in den nördlichen Gegenden angeborenen Achtung vor dem Haupte der Familie hatten sie jedoch stets hierüber die größte Zurückhaltung bewahrt, so peinlich ihnen das zuweilen sein mochte. Frau Hansen nahm auch nicht gern Rath oder Hilfe an, da sie – nach dieser Seite eine echte Norwegerin – von der Sicherheit des eigenen Urtheils unerschütterlich überzeugt war.

Frau Hansen zählte jetzt fünfzig Jahre. Hatte das Alter auch ihre Haare gebleicht, so hatte es doch weder ihre hohe Gestalt gebeugt, noch die Lebhaftigkeit des glänzenden blauen Auges verblassen können, dessen Azur sich in den Augen ihrer Tochter widerspiegelte. Ihr Teint allein hatte den gelblichen Schein von Actenpapier angenommen, und einige Falten begannen die freie Stirn zu runzeln.

»Die Madame«, wie man von den Frauen niederer Stände in ganz Skandinavien sagt, trug stets einen großfaltigen schwarzen Rock als Zeichen der Trauer, den sie seit dem Ableben ihres Gatten Harald noch niemals abgelegt hatte. Durch den Ausschnitt ihres Leibchens traten die Aermel eines ungebleichten Leinwandhemdes hervor. Ein dreieckiges Tuch von dunkler Farbe kreuzte sich über ihrer Brust, hier bedeckt von dem Latze der Schürze, die auf dem Rücken mit großen Spangen zusammengehalten wurde. Den Kopf bedeckte stets ein dichtes Seidenmützchen, eine Art Kinderhaube, welche man sonst nur selten sieht. In gerader Haltung auf dem Holzlehnstuhle sitzend, ließ die ernste Gastwirthin von Dal ihr Spinnrad nur aus den Händen, um eine kleine Birkenholzpfeife zu rauchen, deren Wolken sie mit einem leichten Nebel umgaben.

Ohne die Anwesenheit der beiden Kinder hätte das Haus wirklich einen etwas düsteren Eindruck gemacht.

[22] Es war ein tüchtiger Bursche, der Joël Hansen. Fünfundzwanzig Jahre alt, hübsch gewachsen und von großer Gestalt, wie die meisten Bergbewohner Norwegens, bewahrte er einen stolzen Ausdruck ohne Zumischung abstoßender Windbeutelei, und eine entschlossene Haltung ohne Furchtsamkeit. Neben dunkelblondem, fast kastanienfarbenem Haar hatte er tiefblaue, fast schwarze Augen. Sein Anzug ließ die breiten Schultern, welche sich nicht leicht beugten, günstig hervortreten, ebenso die mächtige Brust, in der ein paar Bergführer-Lungen ruhig functionirten, die kräftigen Arme und Beine, welche zu den beschwerlichen Besteigungen der hohen Fjelds von Telemarken wie geschaffen schienen. So wie man ihn für gewöhnlich sah, mußte man den jungen Mann für einen Cavalier halten. Sein mit Schulterlätzen versehenes bläuliches Jaquet, das in der Brust eng anschloß, verlief an der Vorderseite in zwei sich kreuzenden Aufschlägen und zeigte auf dem Rücken bunte Verzierungen, etwa wie man in der Bretagne gelegentlich keltische Westen findet. Der Hemdkragen hatte einen rundlichen Ausschnitt. Das gelbe Beinkleid war unter dem Knie durch ein Band mit Schnalle gehalten. Auf seinem Kopfe saß ein breitkrämpiger Hut mit schwarzer Schnur und rother Einfassung. Die Unterschenkel umschlossen grobe Stoffgamaschen oder dicksohlige Stiefel mit niedrigen Absätzen, in denen das Fußgelenk wie bei den Stiefeln der Strandsischer unter tiefen Falten fast verschwand.

Seinem Berufe nach war Joël eigentlich Bergführer im Gerichtsbezirk von Telemarken und bis weit nach den Gebirgsstöcken von Hardanger hinein Stets bereit, mit aufzubrechen und niemals zu ermüden, verdiente er wirklich mit jenem Rollon dem Läufer, einem sagenberühmten norwegischen Helden, verglichen zu werden. Zuweilen begleitete er englische Sportsleute, welche gern hierher kommen, um den »Riper« zu schießen, jenen fetteren Piarmigan, als den der Hebriden, und den »Jerper«, ein höchst wohlschmeckendes Rebhuhn, das weit zarter ist, als das schottische. Mit Einbruch des Winters lockte sie dagegen die Jagd auf Wölfe hierher, wenn diese, von Hunger getrieben, sich während der schlechten Jahreszeit über die gefrorenen Seen hinabwagen. Im Sommer wieder die Jagd auf Bären, wenn diese Thiere, von ihren Jungen gefolgt, frisches Grasfutter zu suchen kommen, denen man meist auf Plateaus von tausend bis tausendzweihundert Fuß Höhe nachspüren muß. Mehr als einmal verdankte Joël sein Leben nur der ungeheuren Körperkraft, die es ihm ermöglichte, den Umarmungen der gewaltigen Thiere zu widerstehen, und seiner unerschütterlichen Kaltblütigkeit, die ihm gestattete, sich denselben zu entwinden.


Joël verdankte sein Leben nur der ungeheuren Körperkraft. (S. 23.)

Hatte er aber keine Vergnügungsreisenden durch das Vestfjorddal zu führen und keine Jäger nach den [23] verlassenen Fjelds, so beschäftigte sich Joël mit dem kleinen, etwas entfernt in den Bergen gelegenen Saeter. Hier wohnte ein im Sold der Frau Hansen stehender junger Schäfer, dem es oblag, ein halbes Dutzend Kühe und gegen dreißig Stück Schafe zu versorgen, da der Saeter außer Weiden kein Culturland enthielt.

Von Natur war Joël zuvorkommend und dienstwillig und deshalb in allen Gaards von Telemarken bei allen Leuten beliebt. Für drei Wesen aber bewahrte [24] er eine grenzenlose Hingebung, und diese waren neben seiner Mutter Ole und seine Schwester Hulda.

Als Ole Kamp Dal verlassen hatte, um sich zum letzten Male einzuschiffen, beklagte es Joël schmerzlich, seine Schwester nicht gleich ausstatten zu können, um ihr den Verlobten zu erhalten. Wäre er das Leben auf dem Meere gewöhnt gewesen, so hätte er gewiß keinen Augenblick gezögert, an Stelle seines Vetters auf den Fischfang auszuziehen. Zum Anfang der neuen Ehe bedurfte es jedoch einigen Geldes. Da auch Frau Hansen sich nach dieser Seite nicht verpflichtet [25] gehabt hatte, erkannte Joël daraus, daß sie von dem Besitzthum der Familie nichts abzugeben vermöge. Ole hatte also in weite Ferne, nach der anderen Küste des Atlantischen Oceans, ziehen müssen und Joël begleitete ihn auf der Straße nach Bergen bis zur letzten Grenzmarke ihres Heimatthales. Nachdem er ihn da lange umschlossen gehalten, hatte er ihm noch eine gute Fahrt und glückliche Heimkehr gewünscht; dann war er nach Hause zurückgekehrt, um seine Schwester zu trösten, die er nicht nur wie ein Bruder, sondern fast auch wie ein Vater liebte.


Hulda zählte zu jener Zeit achtzehn Jahre. (S. 26.)

Hulda zählte jener Zeit achtzehn Jahre. Sie spielte nicht etwa die »Piga«, wie man die Aufwärterinnen in den norwegischen Gasthäusern nennt, sondern weit mehr das »Fröken«, die Miß der Engländer, das Fräulein der Deutschen, wie ihre Mutter die »Madame« des Hauses war. Welch' reizendes von blondem, fast goldglänzendem Haar umrahmtes Gesicht, das unter dem leichten Leinenhäubchen, das hinten offen war, um die langen, dicken Flechten hinabfallen zu lassen, hervorschaute! Welch' hübsche Taille unter dem rothen, grün eingefaßten, prächtig anliegenden Leibchen, das am Brustlatz ein wenig offen stand und mit bunten Stickereien verziert war, während das schneeweiße Hemd daraus hervorsah, dessen Aermel an den Handgelenken von Bändern zusammengehalten wurden! Dazu nehme man noch den rothen Gürtel mit Silberfiligranschloß, der den grünlichen Rock hielt, über welchen sich noch eine Schürze mit bunten Vierecken breitete; und darunter glänzte der weiße Strumpf hervor, der in dem recht hübschen, mit Fransen versehenen Schuhwerk, wie es in Telemarken üblich ist, verschwand.

Ja, die Verlobte Oles war reizend mit der etwas melancholischen und gleichzeitig lächelnden Physiognomie der Mädchen des Nordens. Wenn man sie sah, dachte man unwillkürlich an jene »blonde Hulda«, deren Namen sie führte und welche die skandinavische Mythologie als glückverheißende Fee um den häuslichen Herd schweben läßt.

Ihre mädchenhafte, bescheidene und kluge Zurückhaltung that doch der liebenswürdigen Gewandtheit, mit der sie die Tagesgäste der Herberge zu Dal empfing, keinen Eintrag, und man kannte sie in der ganzen Touristenwelt. War es nicht eine besondere Anziehung, mit Hulda einen »Shake-Hand« zu wechseln, jenen herzlichen Händedruck, mit dem man hier Jeden und Jede bewillkommt?

Und hatte man dann zu ihr gesagt:

[26] »Ich danke für das Mahl, Tak for mad!...«

Wie lieblich klang es dann, wenn sie mit ihrer frischen, volltönenden Stimme erwiderte:

»Möge es Ihnen wohlbekommen, Wel bekomme!«

4. Capitel

IV.

Ole Kamp war seit einem Jahre abgereist. In seinem Briefe hatte er mitgetheilt, daß dieser Fischfang, der Winterfischfang an den Gestaden von New-Found-Land, ein recht beschwerlicher sei. Wenn die Leute hier Geld verdienen, so verdienen sie meist ziemlich viel; hier kommen jedoch häufig plötzliche Windstöße vor, welche binnen wenigen Stunden ganze Fischerflottillen zerstören. Dafür wimmelt es aber von Fischen in den Gründen von New-Found-Land und wenn die Mannschaften vom Glück begünstigt sind, finden sie auch reichen Ersatz für die Mühen und Gefahren, welche diese stürmische Gegend bietet.

Im Uebrigen sind die Norweger vortreffliche Seeleute, die über ihre harte Arbeit nicht murren. Inmitten der Fjords der Landesküste von Christiansand bis zum Nord-Cap, zwischen den Klippen von Finnmarken, in den schmalen Waffenstraßen der Loffoden fehlt es ihnen nie an Gelegenheit, sich mit den Launen des Meeres vertraut zu machen. Wenn sie über den Nordatlantischen Ocean segeln, um in größeren Gesellschaften nach den Fischgründen der Neuen Welt zu ziehen, haben sie schon manche Probe ihres kühnen Muthes abgelegt. Während der Kindheit haben sie schon genug von den Ausläufern der von Westen heranstürmenden Orkane kennen gelernt, um diesen auch an ihrer Ursprungsstelle in New-Found-Land ruhig Trotz zu bieten. Sie kämpfen hier nur gegen den Anfang jener schrecklichen Stürme – das ist der ganze Unterschied.

Die Norweger haben auch gerechte Ursache, etwas stolz zu sein. Ihre Vorfahren waren unerschrockene Seeleute, zur Zeit, als die Hanseaten sich des Handels im ganzen nördlichen Europa bemächtigt hatten. Vielleicht traten sie in grauer Vorzeit mehr als eine Art Seeräuber auf, doch die Seeräuberei war [27] damals einmal allgemein im Schwunge. Unzweifelhaft hat sich der Handel seitdem moralisch bedeutend gehoben, obwohl die Vermuthung gestattet ist, daß es dabei auch heute nicht ganz mit rechten Dingen zugehen möge.

Wie dem auch sei, die Norweger waren von jeher kühne Seeleute, sind es noch und werden es auch fernerhin sein. Ole Kamp war sicherlich nicht dazu geschaffen, seine Abstammung Lügen zu strafen. Seine erste Einführung und Ausbildung in jenen rauhen, mühseligen Arbeiten verdankte er einem nun ergrauten Küstenschiffer von Bergen, und auch die ganze Kindheit hatte er schon in diesem Hafen, einem der belebtesten des skandinavischen Königreichs, zugebracht. Ehe er sich auf die weite Fahrt hinaus begab, segelte und schaukelte er in den Fjords umher, stellte den Nestern der Wasservögel nach und betheiligte sich beim Fang der zahllosen Fische, aus denen der Stockfisch bereitet wird. Nachdem er dann Schiffsjunge geworden, hatte er zuerst die Ostsee übersegelt, war dann nach der Nordsee und selbst bis hinauf nach den Grenzen des Eismeeres gekommen. So machte er mehrere Reisen auf großen Fischerfahrzeugen mit und wurde schon Steuermann, als er kaum zwanzig Jahre zählte. Jetzt war er dreiundzwanzig Jahre alt.

In der Zeit zwischen seinen Seefahrten unterließ er es nie, die einzige Familie wieder aufzusuchen, welche er liebte und die ihm auf der Erde allein geblieben war.

Wenn er sich dann in Dal befand, konnte sich Joël keinen besseren Kameraden wünschen. Er begleitete diesen bei seinen Zügen durch die Berge bis nach den höchsten Plateaus von Telemarken. Erst durch die Fjords, nun durch die Fjelds – das war dem jungen Seemann so recht nach dem Sinn, und er blieb gewiß niemals zurück, außer wenn es geschah, um seiner Cousine Hulda Gesellschaft zu leisten.

Zwischen Ole und Joël hatte sich allmählich eine enge Freundschaft entwickelt, und in ganz naturgemäßer Folgerichtigkeit nahm dieses Gefühl gegenüber dem jungen Mädchen eine andere Form an, zumal da Joël ihn fast noch dazu ermunterte. Wo hätte seine Schwester auch in der ganzen Provinz einen besseren Burschen von gleich gewinnendem Wesen, einen ergebeneren Charakter, ein wärmer fühlendes Herz finden können? Huldas Glück mußte gesichert sein, wenn sie Ole zum Manne bekam. Es geschah also unter Zustimmung der Mutter, wie des Bruders, daß das junge Mädchen unter diesen Verhältnissen ihren natürlichen Gefühlen keinen Zwang auferlegte. Wenn es die Menschen im Norden [28] auch äußerlich nicht so zur Schau tragen, darf man sie doch keineswegs für unempfindlich halten. Nein, es ist eben so ihre Art, und diese ist vielleicht besser, als manche andere.

Kurz, eines Tages, als sich alle Vier in dem großen Zimmer des Erdgeschosses befanden, sagte Ole ohne jede weitere Einleitung:

»Da kommt mir ein Gedanke, Hulda!

– Und welcher? fragte das junge Mädchen.

– Mir scheint, wir Beide sollten einander heiraten.

– Das meine ich eigentlich auch.

– Ja, das ließe sich hören, fügte Frau Hansen hinzu, als ob es sich um eine schon lange besprochene Angelegenheit handelte.

– Und auf diese Weise, Ole, bemerkte Joël, würde ich natürlich Dein Schwager werden.

– Gewiß, sagte Ole; es steht aber fest, mein Joël, daß ich Dich dann nur noch mehr lieb haben werde.

– Wenn das möglich ist!

– Du wirst's ja sehen!

– Meiner Treu, ich bin ja schon jetzt befriedigt, versicherte Joël, der Oles Hand herzlich drückte.

– Nun, das wäre also abgemacht, Hulda? fragte Frau Hansen.

– Ja, liebe Mutter, antwortete das junge Mädchen.

– Du glaubst es wohl, Hulda, fuhr Ole fort, daß ich Dich eigentlich schon lange liebe, ohne etwas davon gesagt zu haben?

– Ich Dich auch, Ole.

– Wie's gekommen ist, weiß ich eigentlich gar nicht zu sagen.

– Und ich nicht minder.

– Gewiß kam's daher, Hulda, daß ich Dich jeden Tag hübscher und hübscher und immer besser werden sah...

– Du gehst etwas zu weit, mein lieber Ole!

– Gewiß nicht, und ich darf Dir das sagen, ohne daß Du darum zu erröthen brauchst, denn es ist die Wahrheit. Haben Sie's denn nicht bemerkt, Frau Hansen, daß ich Hulda so lieb hatte?

– Nun ja, ein wenig wohl.

– Und Du, Joël?

– Ich?... Ei, ganz bedeutend.

[29] – Offen gestanden, meinte Ole lächelnd, hättet Ihr mir das eher sagen können –

– Aber Deine Seereisen, Ole, mischte sich da Frau Hansen wieder ein, werden sie Dir nicht weit beschwerlicher erscheinen, wenn Du verheiratet bist?

– O, sie würden mir so schwer ankommen, daß ich eben gar nicht mehr fahren werde, wenn unsere Hochzeit stattgefunden hat.

– Du willst nicht mehr fahren?

– Nein, Hulda, könnte ich es über mich bringen, Dich ganze Monate zu verlassen?

– So willst Du jetzt zum letzten Male in See gehen?

– Ja; doch bei einigem Glück wird diese Fahrt mir gestatten, ein gut Stück Geld zu erübrigen, denn die Herren Gebrüder Help haben mir contractlich einen vollen Gewinnantheil zugesichert....

– Das sind doch brave Leute! sagte Joël.

– Sie sind jedes Lobes würdig, erwiderte Ole, und alle Seeleute in Bergen kennen sie auch und schätzen sie hoch.

– Aber, mein lieber Ole, bemerkte da Hulda, wenn Du dann nicht mehr fährst, was denkst Du später zu beginnen?

– Nun, ich werde der Theilhaber Joëls. Ich habe ja gute Füße, und sollten diese ja noch nicht ausreichen, werd' ich mir durch Uebung solche zu verschaffen wissen. Uebrigens hab ich noch an ein Geschäft gedacht, das vielleicht gar nicht übel wäre. Warum sollten wir nicht eine Art Botendienst zwischen Drammen, Kongsberg und den Gaards von Telemarken einrichten? Die jetzigen Verbindungen sind weder bequem, noch regelmäßig, und dabei wäre wohl noch Geld zu verdienen. Mit einem Wort, ich habe so meine Gedanken abgesehen von...

– Von was?

– O nichts! Das wird sich bei meiner Rückkehr zeigen. Ich sage Euch voraus, daß ich fest entschlossen bin, Alles zu thun, um Hulda zur beneidetsten Frau des ganzen Landes zu machen. Ja, ich bin's fest entschlossen.

– Wenn Du wüßtest, Ole, wie leicht das sein wird! antwortete Hulda, ihm die Hand entgegenstreckend. Ist's nicht zur Hälfte schon geschehen, und gibt es irgendwo ein ebenso glückliches Haus, wie unser Haus in Dal!«

Frau Hansen hatte einen Augenblick den Kopf hinweggewendet.

»Also, wiederholte Ole in freudigem Tone, die Sache ist abgemacht?

– Ja freilich, versicherte Joël.

[30] – Und wir brauchen nicht weiter darüber zu sprechen?

– Niemals.

– Es wird Dir doch nicht leid werden, Hulda?

– Gewiß nicht.

– Was die Bestimmung Eures Hochzeitstages betrifft, denk' ich, wir warten lieber Deine Heimkehr ab, fügte Joël hinzu.

– Zugegeben; doch ich müßte geradezu Unglück haben, wenn ich nicht vor Ablauf eines Jahres zurückgekehrt wäre, um Hulda nach der Kirche von Moel zu führen, wo der Pastor Andresen es nicht abschlagen wird, uns seinen besten Segen zu ertheilen!«

Auf diese Weise war also die Heirat Hulda Hansen's mit Ole Kamp beschlossen worden.

Acht Tage später sollte der junge Seemann auf seinem Schiffe in Bergen wieder eintreffen. Bevor sie jedoch von einander schieden, sollten die beiden Zukünftigen, nach der wirklich rührenden Sitte der skandinavischen Länder, erst feierlich verlobt werden.

In dem einfachen, ehrbaren Norwegen herrscht ziemlich allgemein der Gebrauch, sich öffentlich zu verloben, bevor man heiratet. Zuweilen wird die Hochzeit gar erst zwei bis drei Jahre später gefeiert. Erinnert das nicht an die Gepflogenheiten in den ersten Tagen der christlichen Kirche? Man darf aber nicht glauben, daß die Verlobung hier nur auf einen einfachen Austausch von Worten hinauskomme, deren Werth doch nur auf Treue und Glauben der Betheiligten beruht. Nein, das Gelübde wird hier ernster genommen, und wenn dieser Act auch nicht gerade durch das Gesetz anerkannt ist, so steht er als eine Art natürlichen Gesetzes doch überall in höchstem Ansehen.

Es handelte sich also bezüglich Huldas und Ole Kamp's um die Anordnung einer Ceremonie, welche der Pastor Andresen leiten sollte. In Dal selbst gab es keinen Geistlichen, ebenso wenig wie in den Gaards der Nachbarschaft Dagegen finden sich in Norwegen gewisse Orte, welche sich »Sonntagsstädte« nennen, wo sich ein Pfarrhof, ein »Praestegjeld« befindet. Dort versammeln sich zum Gottesdienst die bedeutenden Familien der Parochie. Sie haben meist sogar eine Art Absteigequartier, um sich vierundzwanzig Stunden, das heißt so lange Zeit, wie die Erfüllung ihrer religiösen Pflichten in Anspruch nimmt, aufzuhalten. Dann kehrt Alles wie von einem Pilgerzuge heim. Dal besitzt zwar eine Kapelle; dahin kommt der Geistliche aber nur auf besonderes Verlangen [31] und zur Ausübung von Amtsgeschäften, welche nicht öffentlicher, sondern privater Natur sind.

Moel liegt von hier übrigens nicht weit entfernt, nur etwas über dreiviertel Meilen – d. h. neun Kilometer von Dal bis zum Ende des Tinn-Sees. Der Pastor Andresen aber war ein gefälliger Mann und guter Fußgänger.

Pastor Andresen wurde also gebeten, der Verlobung in der doppelten Eigenschaft als Kirchendiener und Freund der Familie Hansen zu assistiren. Letztere kannte ihn und er sie schon seit längerer Zeit; er hatte Hulda und Joël aufwachsen sehen und liebte diese ebenso wie den »jungen Seebären« Ole Kamp. Nichts hätte ihm mehr Vergnügen gewähren können, als diese Heirat; das war eine Gelegenheit, die für das ganze Vestfjorddal zur Festlichkeit zu werden versprach.

Es versteht sich von selbst, daß Pastor Andresen eines schönen Morgens seine weißen Bäffchen anlegte, den Kreppüberwurf über den Arm schlug, der das Gebetbüchlein trug, und bei übrigens ziemlich regnerischem Wetter aufbrach. Er traf in Gesellschaft Joëls ein, der ihm entgegen gegangen war. Der Leser möge sich selbst ausmalen, welch' freundlichen Empfang er im Hause der Frau Hansen fand, und daß er natürlich das schönste Zimmer im Erdgeschoß angewiesen erhielt, das die ausgestreuten frischen Wachholderzweige wie eine Kapelle durchdufteten.

Am folgenden Tage, und zwar schon ziemlich zeitig, öffnete sich die kleine Kirche von Dal. Hier schwor vor dem Pfarrer und seinem Gebetbuche, in Gegenwart einiger Freunde und Nachbarn des Gasthauses, Ole, seine Hulda zu heiraten und Hulda schwor, Ole zu heiraten, wenn er von der letzten Fahrt zurückkam, die der junge Seemann eben noch unternehmen wollte. Ein Jahr Erwartung ist zwar lang, aber es vergeht ja auch zwei Liebenden, wenn Beide einander sicher sind.

Von nun an konnte Ole die, welche seine verlobte Braut geworden war, nur aus schwerwiegenden Grün den wieder verlassen, und Hulda durfte nicht die Treue brechen, die sie Ole geschworen, ja, wenn Ole nicht wenige Tage nachher abgereist wäre, so hätte er das Recht beanspruchen können, welches jene Ceremonie ihm verlieh: er konnte das junge Mädchen besuchen, wann es ihm beliebte, ihr schreiben, so oft er wollte, sie beim Spazierengehen Arm in Arm begleiten, selbst in Abwesenheit ihrer Familie, und bei allen Festlichkeiten und sonstigen Gelegenheiten den Vorzug genießen, allein mit ihr zu tanzen.

[32] Ole Kamp hatte jedoch nach Bergen zurückkehren müssen. Acht Tage später war der »Viken« nach den Fischgründen von Neufundland abgesegelt, und nun hatte Hulda nur die Briefe zu erwarten, welche ihr Verlobter mit jeder Postgelegenheit nach Europa zu senden versprochen hatte. Die stets mit Ungeduld erwarteten Briefe blieben denn auch nicht aus. Sie verbreiteten dann einen neuen Schimmer von Glück in dem seit der Abreise etwas traurigeren Hause.

Die Reise selbst verlief unter günstigen Verhältnissen. Der Fischfang war ergiebig und mußte einen ansehnlichen Ertrag liefern. Am Ende jedes Briefes [33] aber sprach Ole von einem gewissen Geheimnisse und von den Schätzen, die ihm dieses zuführen müsse. Dieses Geheimniß hätte Hulda gar so gerne gekannt, aber außer ihr auch Frau Hansen, aus Gründen, die der Leser nur schwer errathen dürfte.


Ole schwor hier Hulda zu heiraten. (S. 32)

Frau Hansen wurde nämlich allmählich immer düsterer, unruhiger und verschlossener, und ein Umstand, dessen sie nicht einmal ihren Kindern gegenüber erwähnte, konnte ihre Sorge leider nur vergrößern.

Drei Tage nach dem letzten Briefe von Ole, am 18. April, kehrte Frau Hansen allein aus der Sägemühle zurück – wo sie beim Werkführer Lengling einen Sack Holzspäne bestellt hatte – und war jetzt eben auf dem Heimwege. Nicht weit von ihrer Thür trat ein Mann auf sie zu, der offenbar nicht aus dieser Gegend war.

»Sie sind doch wohl Frau Hansen? fragte der Fremde.

– Ja, antwortete sie, doch ich kenne Sie nicht.

– O, das thut nichts, erwiderte der Mann. Ich bin diesen Morgen von Drammen gekommen und kehre auch dahin zurück.

– Von Drammen? rief Frau Hansen lebhaft.

– Kennen Sie wohl einen gewissen Herrn Sandgoïst, der daselbst wohnt?...

– Herrn Sandgoïst! wiederholte Frau Hansen, deren Gesicht bei Nennung dieses Namens erbleichte. Ja... den kenne ich.

– Nun wohl; als Herr Sandgoïst erfuhr, daß ich mich nach Dal begebe, hat er mich beauftragt, Ihnen einen Gruß von ihm zu überbringen.

– Und... weiter nichts?...

– Nichts, außer daß ich Ihnen sagen sollte, er werde Sie wahrscheinlich im nächsten Monat einmal aufsuchen! – Lassen Sie sich's wohl gehen, und gute Nacht, Frau Hansen!«

[34]

5. Capitel

V.

Hulda war in der That betroffen über die Zähigkeit, mit der Ole in seinen Briefen immer und immer wieder von dem Glücksfall sprach, den er bei seiner Rückkehr erwarte. Worauf gründete der junge Mann diese Hoffnung? Hulda konnte es nicht errathen und es verlangte sie doch so sehr, es zu wissen. Man wird ihr eine so natürliche Neugier schon verzeihen dürfen, da dieselbe eigentlich mehr eine liebende Ungeduld zu nennen war. Das ehrsame, einfache Kind war nicht etwa ehrgeizig, noch hatten sich ihre Zukunftsträume je bis zu dem verstiegen, was man Reichthum nennt. Ihr genügte ja die Liebe Oles jetzt, und diese würde ihr stets genügen. Sollten sie einmal reich werden, nun so würde sie sich darüber recht freuen; wäre es nicht der Fall, so würde sie sich darum gewiß auch nicht grämen.

So lauteten eben die Ansichten Huldas und Joëls, die sie am Tage nach dem Eintreffen des letzten Briefes von Ole äußerten; über diese Angelegenheit hatten Beide ganz die nämlichen Gedanken, wie überhaupt über alles Andere.

Da sagte Joël jedoch noch:

»Nein, es ist unmöglich, Schwesterchen! Du mußt mir unbedingt etwas verhehlen!

– Ich, Dir verhehlen?

– Ja! Daß Ole abgereist wäre, ohne Dir wenigstens etwas von seinem Geheimniß mitzutheilen, ist ja ganz unglaublich!

– Hat er Dir ein Wort davon gesprochen, Joël? antwortete Hulda.

– Nein, Schwester; ich bin auch nicht Du.

– Doch, Du bist ich, Bruder.

– Ich bin nicht die Braut von Ole.

– Beinahe doch, erklärte das junge Mädchen, denn wenn ihm ein Unfall zustieße, wenn er von dieser Fahrt nicht zurückkehrte, würdest Du Dich davon getroffen fühlen, wie ich, und Deine Thränen würden ebenso fließen, wie die meinigen.

– Aber, Schwesterchen, nein, entgegnete Joël, solche Gedanken solltest Du Dir nicht machen! Ole nicht zurückkommen von dieser letzten Fahrt auf die Hochseefischerei! Sprichst Du wirklich im Ernst, Hulda?

[35] – Nein, gewiß nicht, Joël! Und doch... Ich weiß nicht... mich foltern gewisse Ahnungen... böse Träume!...

– Träume, liebe Hulda, sind weiter nichts als Träume.

– Ja freilich, doch woher kommen sie?

– Aus uns selbst und nicht etwa von oben. Du hast aber Angst, und diese Angst ist es, die Dich auch im Schlafe bedrückt. So geschieht es ja fast immer, wenn man etwas recht lebhaft wünscht und der Zeitpunkt herannaht, wo diese Wünsche sich verwirklichen sollen.

– Ich weiß es, Joël.

– Wahrlich, ich hätte Dich für stärker gehalten, liebe Schwester, ja, für entschlossener! Bedenke doch, Du hast kaum einen Brief erhalten, in dem Ole Dir mittheilt, daß der »Viken« im Laufe eines Monats zurück sein werde, und Du setzest Dir solche Sorgen in den Kopf!

– Nein, sie wohnen im Herzen, lieber Joël.

– Nun haben wir schon den 19. April, fuhr Joël fort. Ole muß zwischen dem 15. und 20. Mai heimkehren; da scheint es mir wirklich nicht zu zeitig, mit den Vorbereitungen zu Eurer Hochzeit zu beginnen.

– Denkst Du schon daran, Joël?

– Ob ich daran denke, Hulda! Ich meine sogar, wir kommen damit etwas zu spät. Ueberlege Dir nur! Es handelt sich um eine Hochzeit, die nicht nur Dal allein, sondern auch alle benachbarten Gaards in freudige Bewegung setzen wird. Ich erwarte, daß dieselbe sehr schön ausfällt, und werde es mir angelegen sein lassen, dazu mitzuwirken.«

Eine Feierlichkeit dieser Art ist nämlich in Norwegen im Allgemeinen und in Telemarken insbesondere keine Kleinigkeit; nein, diese geht nie ohne einiges Geräusch von Statten.

Noch denselben Tag hatte Joël über diese Frage also ein Gespräch mit seiner Mutter, und zwar sehr kurz, nachdem Frau Hansen durch das Zusammentreffen mit dem Manne, der ihr den demnächstigen Besuch Sandgoïst's von Drammen ankündigte, recht peinlich überrascht worden war. Sie hatte sich in dem bequemen Lehnstuhle in der großen Stube niedergesetzt und drehte, in Gedanken versanken, mehr mechanisch das Spinnrad. Joël erkannte sofort, daß seine Mutter ungewöhnlich bedrückt erschien, doch da sie auf jede Frage nach der Ursache ihrer Verstimmung nur mit einem : »Es ist nichts!« antwortete, so glaubte ihr Sohn wegen der Hochzeit Huldas mit ihr reden zu können.

[36] »Du weißt, liebe Mutter, begann er, daß Ole uns in seinem letzten Schreiben seine hoffentlich baldige Rückkehr nach Telemarken angemeldet hat, wo er schon nach wenigen Wochen einzutreffen gedenkt.

– Das wäre ja zu wünschen, erwiderte Frau Hansen, und möge ihm jede Verzögerung erspart bleiben!

– Hättest Du irgend etwas einzuwenden, wenn wir die Hochzeit auf den 25. Mai festsetzten?

– Wenn Hulda damit einverstanden ist, ganz und gar nichts.

– Sie hat schon ihre Zustimmung so gut wie erklärt. Und nun frage ich Dich, liebe Mutter, ob es nicht auch Deine Absicht ist, diesen Tag recht ordentlich zu feiern.

– Was verstehst Du unter recht ordentlich feiern? fragte Frau Hansen, ohne die Augen von ihrem Spinnrade zu erheben.

– Nun, ich verstehe darunter – natürlich Deine Einwilligung vorausgesetzt – daß die Ceremonie unserer Stellung im Bezirk entsprechend veranstaltet wird. Wir müssen dazu alle Bekannten einladen, und sollte unser Haus für die Gäste alle nicht ausreichen, so werden die Nachbarn gern bereit sein, diese einmal aufzunehmen.

– Wen denkst Du Dir denn als Gäste?

– O, ich meine, wir müßten doch alle unsere Freunde aus Moel, aus Tineß und Bamble einladen, und das würde ich schon besorgen. Ich bilde mir auch ein, die Anwesenheit der Gebrüder Help, der Rheder aus Bergen, könnte unserer Familie nur zur Ehre gereichen und – ich wiederhole, mit Deiner Zustimmung – würde ich Ihnen anbieten, einen Tag in Dal zuzubringen. Es sind brave Leute, welche Ole herzlich lieben, und ich bin überzeugt, daß sie die Einladung annehmen werden.

– Ist es denn nothwendig, warf Frau Hansen ein, daß wir die Hochzeit mit so großem Aufwande feiern?

– Ich glaub' es, Mutter, und es scheint mir schon allein angezeigt im Interesse unseres Gasthauses hier in Dal, das doch, so viel ich weiß, seit dem Tode des Vaters an Werth und Ansehen nicht verloren hat.

– Nein... Joël... nein!

– Ist es nicht gerade unsere Pflicht, es wenigstens in demselben Zustande zu erhalten, wie er es hinterlassen hat? Wenn das der Fall ist, halte ich es auch für nützlich, der Hochzeit meiner Schwester etwas äußeren Glanz zu verleihen.

[37] – Nun ja, Du hast Recht, Joël.

– Und ist es dann nicht Zeit, daß Hulda sich mit den nöthigen Vorbereitungen beschäftigt, damit von ihrer Seite keine Verzögerung eintritt? Was meinst Du dazu, liebe Mutter?

– Du und Hulda, Ihr mögt für Alles sorgen, was Ihr für nöthig haltet«... antwortete Frau Hansen.

Nach Obigem gewinnt es vielleicht den Anschein, als ob Joël etwas zu sehr drängte, während es richtiger gewesen wäre, erst die Heimkehr Oles abzuwarten, um den Tag der Trauung zu bestimmen und die nöthigen Vorbereitungen zu beginnen. Er meinte jedoch, was einmal gethan sei, brauche nicht erst noch gethan zu werden; ferner werde Hulda eine Zerstreuung finden, wenn sie sich mit den tausend Einzelheiten beschäftigte, die ein Vorhaben dieser Art allemal mit sich bringt. Ihm erschien es wichtig, sie von ihren schlimmen Ahnungen, die bis jetzt eben gar nichts bekräftigte, sich nicht allzu sehr einnehmen zu lassen.

Zunächst galt es nun die Wahl einer Brautjungfer, welche jedoch keine Schwierigkeiten bereiten konnte, da sie schon im Voraus getroffen war. Als solche mußte ein liebenswürdiges, junges Mädchen aus Bamble, die vertrauteste Freundin Huldas, fungiren. Ihr Vater, der Pächter Helmboë, bewirthschaftete einen der größten Gaards der ganzen Provinz. Der wackere Mann war auch nicht ohne Vermögen. Schon seit längerer Zeit hatte er den achtenswerthen Charakter Joëls kennen gelernt, und – wir dürfen es wohl aussprechen – seine Tochter schätzte den jungen Mann nicht minder auf ihre Weise. Es lag sonach die Wahrscheinlichkeit nahe, daß Hulda, nachdem Sigrid erst bei ihr als Ehrenjungfrau gedient, dieser in nicht ferner Zeit den Liebesdienst vergelten konnte. Das geschieht nämlich in Norwegen nicht selten, denn in den meisten Fällen bleibt diese angenehme Aufgabe verheirateten Frauen vorbehalten. Es lag also eine gewisse Berechnung zu Gunsten Joëls zu Grunde, wenn Sigrid Helmboë der Hulda Hansen diesen Ehrendienst leistete.

Eine sehr wichtige Frage, sowohl für die Braut, als für die Brautführerin, bildete die Toilette, welche sie für den Trauungstag anlegen würden.

Sigrid, eine reizende Blondine von achtzehn Jahren, wünschte dabei auf jeden Fall den vortheilhaftesten Eindruck zu machen. Durch eine vertrauliche Mittheilung ihrer Freundin Hulda, welche Joël ihr persönlich überbrachte, beschäftigte sie sich, ohne eine Minute zu verlieren, mit dieser Angelegenheit, die allemal etwas Kopfzerbrechen verursacht.

[38] Sie brauchte dazu nämlich ein bestimmtes Leibchen, dessen Stickereien in regelmäßigen Mustern so angeordnet waren, daß sie die Taille Sigrids wie glänzendes Email umschlossen. Ferner gehörte dazu ein Rock, der eine ganze Reihe Unterröcke bedeckte, welche letztere der Zahl nach den Vermögensverhältnissen Sigrids entsprachen, ohne daß sie dadurch an der Gefälligkeit ihrer persönlichen Erscheinung Einbuße erleiden durfte. Was den Schmuck betrifft, war es auch ein wichtig Ding, die Mittelplatte der Halskette aus Silberfiligran und Perlen zu wählen, die Brosche für das Leibchen aus vergoldetem Silber oder aus Kupfer, die Ohrgehänge in Herzform mit freibeweglichen Scheibchen; die Doppelknöpfe, welche dazu dienen, den Hals des Hemdes gleich Agraffen zu schließen, den Gürtel aus rother Wolle oder Seide, von denen vier Reihen Kettchen herabhängen, die Ringe mit kleinen Eicheln, welche mit harmonischem Klang aneinander schlagen, die Armspangen aus durchbrochenem Silber – mit einem Worte, jenen ganzen ländlichen Schmuck, bei dem freilich das Gold nur in ganz dünnen Blättchen vorkommt, das Silber durch Verzinnung ersetzt, das Geschmeide nur dünn gepreßt ist, und wo die Perlen aus geblasenem Glase und die Diamanten aus billigem Krystall bestehen. Nichtsdestoweniger mußte das Auge durch den Gesammteindruck befriedigt werden. Wenn es nothwendig wurde, besann sich Sigrid dazu gewiß keinen Augenblick, die reichen Magazine des Herrn Benett in Christiania zu besuchen, um dort ihre Einkäufe zu machen. Ihr Vater erhob dagegen sicherlich keinen Einspruch; im Gegentheil, der vortreffliche Mann ließ seine Tochter gerne gewähren. Andererseits war Sigrid vernünftig genug, die väterliche Börse nicht übermäßig in Anspruch zu nehmen. Die Hauptsache bei Allem war ihr ja nur, an dem betreffenden großen Tage Joël in bestem Lichte zu erscheinen. Für Hulda war dieselbe Frage eine nicht minder ernste. Die Mode ist einmal eine unerbittliche Tyrannin und bereitet den Bräuten bezüglich der Wahl ihrer Toilette manche heimliche Qual.

Hulda mußte nun die langen, bändergeschmückten Flechten, die sonst unter ihrem Mützchen herabfielen, anders ordnen und mußte den breiten, mit Schloß versehenen Gürtel ablegen, der gleichzeitig die Schürze über dem scharlachfarbenen Rock festhält. Sie sollte später nicht mehr das dreieckige Verlobungstuch tragen, das Ole ihr vor seiner Abreise geschenkt, noch die Schnur, an der die kleinen gestickten Ledersäckchen hingen, in denen ein silberner Löffel mit kurzem Handgriff, ein Messer, eine Gabel und ein Nadeletui aufbewahrt werden, da das Gegenstände sind, welche eine Frau in ihrem Hause jede Minute braucht.


Sigrid Helmboë. (S. 38.)

Nein; gleich nach dem Hochzeitstage sollte Huldas Haar frei auf ihre Schultern herabfallen, und dieses war so reichlich, daß sie gewiß nicht nöthig hatte, falsche Haare aus Leinenfasern dazwischen zu mengen, wie das die von der Natur weniger begünstigten jun [39] gen Norwegerinnen so häufig thun. Was die eigentliche Kleidung und den Schmuck betraf, so brauchte Hulda freilich nur aus der Truhe ihrer Mutter zuzulangen. Gewisse Einzelheiten der Brauttoilette werden nämlich in ein und derselben Familie von Generation zu Generation weiter vererbt. So sieht man z. B. stets wieder das goldgestickte Leibchen, den


»Ist das das Gasthaus der Frau Hansen?« (S. 43.)

[40]

Sammetgürtel, den Rock aus einfarbiger oder bunter Seide, die »Wadmel«-Strümpfe, die goldene Halskette und die Brautkrone – jene berühmte skandinavische Krone, die in der besten Truhe sorgsam aufbewahrt wird, eine prächtige, vergoldete Papparbeit von ziemlicher Höhe, welche dicht mit Sternen besetzt und mit Blätterschmuck verziert ist, und die den Myrthenkranz oder ein anderes dementsprechendes Symbol in anderen Ländern Europas ersetzt. Sicherlich mußte dieser strahlende Heiligenschein mit seinen zarten Filigranarbeiten, dem tönenden Gehänge und den farbigen Glasperlen daran das hübsche Gesicht Huldas in [41] vortheilhaftester Weise einrahmen. Die »gekrönte Braut«, wie man dort zu Lande sagte, mußte dem jungen Gatten Ehre machen. Aber auch er sollte ihrer würdig erscheinen im glitzernden Hochzeitsstaate – in der kurzen Jacke mit dicht an einander stehenden Silberknöpfen, dem wohlgestärkten, gerade emporstehenden Hemdkragen, dem mit Seidenstickerei geränderten Brustlatz, den engen, an den Knien durch wollige Ballen gehaltenen Beinkleidern, den weichen Kniestrümpfen, gelblichen Stiefeln, und am Gürtel, in der Lederscheide steckend, mit dem skandinavischen Messer, dem »Dolknif«, mit dem der echte Norweger stets ausgerüstet ist.

Unter derartigen Beschäftigungen verstrichen die letzten Wochen des April und die ersten des Mai. Die Besorgung der Einladungen hatte sich Joël angelegen sein lassen, da ihm sein Geschäft als Führer in dieser Jahreszeit noch einige freie Zeit ließ. Vorzüglich in Bamble schien er sehr viele Freunde und Bekannte zu haben, denn dahin begab er sich besonders häufig; und wenn er nicht selbst nach Bergen gegangen war, um die Herren Gebrüder Help einzuladen, so hatte er diesen wenigstens geschrieben. Wie er vorausgesetzt, hatten die beiden Herren umgehend und freudig zugesagt, der Hochzeit Ole Kamp's, des jungen Steuermannes vom »Viken«, beizuwohnen.

Inzwischen war der 15. Mai herangekommen. Von Tag zu Tag konnte man also erwarten, Ole aus dem Schußkarren steigen, die Thür öffnen zu sehen und ihn rufen zu hören.

»Ich bin's!... Da bin ich!«

Es galt also, sich nur noch ein wenig zu gedulden. Uebrigens war Alles bereit. Sigrid bedurfte nur eines Winks, um in vollem Festschmuck zu erscheinen.

Der 16. und 17. verliefen ohne Aenderung der Sachlage, und das Postschiff von Neufundland hatte auch keinen weiteren Brief gebracht.

»Darüber brauchst Du Dich nicht zu wundern, Schwesterchen, wiederholte Joël häufiger. Ein Segelschiff kann zu leicht Verzögerungen erleiden. Die Fahrt von Saint Pierre Miquelon bis Bergen ist immerhin ziemlich lang. Ach, daß der »Viken« kein Dampfer ist und ich nicht an seiner Maschine stehe! Ich wollte ihn schon mit Gewalt gegen Wind und Wellen laufen lassen, und wenn mir, im Hafen angekommen, auch der Kessel platzte!«

Er führte solche Reden gern, weil er Huldas Unruhe von Tag zu Tag wachsen sah.

[42] Gerade jetzt herrschte übrigens recht schlechtes Wetter in Telemarken. Rauhe Winde jagten über die hohen Fjelds, und diese von Westen wehenden Winde kamen von Amerika her.

»Sie müßten doch eigentlich die Fahrt des »Viken« beschleunigen, sagte das junge Mädchen wiederholt.

– Ohne Zweifel, antwortete Joël, doch wenn sie gar zu heftig sind, können sie ihn auch belästigen und zwingen, sich dem Sturme gerade entgegen zu halten. Auf dem Meere thut man nicht immer, was man eben möchte.

– Du bist also nicht unruhig, Joël?

– Nein, Hulda, gewiß nicht! Solche Verzögerungen sind ja bedauerlich, aber ebenso natürlich. Nein, ich bin nicht unruhig darum, und wir haben auch gar keine Ursache, es zu sein.«

Am 19. traf in dem Gasthause ein Reisender ein, der einen Führer wünschte, um ihn auf dem Wege über's Gebirge bis nach der Grenze von Hardanger zu begleiten. Obwohl es ihm recht unangenehm war, Hulda sich selbst zu überlassen, konnte Joël das Verlangen des Fremden doch nicht abschlagen. Er gedachte dabei höchstens achtundvierzig Stunden auszubleiben und hoffte, bei der Rückkehr endlich Ole anzutreffen. In Wahrheit fing der junge Mann allerdings an, sich ernstlich zu beunruhigen; er ging also an diesem Morgen mit recht schwerem Herzen fort.

Am folgenden Tage, genau um ein Uhr Nachmittags, klopfte Jemand an die Thür des Gasthauses.

»Sollte das Ole sein?« rief Hulda.

Sie sprang auf, um zu öffnen.

Vor dem Hause zeigte sich, noch auf dem Sitze des Schußkarrens, ein Mann im Reisemantel, dessen Gesicht ihr völlig unbekannt war.

6. Capitel

VI.

»Ist das das Gasthaus der Frau Hansen? – Ja wohl, antwortete Hulda.

– Ist wohl Frau Hansen selbst zu Hause?

[43] – Nein, doch sie wird bald wiederkommen.

– Bald?...

– Augenblicklich; wenn Sie vielleicht mit ihr zu sprechen haben...

– Keineswegs; ich habe ihr nichts zu sagen.

– Wünschen Sie ein Zimmer?

– Ja, das beste des Hauses.

– Und soll ich Ihnen ein Mittagsmahl zurecht machen?

– So schnell als möglich, und sehen Sie darauf, daß mir das Beste, was Küche und Keller bieten, vorgesetzt wird.«

Diese Worte wurden zwischen Hulda und dem Reisenden gewechselt, noch ehe dieser aus dem Wagen stieg, den er zur Fahrt durch die tiefen Wälder, über die Seen und durch die Thalgründe des mittleren Norwegens bis ins Herz von Telemarken benutzt hatte.

Man kennt wohl schon vielfach das Gefährt, den Transport-Apparat, den die Skandinavier ganz besonders bevorzugen: eine lange Gabeldeichsel, zwischen der ein Pferd mit Holzkummet läuft, das meist gelblich von Farbe und von starker Mähne ist. Dasselbe wird durch einen Strang geleitet, der nicht als Gebiß durch dessen Maul verläuft, sondern an der Nase befestigt ist. Dazu zwei große einfache Räder, deren federlose Achse einen kleinen farbigen, kaum für eine Person hinreichenden Sitzkasten trägt – von einem Verschlag, einem Schutzleder oder Fußtritt ist keine Rede – und hinter dem Sitze ein Brett, auf dem der »Skydskarl« Platz nimmt. Das Ganze ähnelt etwa einer gewaltigen Spinne, deren doppeltes Netz die beiden Räder des Gefährtes darstellen.

Und mit diesem sehr urwüchsigen Werke der Wagenbaukunst kann man sehr wohl Strecken von fünfzehn bis zwanzig Kilometern ohne große Belästigung zurücklegen.

Auf ein Zeichen des Reisenden beeilte sich dessen Bursche, das Pferd zu halten. Dann erhob sich jene Persönlichkeit, schüttelte und streckte sich und stieg nicht ohne einige Anstrengung herab, was man aus dem übellaunigen Murren desselben abnehmen konnte.

»Mein Wagen kann doch wohl eingestellt werden?

– Ja gewiß, versicherte Hulda.

– Und mein Pferd kann auch Futter haben?

– Ich werde es nach dem Stalle bringen.

– Daß es nur gut versorgt wird!

[44] – Seien Sie darum außer Sorge. Darf ich fragen, ob Sie mehrere Tage in Dal zu verweilen gedenken?

– Das weiß ich noch nicht.«

Pferd und Wagen wurden nach einem innerhalb der Umfriedigung errichteten offenen Schuppen gebracht, der schon am Fuße des Berges unter dem Schutze von Baumkronen stand. Es war das der einzige Schuppen und Stall zugleich, der sich bei dem Gasthause vorfand, doch genügte er stets für die hier weilenden Gäste.

Bald nachher war der Reisende, wie er es verlangt hatte, im besten Zimmer des Hauses untergebracht. Nachdem er den weiten Ueberrock abgelegt, wärmte er sich vor einem tüchtigen Holzfeuer, das er hatte anzünden lassen. Um seine wenig anheimelnde Laune zu verbessern, empfahl Hulda der »Piga«, ja das möglich beste Mittagsbrot zu bereiten. Diese »Piga« war ein kräftiges Mädchen aus der Umgebung, welche während des Sommers in der Küche und bei den gröberen häuslichen Arbeiten zur Aushilfe diente.

Der neue Ankömmling war, obwohl er die Sechzig überschritten haben mochte, doch noch ein wohlerhaltener Mann. Mager, in der Haltung etwas gebeugt, von mittlerer Größe, knochigem Kopfe, glattem Gesicht, mit spitzer Nase und kleinen Augen mit durchbohrendem Blick hinter den großen Brillengläsern, mit einer meist in Falten liegenden Stirn und zu dünnen Lippen, als daß über dieselben je hätte ein freundliches Wort kommen können, und endlich mit langen, fast klauenartigen Händen bildete er den Typus eines Pfandleihers oder Wucherers. Hulda hatte das Vorgefühl, als ob dieser Reisende dem Hause der Frau Hansen nicht eben Glück bringen dürfte. Daß er von Geburt Norweger war, erkannte man auf den ersten Blick, doch fanden sich in seiner Erscheinung von dem skandinavischen Typus nur die niedrigen Seiten vereinigt. Sein Reiseanzug bestand aus einem niedrigen breitkrämpigen Hute, einem Rocke aus weißlichem Tuch, einer über der Brust sich kreuzenden Weste, am Knie durch die Schnalle einer Lederstrippe befestigtem Beinkleide und über dem Allen aus einer Art bräunlichem Pelz, der inwendig mit Schaffell gefüttert war – was sich durch die auf den Hochebenen und in den tiefen Thälern Telemarkens noch recht kalten Abende und Nächte hinlänglich erklärte.

Nach dem Namen dieser Persönlichkeit hatte Hulda vorläufig noch nicht gefragt. Sie mußte denselben ja bald erfahren, da sie ihn in das Fremdenbuch des Gasthauses einzutragen hatte.

[45] In diesem Augenblick kehrte Frau Hansen zurück. Ihre Tochter meldete ihr die Ankunft eines Reisenden, der das beste Zimmer und beste Mittagsessen beansprucht hätte. Ob er sich längere Zeit in Dal aufhalten werde, konnte sie nicht sagen, da jener sich darüber nicht ausgesprochen hatte.

»Er hat auch seinen Namen nicht genannt? fragte Frau Hansen.

– Nein, Mutter.

– Auch nicht gesagt, woher er käme?

– Nein.

– Es ist jedenfalls ein Vergnügungsreisender, und ich bedaure nur, daß Joël nicht zu Hause ist, um sich ihm zur Verfügung stellen zu können. Was thun wir, wenn er einen Führer verlangen sollte?

– Ich halte ihn für keinen Vergnügungsreisenden, sagte Hulda. Es ist ein schon bejahrterer Mann...

– Doch wenn er kein Lustreisender ist, was sollte er in Dal wollen?« erwiderte Frau Hansen, vielleicht mehr mit sich selbst, als mit ihrer Tochter redend, und in einem Tone, der eine gewisse Unruhe erkennen ließ.

Auf die letztere Frage vermochte Hulda nicht zu antworten, da ihr der Reisende von seinen Absichten ja nichts mitgetheilt hatte.

Eine Stunde nach seiner Ankunft trat jener Mann in die große, neben seinem Zimmer gelegene Stube. Beim Erblicken der Frau Hansen blieb er einen Augenblick auf der Schwelle stehen.

Offenbar kannte er bisher seine Wirthin von Person ebenso wenig, wie diese ihn. Er schritt auf diese zu und begann, nachdem er sie durch die Brille scharf angesehen und ohne den Hut, den er noch auf dem Kopfe trug, nur mit der Hand zu berühren:

»Frau Hansen, wenn ich nicht irre?...

– Das bin ich, mein Herr,« entgegnete die Wirthin.

In Gegenwart dieses Mannes empfand sie, ganz wie ihre Tochter, eine gewisse Beklemmung, die Jenem nicht entgehen konnte.

»Sie sind also die Frau Hansen aus Dal?

– Ja, natürlich. Haben Sie mir vielleicht etwas Besonderes mitzutheilen?

– Keineswegs, ich wollte zunächst nur Ihre Bekanntschaft machen. Ich bin ja Ihr Gast. Wollen Sie nun dafür sorgen, daß mir das Essen so bald wie möglich aufgetragen wird.

[46] – Ihr Mittagsmahl ist bereit, erklärte Hulda. Wollen Sie sich gefälligst nach dem Speisezimmer bemühen....

– Ja wohl.«

Damit ging der Reisende schon nach der, ihm von dem jungen Mädchen gezeigten Thür zu. Eine Minute nachher saß er in der Nähe des Fensters vor einem sauber gedeckten Tischchen.

Das Mittagsmahl war sicherlich sehr gut. Auch der verwöhnteste Lustreisende hätte daran gewiß nichts auszusetzen gefunden. Diese wenig geduldige Persönlichkeit ließ es jedoch an Zeichen und Worten für seine Unzufriedenheit nicht fehlen – vorzüglich nicht an Zeichen, denn er schien nicht allzu gesprächiger Natur zu sein. Man konnte sich wohl fragen, ob daran, daß er so anspruchsvoll war, sein schlechter Magen oder seine üble Laune die Schuld trug. Die Kirsch- und Johannisbeersuppe schien ihm wenig zu munden, obgleich sie gewiß vorzüglich zubereitet war. Er berührte weder die Lachsschnitten noch den marinirten Häring. Der zarte, rohe Schinken, ein appetitliches halbes Hühnchen und verschiedene trefflich zugerichtete Gemüse gefielen ihm ebenso wenig. Selbst mit der Flasche Saint-Julien und der halben Flasche Champagner schien er unzufrieden zu sein, obwohl diese erwiesenermaßen den besten Kellereien Frankreichs entstammten.

Die natürliche Folge hiervon war, daß der Reisende, als er vom Tische aufstand, nicht ein einziges »Tak for mad« für seine Wirthin hatte.

Nach der Mahlzeit zündete sich der Murrkopf eine Pfeife an, verließ die Stube und ging nach dem Ufer des Maan spazieren.

Am Flusse angelangt, wendete er sich um; seine Blicke hafteten unablässig auf dem Gasthause. Es schien, als studirte er es wörtlich nach Plan und Bauart, nach Größe und Höhe, als wollte er den Werth desselben möglichst abschätzen. Er zählte die Thüren und Fenster des Hauses, und als er wieder vor den wagrecht gelagerten Grundbalken desselben stand, machte er in diese drei kleine Einschnitte mit der Spitze seines Dolknif, um die Art des Holzes zu erkennen und zu sehen, wie es sich erhalten habe. Wollte er sich wirklich darüber Rechenschaft geben, wie viel das Gasthaus der Frau Hansen werth sei? Beabsichtigte er es vielleicht gar zu erwerben, obwohl es doch nicht zum Verkaufe stand? Sein Benehmen erschien mindestens auffallend. Nach dem Hause musterte er ebenso ein dazu gehöriges eingehegtes Stück Land, dessen Bäume und Sträucher er zählte. Endlich maß er zwei Seiten desselben in gleichmäßigen Schritten ab, [47] und die Bewegung seines Bleistiftes auf einer Seite des in der Hand gehaltenen Notizbuches ließ vermuthen, daß er die beiden erhaltenen Zahlen multiplicirte.

Immer aber schüttelte er dabei den Kopf und brummte, die Augenbrauen runzelnd, wie mißbilligend vor sich hin.

Bei seinem Hin- und Hergehen beobachteten ihn Frau Hansen und ihre Tochter durch ein Fenster der großen Stube, verwundert, mit welch' sonderbarer Persönlichkeit sie zu thun hätten, und was wohl Ziel und Zweck der Reise dieses Tollhäuslers sein könne. Es war beklagenswerth, daß Alles das sich [48] während der Abwesenheit Joëls zutrug, da der Reisende mindestens noch die nächste Nacht im Gasthause zubringen sollte.

»Wenn das nun ein geisteskranker Narr wäre! bemerkte Hulda.


Der Reisende wärmte sich vor einem tüchtigen Feuer. (S. 45.)

– Ein Narr?... Nein, erwiderte Frau Hansen, aber es ist ein sonderbarer Mann.

– Es ist immer ärgerlich, nicht zu wissen, wen man in seinem Hause aufnimmt, sagte das junge Mädchen.

– Hulda, antwortete ihre Mutter, denke daran, bevor der Reisende wieder eintritt, ihm das Fremdenbuch ins Zimmer zu legen.

– Ja, gewiß, Mutter.

– Vielleicht läßt er sich dann herbei, seinen Namen einzuschreiben.«

Gegen acht Uhr, es wurde schon etwas dunkel, begann ein seiner Regen niederzurieseln, der das Thal bis zur halben Bergeshöhe mit feuchtem Dunst erfüllte. Zum Spazierengehen war das Wetter eben nicht günstig. Auch der neue Gast der Frau Hansen kam, nachdem er den schmalen Fußweg bis zum Sägewerk hinauf verfolgt, nach dem Gasthause zurück, wo er sich ein Gläschen Branntwein bestellte. Ohne ein weiteres Wort zu äußern und ohne Jemand »Gute Nacht« zu wünschen, ergriff er dann einen Holzleuchter mit brennender Kerze, zog sich nach seinem Zimmer zurück und verriegelte dessen Thür. Während des Abends und der Nacht war nichts weiter von ihm zu hören.

Der Skydskarl hatte unter dem Schuppen für die Nacht Obdach gesucht. Hier schlief er schon zwischen der Wagendeichsel neben seinem gelblichen Pferde und unbekümmert um Sturm und Wetter draußen.

Am folgenden Tage erhoben sich Frau Hansen und ihre Tochter mit dem Morgenrothe. Aus dem Zimmer des Reisenden, der noch zu schlafen schien, hörte man kein Geräusch. Etwas nach neun Uhr erst trat dieser in die große Gaststube mit womöglich noch grämlicherem Aussehen, als gestern, beklagte sich über das Bett, das zu hart sei, über den Lärm im Hause, der ihn aufgeweckt habe, würdigte aber Niemand eines Grußes. Dann öffnete er die Thür und betrachtete die Beschaffenheit des Himmels.

Das Wetter sah nicht gerade zum Besten aus. Ein scharfer Wind fegte über die Gipfel des Gusta, der von Dunstwolken verhüllt war, und fing sich in dem Thale, das er in heftigen Stößen durchtobte.

Der Reisende zögerte, herauszutreten, trotzdem verlor er seine Zeit noch nicht Seine Pfeife rauchend ging er in dem Gasthaus umher, sachte dessen [49] innere Einrichtung kennen zu lernen, besah sich die verschiedenen Zimmer, musterte die Möbel und Geräthe, öffnete Wandschränke und Schubladen und benahm sich überhaupt, als ob er sich in den eigenen vier Pfählen befände. Man hätte ihn wohl auch für einen Gerichtsbeamten halten können, der Zwecks einer Zwangsversteigerung ein Inventar aufnahm.

Entschieden trat der Mann sonderbar auf und sein Vorgehen wurde immer verdächtiger.

Nachdem das geschehen, nahm er in dem großen Lehnstuhle der Gaststube Platz und richtete mit kurz abgebrochener ruhiger Stimme an Frau Hansen einige Fragen. Seit wie lange das Gasthaus schon erbaut wäre; ob ihr Mann Harald es erst errichtet oder schon erblich übernommen habe; ob sich schon Reparaturen nothwendig gemacht hätten; wie viel Flächeninhalt die Umfriedung einschließe und wie viel der dazu gehörige Garten habe; ob sie gute Kundschaft hätte und ihr Haus sonst gelobt würde; wie viele Lustreisende im Durchschnitt jedes Jahr hier vorsprächen und ob sie gewöhnlich nur einen oder mehrere Tage hier blieben, und dergleichen mehr.

Offenbar hatte der Reisende nicht von dem in seinem Zimmer niedergelegten Fremdenbuche Einsicht genommen, denn das hätte ihm wenigstens über die letzte Frage Aufschluß gegeben.

Wirklich fand sich das Buch noch an der Stelle, wo es Hulda hingelegt, und der Name des Reisenden stand noch nicht darin.

»Mein. Herr, sagte da Frau Hansen, ich begreife eigentlich nicht, wie alle diese Dinge für Sie Interesse haben können. Doch wollen Sie erfahren, wie unsere Geschäfte hier gehen – nichts leichter als das. Sie brauchen nur das Fremdenbuch zu durchblättern. Ich möchte Sie auch bitten, wie es allgemein Sitte ist, Ihren Namen in dasselbe einzutragen...

– Meinen Namen?... Gewiß werd' ich meinen Namen einschreiben, Frau Hansen!... Ich werde ihn einschreiben, wenn ich mich von Ihnen verabschiede.

– Sollen wir Ihnen das Zimmer noch aufheben?

– Das ist unnöthig, erwiderte der Reisende sich erhebend. Ich werde schon nach dem Frühstück abreisen, um heute Abend wieder in Drammen zu sein.

– In Drammen?... sagte Frau Hansen.

– Ja, sorgen Sie also, daß ich schnell bedient werde.

– Sie wohnen wohl in Drammen?

[50] – Ja, ist etwas so Außergewöhnliches dabei, daß ich in Drammen wohne?«

Nachdem er also kaum einen Tag in Dal oder vielmehr nur im Gasthaus daselbst zugebracht, kehrte dieser Reisende wieder zurück, ohne vom Lande etwas gesehen zu haben. Er betrat den Bezirk nicht weiter. Um den Gusta, den Rjukansos, um die Wunder des Vestfjorddals bekümmerte er sich nicht im mindesten. Nicht um des Vergnügens, sondern gewiß um irgend welchen Geschäftes willen hatte er Drammen, wo er wohnte, verlassen, und es schien, als habe er gar keinen anderen Zweck gehabt, als den, das Haus der Frau Hansen auf's Eingehendste zu besichtigen.

Hulda sah recht wohl, daß ihre Mutter auffallend bekümmert war. Frau Hansen hatte sich wieder in den großen Lehnstuhl gesetzt, stieß das Spinnrad zurück und blieb, ohne ein Wort zu sagen, unbeweglich sitzen.

Der Reisende war inzwischen nach dem Speisezimmer gegangen und hatte am Tische Platz genommen.

Das ebenso sorgfältig wie das gestrige Mittagsbrot bereitete Frühstück schien ihm ebenfalls nicht zu passen; dennoch aß er nicht wenig und trank tüchtig dazu; seine Hauptaufmerksamkeit richtete sich aber offenbar dem Werthe des Silberzeugs zu – ein Luxus, auf den die norwegischen Landleute viel halten – auf einige Löffeln und Gabeln, die von dem Vater auf den Sohn forterben und die man sorgfältig mit den Kleinodien der Familie aufbewahrt.

Während dieser Zeit traf der Skydskarl seine Vorbereitungen zur Rückreise. Um elf Uhr warteten Wagen und Pferde vor der Thür des Gasthauses.

Die Witterung war noch immer nicht einladend, der Himmel grau und stürmisch; manchmal schlug der Regen wie Hagel an die Fensterscheiben. Mit seinem Doppelpelzmantel, der auch den Kopf schützte, kümmerte sich der Reisende darum blutwenig.

Nach vollendetem Frühstück genoß er noch ein Glas Branntwein, zündete die Pfeife an und zog den Mantel über; dann kam er nach der Gaststube zurück und verlangte seine Rechnung.

»Ich werde sie sogleich aufsetzen, sagte Hulda, die schon vor einem kleinen Schreibtische Platz nahm.

– Beeilen Sie sich! drängte der Reisende. – Doch da fällt mir ein, geben Sie mir doch das Fremdenbuch, damit ich mich eintrage.«

Frau Hansen stand auf, das genannte Buch zu holen, und legte dasselbe dann auf den großen Tisch nieder.

[51] Der Reisende ergriff eine Feder und sah zum letzten Male Frau Hansen durch die Brille scharf an. Nachher schrieb er mit sehr großen Buchstaben seinen Namen in das Buch und klappte es sogleich wieder zu.

Da brachte ihm Hulda die Rechnung.

Er nahm sie entgegen, prüfte die einzelnen Posten und zählte sie offenbar wie murrend noch einmal zusammen.

»Hm, sagte er, das ist aber viel Geld! Sieben und eine halbe Mark für eine Nacht und zwei Mahlzeiten?

– Es bezieht sich auch auf den Skydskarl und das Pferd.

– Thut nichts, ich finde es theuer; so freilich wundert es mich nicht, daß Sie in diesem Hause gute Geschäfte machen!

– Sie sind gar nichts schuldig!« ließ sich da Frau Hansen mit so gedämpfter Stimme vernehmen, daß man sie fast gar nicht hörte.

Sie hatte eben das Buch aufgeschlagen und den eingeschriebenen Namen gelesen. Schnell ergriff sie darauf die Rechnung, zerriß diese und sagte noch einmal:

»Sie sind uns gar nichts schuldig!

– Das dächte ich auch!« antwortete der Reisende.

Und ohne Lebewohl zu sagen, so wenig, wie er bei der Ankunft guten Tag gesagt, bestieg er den Schußkarren, während der Bursche hinter ihm auf den Tritt sprang. Einige Augenblicke später war er schon hinter einer Wendung der Straße verschwunden.

Als Hulda das Buch geöffnet hatte, fand sie nur den Namen:

»Sandgoïst aus Drammen.«

7. Capitel

VII.

Es war am Nachmittag des folgenden Tages, wo Joël nach Dal zurückkehren wollte, nachdem er den Touristen, dem er als Führer gedient, nach der Straße, die durch Hardanger geht, gebracht hatte.

Hulda, welche wußte, daß ihr Bruder vom Gusta längs des linken Ufers des Maan zurückkommen würde, war ihn zu erwarten nach der Stelle gegangen,[52] wo man gewöhnlich über den ungestümen Wasserlauf setzte. Dort ließ sie sich auf der kleinen Landungsbrücke nieder, welche zum Anlegen der Fähre errichtet ist, und überließ sich ihren trüben Gedanken. Zu der lebhaften Unruhe, die ihr das Ausbleiben des »Viken« erweckte, gesellte sich jetzt noch eine andere große Angst. Diese Angst entsprang dem Besuche jenes Sandgoïst und dem Benehmen ihrer Mutter gegen denselben. Warum hatte diese, sobald sie seinen Namen erfuhr, die Rechnung zerrissen und sich geweigert, anzunehmen, was ihr mit Recht zukam? Hier lag ein Geheimniß und gewiß ein sehr ernstes zu Grunde.

Durch das Eintreffen Joëls wurde Hulda endlich aus ihrem Nachsinnen wachgerufen; sie gewahrte ihn schon, als er den Bergabhang herunterkam. Bald erschien er inmitten einer beschränkten Lichtung unter niedergeschlagenen oder stellenweise abgebrannten Bäumen; bald verschwand er wieder unter dem dichten Gezweig von Fichten, Birken und Buchen, mit denen die Bergwand bekleidet ist. Endlich erreichte er das jenseitige Ufer und sprang in die kleine Fähre. Mit wenigen kräftigen Ruderschlägen hatte er den Wirbel des rauschenden Wasserlaufs durchschnitten, sprang auf das Ufer hinauf und befand sich neben seiner Schwester.

»Ist Ole gekommen?« fragte er.

An Ole dachte auch er zuerst. Seine Frage blieb jedoch ohne Antwort.

»Kein Brief von ihm?

– Nein, keiner!«

Hulda drangen Thränen aus den Augen.

»Nein, rief da Joël, weine nicht, liebe Schwester, weine nicht!... Du thust mir zu weh!... Ich kann Dich nicht weinen sehen!... Sieh einmal, Du sagst: »Kein Brief!« Ich gebe ja zu, daß das allmählich beunruhigend wird, doch zu verzweifeln ist es noch gar kein Grund. Wenn Du willst, begebe ich mich sofort nach Bergen und ziehe dort Erkundigungen ein; ich suche die Herren Gebrüder Help auf; vielleicht haben diese Nachrichten von Neufundland. Könnte der »Viken« nicht in Folge erlittener Beschädigungen in irgend einen Hafen haben einlaufen oder vor dem schlechten Wetter entfliehen müssen? Es steht ja fest, daß der Wind seit einer ganzen Woche schon recht stürmisch weht. Schon mehr als einmal haben Schiffe von Neufundland aus bei Island oder zwischen den Färöern Schutz suchen müssen. Ole hat es ja selbst schon erlebt, als er vor zwei Jahren auf dem »Strenna« fuhr. Man hat eben nicht alle Tage Gelegenheit, einen Brief abzusenden. Ich sage Dir das, ganz wie ich's mir[53] denke, Schwesterchen. Fasse Dich! Beruhige Dich! Wenn Du mich auch zum Weinen bringst, was soll dann aus uns werden?

– Ach, der Kummer überwältigt mich doch!

– Hulda... Hulda... Verlier' den Muth nicht!... Ich versichere Dich, daß ich noch lange nicht verzweifle!

– Darf ich Dir glauben, Joël?

– Ob Du das kannst! Doch willst Du, um Deiner Beruhigung willen, daß ich nach Bergen aufbreche... morgen früh... oder noch heut' Abend...?

– Ich will nicht, daß Du mich allein läßt!... Nein!... Das will ich nicht!« antwortete Hulda, die sich an ihren Bruder klammerte, als ob sie in der Welt Niemand außer ihm habe.

Beide schlugen den Weg nach dem Gasthause ein. Es hatte jedoch wieder zu regnen angefangen und auch der Wind blies so heftig, daß sie sich wenige hundert Schritte vom Ufer des Maan in die Hütte des Fährmannes flüchten mußten.

Hier warteten sie nun wohl oder übel, bis sich das Wetter etwas besserte. Joël empfand das Bedürfniß zu sprechen, was es auch sei. Das Stillschweigen schien ihm schlimmer, als Alles was er sagen konnte, wenn das auch keine Trostworte waren.


Hier warteten sie nun, bis sich das Wetter etwas besserte. (S. 54.)

»Und unsere Mutter? begann er.

– Sie wird immer niedergeschlagener, immer trauriger, antwortete Hulda.

– Ist während meiner Abwesenheit Jemand gekommen?

– Ja, ein Reisender, der aber schon wieder fort ist.

– Jetzt ist also kein Fremder im Hause und es hat auch Niemand einen Führer verlangt?

– Nein, Joël.

– Desto besser, denn es ist mir lieber, Dich nicht zu verlassen. Wenn die schlechte Witterung übrigens jetzt so fortdauert, fürchte ich sehr, daß die Lustreisenden dieses Jahr darauf verzichten, Telemarken zu besuchen.

– Es ist noch sehr zeitiges Frühjahr, Bruder.

– Gewiß, aber ich habe so eine Art Vorgefühl, daß es für uns kein gutes Jahr wird. Indeß, das wird sich ja zeigen. Doch sage mir, gestern hat jener Reisende Dal schon wieder verlassen?

– Ja, noch des Vormittags.

– Und wer war es?

[54] [57]– Ein älterer Mann, der von Drammen kam, wo er dem Anscheine nach wohnt, und der sich Sandgoïst nennt.

– Sandgoïst?

– Solltest Du ihn kennen?

– Nein!« antwortete Joël.

Hulda hatte sich schon die Frage vorgelegt, ob sie Joël Alles, was sich während seiner Abwesenheit im Gasthaus zugetragen, erzählen solle.


Eine Sägemühle wurde sichtbar. (S. 62.)

Wenn Joël vernahm, mit welcher Ungenirtheit jener Mann sich benommen, wie er offenbar [57] den Werth des Gebäudes und des Mobiliars berechnet, und welches Benehmen ihre Mutter Jenem gegenüber einzuhalten für angezeigt gehalten habe – was würde er davon denken? Mußte er nicht auf die Vermuthung kommen, daß die Mutter sehr wichtige Gründe haben müsse, so zu handeln, wie sie es gethan hatte? Und doch, was konnte sie mit jenem Sandgoïst zu thun haben? Hier lag sicherlich ein der ganzen Familie unheildrohendes Geheimniß vor. Joël würde das erfahren wollen, er würde seine Mutter darum fragen, würde sie bestürmen.... Frau Hansen aber, die im Allgemeinen wenig mittheilsam und nicht leicht geneigt war, Jemand in ihr Inneres blicken zu lassen, würde doch ihr Stillschweigen ebenso bewahren, wie sie es bis letzt gethan hatte. Das schon so betrübende Verhältniß zwischen ihr und ihren Kindern drohte damit aber nur ein noch peinlicheres zu werden.

Doch hätte das junge Mädchen gegen Joël schweigen können? Eher schien es, als wenn ein Riß in dem Freundschaftsband entstände, das die beiden Geschwister von jeher vereinte. Denn diese Freundschaft durfte nimmermehr gelockert werden! Hulda entschloß sich also, zu reden.

»Du hast niemals von diesem Sandgoïst reden hören, wenn Du nach Drammen kamst? nahm sie wieder das Wort.

– Niemals.

– Nun, so wisse denn, daß unsere Mutter ihn, wenigstens dem Namen nach, schon kannte.

– Sie kannte Sandgoïst?

– Ja, Bruder.

– Doch hab' ich sie diesen Namen noch nie nennen hören.

– Aber sie kannte ihn, obwohl sie den Mann vor seinem gestrigen Besuche gewiß niemals gesehen hatte.«

Hulda erzählte ihm alle auffallenden Erscheinungen während des Verweilens jenes Reisenden im Gasthause, ohne die fast verblüffende Handlungsweise der Frau Hansen bei der Abfahrt Sandgoïst's unerwähnt zu lassen. Dann fügte sie noch hinzu:

»Ich denke, Joël, es ist besser, unsere Mutter nicht darum zu fragen Du kennst sie ja. Sie würde dadurch nur unglücklicher werden. Die Zukunft wird es ja noch enthüllen, was uns bisher verborgen blieb. Gebe der Himmel, daß Ole bald zurückkehrt, und wenn ein Unglück unsere Familie bedrohte, wären wir wenigstens Drei, dasselbe zu theilen!«

[58] Joël hatte seiner Schwester mit schweigender Aufmerksamkeit zugehört. Ja, zwischen der Mutter und jenem Sandgoïst bestand irgend ein Verhältniß, welches die erstere von letzterem völlig abhängig machte. Nach dem Vorgefallenen konnte man ja gar nicht daran zweifeln, daß Jener nur gekommen war, um sich ein Inventar-Verzeichniß des Gasthauses von Dal zu verschaffen. Und das Zerreißen der Rechnung, im Augenblicke, da Jener abfahren wollte, was demselben noch dazu fast selbstverständlich erschienen war, was konnte das bedeuten?

»Du hast Recht, Hulda, ich werde der Mutter gegenüber hiervon nichts erwähnen. Vielleicht bereut sie es einst noch, sich uns nicht anvertraut zu haben. Wenn es nur nicht schon zu spät ist! O, sie mag wohl schwer leiden, die arme Frau! Warum ist sie so verschlossen? Warum begreift sie nicht, daß das Herz der Kinder geschaffen ist, ihre Sorgen in dasselbe zu ergießen?

– Sie wird es noch einsehen. Joël.

– Ja, also warten wir es ab. Doch inzwischen wird es mir nicht verwehrt sein können, zu erfahren zu suchen, wer und was jenes Individuum ist. Vielleicht kennt ihn Herr Helmboë. Ich werde ihn darum fragen, sobald ich wieder nach Bamble komme, und wenn es sein muß, begebe ich mich sogar selbst nach Drammen. Dort kann es nicht schwer sein, auszukundschaften, was dieser Mann betreibt, welche Art Geschäfte er macht und was die Leute darüber urtheilen.

– Nichts Gutes, das glaube ich bestimmt, erwiderte Hulda. Seine Erscheinung ist abstoßend und er hat einen bösen Blick; es sollte mich sehr wundern, wenn unter dieser rauhen Außenseite eine edelmüthige Seele wohnte.

– Ei nun, entgegnete Joël, wir wollen die Leute nicht nach ihrer äußeren Erscheinung beurtheilen. Ich wette darauf, Du würdest ihn gewiß ganz anders ansehen, wenn jener Sandgoïst etwa gar wiederkäme und im Arme Deinen Ole führte....

– Ach, mein armer Ole! seufzte das junge Mädchen.

– Der wird schon wieder kommen, er kommt wieder, er ist schon unterwegs! rief Joël. Habe nur Vertrauen, Hulda! Ole ist nicht mehr fern von uns, und wir werden es ihm vergelten, daß er so lange gezögert hat!«

Der Regen hatte nachgelassen. Die Geschwister verließen die Hütte und schlugen den Fußpfad wieder ein.

»Da fällt mir noch ein, sagte Joël, daß ich morgen wieder fortgehe.

– Du willst wieder fort?

[59] – Ja, schon am frühen Morgen.

– So zeitig, Bruder?

– Es muß sein, Hulda. Als ich von Hardanger heimkehren wollte, wurde mir von einem meiner Kameraden gemeldet, daß ein Reisender von Norden her über die Höhen des Rjukansos komme, wo er morgen eintreffen müsse.

– Wer ist dieser Reisende?

– Meiner Treu, ich weiß nicht einmal seinen Namen. Es ist aber nothwendig, daß ich mich rechtzeitig einstelle, um ihn nach Dal zu führen.

– Nun, so geh', wenn Du nicht anders kannst, antwortete Hulda mit einem schweren Seufzer.

– Morgen mit Tagesanbruch mache ich mich auf den Weg. Das betrübt Dich, Hulda?

– Ja, Bruder. Ich bin so unruhig, wenn Du mich verläßt... und wär's auch nur für wenige Stunden!

– Nun, so wisse, daß ich diesmal nicht allein fortgehe.

– Und wer wird Dich begleiten?

– Du, Schwesterchen, Du selbst! Du mußt eine Zerstreuung haben, deshalb nehme ich Dich mit.

– O, ich danke Dir, lieber Joël!«

8. Capitel

VIII.

Am anderen Morgen brachen Beide mit Tagesgrauen aus dem Gasthause auf. Fünfzehn Kilometer von Dal bis nach den berühmten Wasserfällen, und ebenso viel zurück, das wäre für Joël nur ein Spazierweg gewesen, doch er mußte die Kräfte Huldas schonen. Joël hatte sich also den Schußkarren des Werkführers Lengling verschafft, und wie alle Wagen dieser Art, hatte auch dieser nur einen einzigen Sitzplatz. Jener gute Mann war aber so dick, daß er sich einen eigenen Sitzkasten hatte bauen lassen müssen, und dieser reichte hin, Joël und Hulda dicht nebeneinander aufzunehmen. Wenn sich der angemeldete Reisende also am Rjukansos befand, so sollte er Joëls Platz einnehmen, und [60] dieser gedachte zu Fuß zurückzukehren, wenn er nicht das Brett am hinteren Theile des Gefährtes benützte.

Obwohl er manche Hindernisse bietet, ist der Weg von Dal nach den Wasserfällen doch wirklich wunderschön; freilich besteht er mehr aus einem Pfad, als aus einer eigentlichen Straße. Kaum vierkantig behauene Blöcke, welche quer über die Zuflüsse des Maan gelegt sind, bilden, immer nur wenige Schritte von einander, kleine Brücken. Das norwegische Pferd ist aber schon gewöhnt, dieselben sicheren Fußes zu überschreiten, und wenn der Wagen auch keine Schwungfedern hat, so mildert doch die lange, etwas elastische Gabeldeichsel in gewissem Grade das unvermeidliche Stoßen beim Fahren.

Das Wetter war jetzt schön. Joël und Hulda fuhren in mäßigem Trabe längs der saftgrünen Wiesengründe hin, deren Rand zur Linken von den klaren Gewässern des Maan gebadet wird. Einige tausend Birken beschatteten da und dort angenehm den von der hellen Sonne beschienenen Weg. Die Dünste der Nacht hingen jetzt als schimmernde Tröpfchen an den Spitzen des langen Grases. Zur Rechten des Bergstromes glänzten in der Höhe von zweitausend Metern die Schneefelder des Gusta leuchtend in die Ferne hinaus.

Eine Stunde lang kam das Gefährt ziemlich schnell vorwärts, da der Weg nur unmerklich aufstieg. Bald verengte sich aber das Thal. Hier und da verwandelten sich die Wasserläufe in schäumende Sturzbäche. Trotz der vielen Windungen des Weges konnte dieser alle Unebenheiten des Bodens doch nicht umgehen. Es war also nun manchmal recht schwierig, vorwärts zu kommen, wenn Joël auch ein geschickter Rosselenker war. An seiner Seite kannte Hulda übrigens keine Furcht. Kam einmal eine gar zu steile Stelle, so klammerte sie sich fest an seinem Arm an. Der frische Morgen färbte jetzt ihr seit einiger Zeit recht blasses, hübsches Gesichtchen.

Es galt indeß eine noch bedeutendere Höhe zu erklimmen. Das Thal bot einen Durchgang nur an dem sehr verengten Bette des Maan zwischen zwei lothrecht aufstrebenden Felsenmauern. Auf dem benachbarten Fjeld zeigten sich etwa zwanzig Häuschen, Ruinen von Saeters oder aufgegebene Gaards, neben einzelnen, unter den Birken und Buchen verlorenen Schäferhütten. Bald war es nicht mehr möglich, den Fluß zu sehen, doch hörte man sein lautes Rauschen im felsigen Bett. Die Umgebung gewann allmählich ein ebenso großartiges, wie wildes Aussehen, da jetzt der Kamm der Gebirge ihren weitumfassenden Rahmen bildete.

[61] Nach zweistündiger Fahrt zeigte sich am Rande eines Wasserfalles von fünfzehnhundert Fuß eine von doppelten Rädern getriebene Sägemühle. Cascaden von einer Höhe wie die genannte, sind im Vestfjorddal nicht eben selten, doch ist ihre Wassermenge im Allgemeinen nur gering. Darin übertrifft Alle der Fall des Rjukanfos.

Bei dem Sägewerke angelangt, stiegen Joël und Hulda ab.

»Eine halbe Stunde Weg wird Dich nicht so sehr anstrengen, Schwesterchen? fragte Joël.

– Nein, Bruder, ich bin ja gar nicht müde, und es wird mir sogar wohlthun, ein wenig zu Fuße zu gehen.

– Ein wenig... ziemlich viel sogar, und immer bergauf.

– Dann stütze ich mich auf Deinen Arm, Joël.«

An dieser Stelle mußten sie unbedingt den Wagen zurücklassen. Dieser hätte nicht vorwärts kommen können auf den steilen Pfaden, den ganz engen Durchgängen, den mit kantigen Felsstücken übersäeten Abhängen, deren malerische, einmal von Bäumen beschattete und dann ganz nackte Formen die Nähe des großen Wasserfalles anzeigen.

Schon erhob sich eine Art dichter Nebel inmitten der bläulichen Ferne. Das waren die zerstäubten Gewässer des Rjukan, die sich wolkenartig zu großer Höhe erhoben.

Hulda und Joël benützten nun einen, den Führern wohlbekannten Fußpfad, der nach der engsten Stelle des Thales hinableitet, und auf dem sie zwischen Bäumen und Büschen hindurchgleiten mußten. Kurze Zeit darauf saßen Beide schon auf einem, von gelblichem Moose bedeckten Felsstück, fast genau gegenüber dem Falle, dem man nur von dieser Seite so nahe kommen kann.

Hier hätten die Geschwister Mühe gehabt, einander zu verstehen, wenn sie gesprochen hätten. Ihre Gedanken waren aber von der Art, welche sich, ohne daß die Lippen sie aussprechen, durch das Herz allein mittheilen.

Die Wassermasse des Rjukan ist eine ungeheure, seine Höhe eine sehr bedeutende und sein donnerndes Rauschen wahrhaft überwältigend. Neunhundert Fuß tief fehlt hier im Bett des Maan, zwischen dem Mjös-See stromauf- und dem Tinn-See stromabwärts, plötzlich der Boden. Neunhundert Fuß, das heißt sechsmal so hoch wie der Niagara, dessen Breite vom amerikanischen bis zum canadischen Ufer freilich drei (englische) Meilen beträgt.

[62] Hier bietet der Rjukansos einen so großartigen Anblick, daß man diesen durch eine Beschreibung nur sehr schwer wiederzugeben vermag; selbst die Malerkunst würde nicht im Stande sein, ihn ganz entsprechend darzustellen. Es gibt eben gewisse Wunderwerke der Natur, die man sehen muß, um ihre Schönheit ganz zu verstehen; dazu gehört auch dieser Wasserfall, der berühmteste unter allen Fällen des europäischen Festlandes.

Gerade jetzt saß auch ein Lustreisender im Anschauen versunken auf der linken Felswand des Maan, von wo er den Rjukansos ganz aus der Nähe und vom höchsten Standpunkt aus betrachten konnte.

Weder Joël, noch Hulda hatten ihn bisher bemerkt, obgleich er von ihrem Platz aus sichtbar war. Es war nicht die Entfernung, sondern eine in Berggegenden oft bemerkte optische Wirkung, die ihn sehr klein und deshalb weit entfernter, als er wirklich von ihnen war, erscheinen ließ.

In diesem Augenblick hatte sich der Reisende gerade erhoben und wagte sich schon ziemlich unbedacht auf einen Felsenvorsprung hinaus, der kuppelartig über das Bett des Maan hinausging.

Er wollte offenbar die beiden Höhlen des Rjukansos, eine zur rechten, die andere zur linken, sehen, von denen die erstere immer mit dichten Dunstmassen, die zweite von brodelndem Wasser erfüllt ist. Vielleicht suchte er auch zu erkennen, ob sich nicht noch eine dritte niedrigere, etwa in halber Höhe des Falles gelegene Höhle entdecken ließe. Dadurch würde sich nämlich erklären, warum der Rjukan, nachdem er in eine solche gestürzt, zu gewissen Perioden in starkem Schwalle rückwärts zu springen scheint. Man möchte sagen, das Wasser würde durch eine Minensprengung, welche durch ihre Dampfwolken die umgebenden Fjelds verhüllt, in die Höhe geschleudert.

Noch immer schritt der Tourist auf diesem abgerundeten, steinigen und schlüpfrigen Rücken weiter vor, auf dem sich keine Baumwurzel, kein Gras oder Strauch findet und der den Namen Maristien führt.

Der Unvorsichtige kannte offenbar die Fabel nicht, welche diese Stelle berühmt gemacht hat. Eines Tages wollte Eystein auf diesem gefährlichen Wege die schöne Mari von Vestfjorddal besuchen. Von der an deren Seite der Bergschlucht streckte ihm seine Braut die Arme entgegen. Plötzlich verliert er den Halt, fällt und gleitet aus, ohne sich auf der eisglatten Felsfläche anklammern zu können, und verschwindet im Abgrund, ohne daß die Stromschnellen des Maan je nur seinen Leichnam wieder zurückgegeben hätten.


Sie saßen auf einem Felsstück, gegenüber dem Falle. (S. 62.)

[63]

Was dem unglücklichen Eystein widerfahren war, sollte das auch dem Unbesonnenen begegnen, der sich auf diesem Abhang des Rjukansos immer weiter vorwagte?

Es war das wohl zu fürchten. Er wurde auch endlich selbst der Gefahr gewahr, doch leider zu spät. Plötzlich fehlte seinem Fuße jeder Stützpunkt er stieß einen Schrei aus, rollte etwa zwanzig Schritt weit hinunter und hatte nur noch Zeit, sich an einem vorspringenden Felsstück, dicht am Rande des Abgrundes festzuhalten.

[64] Joël und Hulda hatten ihn auch jetzt noch nicht bemerkt, wohl aber ihn nun gehört.

»Was war das? rief Joël sich erhebend.

– Ein Schrei, antwortete Hulda.

– Ja... Ein Verzweiflungsschrei!

– Von welcher Seite?...

– Hören wir!«

Beide blickten nach der rechten, wie nach der linken Seite des Falles; sie konnten nichts wahrnehmen. Indeß hatten sie deutlich die Worte: »Zu [65] Hilfe! Zu Hilfe!« verstanden, wenn der Rjukan zwischen seinen Sprüngen wie gewöhnlich etwa eine Minute lang stiller herabrauschte.

Das Rufen wiederholte sich.

»Joël, sagte Hulda, da ist ein Reisender in Gefahr, der nach Hilfe verlangt. Wir müssen zu ihm hin...

– Gewiß, Schwester, er kann auch nicht fern von uns sein. Aber auf welcher Seite?... Wo ist er?... Ich sehe nichts!«


Joël begann nun zu klettern. (S. 67.)

Hulda stieg hinter dem Felsblock, auf dem sie saßen, den Abhang wieder ein Stück empor, indem sie sich an das dürftige Gestrüpp hielt, welches das linke Ufer des Maan bedeckt.

»Joël! rief sie endlich.

– Siehst Du ihn?...

– Ja... da... da!«

Hulda zeigte nach dem unvorsichtigen Wanderer, der fast über dem Schlunde schwebte.

Wenn sein gegen einen ganz kleinen Vorsprung gestützter Fuß abglitt, ihm versagte, wenn er nur ein Stückchen weiter herabrollte oder vom Schwindel ergriffen wurde, so war er rettungslos verloren.

»Wir müssen ihn retten! drängte Hulda.

– Natürlich! erwiderte Joël ohne Bedenken. Mit Vorsicht und der nöthigen Kaltblütigkeit können wir schon zu ihm hingelangen!«

Joël stieß nun einen langgezogenen Schrei aus. Dieser wurde von dem Reisenden gehört, denn dieser wandte den Kopf nach seiner Seite hin. Dann überlegte sich Joël wenige Augenblicke, wie er jenen am schnellsten und sichersten aus seiner schlimmen Lage befreien könnte.

»Hulda, sagte er, Du hast doch keine Furcht?

– Nein, Bruder!

– Der Maristien ist Dir doch bekannt?

– Ich bin schon mehrere Male darüber weggekommen.

– Nun, so geh' Du oben auf dem Kamm hin und suche Dich dem Fremden so weit wie möglich zu nähern. Dann läßt Du Dich zu ihm hinabgleiten und ergreifst seine Hand, um ihn einstweilen mit zu halten. Er soll aber noch nicht versuchen, aufzustehen, da würde ihn der Schwindel packen, würde ihn hinabziehen, und Ihr wäret Beide verloren.

– Und Du, Joël?

[66] – Nun, während Du von oben herkommst, krieche ich längs des Maan an dem Felsen hin. Ich werde schon zur Stelle sein, wenn Du hinkommst, und wenn er ausgleitet, könnte ich Euch vielleicht Beide noch halten!«

Dann rief Joël mit lautschallender Stimme, während einer neuen Pause des Rjukansos: »Rühren Sie sich nicht, Herr!... Warten Sie!... Wir versuchen, zu Ihnen zu gelangen!«

Hulda war schon hinter dem hohen Gebüsch des Abhanges verschwunden, um sich von der anderen Seite nach dem Kamm des Maristien zu begeben.

Joël sah das muthige Mädchen um die Ecke der Bäume wieder erscheinen.

Er selbst begann mit wahrer Lebensgefahr langsam längs des abschüssigen Theiles dieses runden Steinrückens, der den Einschnitt des Rjukansos überragt, hinab zu klettern oder zu kriechen. Welch' ruhiges Blut, welche Sicherheit des Fußes wie der Hand gehörte aber dazu, sich neben diesem Schlunde zu halten, dessen Wände von dem Staubregen des Wasserfalles immer feucht gehalten wurden!

In gleicher Linie mit ihm, nur etwa hundert Fuß höher oben, drang Hulda in schräger Richtung vor, um so bequem als möglich, nach der Stelle zu gelangen, an der der Fremde bewegungslos lag. Bei der von demselben eingehaltenen Lage konnte man das Gesicht, das sich nach dem Falle wendete, nicht erkennen.

Unter Jenem angekommen, hielt Joël ein. Nachdem er sich in einer Felsenspalte fest eingeklemmt, rief er laut:

»Heda!... Herr!«.

Der Reisende wendete den Kopf.

»Machen Sie ja keine Bewegung, Herr, fuhr Joël fort, nicht die geringste, und halten Sie sich nur tüchtig fest!

– Ohne Sorge, Freund, ich halte mich schon ordentlich! antwortete dieser in einem Tone, der Joël beruhigte. Wenn ich mich nicht fest hielte, läge ich wohl schon eine Viertelstunde im Grunde des Rjukansos.

– Meine Schwester wird bis zu Ihnen hinabgleiten, sagte Joël weiter, und wird Sie an der Hand erfassen. Doch bevor ich auch bei Ihnen bin, versuchen Sie nicht, etwa aufzustehen!... Rühren Sie sich am liebsten gar nicht...

– So wenig wie ein Felsen!« erwiderte der Reisende.

Schon begann Hulda von ihrer Seite aus herbeizuklimmen, indem sie die wenigst schlüpfrigen Stellen des Gesteins aussuchte und den Fuß in kleine [67] Aushöhlungen setzte, wo er einen verläßlichen Stützpunkt fand – immer kühn und sicher, wie man es von diesen Mädchen aus Telemarken kennt, die von Kindheit an mit den Abhängen der Fjelds vertraut sind.

Und ebenso wie Joël gerufen, rief auch sie:

»Halten Sie fest, Herr!

– Ja, ich halte fest... und werde sicherlich festhalten, so lange ich irgend kann!«

An guten Rathschlägen, die von oben und unten kamen, fehlte es ihm also gerade nicht.

»Vorzüglich haben Sie keine Furcht! setzte Hulda hinzu.

– Ich habe keine Furcht!

– Wir retten Sie! rief Joël.

– Ich hoffe darauf, denn – beim heiligen Olaf – allein mich zu retten, wäre ich außer Stande!«

Offenbar hatte sich der Fremde alle seine Geistesgegenwart bewahrt; nach dem Niederfallen mochten ihm wohl Arme und Beine den Dienst versagt haben, und was er jetzt thun konnte, bestand nur darin, sich an den schwachen Vorsprung zu klammern, der ihn noch vom Abgrund trennte.

Hulda kam inzwischen tiefer herunter. Wenige Augenblicke später befand sie sich neben dem Fremden und ergriff diesen, nachdem sie den Fuß gegen eine rauhere Stelle des Gesteins gestemmt, an der Hand.

Der Fremde versuchte, sich ein wenig aufzurichten.

»Rühren Sie sich nicht, mein Herr!... Nicht rühren!... sagte Hulda. Sie würden mich mit hinabziehen und ich wäre dann nicht stark genug, Sie zu halten. Wir müssen noch meinen Bruder abwarten. Wenn er sich zwischen uns und dem Rjukansos befindet, werden Sie sich erheben dürfen, um...

– Mich erheben, liebes Kind, das ist freilich leichter gesagt, als gethan, und ich fürchte am Ende, es kaum im Stande zu sein.

– Haben Sie sich etwa gar verletzt?

– Hm, gebrochen oder verrenkt hab' ich wahrscheinlich nichts, ich hoffe es wenigstens, aber eine tüchtige Schramme werde ich wohl am Bein haben.«

Joël befand sich jetzt noch zwanzig Schritte von der Stelle, wo sich Hulda und der Reisende festhielten. Der gekrümmte Verlauf des Felsrückens hatte ihm nicht gestattet, geradenwegs auf dieselben zuzuklettern, und jetzt mußte er noch den abgerundeten Grat desselben emporklimmen. Das war das schwierigste und auch das gefährlichste Stück Arbeit – es ging dabei um Tod und Leben.

[68] »Keine Bewegung! ermahnte er zum letzten Male den Fremden. Wenn Sie Beide abglitten, wäre ich, da meine Lage zu unsicher ist, nicht im Stande, Sie zurückzuhalten und Sie wären Beide verloren!

– Sei ohne Sorge, Joël, antwortete Hulda. Denke nur an Dich und. Gott möge Dir beistehen.«

Joël begann nun auf dem Bauch zu kriechen, indem er sich wirklich wie in Schlangenwindungen vorwärts schob. Zwei- oder dreimal fühlte er, daß ihm jeder Stützpunkt fehlte; endlich gelang es ihm aber mit Aufwand aller Geschicklichkeit, bis zu dem Reisenden hinauf zu kommen.

Dieser, ein zwar schon etwas bejahrter, aber doch noch recht rüstiger, gut erhaltener Mann, zeigte ein hübsches, einnehmendes und lächelndes Gesicht. Joël hatte wirklich eher erwartet, hier einen jungen Wagehals zu finden, der es unbedacht versucht hatte, über den Maristien weg zu gehen.

»Das war recht unklug, was Sie da begonnen haben, bester Herr, sagte er, sich halb niederlegend, um ein wenig Athem zu schöpfen.

– Wie, das war unklug? erwiderte der Reisende, sagen Sie lieber, es war die reine Tollheit!

– Sie haben Ihr Leben auf's Spiel gesetzt...

– Ich bin Schuld, daß Sie mir das nachgethan haben.

– Ich?... O, das ist so mein Geschäft!« antwortete Joël.

Dann stand er auf.

»Jetzt, sagte er, handelt es sich darum, wieder nach oben zu gelangen. Doch das Schwerste ist ja schon geschehen.

– Oh, das Schwerste!...

– Ja, lieber Herr, das Schwerste war es, hier zu Ihnen zu kommen. Jetzt brauchen wir nur einen weniger steilen Abhang hinaufzuklimmen.

– Dabei dürften Sie freilich gut thun, nicht zu viel auf mich zu rechnen, junger Mann. Das eine meiner Beine wird mir wohl jeden Dienst versagen, und wahrscheinlich jetzt ebenso, wie noch im Verlauf mehrerer Tage.

– Versuchen Sie, sich zu erheben.

– Recht gern... das heißt mit Ihrer Hilfe.

– Sie nehmen den Arm meiner Schwester; ich werde Sie unterstützen und schiebe Sie vorwärts.

– Werden Sie fest halten können?

– Ganz fest.

[69] – Nun gut, lieber Freund, ich verlasse mich ganz auf Euch. Da Ihr nun einmal den Gedanken gehabt, mich aus der Klemme zu befreien, müßt Ihr schon sehen, wie Ihr damit fertig werdet.«

Alle begannen, wie Joël angeordnet hatte, den Rückweg. Wenn dieses Erklimmen des obersten Felsrückens auch nicht ganz gefahrlos war, so ging die Sache doch besser, als sie gehofft hatten. Der Reisende war in der That ohne Knochenbruch und Gliederverrenkung davongekommen, er hatte sich nur eine ziemlich lange und tiefreichende Abschürfung der Haut zugezogen. Jedenfalls konnte er aber beide Beine besser brauchen, als er vorher selbst glaubte, wenn es auch nicht ohne Schmerz für ihn abging. Zehn Minuten später waren Alle jenseits des Maristien in Sicherheit.

Hier hätte der Fremde unter den ersten Weiden, welche den oberen Fjeld des Rjukansos begrenzten, etwas ausruhen können; Joël muthete ihm aber noch eine weitere kleine Anstrengung zu. Es lag ihm daran, eine unter Bäumen verlorene Hütte, wenige Schritte hinter dem Felsen, wo er mit seiner Schwester gesessen hatte, als sie nach dem Falle kamen, zu erreichen. Der Reisende versuchte bereitwillig dieser Aufforderung nachzukommen, und auf der einen Seite von Hulda, auf der anderen von Joël unterstützt, gelang es ihm auch, und er stand bald, ohne zu viel gelitten zu haben, vor der Thür der Hütte.

»Treten Sie ein, mein Herr, sagte das junge Mädchen, hier können Sie besser einen Augenblick ausruhen.

– Wird dieser Augenblick sich auf eine gute Viertelstunde ausdehnen dürfen?

– Gewiß, werther Herr; dann werden Sie sich aber schon dazu verstehen müssen, mit uns bis nach Dal zu gehen.

– Nach Dal?... O, gerade dahin wollte ich mich ja begeben.

– Wären Sie vielleicht der Reisende, fragte Joël, der vom Norden herkommt und dessen Eintreffen mir von Hardanger angemeldet wurde?

– Derselbe.

– Meiner Treu, da hatten Sie nicht gerade den besten Weg eingeschlagen...

– Ich hege daran auch einigen Zweifel.

– Und wenn ich hätte voraussehen können, was Ihnen widerfahren ist, hätte ich Sie bestimmt an der anderen Seite des Rjukansos erwartet.

– Das wäre freilich ein recht glücklicher Einfall gewesen, mein wackerer, junger Mann. Sie hätten mir da eine für mein Alter ganz unverzeihliche Unbesonnenheit erspart.

[70] – Für jedes Alter, werther Herr!« ließ sich Hulda vernehmen.

Alle Drei betraten nun die Hütte, in der sich eine ganze Bauernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Töchtern, aufhielt. Diese erhoben sich Alle höflich und bewillkommneten freundlich die unerwarteten Gäste.

Joël konnte sich nun überzeugen, daß der Reisende nur ein wenig unter dem Knie eine ziemlich lange Hautwunde hatte, welche zur Heilung gewiß eine Woche Ruhe bedingte. Das Bein war aber weder verrenkt, noch gebrochen, überhaupt kein Knochen dabei verletzt worden, und das war ja die Hauptsache.

Die Bewohner der Hütte boten den Gästen vorzügliche Milch, Erdbeeren in Ueberfluß und etwas Schwarzbrot an, was ebenso gern angenommen wurde.

Joël that sich gar keinen Zwang an und zeigte einen recht tüchtigen Appetit, wenn dagegen Hulda nur wenig aß, so that es der Reisende desto mehr ihrem Bruder gleich.

»Wahrlich, sagte er, diese Leibesübung hat mir den Magen leer gemacht, ich gestehe jedoch gern zu, daß es eine große Unbesonnenheit war, den Weg über den Maristien einzuschlagen. Es ist doch recht thöricht, die Rolle des unglücklichen »Eystein« spielen zu wollen, wenn man sein Vater... sogar sein Großvater sein könnte!

– Ah, Sie kennen also jene Sage? fragte Hulda.

– Ob ich sie kenne... Meine Amme sang mich schon damit in Schlaf zu jener glückseligen Zeit, wo ich noch eine Amme hatte. Ja, ich kenne dieselbe, Sie liebes, muthiges Kind, und deshalb erscheine ich mir doppelt strafbar. – Und nun, mein Freund, Dal ist für einen Invaliden, wie ich jetzt bin, noch ein wenig weit. Wie denken Sie mich dahin befördern zu können?

– Darum beunruhigen Sie sich nicht, mein Herr, antwortete Joël. Unser Schußkarren wartet unten am Fußwege. Sie werden nur dreihundert Schritte zu ma chen haben....

– Hm, dreihundert Schritte!...


Gestützt von Hulda und Joël... (S. 70.)

– Und bergabwärts, setzte das junge Mädchen hinzu.

– O, wenn es bergabwärts geht, dann wird es sich schon machen, lieber Freund; dann genügt mir schon ein einziger Arm....

– Und warum nicht deren zwei, fiel ihm Joël ins Wort, da wir ja vier zu Ihrer Verfügung haben?

– Nun, mögen's zwei oder vier sein! Das kostet doch nicht mehr, nicht wahr?

[71] – Das kostet gar nichts.

– Doch, mindestens einen Dank, und da fällt mir ein, daß ich Ihnen noch nicht einmal meinen Dank zu erkennen gegeben habe...

– Wofür, lieber Herr? fragte Joël.

– Nun, ich dächte... dafür, daß Sie mir das Leben mit eigener Lebensgefahr gerettet haben!...

– Wenn es Ihnen gefällig wäre... sagte Hulda, die sich erhob, um jede Lobpreisung abzuschneiden.

[72] – Wie? Natürlich will ich!... Was mich betrifft, ich will gern Alles, was man von mir will!«

Mit diesen Worten beglich der Reisende schon die geringen Kosten, die er den Bauern in der Hütte verursacht. Dann begann er, ein wenig von Hulda und desto mehr von Joël gehalten, den gewundenen Fußpfad, der nach den Ufern des Maan führt, wo er an der Straße nach Dal mündet, vorsichtig hinabzusteigen. Das ging freilich nicht ohne einige »Ach!« und »Oh!« ab, diese liefen aber doch gewöhnlich in ein herzliches Lachen aus.

[73] Endlich erreichten Alle die Sägemühle und Joël brachte sofort den Wagen in Ordnung.

»Und Sie? wendete er sich fragend an Joël. Ich habe Ihnen nun den Platz weggenommen...

– Einen Platz, den ich Ihnen von Herzen gern abtrete...


Joël ging neben dem Kopfe des Pferdes. (S. 74.)

– Aber vielleicht mit schwerem Herzen?

– Nein... Nein! Ich habe meine Beine, werther Herr, ordentliche Beine, die sind für Landstraßen geschaffen...

– Und für so vorzügliche Landstraßen... nicht wahr, junger Freund?«

So fuhren sie denn die Straße hin, welche sich allmählich dem Maan nähert. Joël ging neben dem Kopfe des Pferdes, das er am Zügel führte, um den Unebenheiten des Bodens besser ausweichen zu können.

Die Heimfahrt verlief ganz heiter – wenigstens was den Fremden anging. Er plauderte schon wie ein alter Freund der Familie Hansen. Noch bevor sie nach Hause kamen, nannten Bruder und Schwester ihn schon »Herr Sylvius«, und Herr Sylvius nannte sie nur Joël und Hulda, als ob sie schon wer weiß wie lange alle Drei mit einander bekannt wären.

Gegen vier Uhr zeigte der Glockenthurm von Dal seine feine Spitze zwischen den Bäumen des Weilers, und einen Augenblick später hielt das Pferd vor dem Gasthause an. Der Reisende stieg nicht ohne einige Mühe aus dem Wagen. Frau Hansen war zum Empfange an der Thür erschienen, und obwohl Jener nicht das beste Zimmer verlangt hatte, wurde er doch, als ob sich das von selbst verstände, dahin geführt.

9. Capitel

IX.

Sylvius Hog – so lautete der Name, der noch denselben Abend in das Fremdenbuch, und zwar gleich hinter dem Namen Sandgoïst, eingetragen wurde. Man wird zugeben, daß zwischen diesen beiden Namen, ebenso wie zwischen den Männern, welche sie trugen, ein starker Unterschied herrschte.

[74] Weder in der äußeren Erscheinung, noch in dem Charakter und Auftreten hatten sie etwas Uebereinstimmendes. Freigebigkeit auf der einen, Habsucht auf der anderen Seite. Der Eine war die Herzensgüte selbst, der Andere die häßliche Hülle einer vertrockneten Seele.

Sylvius Hog zählte kaum sechzig Jahre und erschien noch weit jünger. Groß, gerade aufgerichtet und gut gewachsen, ein gesunder Geist in gesundem Leibe, gefiel er Jedem beim ersten Zusammentreffen schon durch das hübsche liebenswürdige Gesicht, das bartlos und von grauschimmernden, etwas langen Haaren eingerahmt war, mit den ganz wie seine Lippen lächelnden Augen, der breiten Stirn, hinter der sich die edelsten Gedanken bequem entwickeln, und der breiten Brust, in der das Herz frei schlagen konnte. Mit diesen Vorzügen vereinigte er einen unerschöpflichen Vorrath von guter Laune, eine vornehme und bei aller Leutseligkeit ihres Werthes bewußte Erscheinung und eine Natur, welche gewiß jedes edlen Entschlusses, jedes Opfers für Andere fähig war.

Sylvius Hog – aus Christiania – das sagte genug. Dieser war nicht allein bekannt, geschätzt, geliebt und geehrt in der Hauptstadt Norwegens, sondern ebenso im ganzen Lande – natürlich in Norwegen. Die Leute urtheilten nämlich in der anderen Hälfte des skandinavischen Reiches, also in Schweden, nicht ebenso über ihn.

Das verlangt eine nähere Erklärung.

Sylvius Hog war Professor der Rechte in Christiania. In anderen Städten nimmt Derjenige, der Rechtsanwalt, Arzt oder Kaufmann ist, wohl die obersten Stufen der socialen Rangordnung ein. In Norwegen ist dies nicht der Fall; hier gilt der Professor als der Erste.

Wenn es in Schweden vier Classen, den Adel, die Geistlichkeit, die Bürgerschaft und den Bauernstand gibt, so zählt man in Norwegen nur drei, denn hier fehlt der Adel gänzlich; hier hat man keinen Vertreter der Aristokratie, nicht einmal unter den höchsten Beamten. In diesem so zu sagen privilegirten Lande existiren keine Privilegien; die Beamten sind nur die ergebenen Diener des ganzen Volkes. Alles in Allem herrscht hier also vollkommene gesellschaftliche Gleichheit, kein politischer Unterschied.

Da Sylvius Hog einer der bedeutendsten Männer seines Landes war, wird man sich auch nicht wundern, daß er zum Mitglied des Storthings gewählt wurde. In dieser großen Versammlung übte er ebenso durch seine wissenschaftliche Begabung, wie durch die Makellosigkeit seines privaten und [75] öffentlichen Lebens einen Einfluß aus, dem sich sogar die vielen, von den Landbewohnern erwählten Bauern-Deputirten willig unterordneten.

Seit der Constitution von 1814 kann man eigentlich mit Recht sagen: Norwegen ist eine Republik mit dem Könige von Schweden als Präsidenten.

Es versteht sich von selbst, daß dieses auf seine Ausnahmestellung eifersüchtige Norwegen seine Selbstregierung sorgsam bewahrt hat. Das Storthing hat nichts gemein mit dem schwedischen Reichstage. Man wird also verstehen, daß ein besonders einflußreiches und patriotisches Mitglied desselben jenseits der idealen Grenze, welche Schweden von Norwegen trennt, nicht gerade wohl angesehen sein konnte.

Das war auch der Fall mit Sylvius Hog. Von unabhängigem Charakter, der lieber nichts sein wollte, hatte er wiederholt schon abgeschlagen, in das Ministerium einzutreten, und als eifriger Verfechter aller Rechte Norwegens stand er stets und unerschütterlich allen Verlockungsversuchen Schwedens feindlich gegenüber.

Die moralische und politische Trennung beider Länder, deren Vortheil doch nach allen Seiten eine innigere Verbindung sein müßte, ist wirklich eine so bestimmte, daß der König von Schweden – jener Zeit Carl Johann XV. – nach der Krönung in Stockholm sich auch noch in Drontheim, der alten Hauptstadt Norwegens, krönen lassen mußte. Und so weit geht die fast als Mißtrauen zu bezeichnende Zurückhaltung der Norweger in geschäftlichen Angelegenheiten, daß die Bank von Christiania nicht gern die Cassenscheine der Stockholmer Reichsbank annimmt, und die streng festgehaltene Unterscheidung zwischen beiden Völkern reicht so weit, daß die Flagge Schwedens weder auf Gebäuden noch auf den Schiffen Norwegens weht. Die eine ist blau mit einem gelben Kreuz, die andere roth mit blauem Kreuz, nur das obere Eckfeld am Flaggenstock enthält das von norwegischer Seite ebenfalls vielfach bestrittene Unionszeichen beider Länder.

Sylvius Hog aber lebte mit Herz und Seele für sein Norwegen, dessen Interessen er bei jeder Gelegenheit vertheidigte; und als das Storthing 1854 die Frage verhandelte, nicht ferner mehr einen Vice-König und auch keinen Statthalter mehr an der Spitze des Reiches zu dulden, gehörte er zu Denjenigen, welche am erfolgreichsten in die Discussion eingriffen und jenem Principe zum Siege verhalfen.

Man begreift also, daß, wenn er im Osten des Königreiches nicht besonders beliebt war, er sich dessen doch im Westen und selbst in den entlegensten Gaards [76] des Landes rühmen konnte. Das bergerfüllte Norwegen hallte von der Umgebung Christianias bis zu den letzten Felsklippen des Nordcaps von seinem Namen wieder. Würdig dieser vollgewichtigen Popularität, hatte auch noch keine Verleumdung weder den Abgeordneten, noch den Rechtslehrer von Christiania erreichen können. Er war ein rechter Norweger, aber ein Norweger von lebhaftem Blute, ohne das angeborene Phlegma seiner Landsleute, und in Wort und That schneller entschlossen, als es das skandinavische Temperament sonst zuläßt.

Es verrieth sich das auch durch seine raschen Bewegungen, durch die Wärme seines Wortes und die Lebhaftigkeit seiner Gesten. Wäre er in Frankreich geboren gewesen, so hätte man gewiß nicht gezögert, ihn ein »Kind des Südens« zu nennen, wenn dieser Vergleich, der übrigens hier seine volle Berechtigung hat, gestattet ist.

Die Vermögensverhältnisse Sylvius Hog's waren recht gute zu nennen, obgleich man ihn nicht einen Krösus nennen konnte. Als uneigennützige Seele dachte er fast niemals an sich selbst, wohl aber immer an Andere. Eben so wenig strebte er nach hohen Aemtern und Ehrenstellen; Abgeordneter zu sein, genügte ihm vollständig; er wollte nichts weiter.

Eben jetzt genoß Sylvius Hog eines dreimonatlichen Urlaubs, um sich von den Anstrengungen zu erholen, die ein arbeitsreiches Jahr legislatorischer Thätigkeit ihm gebracht hatte; seit sechs Wochen aus Christiania abgereist, beabsichtigte er den ganzen Landestheil bis Drontheim, Hardanger, Telemarken und die Bezirke von Kongsberg und Drammen zu bereisen, das heißt, er wollte die Provinzen besuchen, die er noch nicht aus eigener Anschauung kannte. Er machte also gleichzeitig eine Studien- und Vergnügungsreise.

Einen Theil dieser Vergnügungsfahrt hatte Sylvius Hog zurückgelegt, und bei der Rückkehr aus den nördlichen Amtsbezirken war es, wo er den berühmten Wasserfall, eines der Naturwunder Telemarkens, besichtigen wollte. Nachdem er an Ort und Stelle das damals vorliegende Project einer Eisenbahn von Drontheim nach Christiania eingehend geprüft, hatte er einen Führer verlangt, um ihn nach Dal zu geleiten, und rechnete darauf, diesen am linken Ufer des Maan anzutreffen. Ohne Verzug aber und verlockt durch den wunderbaren Anblick des Maristien, hatte er sich auf den gefährlichen Weg über diesen gewagt, eine Unklugheit, die ihm, wie wir wissen, beinahe das Leben gekostet hätte. Ja, man darf gewiß behaupten, daß ohne das rechtzeitige Eintreffen Joëls und Huldas die ganze Reise und der Reisende in den Schlünden des Rjukanfos ein Ende gefunden hätten.

[77]

10. Capitel

X.

In den skandinavischen Ländern und nicht nur bei den Bewohnern der Städte, sondern auch draußen auf dem Lande, findet man eine recht erfreuliche Volksbildung, welche über die ersten Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens überall hinausgeht. Der Bauer lernt mit Vergnügen und hat im Allgemeinen einen offenen Kopf; er hat Interesse für öffentliche Angelegenheiten und nimmt an Allem, was den Staat oder die Gemeinde angeht, lebhaften Antheil. Im Storthing bilden die Vertreter dieser Classe immer die Majorität. Manchmal sitzen sie hier in ihrer eigenthümlichen Provinzialkleidung, und man rühmt ihnen mit Recht ihren klaren Verstand, den praktischen Sinn und ein richtiges Auffassungsvermögen – wenn dieses auch nur ein etwas langsames ist – nebst einer über jeden Zweifel erhabenen Unbestechlichkeit nach.

Es ist also nicht zu verwundern, daß der Name Sylvius Hog's in ganz Norwegen gekannt war und selbst in diesem etwas wilden Theile Telemarkens mit hoher Achtung genannt wurde.

Auch Frau Hansen glaubte, als sie den von Allen geschätzten Gast empfing, ihm sagen zu müssen, wie sehr sie sich geehrt fühle, ihn einige Tage unter ihrem Dache beherbergen zu dürfen.

»Ich weiß zwar nicht, ob das für Sie, Frau Hansen, eine besondere Ehre ist, antwortete darauf Sylvius Hog, aber das weiß ich, daß es mir ein großes Vergnügen gewährt. O, ich habe meine Zuhörer schon seit längerer Zeit von diesem gastlichen Hause in Dal reden hören, und schon aus diesem Grunde hatte ich beschlossen, hier vielleicht eine Woche lang zu verweilen; und doch, der heilige Olaf möge mir seinen Schutz entziehen, hatte ich nimmermehr gedacht, hier – nur auf einem Fuße anzukommen.«

Der vortreffliche Mann drückte dabei herzlich und freundschaftlich die Hand seiner Wirthin.

»Herr Sylvius, begann da Hulda, wünschen Sie vielleicht, daß mein Bruder von Bamble einen Arzt herbeiholt?

– Einen Arzt, meine kleine Hulda? Aber wollt Ihr denn, daß ich gar den Gebrauch meiner beiden Beine einbüße?

[78] – O, Herr Sylvius!...

– Einen Arzt! Und warum nicht gleich meinen Freund, den Doctor Boek von Christiania? Und Alles das wegen einer einfachen Schrunde?

– Doch auch eine solche, erwiderte Joël, kann, wenn sie nicht richtig behandelt wird, recht ernste Folgen nach sich ziehen.

– Wirklich, Joël? Würden Sie mir nicht gefälligst sagen, warum Sie wollen, daß dieselbe so ernsthaft würde?

– Ich will es gewiß nicht, Herr Sylvius! Nein, behüte mich Gott davor!

– Nun, er wird Sie behüten, und auch mich, sowie das ganze Haus der Frau Hansen, vorzüglich, wenn die liebenswürdige Hulda es übernimmt, mir ihre Pflege angedeihen zu lassen.

– Ganz gewiß, Herr Sylvius!

– Sehr schön, liebe Freunde. Binnen vier bis fünf Tagen wird von der Sache nichts mehr zu sehen sein. Warum sollte man übrigens in einem so reizenden Zimmer nicht schnell wieder gesund werden? Wo könnte man eine bessere Behandlung finden, als in dem vortrefflichen Gasthause zu Dal? Und dann dieses gute Bett mit seinen Sinnsprüchen, die gewiß mehr werth sind, als die entsetzlichen Formeln der Facultät. Das hübsche Fenster hier, das den Ausblick nach dem Thale des Maan gewährt, das Murmeln des Wassers, das bis nach meinem Schlafraum hereindringt, der Duft der alten Bäume, die rings um das Haus einen grünen Rahmen bilden, die gute Luft, die würzige Bergluft – ist das nicht Alles die beste Arznei, die man nur finden kann? Bedarf man derselben, so braucht man nur das Fenster zu öffnen, da kommt sie von selbst, stärkt und erquickt den Schwachen und – setzt ihn nicht einmal auf strenge Diät!«

Er sagte das Alles so heiter, dieser Sylvius Hog, daß mit ihm wirklich etwas wie ein Hauch von Glück in das Haus einzuziehen schien. Diesen Eindruck hatten davon wenigstens der Bruder und die Schwester, welche, sich an der Hand haltend, ihm zuhörten und Beide dieselbe Regung empfanden.

Der Professor war zuerst nach dem Zimmer im Erdgeschoß geführt worden. Jetzt saß und lag er halb in einem großen Armstuhle und hatte das Bein auf ein Bänkchen ausgestreckt, während Hulda und Joël sich seiner Pflege widmeten. Außer einem Umschlag von frischem Wasser wollte er kein anderes Heilmittel, und in der That brauchte er ja auch kein weiteres.

[79] »Gut, liebe Freunde, ganz gut! sagte er. Man darf mit den Droguen keinen Mißbrauch treiben. Ah, Ihr wißt es schon, ohne Eure Zuvorkommenheit hätte ich bald etwas zu viel von den Wundern des Rjukansos kennen gelernt – ich wäre wie ein Felsstück einfach in den Schlund hinabgerollt. Dann wäre eine neue Fabel zu der längstbekannten Fabel des Maristien hinzugekommen, und ich hätte dafür nicht einmal eine Entschuldigung gehabt! Mich erwartete ja keine Braut am anderen Rande, wie jenen unglücklichen Eystein!

– Und welcher Schmerz wäre das für Frau Hog gewesen, sagte Hulda. Sie würde sich nimmer haben trösten können...

– Frau Hog?... erwiderte der Professor. O, Frau Hog hätte gewiß nicht eine einzige Thräne vergossen.

– Aber, Herr Sylvius!

– Nein, sag' ich Euch, einfach aus dem Grunde, weil es gar keine Frau Hog giebt. Ich könnte mir auch kaum vorstellen, wie eine Frau Hog hätte aussehen sollen – ob fett oder mager, klein oder groß.

– Als Ihre Gattin hätte sie sicherlich liebenswürdig, geistvoll und gut sein müssen, meinte Hulda.

– Ei wirklich, mein Schatz? Gut, gut, ich will Ihnen glauben! Ja, ich glaube Ihnen!

– Doch wenn Ihre Eltern, Ihre Freunde von einem solchen Unfall Kunde bekommen hätten?... sagte Joël.

– Eltern hab' ich ebenso wenig, mein Sohn! Freunde – nun ja, es scheint ja, als wenn ich deren nicht wenig zählte, abgesehen von denen, die ich mir im Hause der Frau Hansen zu erwerben hoffe, und denen habt Ihr Beide die Mühe, mich zu beweinen, ja abgenommen! Doch, liebe Kinder, sagt mir erst, könnt Ihr mich denn auch einige Tage hier behalten?

– So lange es Ihnen gefällt, Herr Sylvius, versicherte Hulda. Dieses Zimmer gehört ganz Ihnen.

– Ich hatte ja schon vorher die Absicht, mich in Dal aufzuhalten, wie es wohl alle Lustreisenden thun, um von hier aus Telemarken nach allen Seiten durchstreifen zu können... Jetzt wird's nun damit freilich nichts, oder es geschieht doch erst später, das ist Alles.

– Vor Ende der Woche, Herr Sylvius, meinte Joël, hoffe ich, daß Sie wieder vollständig auf den Füßen sein werden.

– Und ich hoffe es nicht minder.


Er genoß die Pflege Huldas und Joëls. (S. 79.)

– Dann bin ich gern erbötig, Sie in dem Bezirke, wo Sie es wünschen, umherzuführen.

– Das werden wir ja sehen, Joël; davon sprechen wir, wenn ich erst wieder mehr hergestellt bin. Noch [80] hab' ich einen ganzen Monat Ferien vor mir, und wenn ich den ganz im Gasthaus der Frau Hansen verbringen sollte, wär' ich doch gewiß nicht zu beklagen. Ich muß ja von hier aus das Vestfjorddal zwischen den beiden Seen besuchen, muß den Gusta besteigen und einmal nach dem Rjukansos zurückkehren, denn wenn ich auch beinahe ein freiwilliges Sturzbad [81] in demselben genommen hätte, hab' ich ihn doch eigentlich wenig gesehen.... Und das möchte ich nicht unterlassen.

– Sie werden noch einmal dahin zurückkehren, Herr Sylvius, antwortete Hulda.

– Nun, wir begeben uns Alle dahin mit der guten Frau Hansen, vorausgesetzt, daß sie uns begleiten will. Ach, da fällt mir noch ein, daß wir auch Kate, meine alte, treue Haushälterin, und Fink, meinen alten Diener in Christiania, mit einigen Worten benachrichtigen müssen. Sie würden sehr unruhig werden, wenn sie von mir gar nichts hörten, und mir mit Recht böse sein. Nun aber muß ich Ihnen ein Geständniß ablegen. Die Erdbeeren, die schöne Milch – die sind recht angenehm, recht erquickend; als Nahrung reichen sie allein aber doch nicht aus, da ich mich nicht gern auf Krankendiät gesetzt sähe. Ist es für Sie bald Zeit, zu speisen?

– O, darauf kommt's ja nicht an, Herr Sylvius.

– Im Gegentheil, darauf kommt sehr viel an! Glauben Sie denn, ich wollte mich während meines Aufenthalts in Dal am Tische und in meinem Zimmer allein langweilen? Nein, ich will mit Euch und mit Eurer Mutter essen, wenn Frau Hansen nichts dagegen hat.«

Frau Hansen mußte, als man ihr diesen Wunsch des Professors mittheilte, wenn sie auch vielleicht lieber für sich allein geblieben wäre, demselben doch nachgeben; sie und die Ihrigen konnten es sich ja als eine Ehre anrechnen, einen Abgeordneten des Storthing mit am Tische zu haben.

»Es ist also abgemacht, erklärte Sylvius Hog, wir werden Alle zusammen im großen Zimmer speisen....

– Gewiß, Herr Sylvius, bestätigte Joël, und wenn das Essen bereit ist, werd' ich Sie gleich auf dem Lehnstuhle dahinbringen.

– Gut, gut, lieber Joël; aber warum denn nicht gleich mittelst Schuß? Nein, wenn ich einen Arm aufstützen kann, komme ich schon dahin. So viel ich weiß, bin ich doch nicht amputirt worden.

– Wie Sie wünschen, Herr Sylvius, antwortete Hulda, begehen Sie aber keine neue Unvorsichtigkeit, sonst müßte Joël doch noch den Arzt herbeiholen.

– Was? Drohungen?... Nun ja, ich werde schon vernünftig und ganz artig sein; und so lange ich nicht auf zu knappe Diät gesetzt bin, sollt Ihr an mir den folgsamsten Patienten haben. – Aber, liebe Freunde, habt Ihr denn noch gar keinen Hunger?

[82] – Es bedarf nur noch einer Viertelstunde, erwiderte Hulda, dann ist Alles fertig und wir können Ihnen mit einer Johannisbeersuppe, einer Forelle aus dem Maan, einem Feldhuhn, das Joël gestern aus Hardanger mitgebracht, und mit einer guten Flasche Wein aufwarten.

– Schön, mein liebes Kind, ich danke im Voraus!«

Hulda verließ ihn nun, um sich mit dem Essen zu beschäftigen und den Tisch im großen Zimmer zurecht zu machen, während Joël den Schußkarren wieder zum Werkführer Lengling schaffte.

Sylvius Hog blieb allein. Woran hätte er da denken sollen, als an die ehrbare Familie, deren Gast und Schuldner er jetzt gleichzeitig geworden war? Was konnte er thun, um die Dienstleistungen, die Pflege, die Hulda und Joël ihm gewidmet, zu vergelten? Vorläufig gewann er jedoch keine Zeit, sich längeren Betrachtungen hinzugeben, denn zehn Minuten später saß er schon auf dem Ehrenplatz am großen Tische. Das Essen war vortrefflich. Es rechtfertigte nach allen Seiten den guten Ruf des Gasthauses, und der Professor aß mit dem größten Appetit.

Der Abend verging nachher unter gemüthlichem Plaudern, an dem Sylvius Hog sehr regen Antheil nahm. An Stelle der Frau Hansen, welche sich nur sehr selten mit einmischte, veranlaßte er den Bruder und die Schwester zum Sprechen.

Die warme Theilnahme, welche er für sie empfand, konnte dabei nur noch zunehmen. Die beiden Geschwister vereinigte eine so zärtliche Freundschaft, daß der Professor davon wirklich gerührt wurde.

Als die Nacht herankam, begab er sich mit Hilfe Huldas und Joëls wieder nach seinem Zimmer, sagte den neuen Freunden, ebenso wie diese ihm, herzlich gute Nacht, und kaum hatte er sich in dem sauberen Bett mit den Sinnsprüchen ausgestreckt, da lag er auch schon in sanftem Schlummer.

Als Sylvius Hog am folgenden Morgen mit Tagesanbruch aufwachte, überließ er sich wieder seinem Nachdenken, ehe Jemand an der Thür klopfte.

»Nein, sagte er, ich weiß wahrlich nicht, wie ich mich abfinden soll. Man kann sich doch nicht retten, pflegen und heilen lassen, um das Alles mit einem »Schön Dank!« auszugleichen. Ich bin Hulda und Joël tief verpflichtet, das ist unbestreitbar, und doch sind das keine Dienste, die man mit Geld belohnen könnte! Pfui doch!... Andererseits scheint mir die ganze, aus so wackeren Leuten bestehende Familie so glücklich zu leben, daß ich zu ihrem Glück nichts[83] hinzuzufügen vermöchte. Nun, wir werden ja mit einander plaudern, und vielleicht führt mich das eher auf die rechte Fährte....«

Während der drei Tage, welche der Professor noch das verletzte Bein ruhig auf dem Schemel ausgestreckt halten mußte, plauderten denn auch alle Drei häufiger von Dem und Jenem; leider schienen sich beide Geschwister eine merkwürdige Zurückhaltung aufzuerlegen. Weder der Eine noch die Andere wollten sie etwas über ihre Mutter aussagen, deren kühlere und sorgenvolle Haltung Sylvius Hog recht wohl bemerkt hatte. Aus unerklärlichem Feingefühl hüteten sie sich sogar, ihm von der Angst, die sie wegen der verzögerten Rückkehr Ole Kamp's empfanden, etwas mitzutheilen, da sie Gefahr zu laufen fürchteten, ihrem Gaste durch Erzählungen von ihren Besorgnissen die gute Laune zu verderben.

»Indeß, äußerte Joël einmal zu seiner Schwester, thun wir doch vielleicht Unrecht daran, uns Herrn Sylvius nicht zu vertrauen. Er ist ein Mann, der uns wohl guten Rath ertheilen könnte, und bei seiner ausgebreiteten Bekanntschaft könnten wir durch ihn wahrscheinlich auch erfahren, ob man sich im Seeamte damit beschäftigt, klar zu stellen, was aus dem »Viken« geworden ist.

– Du hast Recht, meinte Hulda, ich denke auch, wir thun besser, ihm Alles zu sagen, nur wollen wir damit warten, bis er vollkommen wieder hergestellt ist.

– O, das kann ja nicht lange dauern!« erwiderte Joël.

Mit dem Ende der Woche brauchte Sylvius Hog schon keine Hilfe mehr beim Verlassen seines Zimmers, obwohl er noch ein wenig hinkte. Jetzt setzte er sich gern vor dem Hause auf eine im Schatten der Bäume stehende Bank. Von da aus konnte er den Gipfel des Gusta sehen, der im hellen Sonnenschein glänzte, während der Maan, der oft Holzstämme mit sich herabführt, zu seinen Füßen rauschte.

Hier sah man auch zuweilen Leute vorüberkommen, die von Dal nach dem Rjukansos gingen. Meist waren es Lustreisende, welche eine oder zwei Stunden im Gasthause der Frau Hansen Rast machten, um zu frühstücken oder zu Mittag zu essen. Daneben trafen auch, Tornister auf dem Rücken und die kleine norwegische Kokarde an der Mütze, einige Studenten von Christiania hier ein.

Diese kannten natürlich den Professor, und so hörte man immer und immer wieder ein fröhliches »Guten Tag« und herzliche Grüße, welche bewiesen, wie beliebt Sylvius Hog auch bei der ganzen akademischen Jugend war.

»O, Sie sind hier, Herr Sylvius?

[84] – Ja, liebe Freunde.

– Sie, den man tief drin in Hardanger wähnt?

– Das ist eine Täuschung. Eigentlich müßte ich im Grunde das Rjukansos liegen.

– O, gar das; nun, wir wollen überall melden, daß Sie sich in Dal befinden.

– Ja, in Dal... Und mit einem Bein in der Binde.

– Sie haben glücklicher Weise aber eine gute Lagerstatt und sorgsame Pflege im Hause der Frau Hansen gefunden?

– Wer könnte sich's besser erdenken?

– Gewiß, es gibt keine behaglichere Stelle.

– Und etwa wo bravere Menschen?

– Nein, die gibt's auch nicht!« erklärten freudig die Touristen.

Dann tranken wohl Alle auf die Gesundheit Huldas und Joëls, welche Beide in ganz Telemarken rühmlich bekannt waren.

Darauf berichtete der Professor sein Abenteuer und gestand seine Unbesonnenheit freimüthig ein, erzählte auch getreulich, wie er gerettet worden sei und wie viel Dankbarkeit er seinen Rettern schulde.

»Und wenn ich hier bleibe, bis meine Schuld abgetragen ist, setzte er lächelnd hinzu, dann, meine Herren, bleibt mein Staatsrechts-Colleg noch lange geschlossen und Sie können Ferien ohne Ende machen.

– Ah, Herr Professor, rief dann die lustige Gesellschaft; gewiß ist daran die reizende Hulda schuld, die Sie hier in Dal zurückhält.

– Ein liebenswürdiges Kind, meine Freunde, und bezaubernd obendrein, und ich – beim heiligen Olaf – ich bin auch erst sechzig Jahre alt!

– Auf das Wohlsein des Herrn Professor Hog!

– Und auf das Eure, junge Leute! Immer durchstreift das Vaterland, unterrichtet und belustigt Euch! In Eurem Alter ist es immer und überall schön! Aber hütet Euch vor dem Wege über den Maristien! Joël und Hulda könnten vielleicht nicht gleich zur Stelle sein, um die Unbesonnenen zu retten, die sich dahin gewagt hätten.«

Dann zog die muntere Schaar ab und noch lange hallte ihr »God aften« aus dem Thal zurück.

Dann und wann einmal mußte sich Joël aus dem Hause entfernen, um Lustreisenden, welche den Gusta besteigen wollten, als Führer zu dienen, und [85] Sylvius Hog hätte ihn wohl gern dabei begleitet. Er behauptete zwar, so gut wie geheilt zu sein, da die Schrunde an seinem Beine sich vernarbt hatte, Hulda widerrieth ihm aber gar zu ernstlich, sich einer für ihn jetzt noch viel zu großen Anstrengung auszusetzen, und wenn Hulda das sagte, mußte er schon gehorchen.

Es ist übrigens ein merkwürdiger Berg, dieser Gusta, dessen von schneeerfüllten Schluchten gestreifter Mittelkegel aus dichtem Tannenforst aufragt, wie aus einem grünen Kragen, der ihn unten vollständig umhüllt. Dazu bietet sein Gipfel einen wunderbar schönen, ausgedehnten Gesichtskreis, der im Osten den Bezirk von Numedal, im Westen ganz Hardanger mit seinen Gletschern umfaßt, während man dicht an seinem Fuße das vielfach gewundene Vestfjorddal zwischen dem Mjös- und Tinn-See, Dal mit seinen niedlichen Häusern, die wie einem Kinderspielzeugkasten entnommen aussehen, und den Lauf des Maan überblickt, welcher als spiegelndes Band da und dort aus dem Grün der ebenen Strecken hervorleuchtet.

Um eine solche Bergfahrt auszuführen, brach Joël schon Morgens fünf Uhr auf und traf gewöhnlich Abends um sechs Uhr wieder zu Hause ein. Sylvius Hog und Hulda gingen ihm dann entgegen und erwarteten ihn neben der Fährmannshütte. Hatte das urwüchsige Fahrzeug die Lustreisenden und deren Führer an's Ufer gesetzt, so wechselten die Drei einen herzlichen Händedruck und verbrachten zusammen wieder einen höchst angenehmen Abend. Der Professor schleppte zwar noch immer etwas den Fuß, doch er beklagte sich nicht und schien überhaupt nicht zu viel Eile zu haben, sich vollkommen wieder hergestellt zu sehen, da das ja fast gleichbedeutend mit dem Verlassen des gastlichen Hauses der Frau Hansen war.

Die Zeit verflog ihm übrigens auffallend schnell. Er hatte nach Christiania gemeldet, daß er sich noch einige Zeit in Dal aufzuhalten denke. Das Gerücht von seinem Abenteuer am Rjukansos war durch das ganze Land gegangen; die Blätter hatten es weiter erzählt und einzelne derselben es noch in ihrer eigenen Weise ausgeschmückt. Infoge dessen strömte – abgesehen von den Broschüren und Tagesblättern – eine ganze Menge Briefe nach dem Gasthause zusammen. Er mußte alle lesen, mußte auf die meisten antworten.

Sylvius Hog las, antwortete, und da er in seine Briefe gar so häufig die Namen Joëls und Huldas einfließen ließ, wurden auch diese bald in zweiter Linie in ganz Norwegen bekannt.

[86] Der Aufenthalt bei Frau Hansen konnte sich indeß nicht bis in's Unendliche verlängern. Doch Sylvius Hog war sich auch nach langem Zeitraume ebenso wenig wie bei seiner Ankunft darüber klar, wie es ihm möglich sein würde, seine Schuld abzutragen. Inzwischen fing er dagegen an zu muthmaßen, daß diese Familie doch nicht so glücklich sein möge, wie er immer geglaubt hatte. Die Ungeduld, mit der Bruder und Schwester jeden Tag den Postboten von Christiania oder von Bergen erwarteten, ihre Enttäuschung, ja, ihr Kummer, wenn sie sahen, daß derselbe niemals einen Brief für sie mitbrachte, waren zu deutliche Zeugen dafür.

Jetzt schrieb man schon den 9..Juni – und noch immer keine Nachricht über den »Viken«! Schon handelte es sich also um eine Verzögerung von über zwei Wochen nach dem für seine Heimkehr bestimmten Zeitpunkt. Nicht ein einziger Brief von Ole! Nichts, was den heimlichen Kummer Huldas hätte mildern können! Das arme Mädchen begann allmählich zu verzweifeln, und Sylvius Hog fand sie eines Morgens mit recht roth geweinten Augen.

»Was bedeutet das? fragte er sich. Ein Unglück, das man fürchtet und mir verhehlt? Betrifft es wohl ein Geheimniß der Familie, in das ein Fremder einzudringen nicht berechtigt ist? Doch bin ich für sie denn immer noch ein Fremder? Nein; das können sie doch selbst nicht glauben. Nun, wenn ich meine Wiederabreise ankündige, werden sie vielleicht deutlich einsehen, daß es ein wahrer Freund ist, der von ihnen scheidet.«

Noch an demselben Tage begann er also:

»Liebe Freunde, es naht nun der Zeitpunkt, wo ich zu meinem lebhaften Bedauern Euch doch endlich verlassen muß.

– Schon, Herr Sylvius, schon! rief Joël mit einer Lebhaftigkeit, die er kaum zu bemeistern vermochte.

– O, hier bei Euch vergeht Einem die Zeit gar zu geschwind. Jetzt weile ich schon seit siebzehn Tagen in Dal.

– Wie?... Siebzehn Tage? wiederholte Hulda.

– Ja, liebes Kind, und das Ende meines Urlaubs rückt heran. Ich habe jetzt kaum noch eine Woche übrig, die geplante Reise nach Drammen und Kongsberg auszuführen. Und doch verdankt das Storthing eigentlich nur Euch, daß ihm die Mühe erspart bleibt, meinen Deputirtenplatz mit einem Nachfolger zu besetzen, und das Storthing wird ebenso wenig wie ich selbst sich darüber klar werden können, welche Belohnung...

[87] – O, Herr Sylvius!... fiel ihm Hulda ins Wort, die ihm mit ihrer kleinen Hand den Mund verschließen zu wollen schien.

– Nun ja, ich gehorche, es ist mir ja verboten, davon zu sprechen... wenigstens hier!...

– Weder hier, noch sonstwo! sagte das junge Mädchen.

– Es sei; in dieser Angelegenheit bin ich eben nicht mein eigener Herr und muß mich unterwerfen; doch werden Sie und Joël nicht einmal nach Christiania kommen, um mich zu besuchen?

– Sie besuchen, Herr Sylvius?...

– Nun ja, mich besuchen.... Ein paar Tage in meinem Hause zu verbringen... natürlich zugleich mit Frau Hansen.

– Und wenn wir das Gasthaus verlassen, wer sollte demselben dann vorstehen?

– O, das Gasthaus bedarf Eurer, mein' ich, dann einmal nicht mehr, wenn die Reisezeit vorüber ist. Ich denke also, mit Ende Herbst müßte sich das ausführen lassen....

– Herr Sylvius, antwortete Hulda, das dürfte doch seine Schwierigkeiten haben....

– Nein, im Gegentheil, liebe Freunde, das geht ganz leicht. Antwortet mir nicht »Nein!«, eine Weigerung nehme ich nicht an. Und dann, wenn ich Euch erst da unten habe, im besten Zimmer meines Hauses, neben meiner alten Kate und meinem alten, treuen Fink, dann werdet Ihr wie meine Kinder sein und als solche müßt Ihr mir auch sagen, was ich vielleicht für Euch thun kann.


Sie erwarteten ihn bei der Fährmannshütte. (S. 86.)

– Was Sie thun könnten, Herr Sylvius? erwiderte Joël, seiner Schwester einen Blick zuwerfend.

– Joël!... rief Hulda, welche den Gedanken des Bruders errieth.

– Sprechen Sie, junger Freund, sprechen Sie offen!

– Nun gut, Herr Sylvius, Sie könnten uns eine sehr große Ehre erweisen.

– Ich? Inwiefern?

– Etwas, was Ihnen nicht allzu viel Unbequemlichkeit auferlegte, Sie könnten der Hochzeit meiner Schwester Hulda beiwohnen...

– Ihrer Hochzeit? rief Sylvius Hog erstaunt. Wie, meine kleine Hulda will sich verheiraten, und mir hat man kein Sterbenswörtchen davon mitgetheilt?

[88] – Ach, Herr Sylvius!... seufzte das junge Mädchen, deren Augen sich mit Thränen füllten.

... Und wann soll diese Hochzeit stattfinden?

– Wann es Gott gefällt, uns Ole, Huldas Bräutigam, wieder heimzuführen!« antwortete Joël.

[89]

11. Capitel

XI.

Joël erzählte nun die Geschichte Ole Kamp's. Sehr ergriffen von der Schilderung, lauschte ihm Sylvius mit gespannter Aufmerksamkeit. Jetzt wußte er Alles. Er hatte eben auch den letzten Brief gelesen, der die Rückkehr Oles ankündigte, und Ole kam doch noch immer nicht. Welche Unruhe, welche Angst bereitete das der Familie Hansen!

»Und ich, ich wähnte immer bei ganz glücklichen Menschen zu wohnen,« sagte er für sich.

Vergegenwärtigte er sich aber Alles einzeln, was er gelegentlich beobachtet hatte, so schien es ihm, daß die beiden Geschwister sich schon ihrer Verzweiflung überließen, wo doch alle Hoffnung noch nicht aufzugeben war. Rechneten sie nach den Tagen des Mai und Juni, so gestaltete die Einbildung ihnen diese Zahl weit größer, so als wenn sie dieselben zweimal gezählt hätten.

Der Professor nahm sich vor, ihnen darüber andere Ansichten beizubringen, und wenn er dazu auch nicht zwingende Beweisgründe an der Hand hatte, so waren es doch ganz beachtenswerthe und annehmbare, durch welche er ihnen das Ausbleiben des »Viken« erklärlich zu machen suchte.

Immerhin war sein Gesicht recht ernst geworden. Die Betrübnisse Huldas und Joëls hatten ihn tief ergriffen.

»Hört mich an, liebe Kinder, sagte er, setzt Euch neben mich und laßt uns den Fall besprechen.

– Und was könnten Sie uns zum Troste sagen, Herr Sylvius? antwortete Hulda, deren Schmerz sie übermannte.

– Ich werde Euch nur sagen, was ich für richtig halte, erwiderte der Professor, und das ist Folgendes: Ich habe reiflich nachgedacht über Alles, was Joël mir mitgetheilt hat, und da scheint mir, als ob Eure Ungeduld doch etwas übertrieben wäre. Fern sei es von mir, Euch mit unhaltbaren Versicherungen aufrichten zu wollen, aber es ist doch nicht mehr als recht, die Sache so anzusehen, wie sie liegt.

– Ach, Herr Sylvius, klagte Hulda, mein armer Ole ist doch mit dem »Viken« zu Grunde gegangen und ich werd' ihn nimmermehr wiedersehen!

[90] – Schwester... liebste Schwester! rief Joël bittend, beruhige Dich und lass' Herrn Sylvius sprechen....

– Und behalten wir ruhiges Blut, liebe Kinder. Seht einmal, zwischen dem 15. und dem 20. Mai sollte Ole also in Bergen wieder eintreffen?

– Ja, sagte Joël, zwischen dem 15. und dem 20. Mai, wie sein Brief uns meldete, und jetzt haben wir schon den 9. Juni.

– Das gibt eine Verzögerung von zwanzig Tagen über den letzten, für die Rückkehr des »Viken« angenommenen Zeitpunkt hinaus. Ich gebe zu, daß das etwas bedeutet; indeß darf man von einem Segelschiffe nicht verlangen, was man von einem Dampfer erwarten könnte.

– Eben das hab' ich Hulda auch gesagt und wiederhole es ihr noch immer, sagte Joël.

– Und daran thun Sie gut, mein Sohn, erklärte Sylvius Hog. Außerdem wäre es ja möglich, daß der »Viken« ein altes Schiff ist, welches, wie die meisten der Neufundlandsfahrer, vorzüglich wenn dieselben schwer beladen sind, nur schlecht segelt. Andererseits hat auch seit den letzten Wochen recht schlimmes Wetter geherrscht. Vielleicht hat Ole nicht einmal zu der Zeit, welche sein Brief angibt, abfahren können. In diesem Falle brauchte er sich nur um acht Tage verspätet zu haben, so könnte der »Viken« noch gar nicht eingetroffen sein, und Ihr würdet wahrscheinlich noch einen weiteren Brief von ihm zu erwarten haben Alles, was ich Euch hier sage, ist, das dürft Ihr glauben, das Ergebniß ernstlichen Nachdenkens. Wißt Ihr übrigens so genau, ob die dem »Viken« mitgegebenen Instructionen ihm nicht eine gewisse Freiheit des Entschlusses einräumten, je nach dem Bedarf des Marktes seine Ladung vielleicht in einem anderen Hafen zu löschen?

– Das würde Ole mir geschrieben haben, fiel Hulda ein, die sich auch an eine solche Hoffnung nicht zu klammern vermochte.

– Wer beweist, daß er nicht geschrieben hätte? erwiderte der Professor; und wenn er es gethan, dann wäre nicht der »Viken« im Nachzuge, sondern nur das Postschiff von Amerika. Nehmt einmal an, Oles Schiff hätte einen Hafen der Vereinigten Staaten anlaufen müssen, das erklärte sofort, warum noch kein weiterer Brief von ihm in Europa eingelaufen wäre.

– In den Vereinigten Staaten, Herr Sylvius?

– Das kommt ja manchmal vor, und es reicht dann hin, ein Postschiff zu verfehlen, um seine Freunde recht lange ohne Nachricht lassen zu müssen [91] Auf jeden Fall haben wir einen recht einfachen Weg einzuschlagen, nämlich den, bei den Rhedern in Bergen nähere Erkundigungen einzuziehen. Kennt Ihr dieselben?

– Ja, sagte Joël, es sind die Herren Gebrüder Help.

– Gebrüder Help senior Söhne? rief Sylvius Hog.

– Ja, dieselben.

– Oh, die kenne ich ja auch. Der jüngere, Help junior, wie man ihn nennt, obwohl er schon in meinem Alter ist, gehört zu meinen besten Freunden. Wir haben in Christiania oft genug zusammen gespeist. Gebrüder Help, liebe Kinder! O, durch diese werde ich sehr bald erfahren, wie es mit dem »Viken« steht! Noch heut' werd' ich an sie schreiben, und wenn es nöthig würde, suche ich sie persönlich auf.

– Wie gut Sie sind, Herr Sylvius! riefen Hulda und Joël gleichzeitig.

– Ach, keinen Dank, ich bitte Euch! Nein, ich verbiete es Euch. Hab' ich Euch denn gedankt für das, was Ihr da draußen für mich gethan?... Wie, ich finde kaum eine Gelegenheit, Euch einen kleinen Dienst zu erweisen, und Ihr macht ein solches Wesen davon!

– Sie sprachen aber davon, abzureisen, um nach Christiania heimzukehren, bemerkte Joël.

– Ei was, so fahre ich eben nach Bergen, wenn es unumgänglich nöthig ist, dahin zu reisen.

– Sie wollten uns aber verlassen, Herr Sylvius, warf Hulda ein.

– So verlasse ich Euch einfach nicht, liebes Kind. Ich bin Herr meiner Beschlüsse, denk' ich, und so lange ich diese Angelegenheit nicht in's Reine gebracht habe, werd' ich auch – man müßte mir denn hier die Thür weisen...

– Was sagen Sie da?

– Nein, halt, ich habe nicht übel Lust, bis zur Rückkehr Oles in Dal zu bleiben, denn ich möchte ihn kennen lernen, den Verlobten meiner kleinen Hulda. Das muß ein wackerer junger Mann sein – so in der Art unseres Joël.

– Ja, ganz wie er! bestätigte Hulda.

– Das konnte ich mir denken! rief der Professor, dessen gute Laune wenigstens dem Anscheine nach wieder die Oberhand gewonnen hatte.

– Ole gleicht nur Ole, Herr Sylvius, sagte Joël, und das genügt für den Beweis, daß er ein vortreffliches Herz besitzt.

[92] – Ich glaube Euch, lieber Joël; das erregt in mir aber nur noch mehr das Verlangen, ihn zu sehen. O, es kann ja nicht mehr lange dauern. Irgend etwas sagt mir, daß der »Viken« bald eintreffen müsse.

– Möge Gott Sie hören!

– Und warum sollte er mich nicht hören? Er hat ein gar seines Ohr. Ja, ich will der Hochzeit Huldas noch beiwohnen, da ich nämlich dazu eingeladen bin. Dem Storthing wird schon nichts übrig bleiben, als meinen Urlaub um einige Wochen zu verlängern; es hätte ihn ja noch weit mehr verlängern müssen, wenn Ihr mich in den Rjukansos fallen ließt, wie ich's eigentlich verdiente.

– Herr Sylvius, fiel ihm Joël ins Wort, wie können Sie wohl so reden, bei all' dem Guten, das Sie uns erweisen!

– Ich wünschte herzlich, Euch besser dienen zu können, liebe Freunde, denn Euch verdanke ich ja Alles, und ich weiß nur nicht...

– Nein, bitte, erwähnen Sie jenes kleinen Abenteuers nicht weiter!

– Im Gegentheil, ich werde immer darauf zurück kommen. Sagt doch, war ich es denn, der mich aus der Todesgefahr auf dem Maristien befreite? Hab' ich das Leben daran gewagt, mich selbst zu retten? Hab' ich mich vielleicht selbst nach dem Gasthause in Dal geschafft? Hab' ich selbst mich gepflegt und ohne Mithilfe der Facultät geheilt? O, ich bin starrköpfig wie ein Schußkarrengaul, das werdet Ihr noch kennen lernen. Nun hab' ich mir einmal in den Kopf gesetzt, der Hochzeit Huldas beizuwohnen, und, beim heiligen Olaf! ich werde bei derselben anwesend sein!«

Das Vertrauen wirkt gewöhnlich ansteckend. Wie hätten sie dem, welches Sylvius Hog ihnen entgegenbrachte, widerstehen können?

Er bemerkte es recht wohl, als ein schwaches Lächeln das Gesicht der armen Hulda verklärte. Sie wünschte ja nur, es glauben, freute sich nur, es hoffen zu können.

Sylvius Hog fuhr in freundlichem Tone fort:

»Ei, wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Zeit sehr schnell verrinnt, also beginnen wir bald mit den Vorbereitungen zur Hochzeit.

– Die sind schon begonnen, Herr Sylvius, antwortete Hulda, und zwar schon seit drei Wochen.

– Schön! So hüten wir uns, sie zu unterbrechen.

– Zu unterbrechen? wiederholte Joël. Es ist ja schon Alles fertig.

[93] – Wie, der Rock der Ehefrauen, das Leibchen mit den Filigranschnallen, der Gürtel mit seinem Gehänge?

– Ja, sogar dessen Gehänge.

– Die glänzende Brautkrone, welche meiner kleinen Hulda wie einer Heiligen stehen wird?

– Ja, Herr Sylvius.

– Und die Einladungen sind auch schon besorgt?

– Alle, versicherte Joël, selbst die, welche uns am meisten am Herzen liegt, die Ihrige.

– Und die Brautjungfer ist unter den besten Mädchen Telemarkens schon erwählt?

– Und unter den schönsten, Herr Sylvius, antwortete Joël, denn das ist Fräulein Sigrid Helmboë von Bamble.

– In welchem Tone er das sagt, der wackere Bursche! bemerkte der Professor, und wie er gar dabei erröthet. Ei, ei, sollte es der Zufall etwa gar fügen, daß jenes Fräulein Sigrid Helmboë von Bamble ausersehen sei, einst Frau Joël Hansen von Dal zu werden?

– Ja, Herr Sylvius, bestätigte Hulda, Sigrid, die ich als meine beste Freundin betrachte.

– Schön, also noch eine Hochzeit! rief Sylvius Hog. Ich bin sicher, daß man mich auch dazu einladen wird, und werde schon nichts Anderes thun können, als derselben ebenfalls beizuwohnen. Da wird's aber entschieden nothwendig, als Abgeordneter des Storthing meine Amtsniederlegung zu melden, denn offen bar dürfte es mir an Zeit fehlen, bei den Sitzungen ferner anwesend zu sein. Nun also, mein wackerer Joël, ich bin Ihr Trauzeuge, nachdem ich erst, wenn Sie nichts dagegen haben, als solcher Ihrer Schwester gedient habe. Ich sehe schon, Ihr macht mit mir, was Ihr wollt, oder vielmehr, was ich selbst gerne will. Umarmen Sie mich, kleine Hulda; geben Sie mir die Hand, mein Sohn, und nun wollen wir an meinen Freund Help junior in Bergen schreiben!«

Die Geschwister verließen das Zimmer im Erdgeschoß, von dem der Professor zu sagen liebte, daß er es in Erbpacht nehmen wolle, und gingen wieder mit etwas erneuter Hoffnung an ihre Arbeit.

Sylvius Hog war allein zurückgeblieben.

»Das arme Mädchen! Das arme Mädchen! murmelte er; ja, ich habe einen Augenblick ihren Schmerz hinweggetäuscht, habe ihr einige Beruhigung [94] eingeflößt!... Aber es ist doch eine sehr lange Verzögerung, und in jenen Meeren, welche zu dieser Jahreszeit der Schrecken genug bieten.... Wenn Ole nicht mehr heimkehren sollte!«

Schon in der nächsten Minute schrieb der Professor an die Rheder in Bergen; in seinem Briefe ersuchte er dieselben um möglichst eingehende Benachrichtigung über Alles, was mit dem »Viken« und mit seiner Fahrt auf den Fischfang zusammenhing, er wünschte Auskunft darüber, ob irgend ein vorhergesehener oder unvorhergesehener Umstand diesen veranlaßt haben könne, einen anderen Hafen anzulaufen. Vorzüglich kam es ihm darauf an, zu erfahren, wie die Kaufherren und Seeleute von Bergen sich diese Verzögerung erklärten. Endlich bat er seinen Freund Help junior, die sorgfältigsten Erkundigungen einzuziehen und ihm mit dem rückkehrenden Postboten Nachricht zukommen zu lassen.

Dieser so dringliche Brief belehrte den Empfänger auch, warum Sylvius Hog an dem jungen Steuermann des »Viken« so warmen Antheil nahm und für welchen Dienst er der Verlobten desselben verpflichtet sei, auch welche Freude es für ihn sein würde, den Kindern der Frau Hansen einige Aufklärungen geben zu können.

Sobald der Brief geschlossen war, besorgte ihn Joël nach der Post in Moel, von wo er am nächsten Tage mit abgehen sollte. Am 11. Juni würde derselbe in Bergen sein, und am 12. oder spätestens am Morgen des 13. konnten sie von Help junior eine Antwort in den Händen haben.

Fast drei Tage sollten sie auf eine Antwort warten! Wie lang würden diese erscheinen! Durch seine tröstlichen Worte, seine ermuthigenden Gründe gelang es jedoch dem Professor, diese Zeit der spannenden Erwartung weniger fühlbar zu machen. Jetzt, wo er das Geheimniß Huldas kannte, fehlte es ihm ja nie an einem gern gehörten Gesprächsthema, und wie viel Trost gewährte es Joël und seiner Schwester, ohne Unterlaß von dem Abwesenden reden zu können.

»Gehöre ich denn jetzt nicht zu Eurer Familie? wiederholte öfters Sylvius Hog. Ja, als so etwas wie ein Onkel, der Euch von Amerika aus oder sonstwoher bescheert worden wäre?«


Der Professor schrieb... (S. 95.)

Und weil er eben zur Familie gehörte, konnte man auch keine weiteren Geheimnisse vor ihm haben.

Das Auftreten der beiden Kinder gegen ihre Mutter war ihm ja nicht unbemerkt geblieben. Die Zurückhaltung, deren sich Frau Hansen so auffällig [95] befleißigte, mußte seiner Meinung nach noch eine andere Ursache haben, als die Unruhe, in der Alle bezüglich Ole Kamp's schwebten. Er glaubte das also gegen Joël erwähnen zu müssen, doch dieser wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Er versuchte dann, Frau Hansen selbst zu erforschen, diese hielt sich aber so verschlossen, daß er darauf verzichten mußte, ihr Geheimniß zu durchdringen. Die Zukunft würde ihm darüber ja Aufklärungen verschaffen.

Sowie Sylvius Hog vorausgesehen, traf die Antwort von Help junior am Morgen des 13. in Dal ein. Joël war dem Postboten schon mit Tagesanbruch [96] entgegen gegangen; er brachte den Brief dann auch nach der großen Stube, in der sich der Professor mit Frau Hansen und deren Tochter befand.

Zuerst herrschte eine Minute lang tiefes Schweigen. Hulda, welche ganz blaß geworden war, hätte jetzt gar nicht sprechen können, so heftig klopfte ihr vor Erwartung das Herz. Sie hatte die Hand ihres Bruders ergriffen, der übrigens nicht weniger erregt war als sie.

Sylvius Hog erbrach den Brief und las den Inhalt mit lauter Stimme vor. Zu seinem Bedauern erging sich der Absender desselben auch nur in [97] unbestimmten Andeutungen, und der Professor konnte den jungen Leuten, die ihm mit Thränen in den Augen zuhörten, seine Enttäuschung nicht verhehlen.


Welcher Empfang... (S. 100.)

Der »Viken« hatte Saint Pierre Miquelon wirklich zur vorausbestimmten Zeit verlassen, ganz wie es Ole Kamp's letzter Brief meldete. Das war in zuverlässigster Weise durch andere Schiffe bekannt geworden, die seit seiner Abreise von Neufundland in Bergen schon angekommen waren. Diese Schiffe hatten denselben unterwegs nicht angetroffen; auch sie hatten in der Gegend von Island sehr schweres Wetter zu überstehen gehabt, sich aber daraus, ohne Schaden zu nehmen, zu retten vermocht.

Warum sollte das denn dem »Viken« nicht ebenso gelungen sein? Vielleicht war er nur ein Stück zurückgeblieben. Es war das übrigens ein ganz vorzügliches, sehr fest gebautes Schiff unter der Führung des Capitäns Frikel aus Hammerfest, und hatte eine kräftige Besatzung, welche schon genügende Proben ihrer Seetüchtigkeit abgelegt hatte. Immerhin sei dieses Ausbleiben des »Viken«, wenn es sich noch weiter verlängerte, einigermaßen beunruhigend, und dann doch vielleicht zu fürchten, daß derselbe mit Mann und Maus zu Grunde gegangen sei.

Help junior bedauerte, keine bessere Nachricht über den jungen Verwandten der Familie Hansen geben zu können. Betreffs Ole Kamp's selbst, sprach er von diesem als einem vortrefflichen jungen Manne, welcher der Theilnahme, die Sylvius Hog für ihn empfand, völlig würdig wäre.

Help junior schloß mit der Versicherung seiner aufrichtigen Hochachtung für den Professor und übermittelte diesem gleichzeitig herzliche Grüße von seiner Familie. Endlich versprach er, ihm ohne Zögern jede weitere Nachricht zugehen zu lassen, die vom »Viken« aus irgend welchem Hafen Norwegens eintreffen würde, und nannte sich in der Unterschrift als dessen »achtungsvoll ergebene. Gebrüder Help.

Halb ohnmächtig werdend, war die arme Hulda, während der Professor diesen Brief las, auf einen Stuhl niedergesunken und schluchzte schmerzlich, als dieser damit zu Ende war.

Mit gekreuzten Armen, ohne ein Wort zu sagen, ja, selbst ohne daß er gewagt hätte, seine Schwester anzusehen, hatte Joël zugehört.

Frau Hansen hatte sich, nachdem Sylvius Hog mit dem Lesen aufgehört, nach ihrem Zimmer zurückgezogen; es schien, als hätte sie diese Hiobspost ebenso sicher erwartet, wie sie manch' anderes Unglück voraussah.

[98] Der Professor bedeutete Hulda und Joël durch ein Zeichen, näher zu treten. Er wollte zu ihnen noch über Ole Kamp reden, wollte ihnen Alles sagen, was er nur immer an Trost für sie erdenken konnte. Und er sprach sich nach diesem Briefe von Help junior mit mindestens eigenthümlicher Zuversichtlichkeit aus. Er betonte ganz besonders eine merkwürdige Ahnung zu haben, daß sie noch nicht zu verzweifeln brauchten, dazu seien eine hinreichende Menge Beispiele bekannt, daß Schiffe auf der Fahrt zwischen Norwegen und Neufundland noch längere Verzögerungen erlitten hätten, was unzweifelhaft nachgewiesen wäre. Der »Viken« sei ja, wie sie nun bestimmt wüßten, ein gutes Fahrzeug mit verläßlichem Führer und erprobter Mannschaft, folglich aber eher in günstigeren Verhältnissen, als manche andere Schiffe, welche zufällig schon nach dem Heimatshafen zurückgekehrt wären.

»Halten wir also die Hoffnung hoch, meine lieben Kinder, und fügen wir uns in Geduld! Hätte der »Viken« zwischen Island und Neufundland Schiffbruch erlitten, sollten denn die zahlreichen, auf demselben Wege nach Europa befindlichen anderen Fahrzeuge keine einzige Spur von ihm aufgefunden haben? – Doch nein! Nicht eine Planke ist in jenen zur Zeit der Hochseefischerei so belebten Gegenden entdeckt worden! Nichtsdestoweniger dürfen wir natürlich die Hände nicht in den Schooß legen und müssen unbedingt erschöpfende Nachrichten zu erlangen suchen. Wenn wir auch diese Woche ohne eine Meldung über den »Viken« oder einen Brief von Ole bleiben, werde ich nach Christiania zurückkehren, mich an das Seeamt wenden, welches umfassende Nachforschungen anstellen und – das bin ich überzeugt – damit Erfolge erzielen wird, die uns gewiß Alle befriedigen.«

Wie große Zuversicht der Professor auch zeigte, fühlten Hulda und Joël doch heraus, daß er nicht mehr so sprach, wie vor Empfang dieses Briefes aus Bergen – eines Briefes, dessen Inhalt ihnen in der That nur wenig Hoffnung übrig ließ. Sylvius Hog wagte augenblicklich nicht mehr, eine Anspielung auf Huldas in nächster Zeit bevorstehende Hochzeit zu machen, wenn er auch mit eindringlichem Tone wiederholte:

»Nein, es ist ja gar nicht möglich! Ole – und nicht mehr in das Haus der Frau Hansen zurückkehren! Ole sollte seine Hulda nicht heiraten! Nein, an ein solches Unglück glaub' ich mein Lebtag nicht!«

Das war freilich nur seine persönliche Ueberzeugung, die er aus der Energie seines Charakters, aus seiner angeborenen Natur, welche sich durch [99] nichts ganz niederdrücken ließ, schöpfte. Doch wie hätte er diese auch auf Andere zu übertragen vermocht, und vorzüglich auf diejenigen, denen das Schicksal des »Viken« am meisten am Herzen lag?

Inzwischen verstrichen noch einige Tage. Vollkommen geheilt, unternahm Sylvius Hog nun weitere Spaziergänge in der Umgebung, wobei er Hulda und deren Bruder freundlich nöthigte, ihn zu begleiten, nur um die Geschwister sich nicht allein zu überlassen. Eines Tages gingen alle Drei das Vestfjorddal halb bis zu den Fällen des Rjukan hinauf; am folgenden Tage machten sie den Weg abwärts, wandten sich aber dabei nach Moel und dem Tinn-See zu. Einmal blieben sie sogar über vierundzwanzig Stunden lang aus, weil sie ihren Ausflug bis Bamble ausgedehnt hatten, wo der Professor die Bekanntschaft des Pächters Helmboë und seiner Tochter Sigrid machte. Welch herzlichen Empfang bereitete da letztere ihrer Hulda, und wie aufrichtig bemühte sie sich, die Freundin zu trösten.

Sylvius Hog konnte den theilnehmenden Leuten hier auch etwas mehr Hoffnung machen; er hatte an das Seeamt nach Christiania geschrieben. Die Regierung hatte die Aufsuchung des »Viken« in die Hand genommen, der bestimmt aufgefunden werden würde; auch Ole würde wieder kommen, er konnte von einem Tage zum andern eintreffen. O nein, die Hochzeit würde gewiß um keine sechs Wochen Aufschub erleiden! Der vortreffliche Mann schien so unerschütterlich überzeugt, daß man sich vielleicht mehr dieser felsenfesten Ueberzeugung als seinen Beweisgründen beugte.

Der Besuch bei der Familie Helmbon erwies sich als recht wohlthätig für die Kinder der Frau Hansen, denn als sie nach Hause zurückkehrten, waren sie weit gefaßter als beim Fortgehen.

Der 15. Juni war herangekommen. Der »Viken« hatte jetzt schon einen vollen Monat Verzögerung. Da es sich ja nur um die verhältnißmäßig kurze Ueberfahrt von Neufundland nach der Küste von Norwegen handelte, so überschritt das – selbst für ein Segelschiff – doch alle gewöhnlichen Erfahrungen.

Hulda lebte kaum mehr, und ihr Bruder wußte kein Wort zu finden, das sie hätte trösten und aufrichten können. Angesichts der beklagenswerthen jungen Leute mißlang selbst dem Professor fast der Vorsatz, immer und immer noch etwas Hoffnung zu bewahren. Hulda und Joël verließen die Schwelle des Hauses jetzt nur noch, um nach der Seite von Moel hinaus zu blicken oder ein Stück auf der Straße nach dem Rjukansos hinzugehen. Ole Kamp mußte eigentlich [100] von Bergen aus kommen, aber es war ja nicht ausgeschlossen, daß er vielleicht von Christiania käme, wenn der Bestimmungshafen des »Viken« geändert worden war.

Das Geräusch von einem Schußkarren, das aus den Bäumen vernehmbar wurde, ein Schrei, der die Luft durchzitterte, der Schatten einer Menschengestalt, der sich an einer Pfadbiegung zeigte, ließ ihre Herzen – leider vergeblich – allemal höher schlagen. Die Leute in Dal wachten sozusagen auch ihrerseits und gingen den Postboten stromauf- und stromabwärts des Maan entgegen. Alle bewiesen ihre innige Theilnahme gegenüber der so allbeliebten Familie, wie gegenüber dem armen Ole, den man ja fast als ein Kind Telemarkens betrachtete; doch weder von Bergen noch von Christiania traf ein Brief ein, der Nachricht von dem Verschollenen gebracht hätte.

Auch am 16. ereignete sich nichts Neues. Der Professor konnte sich kaum noch halten und sah ein, daß er hier mit eigener Person eintreten müsse, um der immer qualvoller werdenden Lage ein Ende zu machen. Deshalb erklärte er denn auch, wenn bis zum folgenden Tage keine Mittheilung einliefe, selbst nach Christiania zu gehen und sich überzeugen zu wollen, ob die Nachforschungen auch mit gehörigem Eifer betrieben würden. Freilich mußte er Hulda und Joël inzwischen verlassen; doch das war nicht zu ändern, und er gedachte ja zurückzukehren, sobald er die nöthigen Schritte gethan hatte.

Schon ein großer Theil des 17. Juni war verflossen – ein Theil des vielleicht traurigsten Tages von allen. Seit Tagesanbruch strömte der Regen hernieder und ein starker Wind schüttelte die alten Baumkronen und ließ, nach der Seite des Maan hin, manchmal alle Fensterscheiben erzittern.

Es war jetzt sieben Uhr und die Hauptmahlzeit schweigend, wie in einem Trauerhause, beendigt. Selbst Sylvius Hog gelang es nicht mehr ein Gespräch im Gange zu erhalten – es fehlten ihm jetzt die Worte, wie die Gedanken. Was hätte er auch sagen sollen, das nicht vorher hundertmal gesagt war, zumal da er es fühlte, daß dieses sich noch immer länger hinziehende Ausbleiben des sehnlichst Erwarteten die früheren Erklärungsgründe immer unannehmbarer machte?

»Ich fahre morgen früh nach Christiania, sagte er. Joël, wollen Sie dafür sorgen, daß ich ein Gefährt finde? Sie werden mich nur bis Moel fahren und dann sofort heimkehren.

– Gewiß, Herr Sylvius, antwortete Joël; Sie wünschen also nicht, daß ich Sie noch weiter begleite?«

[101] Der Professor machte, auf Hulda deutend, ein abwehrendes Zeichen; er wollte diese auf keinen Fall ihres Bruders unnöthig berauben.

In demselben Augenblick ließ sich auf der Straße von Moel her ein erst zwar schwaches, doch immer deutlicher werdendes Geräusch vernehmen. Alle lauschten.

Schon unterlag es keinem Zweifel mehr, daß dasselbe von einem Wagen herrührte, der rasch auf Dal zurollte. Man konnte kaum annehmen, daß das ein Reisender sei, der vielleicht die Nacht in dem Gasthause zubringen wollte, denn einfache Lustreisende trafen zu so vorgeschrittener Stunde hier gewöhnlich nicht mehr ein.

Hulda hatte sich zitternd erhoben. Joël ging nach der Thür zu, öffnete dieselbe und blickte hinaus.

Das Geräusch wurde schärfer hörbar; es rührte von dem Schritte eines Pferdes und dem Knarren der Räder eines Schußkarrens her.

Der Sturm wüthete aber eben so heftig, daß Joël die Thür vorläufig wieder schließen mußte.

Sylvius Hog ging in der Stube auf und ab. Joël und seine Schwester standen dicht bei einander.

Der Schußkarren konnte nur noch zwanzig Schritte vom Hause entfernt sein. Würde er hier anhalten oder nicht?

Das Herz schlug Allen zum Zerspringen.

Das Gefährt stand wirklich still; man hörte eine rufende Stimme.... Die Stimme Ole Kamp's war es aber nicht. Gleich darauf klopfte es schon an der Thür.

Joël öffnete.

Vor der Schwelle stand ein fremder Mann.

»Herr Professor Sylvius Hog? fragte er.

– Der bin ich, antwortete der Professor vortretend. Wer sind Sie, mein Freund?

– Ein Expreßbote, der vom Director des Seeamtes in Christiania an Sie abgesendet wurde.

– Haben Sie ein Schreiben für mich?

– Hier ist es!«

Der Bote übergab hiermit ein großes Schreiben, das mit dem amtlichen Siegel geschlossen war.

[102] Hulda hatte nicht mehr die Kraft, sich auf den Füßen zu erhalten; ihr Bruder half ihr, sich auf ein Bänkchen zu setzen; keines der Geschwister wagte, Sylvius Hog zum Aufbrechen des Briefes zu drängen.

Endlich las dieser, wie folgt:


»Hochgeehrter Herr Professor!


Als Erwiderung auf Ihren letzten Brief übersende ich Ihnen hier eingeschlossen ein Schriftstück, das durch ein dänisches Schiff am vergangenen 5. Juni aus dem Meere aufgefischt wurde. Leider läßt dieses Document keinen Zweifel mehr bezüglich des Schicksals des »Viken« übrig...«


Ohne sich Zeit zu nehmen, den ganzen Brief zu durchlesen, hatte Sylvius Hog das Schriftstück aus dem Umschlage gezogen, das er aufmerksam betrachtete und dann umwendete....

Es war ein Lotterie-Loos mit der Nummer 9672.

Auf der Rückseite des Looses befanden sich folgende wenige Zeilen:


»3. Mai – Theuerste Hulda! Der »Viken« ist im Versinken! Mein ganzes Vermögen besteht in diesem Lotterie-Loos. Ich kann es nur Gott anvertrauen, um es Dir zukommen zu lassen, und da ich nicht mehr dabei sein kann, bitte ich Dich, der Ziehung beizuwohnen. Nimm es hin mit meinem letzten Lebewohl an Dich!... Vergiß mich nicht in Deinen Gebeten, meine Hulda! Leb' wohl, geliebte Braut, Gott sei mit Dir!

Ole Kamp

12. Capitel

XII.

Das war also das Geheimniß des jungen Seemannes, das die Aussicht, auf welche hin er hoffte, seiner Verlobten ein, wenn auch kleines Vermögen zuführen zu können....

Ein Lotterie-Loos, das er vor der Abfahrt gekauft hatte.... Und in dem Augenblicke, wo der »Viken« untergehen sollte, hatte er es, zugleich mit einem [103] letzten Abschiedsgruße an Hulda, in einer Flasche geborgen und diese ins Meer geworfen.

Jetzt fühlte sich Sylvius Hog niedergeschmettert. Er sah einmal den Brief und dann wieder das Schriftstück an, aber er sprach nicht mehr. Was hätte er jetzt auch noch sagen können? Welcher Zweifel konnte jetzt noch aufkommen an dem Unfall des »Viken« und an dem traurigen Tod aller Derjenigen, die er nach Norwegen zurücktragen sollte?

Während Sylvius Hog den an ihn gerichteten Brief las, hatte Hulda sich noch zu bemeistern und gegen die sie beklemmende Angst anzukämpfen vermocht. Nach den letzten Worten Oles war sie aber Joël in die Arme gesunken. Sie mußte nach ihrem Zimmer gebracht werden, wo ihre Mutter ihr die erste Pflege angedeihen ließ. Wieder zu sich gekommen, wünschte sie allein zu bleiben, und jetzt betete sie, vor ihrem Bette knieend, für Oles Seele.

Frau Hansen war nach der großen Stube zurückgekehrt. Erst that sie zwar einen Schritt auf den Professor zu, als ob sie das Wort an diesen richten wolle, dann wendete sie sich aber nach der Treppe und verschwand.

Auch Joël war, nachdem er seiner Schwester die nöthige Unterstützung geleistet, hinausgegangen. Er erstickte in diesem Hause, das allem Unglück offen zu stehen schien. Er brauchte frische, freie Luft, die Luft des entfesselten Sturmes, und einen guten Theil der Nacht irrte er an den Ufern des Maan umher.

Sylvius Hog war jetzt allein. Im ersten Augenblick von diesem Donnerschlage wie vernichtet, gelang es ihm doch bald, seine gewohnte Energie wieder zu gewinnen. Nachdem er zwei- oder dreimal die große Stube durchschritten, horchte er, ob nicht ein Ruf des jungen Mädchens bis zu ihm dringen würde. Da er nichts hörte, setzte er sich an den Tisch und überließ sich seinen, ihn wild bestürmenden Gedanken.

»Hulda, sagte er für sich, Hulda sollte ihren Verlobten nicht wieder sehen! Ein solches Unglück wäre möglich?... Nein, gegen einen solchen Gedanken lehnt sich jede Fiber meines Inneren auf. Der »Viken« ist untergegangen... zugegeben; ist das aber gleich der Gewißheit, daß auch Ole den Tod gefunden habe? Ich kann es nicht glauben! Bei allen Schiffbrüchen kann nur eine weit längere Zeit lehren, daß Niemand den Unfall überlebt habe. Ja, ich zweifle noch, ich will noch zweifeln an dem Schlimmsten, und sollte weder Hulda, Joël, noch sonst Jemand meine Zweifel theilen können.


»Nimm es hin mit meinem letzten Lebewohl an Dich!...« (S. 103.)

Weil der »Viken« vom Meere verschlungen wurde, [104] erklärt es sich ja, daß kein Wrackstück von ihm auf dem Meere schwimmen mag; nein, nein... nichts als jene Flasche, der der arme Ole seine letzten Gedanken und mit diesen das einzige Werthstück, das er auf der Welt besaß, anvertraute.«

Sylvius Hog hielt das Schriftstück in der Hand, er starrte es an, betastete es, drehte es wiederholt um, als suchte er noch mehr heraus zu lesen aus diesem Papierstückchen, auf welches der arme junge Mann sein ganzes Glück der Zukunft gebaut hatte.

[105] Der Professor wollte dasselbe jedoch möglichst genau prüfen; er erhob sich und lauschte, ob das junge Mädchen nach ihrer Mutter oder ihrem Bruder riefe, und begab sich dann nach seinem Zimmer.

Das war ein Lotterie-Loos der Schulen von Christiania, welche Lotterie gerade damals in Norwegen besonders beliebt war und deren großes Loos hunderttausend norwegische Mark (= etwa 75.000 Reichsmark) betrug. Der Gesammtwerth der übrigen Gewinne belief sich nur auf neunzigtausend norwegische Mark, die Anzahl der wirklich abgesetzten Loose aber auf nicht weniger als eine Million Stück!

Ole Kamp's Lotterie-Loos zeigte die Nummer 9672. Doch ob diese Nummer eine gute oder eine schlechte war, ob der junge Seemann irgend einen geheimen Grund hatte, der ihm zu derselben besonderes Vertrauen einflößte, jedenfalls würde er zur Stunde der Ziehung genannter Lotterie, die am 15. Juli, das heißt nach Verlauf von achtzehn Tagen erfolgen sollte, nicht anwesend sein. Seiner letzten Bitte nach sollte Hulda dafür an seine Stelle treten, um auf die dort gebräuchlichen Anfragen nach dem Inhaber einer mit Gewinn gezogenen Nummer zu antworten.

Bei dem Schein einer Kerze in niedrigem Leuchter las Sylvius Hog die auf der Rückseite des Looses geschriebenen Zeilen immer und immer wieder mit größter Aufmerksamkeit, als müsse er noch einen verborgenen Sinn in denselben entdecken.

Die wenigen Zeilen waren mit Tinte geschrieben. Man sah deutlich, daß Oles Hand dabei nicht gezittert hatte, ein Beweis, daß der junge Steuermann des »Viken« auch im Moment des Schiffbruchs seine Kaltblütigkeit völlig bewahrt haben mußte. Er befand sich also gewiß in einem geistigen Zustande, der ihm gestattete, aus jedem sich ihm bietenden Rettungsmittel noch Nutzen zu ziehen; er konnte sich an jedem schwimmenden Wrackstück, an jeder treibenden Planke halten, wenn nicht Alles in den wirbelnden Trichter, den ein sinkendes Schiff um sich bildet, mit hinabgerissen worden war.

Nicht selten deuten solche im Meere aufgefangene Schriftstücke wenigstens ungefähr an, wo der Unfall stattgefunden hat. Auf dem Vorliegenden fand sich freilich weder eine Angabe der geographischen Länge und Breite, noch eine Andeutung, welches Land oder welche Insel etwa in der Nähe gelegen hätten. Daraus mußte man schließen, daß der Capitän vielleicht ebenso wenig wie die Besatzung gewußt hatte, wo sich der »Viken« damals befand. Von einem jener[106] schrecklichen Stürme, denen kein Segelschiff zu widerstehen vermag, war er zweifelsohne mit weggerissen und weit aus seinem Curse verschlagen worden, und da der Himmel gewiß keine Sonnenbeobachtung gestattete, so hatte die Lage des Schiffes seit mehreren Tagen auch nicht bestimmt werden können. Deshalb wurde es mehr als wahrscheinlich, daß man vielleicht niemals erfahren würde, wo sich – in der Nähe von Amerika, in den Gewässern von Neufundland oder Island – der Abgrund über den Schiffbrüchigen geschlossen hatte.

Das war freilich ein Umstand, der alle Hoffnung auch Demjenigen rauben mußte, welcher unbedingt nicht verzweifeln wollte.

Mit jeder noch so unbestimmten Andeutung in der Hand hätte man doch wenigstens Nachforschungen anstellen lassen, ein Schiff nach dem Ort der Katastrophe aussenden können, um vielleicht einzelne erkennbare Ueberreste aufzufinden. Wer konnte wissen, ob nicht einer oder der andere Mann der Besatzung irgend einen Küstenpunkt des arktischen Festlandes erreicht hatte, wo die Leute nun ohne Hilfe und aller Möglichkeit, in ihr Vaterland zurückzukehren, beraubt, sich aufhielten?

Derart waren die Bedenken, welche nach und nach in Sylvius Hog aufstiegen – Bedenken, die für Hulda und Joël freilich unannehmbar geblieben wären und die ihnen zu erwecken der Professor sich sorglich hütete, da die Erschütterung ihrer Hoffnungen ihnen gar so schmerzlich gewesen wäre.

»Indeß, sagte er sich, wenn das Schriftstück auch keinen weiteren Hinweis bietet, der sich verwerthen ließe, so ist doch mindestens bekannt, in welcher Gegend die Flasche aufgefischt wurde. Dieser Brief meldet das zwar nicht, doch das Seeamt in Christiania kann darüber nicht im Unklaren sein, und das wäre ja eine Andeutung, aus der sich einiger Nutzen ziehen ließe, wenn man die Richtung der Meeresströmungen und die der dort vorherrschenden Winde in Bezug auf das vermuthliche Datum des Schiffbruchs in Rechnung zöge. Auf jeden Fall will ich sogleich noch einmal schreiben. So wenig Aussicht auf günstigen Erfolg sie auch haben mögen, unbedingt müssen Nachforschungen so schnell als möglich angeordnet werden. Nein, ich werde die arme Hulda niemals im Stich lassen; und nie werd' ich, ohne unzweifelhafte Beweise dafür in Händen zu haben, an den Tod ihres Verlobten glauben.«

Das war der Gedankengang Sylvius Hog's. Gleichzeitig nahm er sich aber auch vor, von den Schritten, die er in dieser Angelegenheit thun wollte, von den Bemühungen, die er mit Aufwendung seines ganzen Einflusses zu [107] veranlassen hoffte, nicht zu sprechen. Weder Hulda, noch ihr Bruder erfuhr also etwas von dem, was er nach Christiania schrieb. Ferner beschloß er, seine für den folgenden Tag angesagte Abreise auf unbestimmte Zeit zu verschieben – oder er wollte vielmehr nach einigen Tagen abfahren, dann aber, um sich nach Bergen zu begeben. Dort mußte er von den Herren Gebrüder Help Alles bezüglich des »Viken« erfahren können, dort wollte er auch die Ansicht der mit derartigen Vorkommnissen vertrautesten Seefischer kennen lernen, um danach die ersten zu unternehmenden Nachforschungen zu bestimmen.

Inzwischen hatten sich, auf die vom Seeamt abgegebenen Mittheilungen hin, die Tagesblätter von Christiania, darauf die von ganz Norwegen und Schweden, endlich überhaupt die Zeitungen ganz Europas der eigenartigen Thatsache – der Verwandlung eines Lotterie-Looses in ein Document – bemächtigt. Es lag entschieden etwas Rührendes in dieser Abschiedssendung eines Verlobten an seine Braut, und die öffentliche Meinung wurde dadurch, gewiß nicht ohne Grund, theilnahmsvoll erregt.

Das hervorragendste der Journale Norwegens, das »Morgen-Blad«, berichtete zuerst etwas ausführlicher die Geschichte des »Viken« und besonders Ole Kamp's. Von den siebenunddreißig anderen Zeitungen, welche jener Zeit im ganzen Lande erschienen, unterließ es nicht eine einzige, dieselbe in Theilnahme erweckender Weise weiter zu verbreiten; »Illustreret Nyhedsblad« brachte ein (wenn auch erfundenes) Bild des Schiffbruchs. Man sah darauf den untergehenden »Viken«, seine Segel in Fetzen, seine Masten zur Hälfte gebrochen und das Hintertheil schon halb in den Wogenschwall eingetaucht. Auf dem Vordertheile stehend, warf Ole eben die Flasche ins Meer, in demselben Augenblick, wo er mit dem letzten Gedanken an Hulda seine Seele der Gnade des himmlischen Vaters empfahl. In allegorischem Fernbilde trug inmitten leichter Dunstbildung eine Welle die Flasche zu den Füßen des jungen Mädchens. Das Ganze erschien im Rahmen jenes Lotterie-Looses, dessen Nummer daraus schwach hervorschimmerte. Es war ja eine recht naive Darstellung; bei einer Bevölkerung aber, welche noch immer die Legenden von Wassernixen und Walküren hochhält, mußte sie gewiß einen großen Erfolg erzielen.

Das traurige Vorkommniß fand nun in den Ländern Europas und sogar bis hinüber nach Nordamerika immer weitere Verbreitung. Mit dem Namen Huldas und Oles wurde auch deren Geschichte durch Kreide-und Federzeichnungen unter die Leute gebracht. Ohne etwas davon zu wissen, genoß die [108] junge Norwegerin die Auszeichnung, die öffentliche Aufmerksamkeit in Athem zu erhalten. Das arme Mädchen hatte gar keine Ahnung davon, wie viel sie im Munde der großen Menge war, und es hätte sie auch nichts von dem Schmerz ablenken können, der ihr ganzes Sein und Wesen mehr und mehr erfüllte.

Nach dem Vorhergehenden wird man sich gar nicht mehr über eine Wirkung verwundern können, die auf beiden Continenten alsbald zu Tage trat – eine sehr erklärliche Wirkung, weil die menschliche Natur einmal dazu neigt, sich von allem scheinbar Uebernatürlichen gern gefangen nehmen zu lassen. Ein Lotterie-Loos, das unter solchen Umständen aufgefunden wurde, diese Nummer 9672, welche, offenbar durch die Vorsehung begünstigt, den Wogen noch entrissen wurde, mußte unbedingt ein so zu sagen prädestinirtes Loos sein. Erschien dasselbe denn nicht wie durch ein Wunder dazu ausersehen, jedenfalls das große Loos von hunderttausend Mark zu gewinnen? War es nicht ein Vermögen, auf welches Ole Kamp so kindlich vertrauensvoll gerechnet hatte?

Niemand wird also staunen, daß in Dal, so ziemlich aus allen Ländern der Welt, sehr ernstgemeinte Angebote, das Loos zu erkaufen, einliefen, wenn Hulda Hansen nur zustimmte, es jemand Anderem zu überlassen. Zuerst waren die gebotenen Preise nur mäßig hoch, sie wuchsen aber von Tag zu Tage. Es ließ sich also voraussehen, daß es mit der Zeit und je nachdem sich der Zeitpunkt der Ziehung jener Lotterie mehr näherte, noch zu dringlichem Ueberbieten zwischen den Interessenten kommen würde.

Diese Angebote kamen, wie gesagt, nicht nur aus den skandinavischen Ländern, deren Bewohner so gern bereit sind, das Eingreifen übernatürlicher Kräfte in irdische Angelegenheiten anzuerkennen, sondern auch aus dem Auslande und selbst aus Frankreich. Die so phlegmatischen Engländer rührten sich hierbei ebenso, wie nach ihnen die Amerikaner, bei welchen die Dollars sonst, wenn es sich um so wenig praktische Phantasien handelt, nicht so leicht locker zu werden pflegen, kurz, es liefen eine ganz erhebliche Menge Briefe deshalb in Dal ein. Die Tagesblätter unterließen es nicht, den Betrag jener der Familie Hansen gethanen Angebote zu veröffentlichen. Man könnte wirklich sagen, es entstand eine Art kleiner Börse, an der der Tagescours immer, aber stets nur im Sinne der Hausse, wechselte.

So kam es dahin, daß schon mehrere hundert Mark für das Loos geboten wurden, was doch im Grunde nur ein Milliontel Aussicht hatte, das große Loos zu gewinnen. Das war ja ohne Zweifel thöricht, abergläubische Vorstellungen [109] lassen sich aber einmal nicht mit dem Maßstabe gesunder Vernunft messen. Die Einbildung der Leute war einmal angeregt, und mit der dieser innewohnenden Kraft mußte sie sich immer weiter und gewissermaßen höher entwickeln.

Das war auch thatsächlich der Fall. Schon acht Tage später verkündeten die Zeitungen, daß der gebotene Preis des Looses tausend, fünfzehnhundert, dann zweitausend Mark überschritten habe. Ein Engländer aus Manchester war bis auf zweihundert Pfund Sterling oder zweitausendfünfhundert Mark gegangen. Ein Amerikaner aus Boston überbot diesen noch und erklärte sich bereit, die Nummer 9672 von der Lotterie der Schulen Christianias für tausend Dollars, d. h. für fünftausend Mark, zu erwerben.

Es versteht sich von selbst, daß sich Hulda um das, was gewisse Leute in dieser Angelegenheit in Feuer und Flammen brachte, nicht im mindesten bekümmerte. Von den das Loos betreffenden, in Dal angelangten Briefen wollte sie überhaupt keine Kenntniß nehmen. Der Professor vertrat jedoch die Meinung, man dürfe sie über die eingelaufenen Gebote wenigstens nicht ganz im Unklaren lassen, da Ole Kamp ihr das Besitzrecht an der Nummer 9672 ja gleichsam testamentarisch abgetreten hatte.

Hulda wies alle Gebote zurück – das Loos war ja gleichzeitig der letzte Brief ihres Verlobten.

Und man glaube ja nicht, daß das arme Kind daran etwa mit dem Hintergedanken hing, es könne ihr da durch vielleicht einer der lockenden Lotterie-Gewinne zufallen. Nein, sie sah in demselben das letzte Lebewohl eines Schiffbrüchigen, eine Reliquie, welche sie sorgfältig aufbewahren wollte. Ja, sie dachte gar nicht an die Aussicht eines ihr zufallenden Vermögens, das Ole nicht hätte mit ihr theilen können. Was kann es Rührenderes, Zarteres geben, als diesen frommen Cultus eines Andenkens!

Wenn Sylvius Hog und Joël die ihr gemachten Angebote Hulda mittheilten, hatten sie dabei gewiß keineswegs die Absicht, diese zu beeinflussen. Sie sollte vielmehr nur der Eingebung ihres Herzens folgen. Wir wissen ja schon, wie ihr Herz entschieden hatte.

Joël stimmte seiner Schwester übrigens vollkommen zu. Das Lotterie-Loos Ole Kamp's sollte Niemandem und um keinen Preis abgetreten werden.

Sylvius Hog ging noch weiter, als dem blos zuzustimmen; er beglückwünschte sie, diesem ganzen Handel kein Ohr zu leihen. Sollte man dieses Loos [110] an den Einen verkauft, an den Nächsten weiter verschachert und so in eine Art Papiergeld verwandelt sehen bis zu dem Augenblicke, wo die Ziehung der Lotterie daraus höchst wahrscheinlich ein werthloses Stückchen Makulatur machte?

Ja, Sylvius Hog ging immer noch weiter. Sollte der Zufall auch ihn abergläubisch gemacht haben? Das wohl nicht, doch wäre Ole Kamp anwesend gewesen, so würde er zu ihm wahrscheinlich gesagt haben:

»Behaltet Euer Loos, junger Freund, behaltet es selbst! Man hat es zuerst aus dem Schiffbruche gerettet und Euch selbst nachher. Nun, es wird sich ja zeigen... man weiß manchmal nicht... nein... man kann ja nicht wissen...!«

Und wenn Sylvius Hog, der Professor der Rechtswissenschaft und Abgeordnete des Storthing, so dachte, darf sich dann Jemand über das Vorurtheil der großen Menge verwundern? Nein, es erschien dann ja so natürlich, daß diese Nummer 9672 eine starke Preissteigerung erfuhr.

Im Hause der Frau Hansen gab es also Niemand, der gegen das so achtungswerthe Gefühl, welches die Handlungsweise des jungen Mädchens bestimmte, Einspruch erhoben hätte – Niemand, außer vielleicht ihre Mutter.

In der That hörte man Frau Hansen wiederholt, und vorzüglich in Abwesenheit Huldas, sich nicht undeutlich beklagen, was Joël recht schweren Kummer verursachte. Seine Mutter – so glaubte er wenigstens – werde es nicht immer bei bloßen Klagen bewenden lassen, sondern würde sich wohl insgeheim mit Hulda wegen der dieser gemachten Angebote ins Einvernehmen zu setzen suchen.

»Fünftausend Mark für dieses Loos! wiederholte sie öfters. Es bietet Einer fünftausend Mark!«

Von dem Zartgefühl, das ihre Tochter alle solche Gebote ablehnen ließ, wollte Frau Hansen offenbar nichts wissen, sie dachte nur an die, in ihren Verhältnissen allerdings nicht unbedeutende Summe von fünftausend Mark.


Hulda wies alle Gebote zurück. (S. 110.)

Ein einziges Wort von Hulda hätte dieselbe in das Haus gezaubert. Sie selbst glaubte, obwohl sie Voll blut-Norwegerin war, nicht im mindesten an den übernatürlichen Werth jenes Looses. Und sichere fünftausend Mark hinzuopfern für ein Milliontel Wahrscheinlichkeit, hunderttausend zu gewinnen, das konnte ihr kühler, nüchterner Kopf einmal nicht fassen.

Es liegt ja auf der Hand, daß das Gewisse für das Ungewisse hinzugeben – von jedem Aberglauben einmal abgesehen – unter so völlig unsicheren [111] Verhältnissen nicht eben ein Act der Klugheit zu nennen war. Doch, wir betonen das nochmals, dieses Loos war ja für Hulda kein Lotterie-Loos, sondern vielmehr der letzte Brief Ole Kamp's, und ihr wäre das Herz gebrochen bei dem Gedanken, sich davon trennen zu sollen.

Frau Hansen mißbilligte indeß immer unzweideutiger das Verhalten ihrer Tochter; man fühlte es heraus, daß sich ihrer eine dumpfe Erregung bemächtigte. Von einem Tage zum anderen war zu fürchten, daß sie Hulda ernstlich bedrängen würde, einen endgiltigen Entschluß zu fassen, wie sie selbst

[112] denselben wünschte. Schon hatte sie sich in diesem Sinne gegen Joël geäußert, der freilich ohne Bedenken für die Anschauung seiner Schwester Partei ergriff.

Natürlich wurde Sylvius Hog über Alles, was hier unter der Oberfläche vorging, auf dem Laufenden erhalten. Das war noch ein weiterer Schmerz zu dem, der Hulda jetzt schon quälte, und er bedauerte das aufrichtig.


Der Fischmarkt in Bergen. (S. 117.)

Joël sprach ihm zuweilen davon.

»Hat meine Schwester nicht völlig Recht mit ihrer Weigerung, und thue ich etwa nicht gut daran, sie in ihrem Widerstande zu unterstützen?

[113] – Ohne Zweifel! antwortete Sylvius Hog. Vom mathematischen Gesichtspunkte aus hat Ihre Mutter freilich einmillionmal mehr Recht. In der Welt ist aber nicht Alles mathematisch zu betrachten, und das Rechnen hat mit Herzensangelegenheiten nichts zu thun.«

Während der letzten beiden Wochen bedurfte Hulda wirklich der Ueberwachung. Von ihrem Schmerze überwältigt, ließ sie ernstlich für ihre Gesundheit fürchten. Glücklicherweise fehlte es ihr nicht an sorgfältiger Pflege. Auf einen Ruf Sylvius Hog's kam der berühmte Doctor Boek, sein langjähriger Freund, nach Dal, um sich die junge Leidende anzusehen. Er konnte ihr freilich nur Vermeidung jeder körperlichen Anstrengung und, wenn möglich, Ruhe des Gemüths anempfehlen. Das richtige Mittel, sie genesen zu lassen, blieb immer das eine, die Rückkehr Oles, und dieses Mittel konnte ja nur Gott allein in Anwendung bringen. Jedenfalls ließ es Sylvius Hog dem jungen Mädchen an tröstlichem Zuspruch nicht fehlen und hörte nicht auf, ihr von seiner Hoffnung einen Theil einzuflößen. So wenig begründet ihm diese auch selbst erschien, so konnte und wollte Sylvius Hog doch noch lange nicht verzweifeln.

Dreizehn Tage waren seit dem Eintreffen des vom Seeamte in Christiania nach Dal gesendeten Looses verflossen. Jetzt schrieb man den 30. Juni. Noch vierzehn Tage und die Ziehung der Lotterie der Schulen sollte mit großer Feierlichkeit in einem der geräumigsten Gebäude Christianias vor sich gehen.

Gerade an diesem 30. Juni erhielt Sylvius Hog des Morgens als Antwort auf seine wiederholten Eingaben ein neues Schreiben vom obersten Seeamte. Dasselbe bevollmächtigte ihn, sich unmittelbar mit den Seebehörden von Bergen ins Einvernehmen zu setzen, und überließ es seinem Ermessen, mit Unterstützung des Staates sofort Nachforschungen bezüglich des »Viken« anstellen zu lassen.

Der Professor wollte von dem, was er darauf zu unternehmen gedachte, Hulda und Joël noch nichts sagen. Er begnügte sich, ihnen seine Abreise zu melden, für welche er geschäftliche Angelegenheiten als Grund angab, die ihn wohl einige Tage in Anspruch nehmen könnten.

»Ach, ich bitte Sie herzlich, bester Herr Sylvius, verlassen Sie uns nicht! flehte ihn das arme Mädchen an.

– Euch verlassen... Euch, die Ihr meine Kinder geworden seid?«... antwortete Sylvius Hog.

Joël erbot sich, ihn zu begleiten. Da er aber die Vermuthung nicht aufkommen lassen wollte, daß er sich nach Bergen begebe, gestattete er ihm nur [114] bis Moel mitzukommen. Es erschien auch nicht rathsam, Hulda mit ihrer Mutter allein zu lassen. Nachdem jene einige Tage bettlägerig gewesen war, fing sie jetzt wieder an aufzustehen; sie war aber noch sehr schwach, hütete das Zimmer und Joël empfand es recht wohl, daß er sie nicht verlassen dürfe.

Um elf Uhr stand der Schußkarren vor der Thür des Gasthauses. Der Professor nahm darin mit Joël Platz, nachdem er sich von dem jungen Mädchen warm verabschiedet hatte. Bald darauf verschwanden Beide an der nächsten Biegung des Weges unter den großen Birken des Flußufers.

Noch am selben Abend traf Joël in Dal wieder ein.

13. Capitel

XIII.

Sylvius Hog war also nach Bergen abgereist. Seine einen Augenblick erschütterte zähe Natur, sein energischer Charakter hatten schon wieder die Oberhand gewonnen. Er wollte einfach an den Tod Ole Kamp's nicht glauben, wollte nicht zugeben, daß Hulda verurtheilt sei, jenen niemals wiederzusehen. Nein, so lange die vermuthete Thatsache nicht handgreiflich bewiesen war, hielt er sie noch für falsch, und diese Anschauung besiegte in seinem Geiste alle Widersprüche.

Doch hatte er denn eine Andeutung, auf welche er das, was er in Bergen eben unternehmen wollte, zu stützen vermochte? Gewiß; wenn auch zugegeben werden muß, daß es nur eine recht unbestimmte war.

Er wußte nämlich, an welchem Tage das Lotterie-Loos von Ole Kamp ins Meer geworfen und an welchem Tage, sowie in welcher Gegend die dasselbe enthaltende Flasche aufgefunden worden war. Darüber hatte ihn der Brief vom Seeamt aufgeklärt, derselbe Brief, der ihn sofort selbst nach Bergen zu reisen veranlaßte, um sich mit den Herren Gebrüder Help und den erfahrensten Seeleuten jenes Hafens ins Einvernehmen zu setzen. Vielleicht genügte das ja um den bezüglich des »Viken« anzustellenden Nachforschungen eine erfolgversprechende Richtung zu geben.

[115] Die Reise wurde so schnell wie möglich ausgeführt. In Moel angelangt, schickte Sylvius Hog seinen Begleiter mit dem Schußkarren wieder heim, und er setzte seine Fahrt auf einem jener Boote aus Birkenrinde, die den Dienst auf dem Tinn-See versehen, sogleich weiter fort. In Tinoset miethete er dann, anstatt sich nach Süden, das heißt nach der Richtung von Bamble, zu begeben, einen anderen Schußkarren, der ihn durch Hardanger beförderte, um auf möglichst kurzem Wege den Fjord dieses Namens zu erreichen. Hier konnte er auf dem »Run«, einem kleinen, diese Meereseinbuchtung regelmäßig befahrenden Dampfer, bis zum untersten Ende desselben gelangen. Nachdem er ferner durch ein wahres Netzgewebe von Fjords zwischen den, der norwegischen Küste vorgelagerten Inseln Storö, Tinaas, Sartorö u. a. hindurchgeschifft, landete er mit dem Morgengrauen des 2. Juli am Quai von Bergen.

Diese sehr alte, von dem Sogne- und eigentlich auch vom Hardanger-Fjord bespülte Stadt liegt in überaus herrlicher Gegend, die der Schweiz ganz ähnlich sein würde, wenn einst ein künstlicher Meeresarm die Gewässer des Mittelmeeres bis zum Fuße ihrer ehrwürdigen Berge führte. Eine prächtige Eschenallee leitet den Ankommenden bis zu den er sten Häusern der Stadt. Ihre hohen, spitzgiebeligen Gebäude erglänzen in blendendem Weiß, ganz wie arabische Städte, und sind auf einem unregelmäßigen Dreieck zusammengedrängt, das ihre dreißigtausend Einwohner beherbergt. Ihre Kirchen stammen noch aus dem zwölften Jahrhundert, und die hohe Kathedrale dient weit hinaus den von seewärts kommenden Schiffen als Merkzeichen. Bergen ist entschieden die Handelshauptstadt Norwegens, obgleich es ziemlich seitwärts der gewöhnlichen Verkehrswege und sehr entfernt von den anderen Städten gelegen ist, welche – es sind das Christiania und Trondhjem – politisch die erste und zweite Rangstellung im Königreiche einnehmen.

Unter anderen Verhältnissen hätte der Professor gewiß diesen Hauptort eines Amtes, der durch äußere Erscheinung und Volkssitten fast mehr holländisch als norwegisch zu nennen ist, eingehend besichtigt, da das ja eigentlich der ursprüngliche Zweck seiner Urlaubsreise gewesen war.

Seit dem Abenteuer auf dem Maristien und seiner Ankunft in Dal hatte dieses Programm freilich einschneidende Veränderungen erfahren. Sylvius Hog war jetzt nicht mehr der lustreisende Abgeordnete, der gleichzeitig das Land in politischer und commercieller Hinsicht durch den Augenschein besser kennen zu lernen suchte; er war nur der Gast des Hauses Hansen, der sich Joël und [116] Hulda dankbar verpflichtet fühlte, und das überwog in ihm jetzt alle anderen Interessen. Er war der Schuldner, der um gleichviel welchen Preis seine Schuld der Erkenntlichkeit abzutragen wünschte, und dabei dachte er doch, daß es nur eine Kleinigkeit sei, was er für Jene zu thun im Sinne hatte.

Mit dem »Run« in Bergen angelangt, ging Sylvius Hog im Hintergrunde des Hafens an der Ufermauer des Fischmarktes an's Land und begab sich sofort nach dem Quartier Tyske-Bröderne, wo Help junior vom Hause Gebrüder Help wohnte.

Natürlich regnete es, denn in Bergen fällt im Jahre Regen an dreihundertsechszig Tagen. Um aber unter sicherem Obdach zu sein, hätte man nur schwierig ein besser darauf eingerichtetes Gebäude entdecken können, als das gastfreundliche Haus von Help junior.

Der Empfang, welcher Sylvius Hog zu Theil wurde, hätte nirgends wärmer, herzlicher und unzweideutiger sein können. Sein Freund bemächtigte sich so zu sagen seiner Person, wie eines kostbaren Ballens, den er in Consignation nahm, sorgfältig unterbrachte und den er nur gegen bestimmte, formgerechte Quittung wieder ausliefern würde.

Sylvius Hog machte Help junior sofort mit dem Zwecke seines Hierherkommens bekannt und brachte das Gespräch auf den »Viken«. Er fragte, ob seit seinem letzten Briefe keine weitere Nachricht über das Schiff eingetroffen sei und ob die Seeleute der Stadt dasselbe für mit Mann und Maus verloren ansähen. Auch erkundigte er sich, ob dieser Schiffbruch, der auch mehrere Familien in Bergen in Trauer versetzte, nicht die Seebehörden schon zur Anstellung von Nachforschungen veranlaßt hätte.

»Wie konnte man das wohl, antwortete Help junior, da kein Mensch den Ort des Schiffbruchs kennt?

– Zugegeben, mein lieber Help, doch eben weil man ihn nicht kennt, mußte man sich darüber Aufklärung zu verschaffen suchen.

– Wie... darüber?

– Ja, gewiß! Wenn man die Stelle nicht weiß, wo der »Viken« versunken ist, so weiß man doch, an welcher Stelle das bekannte Document von jenem dänischen Schiffe aufgefunden wurde. Das ist eine sichere Andeutung, deren Nichtbeachtung eine schwere Schuld auf uns wälzen würde.

– Wo ist die betreffende Stelle?

– Hören Sie mich an, lieber Help!«

[117] Sylvius Hog berichtete nun die neueren Mittheilungen, welche ihm das oberste Seeamt hatte zukommen lassen, und erwähnte auch der erhaltenen Vollmacht, diese nach Ermessen zu verwerthen.

Die Flasche, in der sich das Lotterie-Loos Ole Kamp's befand, war am 5. Juni von der Brigg-Goëlette »Christian«, Capitän Mosselman aus Helsingör, bei südöstlicher Luftströmung etwa zweihundert Seemeilen südwestlich von Island aufgefischt worden.

Der Capitän hatte von dem Documente sofort Kenntniß genommen, wie das seine Pflicht erheischte, schon für den denkbaren Fall, daß Ueberlebenden von einem Schiffbruche hätte unmittelbare Hilfe gewährt werden können. Die auf die Rückseite des Lotterie-Looses geschriebenen Zeilen bezeichneten aber in keiner Weise die Unglückstätte, und der »Christian« konnte sich also überhaupt nicht nach derselben begeben.

Es war ein ehrenwerther Mann, dieser Capitän Mosselman. Ein anderer, minder gewissenhafter Mann hätte das Loos vielleicht für sich selbst behalten; er dagegen hatte nur den einen Gedanken, dasselbe an seine Adresse zu befördern, sobald er nach einem Hafen zurückgekehrt war. »Hulda Hansen in Dal«, das genügte; es war nicht nothwendig, nähere Angaben hinzuzufügen.

In Copenhagen angekommen, meinte Capitän Mosselman richtiger zu verfahren, wenn er das Document den dänischen Behörden auslieferte, statt es unmittelbar nach seinem Bestimmungsorte zu senden. Das war sicherer und entsprach dem üblichen Gebrauche. Er that es also, und das Seeamt zu Copenhagen gab alsbald dem Seeamte zu Christiania darüber auf officiellem Wege Nachricht.

Zu dieser Zeit hatte die genannte Behörde schon die ersten Zuschriften von Sylvius Hog empfangen, der wegen eingehender Nachforschungen bezüglich des »Viken« nachsuchte. Das ganz besondere Interesse, welches er für die Familie Hansen empfand, war kein Geheimniß mehr. Man wußte, daß Sylvius Hog noch eine Zeit lang in Dal verweilen werde, und dorthin wurde ihm also das von dem dänischen Capitän aufgefundene Document gesendet, um es in Hulda Hansen's Hände übermitteln zu lassen.

Seitdem hatte dieses Vorkommniß nicht aufgehört, die öffentliche Meinung zu erregen, wie wir ja, Dank den ergreifenden Berichten, welche die Tagesblätter beider Welten darüber brachten, schon von früher wissen. Vorstehendes war es, was Sylvius Hog seinem Freunde Help junior in kurzem Umrisse [118] mittheilte. Letzterer hörte ihm ohne jede Unterbrechung mit warmer Theilnahme zu, und der Professor schloß seinen Bericht mit den Worten:

»Eines gibt es also, worüber kein Zweifel aufkommen kann, den Umstand, daß das Document am vergangenen 5. Juni gegen zweihundert Seemeilen südwestlich von Island, etwa einen Monat nach der Abfahrt des »Viken« von Saint Pierre Miquelon nach Europa, aufgefunden worden ist.

– Und weiter ist Ihnen nichts bekannt?

– Nein, mein lieber Help; doch wenn wir uns mit den erfahrensten Seeschiffern von Bergen ins Einvernehmen setzen, mit solchen, die jene Meerestheile öfter besucht haben oder noch zu besuchen pflegen, welche die allgemeine Richtung der Winde und vorzüglich der Strömungen kennen, sollten wir da nicht den von der Flasche eingehaltenen Weg festzustellen vermögen? Berücksichtigt man dann schätzungsweise deren Geschwindigkeit und die bis zur Stunde ihrer Auffindung verflossene Zeit, wäre es dann so unmöglich, annähernd zu bestimmen, an welchem Orte sie von Ole Kamp ins Meer geworfen worden sein oder, mit anderen Worten, wo der Schiffbruch stattgefunden haben müsse?«

Help junior schüttelte in wenig zustimmender Weise den Kopf. Eine ganze Reihe von Nachsuchungen auf so unzulängliche Anzeichen hin, bei deren Verwerthung noch so vielerlei Fehler unterlaufen konnten, anzustellen, bedeutete ihm kaum etwas Anderes, als mit großem Aufwande einen Mißerfolg zu erzielen. Der Rheder, ein kalt berechnender, praktischer Mann, glaubte, das Sylvius Hog bemerken zu müssen.

»Zugegeben, Freund Help! Doch wenn man andere, als so unbestimmte Hindeutungen nicht erlangen kann, ist das doch kein Grund, die ganze Angelegenheit verloren zu geben. Ich bin vielmehr der Meinung, es müsse Alles versucht werden zu Gunsten jener bedauernswerthen Leute, denen ich für meine Lebensrettung verpflichtet bin. Ja, wenn es nöthig wäre, würde ich keinen Augenblick zögern, Alles, was ich mein eigen nenne, zu opfern, um Ole Kamp aufzufinden und ihn seiner Braut Hulda Hansen wieder zuzuführen.«


Sylvius Hog machte sie mit der Sachlage bekannt. (S. 122.)

Sylvius Hog erzählte nun die Einzelheiten seines Abenteuers beim Rjukansos; er schilderte, in welcher Weise der unerschrockene Joël und dessen Schwester ihr Leben auf's Spiel gesetzt hatten, um ihm Hilfe zu bringen, und wie er ohne deren Dazwischenkunft heute nicht das Vergnüngen haben würde, der Gast seines Freundes Help zu sein.

[119] Dieser Freund Help war, wie schon bemerkt, gewiß nicht der Mann, der sich von Illusionen gefangen nehmen ließ, doch er widersprach auch nicht, selbst etwas Fruchtloses, ja Unmögliches zu unternehmen, wenn es ein Werk der Menschenliebe galt. So stimmte er schließlich also Dem, was Sylvius Hog versucht wissen wollte, bedingungslos zu.

»Sylvius, antwortete er, ich werde Ihnen mit allen meinen Kräften zur Seite stehen. Ja, Sie haben Recht! Und wäre nur die schwächste Aussicht gegeben, vom »Viken« irgend welche Ueberlebende und unter diesen vielleicht [120] den braven Ole Kamp aufzufinden, dessen Verlobte Ihnen das Leben gerettet hat, so dürfen wir dieselbe nicht vernachlässigen.

– Nein. Help, nein, und hätten wir auch nur Aussicht im Verhältniß von eins zu tausend.

– Noch heute, lieber Sylvius, werd' ich nach meinem Contor die besten Seeleute von Bergen zusammenrufen, werde eine Aufforderung an alle Diejenigen erlassen, welche gewöhnlich die isländischen oder neufundländischen Meere befahren haben. Da werden wir sehen können, was diese zu thun anrathen...


Nachdem er von seinem Freunde herzlichen Abschied genommen. (S. 125.)

[121] – Und was sie zu thun anrathen, das werden wir ausführen! antwortete Sylvius Hog mit der ihm eigenen, so zu sagen ansteckenden Wärme. Ich erfreue mich der Unterstützung der Regierung und bin ermächtigt, einen staatlichen Aviso bei der Aufsuchung des »Viken« mitwirken zu lassen; außerdem rechne ich darauf, daß Niemand zögern wird, wenn es sich darum handelt, ein solches Werk zu fördern.

– Ich gehe sogleich nach dem Hafencontor, sagte Help junior.

– Wollen Sie, daß ich Sie begleite?

– Das ist nicht nöthig. Sie müssen ja ermüdet sein...

– Ermüdet!... Ich!... In meinem Alter?...

– Gleichviel; ruhen Sie aus, mein lieber und ewig junger Sylvius, und warten Sie hier meiner Rückkehr.«

An demselben Tage noch fand im Hause der Gebrüder Help eine Versammlung von Kauffartei-Capitänen, Hochseefischern und Lootsen statt. Hier fanden sich eine große Anzahl Seekundige ein, welche noch jetzt fuhren, und auch einige ältere, welche sich zur Ruhe gesetzt hatten.

Zunächst machte sie Sylvius Hog mit der Sachlage bekannt. Er berichtete ihnen, an welchem Datum – dem 3. Mai – das betreffende Document von Ole Kamp ins Meer geworfen, und an welchem Datum – dem 5. Juni – sowie in welcher Gegend – etwa zweihundert Seemeilen im Südwesten von Island – es von dem dänischen Capitän aufgefunden worden sei.

Darauf entspann sich eine ziemlich lange und sehr ernsthaft geführte Verhandlung.

Unter den wackeren Männern war übrigens keiner, der die in Rechnung zu ziehende allgemeine Richtung der Strömungen in den isländischen und neufundländischen Meeren nicht gekannt hätte, und auf Grund dieser Kenntniß war ja überhaupt nur die vorliegende Aufgabe zu lösen.

Allgemeine Uebereinstimmung herrschte auch darüber, daß zur Zeit des Schiffbruchs, das heißt in dem Zeitraume zwischen der Abfahrt des »Viken« von Saint Pierre Miquelon und der Wiederauffischung der Flasche durch das dänische Schiff, heftige sturmähnliche Böen den in Frage kommenden Theil des Atlantischen Oceans aufgewühlt hatten, und diesen so plötzlich hereinbrechenden Stürmen war der Unglücksfall offenbar zuzuschreiben. Höchst wahrscheinlich hatte der »Viken« gegen diese Stürme nicht aufkommen können und deshalb vor dem Winde treiben müssen.

[122] Gerade zur Zeit der Tagundnachtgleichen beginnen außerdem die Polareismassen nach dem Atlantischen Ocean herab zu drängen; das legte die Möglichkeit einer Collision nahe, bei der der »Viken« an einem jener schwimmenden Risse, die oft so schwer zu vermeiden sind, zerschellt wäre.

Stimmte man aber einer solchen Anschauung des Hergangs zu, warum könnte sich dann nicht die ganze oder ein Theil der Besatzung nach Ueberführung eines gewissen Proviantvorrathes auf ein solches Eisfeld geflüchtet haben? War das der Fall, dann erschien es auch, da die Eisscholle nach Nordwesten zurückgetrieben worden sein mußte, gar nicht unmöglich, daß die Ueberlebenden darauf nach irgend einem Punkte der grönländischen Küste gelangt sein konnten. In dieser Richtung und in diesen Meerestheilen mußten demnach etwaige Nachforschungen unternommen werden.

So lautete die von den versammelten Seeleuten auf die von Sylvius Hog gestellten Fragen einstimmig abgegebene Antwort. Ohne Zweifel mußte in der hier angedeuteten Weise vorgegangen werden. Und doch konnte man wohl nur darauf rechnen, Wrackstücke des »Viken« aufzufinden, im Falle derselbe wirklich mit einem jener gewaltigen Eisberge zusammengestoßen war, denn es erschien gar so zweifelhaft, Ueberlebende vom Schiffbruche auch jetzt noch zu entdecken. Auf seine den letzten Punkt berührende Frage sah der Professor recht wohl, daß auch die Urtheilsfähigsten nicht antworten konnten oder nicht antworten wollten. Das war freilich kein Grund, nun auch die Hände in den Schooß zu legen, im Gegentheil stimmten Alle dahin überein, ohne Aufschub ans Werk zu gehen.

In Bergen ankern gewöhnlich einige zur norwegischen Regierungsflotte gehörige Fahrzeuge. Zu diesem Hafen gehören insbesondere drei Avisos, welche, Trondhjem, Finmarken, Hammerfest und das Nordcap anlaufend, den Dienst an der Westküste versehen. Eben jetzt lag einer dieser Avisos im Hafen vor Anker.

Nach Vollendung eines kurzen Schriftstückes, welches die Ansichten der versammelten Seeschiffer wiedergab, eilte Sylvius Hog sofort an Bord des Aviso »Telegraf«. Hier unterrichtete er dessen Commandanten von der speciellen Mission, mit der die Regierung ihn betraut hatte.

Der Commandant empfing den Professor mit höflichster Zuvorkommenheit und erklärte sich zur thatkräftigsten Mithilfe bereit. Auch dieser Seeofficier hatte schon wiederholt jene Meere während der langen und oft gefährlichen Züge befahren, welche die Hochseefischer von Bergen, von den Lofoden und von [123] Finmarken bis nach den Fischgründen von Island und Neufundland unternehmen. Er konnte bei dem geplanten Werke der Nächstenliebe also auch persönliche Kenntnisse verwerthen und versprach, sich jenem mit voller Kraft zu widmen.

Im Betreff des Schriftstückes mit Andeutung über die vermuthliche Oertlichkeit des stattgefundenen Schiffbruchs billigte er vollständig die darin ausgesprochenen Anschauungen. Auch seiner Ansicht nach kam es darauf an, das Meer zwischen Island und Grönland abzusuchen, um etwaige Ueberlebende oder mindestens ein Wrackstück vom »Viken« zu finden. Wenn der Commandant hiermit keinen Erfolg erzielte, wollte er in den benachbarten Gewässern und nöthigenfalls auch im Bassins-Meere an dessen Ostküste seine Nachforschungen fortsetzen.

»Ich bin bereit, in See zu gehen, Herr Hog, setzte er hinzu. Unser Bedarf an Kohlen und Nahrungsmitteln ist vollständig vorhanden, meine Mannschaft ist an Bord und ich kann noch heute die Anker lichten.

– Ich danke Ihnen, Herr Commandant, antwortete der Professor, und ich bin Ihnen tief verpflichtet für den mir bereiteten Empfang. Doch gestatten Sie noch eine Frage. Können Sie mir sagen, wie viel Zeit es beanspruchen wird, das grönländische Meer zu erreichen?

– Mein Aviso legt elf Knoten (circa 20 1/2, »Kilometer) in der Stunde zurück. Da die Entfernung von Bergen nach Grönland zwanzig Grade beträgt, rechne ich daselbst nach kaum acht Tagen anzukommen.

– Eilen Sie ja so schnell es angeht, Herr Commandant, antwortete Sylvius Hog. Wenn einige Schiffbrüchige der Katastrophe zu entgehen vermochten, so leiden sie doch nun schon zwei Monate gewiß Mangel an dem Nöthigsten, sterben vielleicht Hungers an verlassenem Strande....

– Wir dürfen keine Stunde verlieren, Herr Hog. Noch heute werde ich mit Eintritt der Ebbe in See stechen und die größte Geschwindigkeit einhalten; sobald ich dann irgend ein Merkzeichen finde, werde ich das Ober-Seeamt in Christiania durch den Telegraphen von Neufundland benachrichtigen.

– Reisen Sie mit Gott, Herr Commandant, schloß Sylvius Hog, und möge Ihre Mühe von Erfolg gekrönt sein!«

Noch denselben Tag lichtete, von den theilnahmsvollen Hurrahs der ganzen Bewohnerschaft Bergens zum Abschied begrüßt, der »Telegraf« seine Anker, und nicht ohne lebhafte Erregung sahen ihn die Leute durch die ersten engen [124] Wasserstraßen steuern und dann hinter den letzten Eilanden des Fjords verschwinden.

Sylvius Hog beschränkte seine Bemühungen aber nicht auf die Expedition allein, zu welcher er den Aviso »Telegraf« veranlaßt hatte. Seiner Meinung nach ließ sich noch mehr thun, indem man die Hilfsmittel, eine Spur vom »Viken« aufzufinden, vervielfältigte. War es nicht möglich, einen gewissen Wetteifer der Handelsschiffe und Fischerfahrzeuge zu entfachen, sie alle bei den Nachforschungen zu betheiligen, während sie ihre Fahrten nach den Gewässern der Färöer und Islands ausführten? Ja, gewiß; so wurde denn auch von Staatswegen eine Prämie von zweitausend Mark jedem Fahrzeuge zugesichert, das einen auf das verschollene Schiff bezüglichen Hinweis bei bringen, fünftausend Mark aber Demjenigen, der einen der Ueberlebenden von dem Schiffbruche mit heimführen würde.

Man ersieht hieraus, daß Sylvius Hog während seines zweitägigen Aufenthalts in Bergen alles Mögliche daran setzte, um den Erfolg dieser Nachforschungen zu sichern. Darin wurde er übrigens bereitwilligst von seinem Freunde Help junior und den anderen Seefahrern unterstützt. Help hätte es gern gesehen, ihn noch einige Zeit bei sich zurückhalten zu können. Sylvius Hog dankte ihm aufrichtig, lehnte es aber ab, seinen Aufenthalt zu verlängern. Es verlangte ihn danach, wieder bei Hulda und Joël zu sein, die er nicht länger als nöthig sich allein überlassen zu wissen wünschte. Help junior versicherte ihm noch, daß jede neu eintreffende Nachricht unverzüglich nach Dal übermittelt werden sollte, dem Professor allein blieb jedoch die Aufgabe, die Familie Hansen darüber zu unterrichten.

Nachdem Sylvius Hog am Morgen des 4. von seinem Freund Help junior herzlichen Abschied genommen, schiffte er sich wieder auf dem »Run ein, um über den Hardanger-Fjord zu fahren, und wenn nicht ganz unvorhergesehene Hindernisse eintraten, hoffte er am Abend des 5. in Telemarken wieder zurück zu sein.

[125]

14. Capitel

XIV.

Denselben Tag, an dem Sylvius Hog Bergen verlassen, war es im Gasthause zu Dal zu einem recht ernsthaften Auftritt gekommen.

Es schien, als ob nach der Abreise des Professors der gute Genius Joëls und Huldas mit der letzten Hoffnung auch alles Leben aus der ganzen Familie mit sich genommen habe. Es war ein völlig todtes Haus, das Sylvius Hog zurückgelassen hatte.

Während dieser zwei Tage traf übrigens kein Lustreisender in Dal ein. Joël hatte also keine Ursache, sich von da zu entfernen, und konnte bei Hulda bleiben, die er nur mit schwerem Herzen allein gelassen hätte.

Frau Hansen schien von ihrer geheimen Angst immer mehr und mehr beherrscht zu werden und alle Theilnahme an dem, was ihre Kinder berührte, selbst an dem Untergange des »Viken«, eingebüßt zu haben. In ihrem Zimmer zurückgezogen, lebte sie fast ganz für sich und zeigte sich nur noch, wenn gegessen werden sollte. Selbst wenn sie einmal ein Wort an Hulda oder Joël richtete, geschah es nur, um ihnen offene oder versteckte Vorwürfe wegen des Lotterie-Looses zu machen, von dem diese sich nicht trennen wollten.

Angebote auf dasselbe liefen nämlich zu wiederholten Malen ein, ja, es kamen solche von allen Ecken und Enden der Welt. Es war, als ob sich gewisser Köpfe die reine Tollheit bemächtigt hätte Nein! Es schien unmöglich, daß es einem solchen Loose nicht vorherbestimmt wäre, den Preis von hunderttausend Mark zu gewinnen; es schien, als ob es nur eine einzige Nummer in dieser Lotterie gäbe, und diese Nummer wäre jene 9672! Der Engländer aus Manchester und der Amerikaner aus Boston bemühten sich noch immer um die Wette; der Engländer hatte seinen Concurrenten jetzt um einige Pfund Sterling überholt, aber auch er wurde von Jenem bald mit mehreren hundert Dollars überboten. Das letzte Gebot belief sich auf achttausend Mark – was sich nur durch eine ausgebrochene wirkliche Monomanie erklären läßt, wenn es sich dabei nicht um eine Frage der Eigenliebe zwischen Amerika und Großbritannien handelte.

[126] Wie dem aber auch sein mochte, Hulda lehnte alle Angebote, und wenn es die vortheilhaftesten waren, rundweg ab, was natürlich zur Folge hatte, daß Frau Hansen sich recht bitter darüber beklagte.

»Und wenn ich Dir befehle, jenes Loos zu verkaufen, sagte sie eines Tages zu ihrer Tochter, ja, wenn ich Dir's nun befehle?

– Das würde mich höchst schmerzlich berühren, Mutter, und dennoch müßt' ich mit einer Ablehnung antworten.

– Wenn es aber sein müßte?

– Warum könnte es sein müssen, Mütterchen?«

Frau Hansen gab keine Antwort. Sie war gegenüber dieser unverblümt an sie gerichteten Frage ganz bleich geworden und zog sich, einige unverständliche Worte murmelnd, betroffen zurück.

»Hier muß etwas sehr Wichtiges zu Grunde liegen und zwar eine Angelegenheit, die unsere Mutter und Sandgoïst angeht, meinte Joël.

– Ja wohl, Bruder, und daraus drohen uns in Zukunft noch recht unangenehme Vorkommnisse zu erwachsen.

– Sind wir, meine arme Hulda, nicht seit einigen Wochen schon hart genug geprüft, und welches Unglück könnte uns noch besonders schrecken?

– Ach, warum zögert Herr Sylvius so sehr zurückzukommen? Wenn er hier ist, fühle ich mich gar nicht so verzweifelt...

– Und doch, was könnte er für uns thun?« unterbrach sie Joël.

Was lag nun wohl in der Vergangenheit der Frau Hansen verborgen, das sie ihren Kindern nicht anvertrauen wollte? Welch' mißverstandene Selbstliebe hinderte sie, ihnen den Grund ihrer Befürchtungen mitzutheilen? Hatte sie sich irgend welche Vorwürfe zu machen? Und warum versuchte sie andererseits, auf ihre Tochter Hulda wegen Ole Kamp's Looses und des Werthes, den dasselbe jetzt darstellte, einen solchen Druck auszuüben? Woher kam es, daß es sie so sehr danach verlangte, dasselbe in Geld umgesetzt zu sehen? – Hulda und Joël sollten es endlich erfahren.

Am Morgen des 4. Juli hatte Joël seine Schwester nach der kleinen Kapelle begleitet, wo diese jeden Tag für den Schiffbrüchigen ein Gebet verrichtete.

Er wartete dann und führte sie wieder nach Hause.

An jenem Tag sahen sie auf dem Heimwege schon von ferne ihre Mutter, die sich raschen Schrittes nach dem Gasthause begab.

[127] Sie war nicht allein, ein Mann begleitete sie, ein Mann der mit lauter Stimme sprach und dessen ganzes Auftreten etwas Befehlerisches an sich hatte.

Hulda und ihr Bruder waren verwundert stehen geblieben.

»Wer ist dieser Mann?« sagte Joël.

Hulda trat einige Schritte weiter vor.

»Ich erkenne ihn wieder, erklärte sie.

– Du erkennst ihn?

– Ja, das ist Sandgoïst!

– Sandgoïst aus Drammen, der schon in meiner Abwesenheit in unser Haus gekommen war?

– Ja!

– Und der sich da benahm, als wäre er der Herr und hätte gewisse Rechte... über unsere Mutter... vielleicht auch über uns?

– Derselbe, Bruder, und zweifelsohne kommt er heute, um diese Rechte anhängig zu machen...

– Welche Rechte denn?... Oh, heute werde ich also erfahren, welche Ansprüche der Mann zu haben meint, um in dieser Weise zu verfahren!«

Joël schwieg, wenn es ihm auch schwer ankam, und suchte, begleitet von seiner Schwester, unbemerkt etwas seitwärts zu kommen.

Einige Minuten später erreichten Frau Hansen und Sandgoïst die Thür des Gasthauses. Sandgoïst überschritt deren Schwelle zuerst. Die Thür schloß sich hinter ihm und Frau Hansen und Beide begaben sich nach der großen Gaststube.

Hulda und Joël näherten sich dem Hause, aus dem die grollende Stimme Sandgoïst's vernehmlich heraustönte. Sie blieben stehen und lauschten. Jetzt sprach Frau Hansen, aber in bittendem Tone.

»Treten wir ein!« sagte Joël.

Hulda mit recht gepreßtem Herzen und Joël, der vor Ungeduld, aber auch vor Ingrimm zitterte, begaben sich Beide auch nach der Gaststube, deren Thür sorgfältig geschlossen wurde.

Sandgoïst saß in dem großen Lehnstuhle und schien sich um das Erscheinen der Geschwister gar nicht zu kümmern. Er begnügte sich, den Kopf umzuwenden und sie durch die Brille zu betrachten.

»Ah, da ist ja die reizende Hulda, wenn ich nicht irre!« sagte er in einem Tone, der Joël höchlich mißfiel.


Sandgoïst saß in dem großen Lehnstuhle. (S. 128).

Frau Hansen stand in unterwürfiger und ängstlicher Haltung vor diesem Manne. Sie richtete sich aber, offenbar verlegen beim Erscheinen ihrer Kinder, jetzt höher auf

[128]

»Und das ist ohne Zweifel ihr Bruder? fuhr Sandgoïst fort.

– Ja, ihr Bruder!« antwortete Joël bestimmt.

Dann traten Beide bis nahe an den Lehnstuhl heran.

»Was steht zu Ihren Diensten?« fragte der junge Mann.

Sandgoïst warf ihm einen übelwollenden Blick zu und ohne sich zu erheben, sagte er mit häßlicher, harter Stimme:

[129] »Das werden Sie noch hören, junger Bursch! Ja, Sie kommen eigentlich zur rechten Zeit. Es drängte mich, Sie zu sehen, und wenn Ihre Schwester im Stande ist, Vernunft anzunehmen, so werden wir uns ja verständigen. Aber setzen Sie sich nur erst, und Sie auch, junges Kind!«

Sandgoïst lud sie zum Sitzen ein, als ob er sich in seinem Hause befände. Joël gab ihm das nicht undeutlich zu verstehen.

»Aha, das paßt Ihnen wohl nicht? Alle Wetter, das ist ja ein Bursche, der nicht gerade nachgiebig aussieht!

– Und der sich weder um den Finger wickeln läßt, entgegnete Joël, noch Höflichkeiten von Anderen als Denen annimmt, die sie mit Recht zu bieten haben.

– Joël! ermahnte ihn Frau Hansen begütigend.

– Bruder... liebster Bruder!« setzte Hulda hinzu, deren Blick Joël bat, sich zu beherrschen.

Dieser mußte sich stark bemühen, der Bitte zu willfahren, und um seinem Verlangen, diese großprahlerische Persönlichkeit vor die Thür zu setzen, nicht so leicht nachgeben zu können, zog er sich in eine Ecke der Gaststube zurück.

»Kann ich nun sprechen?« fragte Sandgoïst.

Er erhielt von Frau Hansen weiter nichts als ein zustimmendes Zeichen statt jeder Antwort; doch das schien ihm zu genügen.

»Nun, so hören Sie, um was es sich handelt, und ich bitte Sie alle Drei um die nöthige Aufmerksamkeit, denn ich liebe es nicht, einunddasselbe zweimal zu sagen.«

Er sprach, wie man allzu deutlich erkannte, wie ein Mann, der das Recht besitzt, Anderen seinen Willen aufzunöthigen.

»Durch die Zeitungen, fuhr er fort, habe ich von dem Schicksale eines gewissen Ole Kamp gehört, einem jungen Seemanne aus Bergen, und dazu von einem Lotterie-Loose, das er seiner Braut Hulda in derselben Minute geschickt hat, wo sein Schiff, der »Viken«, verunglückte. Ebenso habe ich von allen Leuten erfahren, daß man dieses Loos, mit Rücksicht auf die Umstände, unter denen es aufgefunden wurde, so zu sagen für wie vom Himmel gesandt betrachte und man ihm deshalb einen besonders hohen Gewinn bei der bevorstehenden Ziehung in Aussicht stelle. Endlich ist mir auch zu Ohren gekommen, daß Hulda Hansen mehrfache, sogar recht beträchtliche Gebote für Ablassung desselben gethan worden seien.«

[130] Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort:

»Ist es an dem?«

Die Antwort auf diese letzte Frage ließ etwas auf sich warten.

»Ja, es ist so, sagte Joël dann. Und was weiter?

– Was weiter? wiederholte Sandgoïst. Ei, Folgendes: Alle diese Angebote beruhen nur auf einem thörichten Aberglauben, das ist meine Ansicht. Immerhin sind sie gethan worden und dürften mit der Annäherung des Ziehungstages wahrscheinlich noch wachsen. Ich bin der Meinung, das verspricht ein Geschäft, welches ich für eigene Rechnung in die Hand nehmen möchte. Aus diesem Grunde bin ich gestern aus Drammen weggefahren und bin hierhergekommen nach Dal, um mit Frau Hansen wegen Abtretung jenes Looses zu verhandeln und sie zu bestimmen, mir vor den anderen Bewerbern dabei den Vorzug zu geben.«

In der ersten aufwallenden Empfindung wollte Hulda schon Sandgoïst dieselbe Antwort ertheilen, wie sie sie auf alle Angebote dieser Art gegeben, obwohl er sich gar nicht unmittelbar an sie gewendet hatte, doch Joël hielt sie davon ab.

»Ehe ich dem Herrn Sandgoïst antworte, sagte er, möchte ich ihn fragen, ob er weiß, wem jenes Loos eigentlich gehört.

– Nun, der Hulda Hansen, meine ich doch.

– Richtig, dann sollte er die Frage, ob sie sich von demselben zu trennen geneigt ist, doch auch dieser vorlegen.

– Aber, Joël!... rief Frau Hansen.

– Lass' mich ausreden, Mütterchen, fuhr ihr Sohn fort. Gehörte dieses Loos nicht völlig rechtmäßig unserem Vetter Ole Kamp, und hatte Ole Kamp dann nicht das Recht, es seiner Braut gleichsam zu vermachen?

– Unbestreitbar, antwortete Sandgoïst ungefragt.

– So muß er sich also an Hulda Hansen wenden, wenn er's erlangen will.

– Zugegeben, Herr Silbenstecher, erwiderte Sandgoïst. Ich ersuche hiermit also Hulda, mir das von Ole Kamp erhaltene Loos mit der Nummer 9672 abzutreten.

– Herr Sandgoïst, erklärte das junge Mädchen mit fester Stimme, es sind mir für dieses Loos schon viele Anerbietungen gemacht worden, aber alle vergeblich. Auch Ihnen muß ich ganz so antworten, wie ich bisher geantwortet habe. Wenn mein Verlobter mir dieses Loos mit seinen letzten Abschiedsworten [131] gesendet hat, ist seine Absicht dahin gegangen, daß ich es für mich behalten, aber nicht verkaufen solle. Ich kann mich desselben also um keinen Preis entäußern.«

Nach diesen Worten wollte Hulda sich schon zurückziehen in der Meinung, daß dieses Gespräch, so weit es sie selbst anging, mit ihrer unzweideutigen Weigerung beendet sei. Auf einen Wink ihrer Mutter blieb sie jedoch noch da.

Frau Hansen hatte eine etwas verächtliche Bewegung gemacht, und aus dem Stirnrunzeln und den wetterleuchtenden Augen Sandgoïst's erkannte man, daß der Zorn in ihm aufzulodern drohte.

»Ja, bleiben Sie, Hulda, sagte er. Das kann nicht Ihr letztes Wort gewesen sein, und wenn ich auf meinem Verlangen beharre, geschieht es, weil ich ein unumstößliches Recht dazu habe. Ich denke übrigens, ich werde mich falsch ausgedrückt haben oder Sie haben mich mindestens falsch verstanden. Es versteht sich ja von selbst, daß die Gewinnaussichten dieses Looses nicht deshalb gewachsen sind, weil ein Schiffbrüchiger dasselbe in eine Flasche eingeschlossen und irgend ein Anderer diese glücklicher Weise aufgefunden hat. Mit den Anschauungen der großen Menge ist aber gar nicht zu rechnen, und es unterliegt keinem Zweifel, daß viele Leute gerade jenes Loos zu besitzen wünschen. Sie haben schon Kaufgebote darauf gethan und werden noch mehr thun. Ich wiederhole, die Sache bekommt damit die Bedeutung eines Geschäftes, und ein solches wollte ich Ihnen vorschlagen.

– Sie werden aber einige Mühe haben, sich darüber mit meiner Schwester zu verständigen, mein Herr, bemerkte Joël ironisch; wenn Sie ihr von einem Geschäfte sprechen, spricht sie dabei nur von einem Gefühl.

– Das sind leere Worte, junger Mann, antwortete Sandgoïst, und wenn ich mich erst vollständig erklärt habe, werden Sie einsehen, daß das, was mir ein gutes Geschäft für mich dünkt, auch für sie selbst als solches erscheint. Ich bemerke hierzu noch, daß es das Nämliche sogar für Frau Hansen werden würde, die dabei unmittelbar betheiligt ist.«

Joël und Hulda sahen sich an. Sollten sie jetzt vernehmen, was ihre Mutter ihnen bisher verheimlicht hatte?

»Lassen Sie mich fortfahren, sagte Sandgoïst. Ich habe nicht verlangt, daß dieses Los mir um denselben Preis abgetreten werde, den es Ole Kamp gekostet hat. Nein, ob mit Recht oder Unrecht, jedenfalls hat es zur Zeit einen gewissen Handelswerth erlangt, und deshalb bin ich auch zu einem Opfer bereit, um mir seinen Besitz zu sichern.

[132] – Sie hörten jedoch schon, entgegnete Joël, daß Hulda selbst alle höheren Angebote, als Sie ihr eines machen würden, rundweg abgeschlagen hat.

– Wahrhaftig! rief Sandgoïst. Höhere Angebote! Was wissen Sie davon?

– Gleichgiltig, welche Summe sie erreichten; meine Schwesten lehnt dieselben ab, und ich stimme ihr darin völlig bei.

– Oho, habe ich hierbei mit Joël oder Hulda Hansen zu thun?

– Meine Schwester und ich, wir sind nur eine Person, antwortete Joël. Merken Sie sich das, mein Herr, wenn Sie es noch nicht wissen!«

Ohne dadurch aus der Fassung zu kommen, zuckte Sandgoïst nur mit den Achseln. Dann fuhr er wie Einer, der seiner Beweisgründe sicher ist, fort:

»Wenn ich von einem Preise für das betreffende Lotterie-Loos sprach, hätte ich wohl dazu sagen sollen, daß ich Ihnen Vortheile zu bieten komme, welche Hulda, schon im Interesse ihrer Angehörigen, nicht in den Wind schlagen dürfte.

– Wirklich?...

– Und endlich, junger Brausekopf, erfahren Sie, daß ich nicht nach Dal gekommen bin, Ihre Schwester um Abtretung jenes Looses zu bitten. Alle Teufel, nein!

– Was wünschen Sie dann sonst?

– Ich wünsche nicht, ich verlange, ich fordere... weil ich will.

– Und mit welchem Rechte, rief Joël, heftiger werdend, wagen Sie, ein Fremder, in dieser Weise in mei ner Mutter Hause zu sprechen?

– Mit dem Rechte, welches jeder Mensch besitzt, antwortete Sandgoust, zu sprechen, wann und wie es ihm beliebt, wenn er in seinen vier Pfählen ist.

– In seinen vier Pfählen!«

Höchst entrüstet drang Joël auf Sandgoïst ein, der, obwohl er sonst nicht leicht erschrak, aus dem Lehnstuhle aufgesprungen war. Hulda hielt jedoch ihren Bruder zurück, während Frau Hansen, das Gesicht in den Händen versteckt, nach dem anderen Ende der Gaststube zurückwich.

»Bruder!... Denk' an unsere Mutter!«... bat das junge Mädchen.

Joël hielt sofort inne. Der Anblick der Mutter hatte seine Wuth gelähmt; ihre ganze Haltung verrieth, wie vollkommen sie in der Macht dieses Sandgoïst stehen müsse.

Als er Joël zaudern sah, raffte sich Letzterer wieder zusammen und nahm den vorher verlassenen Platz wieder ein.

[133] »Ja, in seinen eigenen vier Pfählen! rief er mit noch drohenderer Stimme. Seit dem Ableben ihres Mannes hat sich Frau Hansen in Speculationen eingelassen, die sämmtlich fehlschlugen. Das geringe Vermögen, welches Euer Vater hinterließ, hat sie auf's Spiel gesetzt und endlich bei einem Banquier in Christiania Anleihen aufnehmen müssen. Am Ende ihrer Hilfsquellen angelangt, hat sie dieses Haus als Pfand für eine Summe von fünfzehntausend Mark eintragen lassen, welche ihr gegen einen regelrecht ausgestellten Schuldschein geliehen wurden, gegen einen Schuldschein, den ich von dem Darleiher erstanden habe. Dieses Haus wird also, wenn ich nicht zum Termin bei Heller und Pfennig bezahlt werde, sehr bald mir gehören.

– Wann ist dieser Termin?

– Am 20. Juli, in achtzehn Tagen, erklärte Sandgoïst. Und an diesem Tage werde ich, ob Ihnen nun das gefällt oder nicht, hier innerhalb meiner eigenen vier Pfähle sein!

– Das werden Sie an jenem Datum nicht sein, außer wenn Sie bis dahin nicht voll befriedigt wären. Ich verbiete Ihnen also, so, wie Sie es gethan, vor meiner Mutter und meiner Schwester zu sprechen.

– Er verbietet es mir!... Mir!... rief Sandgoïst. Und verbietet's mir seine Mutter auch?

– Aber so sprich doch, Mutter, sagte Joël, der auf diese zutrat und ihre Hände auseinander zu drängen versuchte.

– Joël!... Lieber Bruder!... flehte Hulda. Aus Mitleid für sie bitte ich herzlich, beruhige Dich!«

Den Kopf gebeugt haltend, brachte es Frau Hansen nicht über sich, ihren Sohn anzusehen. Es verhielt sich allerdings so, daß sie bald nach dem Ableben ihres Mannes ihr Vermögen durch etwas gewagte Unternehmungen zu vergrößern versucht hatte. Das wenige baare Geld, welches sie besaß, war dabei schnell, wie Spreu im Winde, verschwunden, und bald hatte sie drückende und ihren Untergang nur befördernde Anlehen aufnehmen müssen. Jetzt war nun der Pfandschein einer auf ihr Haus eingetragenen Hypothek in die Hände Sandgoïst's von Drammen, an einen herzlosen Mann, einen im ganzen Lande bekannten und verabscheuten Wucherer übergegangen. Frau Hansen hatte ihn selbst zum ersten Male an dem Tage gesehen, wo er nach Dal gekommen war, um sich über den Werth ihres Anwesens durch den Augenschein ein Urtheil zu beschaffen. Das war also das Geheimniß, welches auf ihrem Herzen lastete. Ja, Sandgoïst [134] hatte recht wohl die Mittel in der Hand, seine Wünsche durchzusetzen. Das Loos, welches er heute haben wollte, würde binnen vierzehn Tage vielleicht gar keinen Werth mehr haben, und wenn er es jetzt nicht ausgeliefert erhielt, so bedeutete das den Untergang, den Verlust des Hauses, die Obdachlosigkeit und den schwersten Mangel für die Familie Hansen – mit einem Worte, das bitterste Elend.

Hulda wagte gar nicht, zu Joël die Augen zu erheben; Joël aber, den der Ingrimm übermannte, wollte nichts von der drohenden Zukunft hören. Er sah nur Sandgoïst vor sich, und wenn dieser Mann noch ein mal so wie vorhin in seiner Gegenwart sprach, würde er sich nicht bemeistern können...

Sandgoïst, der sich als Beherrscher der Sachlage fühlte, wurde nur noch härter und gebieterischer.

»Ich will einmal jenes Loos, und ich werde es erhalten! wiederholte er. Als Entgelt biete ich nicht einen Preis, der in thörichtem Verhältnisse zu dessen Werthe stände, aber ich bin bereit, den Verfalltag des von Frau Hansen unterschriebenen Schuldscheines hinauszuschieben, ihn um ein Jahr... um zwei Jahre zu verlegen. Bestimmen Sie selbst den Zeitpunkt, Hulda.«

Bei ihrem von der Angst erdrückten Herzen hätte Hulda gar nicht antworten können. Ihr Bruder nahm also für sie das Wort und rief:

»Das Loos Ole Kamp's kann von Hulda Hansen gar nicht verkauft werden. Meine Schwester weigert sich also dessen, wie Sie drohen und was Sie auch bieten mögen. Und nun entfernen Sie sich von hier!

– Entfernen? sagte Sandgoïst. Nein... noch werde ich mich nicht entfernen. Und wenn das von mir gemachte Angebot als unzureichend erachtet würde... so werde ich weiter gehen... Ja... gegen Auslieferung des Looses biete ich... biete ich...«

Sandgoïst mußte offenbar ein unbezwingliches Verlangen nach dem Besitze jenes Looses haben, mußte überzeugt sein, daß er damit ein sehr einträgliches Geschäft machen könne, denn er setzte sich an den Tisch, auf dem sich Papier, Federn und Tinte vorfanden und sagte bald nachher:


Hulda hielt ihren Bruder zurück. (S. 133.)

»Da sehen Sie sich an, was ich biete!«

Es war eine Quittung über die Summe, die Frau Hansen ihm schuldete und für welche sie das Haus in Dal als Pfand verschrieben hatte.

Mit bittend erhobenen Händen und halb zusammengesunken blickte Frau Hansen ihre Tochter an.

[135] »Jetzt aber, fuhr Sandgoïst fort, her mit dem Loose!... Ich will es! Will es heute... noch diesen Augenblick haben!... Ich gehe nicht fort von Dal, ohne es mitzunehmen! Ich will es, Hulda, ich muß es haben!«

Sandgoïst hatte sich dem bedauernswerthen Mädchen genähert, als wollte er sie durchsuchen, um ihr Oles Lotterie-Loos zu entreißen...

Jetzt konnte sich Joël aber nicht mehr bemeistern, vorzüglich als er die Schwester wie hilfesuchend seinen Namen rufen hörte.

»Werden Sie sich nun entfernen?« rief er drohend dem Wucherer zu.

[136] Da Sandgoïst dem Gebote noch immer nicht Folge leisten wollte, drang er schon auf ihn ein, als Hulda sich noch dazwischen warf.

»Mutter, rief sie, hier ist das Loos!«

Frau Hansen hatte hastig nach dem Stück Papier gegriffen, doch während sie es gegen Sandgoïst's Quittung austauschte, war Hulda fast bewußtlos in den Lehnstuhl gesunken.

»Hulda, Hulda! rief Joël. Komm' wieder zu Dir!... Ach, liebste Schwester, was hast Du gethan?

[137] – Was sie gethan hat? fiel Frau Hansen da ein. Was sie gethan hat? Ach, ich bin der schuldige Theil! Im Interesse meiner Kinder unternahm ich es, das hinterlassene Vermögen ihres Vaters vergrößern zu wollen, ja, ich habe ihre ganze Zukunft auf's Spiel gesetzt, habe das Unglück über dieses friedliche Haus heraufbeschworen, und Hulda... hat uns noch einmal errettet!... Das ist's, was sie gethan hat. Dank Dir, Hulda, tausend Dank!«


Sylvius Hog hatte diesen traurigen Bericht angehört. (S. 139.)

Sandgoïst war noch immer anwesend. Joël bemerkte ihn.

»Sie... hier... immer noch!« rief er.

Dann trat er auf Sandgoïst zu, faßte ihn an den Schultern, hob ihn in die Höhe und warf ihn, trotz seines Widerstrebens und seines Jammergeschreies, zur Thür hinaus.

15. Capitel

XV.

Am Abend des nächstfolgenden Tages kehrte Sylvius Hog nach Dal zurück, erwähnte aber nichts von seiner Reise. Niemand wußte also, daß er sich inzwischen nach Bergen begeben hatte. Da die angestellten Nachforschungen bisher noch kein Ergebniß geliefert hatten, wollte er sie gegenüber der Familie Hansen verschweigen. Jeder Brief und jede Depesche, welche von Bergen oder Christiania einlief, mußte an ihn persönlich und nach dem Gasthause adressirt sein, wo er die Entwicklung der Sache abzuwarten gedachte. Hoffte er wohl noch immer? Ja, doch wir müssen gestehen, daß er dabei nur einer Art Vorahnung nachgab.

Kaum zurückgekehrt, bemerkte der Professor ohne Schwierigkeit, daß hier während seines Fortseins ein recht ernstes Ereigniß eingetreten sein mußte. Das Auftreten Joëls und Huldas verrieth nur zu deutlich, daß es zwischen diesen und ihrer Mutter zu einer Erklärung gekommen sein mochte. Sollte jetzt die Familie Hansen noch ein neues Unglück betroffen haben?

Natürlich hätte das Sylvius Hog nur tief betrüben können. Er empfand für die beiden jungen Leute eine so väterliche Zuneigung, daß er auch an eigenen leiblichen Kindern kaum inniger hätte hängen können. Wie hatten sie ihm gefehlt während seiner kurzen Abwesenheit – aber wie sehr mochte er auch ihnen gefehlt haben!

[138] »Sie werden sich schon aussprechen, dachte er, sie müssen ja sprechen. Gehör' ich denn nicht auch zur Familie?«

Ja, Sylvius Hog hielt sich jetzt für wirklich berechtigt, in das Privatleben seiner jungen Freunde mit einzugreifen und zu erfahren, warum Joël und Hulda noch unglücklicher als zur Zeit seiner Abreise erschienen. Er sollte darüber bald genug aufgeklärt werden.

Wirklich sehnten sich ja Beide danach, dem vortrefflichen Manne, dem sie mit wahrer Kindesliebe zugethan waren, ihr ganzes Herz zu öffnen. Sie warteten so zu sagen nur auf eine erste Frage von seiner Seite; seit den letzten zwei Tagen hatten sie sich ja gar so verlassen gefühlt, und zwar desto mehr, weil Sylvius Hog nicht einmal gesagt hatte, wohin er ginge.

Nein, noch niemals waren ihnen die Stunden so lang vorgekommen. Ihrer Ansicht nach konnte seine Abwesenheit nur mit Nachforschungen über das Schicksal des »Viken« im Zusammenhange stehen, dagegen wäre es ihnen niemals in den Sinn gekommen, daß Sylvius Hog Zweck und Ziel seiner Reise nur geheim halten könne, um ihnen im Falle eines Mißerfolges die schlimmste Enttäuschung zu ersparen.

Und doch, wie erschien ihnen seine Anwesenheit jetzt mehr als je vonnöthen! Wie verlangte es sie danach, ihn zu sehen, seinen Rath einzuholen und seine stets liebevolle, ermuthigende Stimme zu hören! Doch sollten sie es wagen, ihm mitzutheilen, was zwischen ihnen und dem Wucherer aus Drammen vorgekommen war und wie ihre Mutter die ganze Zukunft der Familie unbedacht auf's Spiel gesetzt habe? Was würde Sylvius Hog denken, wenn er hörte, daß das Loos sich nicht mehr in Huldas Händen befand, wenn er erfuhr, daß Frau Hansen es benützt hatte, sich von ihrem unerbittlichen Gläubiger zu befreien?

Es sollte ihm dennoch nicht verhehlt bleiben. Von wem dabei das erste Wort ausging, ob von Sylvius Hog oder von Joël und Hulda, ist nicht festzustellen und hat ja auch keine weitere Bedeutung. Genug, der Professor war bald in die ganze Angelegenheit eingeweiht. Er wußte nun, in welch drückender Lage sich Frau Hansen und ihre Kinder befunden hatten. Binnen vierzehn Tagen drohte der Wucherer, sie aus dem Gasthause in Dal zu vertreiben, wenn seine Forderung nicht durch Auslieferung jenes Lotterie-Looses ausgeglichen worden wäre.

Sylvius Hog hatte diesen traurigen Bericht, den Joël in Gegenwart seiner Schwester ihm abstattete, stumm angehört.

[139] »Das Loos hätte nicht weggegeben werden dürfen, sagte er dann plötzlich. Nein, das durfte nicht geschehen!

– Konnte ich anders, Herr Sylvius? rief das junge Mädchen tief erschüttert.

– Nein... freilich... Sie konnten wohl nicht anders handeln!... Und doch... Oh, wenn ich dabei gewesen wäre!«

Und was hätte er wohl gethan, der Professor Sylvius Hog, wenn er dabei gewesen wäre? Das ließ er nicht laut werden, sondern fuhr fort:

»Ja, meine liebe Hulda, ja, Joël, Ihr habt ja eigentlich nur nach Kindespflicht gehandelt. Doch was mich ergrimmt, ist der Umstand, daß jener Sandgoïst nur den Aberglauben der Leute ausbeuten wird. Wenn man dem Loose des armen Ole eine Art übernatürlichen Werth andichtet, so wird nur er daraus Vortheil ziehen. Und doch, zu glauben, daß jene Nummer 9672 nothwendigerweise vom Schicksal besonders begünstigt sein müßte, ist lächerlich, ist geradezu thöricht! Doch, Alles in Allem, ich selbst hätte ihm das Loos bestimmt nicht überlassen. Nachdem sie Sandgoïst's Gebot abgeschlagen, hätte Hulda besser gethan, auch ihrer Mutter gegenüber auf derselben Weigerung zu beharren!«

Auf Alles, was Sylvius Hog hier sagte, vermochten die Geschwister keine Antwort zu geben. Mit Ueberlassung des Looses an ihre Mutter hatte Hulda ja nur einem kindlichen Gefühle Folge gegeben, um deswillen sie doch Niemand tadeln konnte. Das Opfer, zu dem sie sich entschlossen, war ja nicht eine Aufopferung mehr oder weniger zufälliger Gewinnaussichten, welche jenes Loos bei der Ziehung der Lotterie in Christiania haben mochte, nein, es war der Verzicht auf Erfüllung des letzten Willens Ole Kamp's, es war der Verlust des letzten Abschiedswortes von ihrem unglücklichen Verlobten.

Doch darauf war jetzt nicht mehr zurückzukommen. Sandgoïst besaß das Loos, welches ihm rechtmäßig gehörte und das er zum Verkauf stellen würde. Ein elender Wucherer sollte nun Geld schlagen aus dem rührenden Lebewohl eines Schiffbrüchigen! Nein, Sylvius Hog konnte darüber nicht hinwegkommen.

Noch an demselben Tage suchte Sylvius Hog darüber noch ein Gespräch mit Frau Hansen herbeizuführen, ein Gespräch, das an der Lage der Dinge zunächst zwar nichts ändern konnte, aber das zwischen ihnen gewissermaßen zur Nothwendigkeit geworden war. Er stand dabei übrigens einer sehr praktischnüchternen Frau gegenüber, welche ohne Zweifel mehr gesunden Menschenverstand, als tieferes Gefühl besaß.

[140] »Sie tadeln mich also, Herr Hog? fragte sie, nachdem sie den Professor ganz nach seinem Belieben hatte ausreden lassen.

– Gewiß, Frau Hansen.

– Wenn Sie mir darüber Vorwürfe machen, mich unbesonnener Weise in schlecht auslaufende Geschäfte eingelassen, des Vermögen meiner Kinder verscherzt zu haben, so gebe ich Ihnen Recht. Doch wenn Sie mir vorwerfen, so wie ich es that gehandelt zu haben, um mich zu retten, dann haben Sie Unrecht. – Was könnten Sie darauf antworten?

– Nichts.

– Im Ernst gesprochen, sollte ich das Angebot Sandgoïst's abschlagen, der doch schließlich fünfzehntausend Mark für die Abtretung eines Lotterie-Looses gezahlt hat, dessen höherer Werth ja durch gar nichts begründet ist? Ich frage Sie noch einmal, sollte ich das abschlagen?

– Ja und nein, Frau Hansen.

– Nein, hier kann's nicht ja und nein heißen, Herr Hog, sondern nur nein! Wenn in unserer Lage, die Sie ja kennen gelernt, die nächste Zukunft – ich gestehe durch meine Schuld – nicht gar so drohend erschienen wäre, gut, dann hätte ich Huldas Weigerung recht wohl begriffen. Ja, ich hätte eingesehen, daß sie sich um keinen Preis von diesem ihr von Ole Kamp zugekommenen Loose trennen wollte. Wenn es sich aber darum handelte, binnen wenig Tagen aus dem Hause gejagt zu werden, in dem mein Mann die Augen geschlossen, in dem meine Kinder das Licht der Welt erblickten, dann hätte ich das nicht verstehen können, und Sie selbst, verehrter Herr Hog, hätten an meiner Stelle nicht anders gehandelt.

– Und doch, Frau Hansen, doch!

– Und was hätten Sie gethan?

– Ich würde eher Alles versucht haben, als das Loos zu opfern, das meine Tochter gerade unter solchen Verhältnissen erhalten hatte.

– Machen diese Verhältnisse dasselbe etwa werthvoller?

– Das wissen Sie nicht und ich nicht, das weiß überhaupt Niemand.

– O, das kann man denn doch beurtheilen, Herr Hog! Auch dieses Loos ist weiter nichts, als ein Lotterie-Loos, das neunhundertneunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzigmal zu verlieren und dagegen einmal zu gewinnen Aussicht hat. Legen Sie ihm deswegen einen besonderen Werth bei, weil es in einer aus dem Meere aufgefischten Flasche gefunden wurde?«

[141] Auf diese so gestellte Frage hatte Sylvius Hog freilich einige Mühe zu antworten. Er spielte die Sache daher wieder auf die »Gefühlsseite« hinüber und sagte:

»Der Sachverhalt ist folgender: Ole Kamp hat Hulda im Augenblicke, wo ihm der Untergang drohte, das einzige Werthobject hinterlassen, das er noch auf der Welt besaß. Er hat ihr sogar anempfohlen, am Ziehungstage mit diesem Loose, wenn es ein glücklicher Zufall ihr in die Hand spielte, in Christiania gegenwärtig zu sein, und nun hat Hulda das Loos nicht einmal mehr in der Hand!

– Wäre Ole Kamp zurückgekehrt, bemerkte dazu Frau Hansen, so würde auch er nicht gezögert haben, das Loos an Sandgoïst zu überlassen.

– Das ist wohl möglich, erwiderte Sylvius Hog, er hatte auch allein das Recht dazu. Was würden Sie ihm denn antworten, wenn er nicht todt, nicht bei einem Schiffbruche umgekommen wäre, wenn er zurückkäme... schon morgen... noch heute...

– Ole wird nicht zurückkehren, antwortete Frau Hansen mit dumpfer Stimme. Ole ist todt, Herr Hog, ist sicherlich todt!

– Das wissen Sie nicht, Frau Hansen! rief der Professor mit wirklich auffallend überzeugendem Tone. Es sind sehr umfassende Nachforschungen eingeleitet, um irgend einen Ueberlebenden von dem Schiffbruche zu finden. Diese können ja glücken, können glücken, noch bevor jene Lotterie gezogen wird. Sie haben also nicht das Recht, zu sagen, daß Ole todt sei, wenigstens nicht, bevor Beweise beigebracht worden sind, daß er bei dem Unfalle des »Viken« umgekommen ist. Wenn ich jetzt nicht mit derselben Zuversicht gegen Ihre Kinder spreche, so geschieht es, weil ich in denselben keine Hoffnungen wach rufen möchte, die ja zur schmerzlichsten Enttäuschung führen könnten. Vor Ihnen aber, Frau Hansen, spreche ich aus, was ich denke. Und daß Ole todt sei... nein, ich kann es nicht glauben... nein, ich will es nicht glauben... nein, ich glaub' es eben nicht!«

Auf dem Gebiete, nach welchem das Gespräch jetzt hinübergespielt war, konnte Frau Hansen mit dem Professor nicht mehr streiten. Die im Grunde ebenfalls etwas abergläubische Norwegerin schwieg also still und senkte den Kopf, als fürchte sie, Ole jeden Augenblick vor sich auftauchen zu sehen.

»Ueberdies, Frau Hansen, fuhr Sylvius Hog fort, hatten Sie, ehe in dieser Weise über Huldas Lotterie-Loos verfügt wurde, eine sehr einfache Sache zu thun, was Sie jedoch unterlassen haben.

[142] – Was meinen Sie damit, Herr Hog?

– Sie hätten sich erst an Ihre Freunde, an die Freunde Ihrer Familie wenden sollen; diese hätten sich gewiß nicht geweigert, Ihnen zu helfen, indem Sie sich entweder bei Sandgoïst für Sie verbürgten oder Ihnen den nothwendigen Betrag verschafften, um jenen zu befriedigen.

– Ich habe keine Freunde, die ich um einen solchen Liebesdienst hätte angehen können, Herr Hog.

– Darin dürften Sie wohl irren, Frau Hansen, denn Einen solchen kenne ich selbst, der Ihrem Wunsche ohne Zögern, schon aus herzlicher Dankbarkeit, gerne entsprochen hätte.

– Und wer wäre das?

– Sylvius Hog, der Abgeordnete des Storthing.«

Frau Hansen konnte darauf nichts erwidern und begnügte sich mit einer Verbeugung vor dem Professor.

»Doch was geschehen ist, ist leider geschehen, nahm Sylvius Hog wieder das Wort. Ich würde Ihnen also dankbar sein, Frau Hansen, wenn Sie dieses Gesprächs, auf welches zurückzukommen ja doch nutzlos wäre, gegen Ihre Kinder nicht erwähnen wollten.«

Damit gingen Beide auseinander.

Der Professor hatte seine gewöhnliche Lebensweise wieder aufgenommen und seine täglichen Spaziergänge wieder begonnen. Während weniger Tage besuchte er mit Joël und Hulda die Umgebung von Dal, ohne dabei jemals zu weit zu wandern, um das junge Mädchen nicht zu übermüden. Ins Zimmer zurückgekehrt, beschäftigte er sich mit seinem stets sehr umfassenden Briefwechsel und sendete ein Schreiben nach dem anderen nach Bergen oder nach Christiania.

Er bemühte sich, den Eifer aller Derjenigen noch weiter anzufeuern, die jetzt den menschenfreundlichen Versuch der Nachforschung nach dem verschollenen »Viken« unternahmen. Sein ganzes Leben ging auf in dem einen Gedanken, Ole zu finden, nur Ole wieder aufzufinden.

Er hielt es auch für nothwendig, noch einmal für vierundzwanzig Stunden nach auswärts zu gehen, gewiß aus einem Grunde, der mit jener, die Familie Hansen so nahe berührenden Angelegenheit in innigem Zusammenhange stand; er bewahrte jedoch wie immer das strengste Stillschweigen über das, was er darin that oder thun ließ.

[143] Die Gesundheit der so schwer geprüften Hulda machte nur sehr langsam einige Fortschritte. Das arme Mädchen lebte nur noch von der Erinnerung an Ole, aber die Hoffnung, welche sich zuerst noch mit dieser Erinnerung verband, wurde von Tag zu Tag schwächer. Und doch sah sie neben sich die beiden Wesen, welche sie auf der Welt am meisten liebte, und Einer derselben unterließ es niemals, ihr Muth zuzusprechen. Doch genügte das schon allein? Galt es nicht auch, sie um jeden Preis zu zerstreuen? Wie sollte man sie aber von den Gedanken, welche ihre ganze Seele erfüllten, ablenken, von den Gedanken, die sie wie mit Eisenketten an den Schiffbrüchigen vom »Viken« schmiedeten?

So kam der 12. Juli heran.

Binnen vier Tagen sollte die Lotterie der Schulen von Christiania gezogen werden.

Selbstverständlich war die von Sandgoïst in die Hand genommene Speculation inzwischen zu allgemeiner Kenntniß gekommen.

Auf sein Betreiben und im bezahlten Auftrage des Wucherers hatten die Tagesblätter die Anzeige gebracht, daß das »berühmte, vom Himmel gesendete Loos« mit der Nummer 9672 sich jetzt im Besitze des Herrn Sandgoïst in Drammen befinde, der es zum Verkauf stelle und dem Meistbietenden überlassen wolle; daß Herr Sandgoïst Besitzer dieses Lotterie-Looses sei, komme daher, daß er es um einen hohen Preis von Hulda Hansen in Dal erstanden habe.

Man begreift, daß solche Anzeigen das junge Mädchen in der öffentlichen Achtung herabsetzen mußten. Wie? Jene Hulda hatte sich, bestochen durch einen hohen Preis, verleiten lassen, das Loos des Schiffbrüchigen, das Loos Ole Kamp's, ihres Verlobten, zu verkaufen! Sie hatte – Geld geschlagen aus diesem letzten Andenken!

Eine bald darauf im Morgenblad erscheinende Notiz belehrte dessen Leser jedoch rechtzeitig über den Hergang der Sache. Man erfuhr dadurch die niedrige Handlungsweise jenes Sandgoïst und die eigentliche Ursache, warum das Loos sich jetzt in seinen Händen befinde. Damit verfiel aber der Wucherer von Drammen der allgemeinen Verachtung, dieser herzlose Gläubiger, der sich nicht gescheut hatte, die unglückliche Zwangslage der Familie Hansen zu seinem Vortheile auszubeuten.


»Sie hätten sich erst an Ihre Freunde wenden sollen.« (S. 143.)

Das hatte aber die sofort zu Tage tretende Folge, daß – wie nach allgemeiner Verabredung – die Angebote, welche auf das Loos gemacht wurden, so lange Hulda dasselbe noch besaß, gänzlich ausblieben, seit es sich in den Händen des neuen Eigenthümers befand. Es schien, als ob jenes Loos [144] [147]den ihm früher beigelegten außerordentlichen Werth gänzlich verloren habe, nachdem dieser Sandgoïst es durch seine Berührung besudelt hatte. Sandgoïst hatte mit seiner Speculation also ein sehr verunglücktes Geschäft gemacht, und die berühmte Nummer drohte ihm für eigene Rechnung liegen bleiben zu sollen

Es versteht sich von selbst, daß weder Hulda noch Joël von den umlaufenden Gerüchten etwas erfuhren. Und das war ein Glück zu nennen. Wie peinlich wäre es für sie gewesen, sich in die Angelegenheit eingemischt zu wissen, die unter den Händen des Wucherers zu einem feilen Geschäft herabgedrückt worden war.

Am 12. Juli gegen Abend traf wieder ein an den Professor gerichteter Brief ein.

Dieses vom Seeamte ausgegangene Schreiben enthielt noch ein anderes, das aus Christiansand, einem kleinen Hafen nahe dem Eingange zum Meerbusen von Christiania, eingelaufen war. Ohne Zweifel erfuhr Sylvius Hog dadurch auch nichts besonders Neues, denn er zerknitterte es in seiner Tasche und erwähnte desselben weder gegen Joël, noch gegen dessen Schwester.

Nur als er sich, ihnen gute Nacht wünschend, schon nach seinem Zimmer zurückziehen wollte, sagte er zu ihnen:

»Ihr wißt wohl, liebe Kinder, daß die Ziehung der Lotterie binnen drei Tagen vor sich gehen wird. Habt Ihr nicht die Absicht, derselben beizuwohnen?

– Wozu sollte das nützen. Herr Sylvius? fragte Hulda

– Nun, meinte der Professor, Ole hat doch gewünscht, daß seine Verlobte dabei anwesend sei. In den letzten, von ihm geschriebenen Zeilen hat er ihr das noch anempfohlen, und ich denke, man müsse den letzten Willen Oles achten und ihm nachkommen.

– Aber Hulda besitzt ja das Loos nicht mehr, warf Joël ein, und wer weiß, in wessen Händen es sich jetzt befindet.

– Das ändert an der Sache nichts, entgegnete Sylvius Hog. Ich lade Euch also Beide ein, mich nach Christiania zu begleiten.

– Sie wünschten es also, Herr Sylvius? erwiderte das junge Mädchen.

– Ich nicht allein, liebe Hulda, Ole wünscht es, und dem müßt Ihr wohl gehorchen.

– Liebe Schwester, Herr Sylvius hat ganz Recht, erklärte jetzt Joël; ja, es ist sogar unsere Pflicht. – Wann denken Sie abzufahren, Herr Sylvius?

– Morgen mit Tagesanbruch, und der heilige Olaf sei unser Schirm und Hort!«

[147]

16. Capitel

XVI.

Am folgenden Morgen trug der Schußwagen des Werkführers Lengling Sylvius Hog und Hulda davon, welche Beide in dem kleinen, bemalten Sitzkasten Platz genommen hatten. Joël konnte, wie wir wissen, dann nicht mehr unterkommen. Der wackere junge Mann ging also zu Fuß neben dem Pferde her, das freudig den Kopf schüttelte.

Die vierzehn Kilometer zwischen Dal und Moel waren für den rüstigen Wanderer ja eine Kleinigkeit.

Der Schußkarren folgte dem prächtigen Vestfjorddal, immer längs des Maan-Ufers – jenem schmalen, schattenfrischen Thale, das durch tausende, von allen Anhöhen herabhüpfende Cascaden bewässert wird. Bei jeder Windung des Schlangenweges sahen sie sich um und verloren endlich den, mit seinen zwei Schneefeldern sonst so weithin leuchtenden Gusta aus den Augen.

Der Himmel war rein, das Wetter herrlich. Der Wind wehte nicht zu stark, die Sonne brannte nicht zu warm.

Eigenthümlicher Weise schien sich Sylvius Hog's Gesicht seit der Abfahrt aus dem Hause in Dal wieder mehr aufgeheitert zu haben. Ohne Zweifel that er sich etwas Zwang an, um die Reise bei den Kümmernissen Huldas und Joëls wenigstens als eine kleine Zerstreuung erscheinen zu lassen.

Zweieinhalb Stunden, mehr bedurfte es nicht, um Moel, am Ende des Tinn-Sees, wo der Karren anhalten sollte, zu erreichen. Weiter hätte derselbe, ohne zum Schwimmen eingerichtet zu sein, auch nicht gehen können. An dieser Stelle des Thales beginnt nämlich der »Seeweg«; hier befindet sich ein sogenannter »Vandskyde«, d. h. eine Wasser-Fahrstation, und hier halten auch die gebrechlichen kleinen Fahrzeuge, welche in dessen ganzer Länge und Breite den Dienst auf dem Tinn-See versehen.

Der Schußkarren hielt nahe der kleinen Kirche des Ortes am unteren Ende eines fünfhundert Fuß hoch herabstürzenden Wasserfalles. Dieser zum fünften Theile seiner Länge sichtbare Fall verschwindet erst in einer tiefen Höhle des Berges, ehe er von dem See selbst aufgenommen wird.

[148] Zwei Fährleute befanden sich an der äußersten Spitze des Ufers. Ein Boot aus Birkenrinde, dessen sehr wenig gesichertes Gleichgewicht seinen Passagieren nicht eine Bewegung von einem Bord zum anderen gestattet, war zum Abstoßen fertig.

Der See lag jetzt im vollen Glanze seiner Morgenschönheit da; die Sonne hatte schon beim Aufgehen die Dünste von dessen Oberfläche weggetrunken; einen herrlicheren Sommertag hätte man sich nicht wünschen können.

»Sie sind doch nicht zu sehr ermüdet, lieber Joël? fragte der Professor, sobald er aus dem Karren gestiegen war.

– Nein, Herr Sylvius; bin ich solche weite Wege durch Telemarken nicht schon längst gewöhnt?

– Das ist wohl wahr. Doch sagen Sie, ist Ihnen wohl der nächste Weg von Moel nach Christiania bekannt?

– O, vollkommen, Herr Sylvius. Am Ende des Sees, bei Tinoset angelangt... Doch da fällt mir ein, ich weiß nicht, ob sich dort Schußgelegenheit für uns finden wird, da wir keine »Forbuds« zur Anmeldung unserer Ankunft auf der Station gesendet haben, wie man es hier sonst zu thun pflegt...

– Darüber beruhigen Sie sich, mein Sohn, antwortete der Professor, das habe ich schon besorgt. Es konnte doch nicht meine Absicht sein, Sie den ganzen Weg von Dal nach Christiania zu Faß zurücklegen zu lassen.

– Nun, wenn's gerade sein müßte... meinte Joël.

– Es muß aber nicht sein. Doch sprechen wir von unserer Fahrt; welchen Weg würden wir Ihrer Ansicht nach zu nehmen haben?

– Sehr einfach; von Tinoset aus, Herr Sylvius, fahren wir über Vik und Bolkösjö um den Fol-See, um nach Möse und von da nach Kongsberg, Hangsund und Drammen zu gelangen. Wenn wir in der Nacht ebenso schnell reisen wie am Tage, wäre es nicht unmöglich, morgen Nachmittag schon in Christiania einzutreffen.

– Schön, Joël; ich sehe, daß Sie das Land hinlänglich kennen, und das wird ohne Zweifel eine höchst angenehme Fahrt werden.

– Wenigstens die kürzeste.

– Richtig, Joël, doch auf die kürzeste – verstehen Sie? – kommt es mir nicht so sehr an, antwortete Sylvius Hog. Ich weiß eine andere, welche unsere Reise freilich um ein paar Stunden verlängert, und diese kennen Sie auch recht gut, wenn Sie derselben auch nicht erwähnten.

[149] – Und welche?

– Ei, die Fahrt über Bamble!

– Ueber Bamble?

– Ja, ja, Bamble! Stellen Sie sich nur nicht so unwissend! Bamble, wo der Pächter Helmboë und seine Tochter Sigrid wohnen.

– Herr Sylvius!...

– Diesen Weg schlagen wir also ein, und wenn wir um den Fol-See an der Südseite statt an der Nordseite fahren, meinen Sie nicht, daß wir dabei ebenso gut nach Kongsberg kommen?

– Ebenso gut und selbst noch besser! bestätigte Joël lächelnd.

– Ich danke Ihnen im Namen meines Bruders, Herr Sylvius, sagte das junge Mädchen.

– Und nicht im eigenen Namen, meine kleine Hulda, denn ich denke, es wird Ihnen Vergnügen machen, Ihre Freundin Sigrid im Vorüberkommen einmal wiederzusehen?«

Das Boot war zur Abfahrt fertig. Alle Drei nahmen auf einem Haufen im Hintertheile desselben aufgestapelter grüner Blätter Platz.

Rudernd und gleichzeitig steuernd trieben die zwei Fährleute das Fahrzeug hinaus.

Wenn man sich vom Ufer an dieser Stelle entfernt, beginnt der Tinn-See sich bald auszuweiten, und zwar von Haekenaës an, einem kleinen aus zwei bis drei Häusern bestehenden Gaard (Gehöft), erbaut auf dem felsigen Vorsprunge, der sich in dem schmalen Fjord badet, dem friedlich die Gewässer des Maan zufließen.

Der See erscheint noch immer stark eingedämmt; nach und nach jedoch weichen die seinen Rahmen bildenden Berge weiter zurück und man gewinnt erst eine Vorstellung von ihrer Höhe, wenn gerade ein Fahrzeug am Fuße derselben vorübergleitet und doch nicht größer als ein gewöhnlicher Wasservogel aussieht.

Hier und da tauchen etwa ein Dutzend nackte oder grünende Inseln und Eilande mit vereinzelten Fischerhäuschen auf. An der Oberfläche schwimmen daneben noch gänzlich unbehauene Baumstämme oder auch ganze Flöße in den benachbarten Sägemühlen bearbeiteter Balken.

Das veranlaßte Sylvius Hog scherzend – und er mußte wohl Neigung haben, gelegentlich zu scherzen – jetzt zu sagen:

[150] »Wenn nach dem Ausspruche unserer skandinavischen Dichter die Seen die Augen Norwegens sind, so muß man zugestehen, daß Norwegen mehr als einen Balken im Auge hat, wie die Bibel sagt.«

Gegen vier Uhr gelangte das Boot nach Tinoset, einem kleinen, keinerlei Bequemlichkeit bietenden Dörfchen. Das hatte jetzt indeß nichts zu bedeuten, da sich Sylvius Hog hier gar nicht, nicht einmal eine Stunde, aufzuhalten gedachte. Wie er Joël schon vorher angedeutet, erwartete sie hier am Ufer ein Wagen. Im Hinblick auf diese, von ihm schon längst fest beschlossene Reise hatte er Herrn Benett in Christiania ersucht, dafür Sorge zu tragen, daß er mit seinen Begleitern ohne Aufenthalt und Beschwerden Fortkommen finde. Deshalb befand sich an genanntem Tage auch ein alter Reisewagen, mit hinreichendem Lebensmittelvorrath im Kutschkasten, hier in Tinoset. Ihr Fortkommen war damit also ebenso gesichert, wie die Ernährung unterwegs, so daß sie nicht mehr auf die halb angebrüteten Eier, die geronnene Milch und die wahrhaft spartanische Kraftsuppe der Gaards von Telemarken angewiesen blieben.

Tinoset liegt fast am Ende des Tinn-Sees. Hier stürzt sich der Maan in herrlichem Falle nach dem unteren Thale hinab, wo er wieder seinen regelmäßigen Lauf annimmt. Die von der Schußstation entnommenen Pferde standen schon angespannt, und sofort rollte der Wagen in der Richtung nach Bamble hin.

Jener Zeit war das die einzige Art und Weise, durch Norwegen im Allgemeinen und durch Telemarken im Besonderen zu reisen, und vielleicht werden die Eisenbahnen viele Touristen noch die landesüblichen Schußkarren und die Kutschen des Herrn Benett schmerzlich vermissen lassen.

Es versteht sich von selbst, daß Joël diesen Theil des Gerichtssprengels, den er zwischen Dal und Bamble so oft durchmessen hatte, ganz genau kannte.

Um acht Uhr Abends traf Sylvius mit dem Geschwisterpaare an diesem kleinen Orte ein.

Obwohl sie hier natürlich nicht erwartet wurden, fanden sie seitens des Pächters Helmboë doch den herzlichsten Empfang. Zärtlich umarmte Sigrid ihre Freundin, die sie von vielem Kummer recht blaß aussehend fand. Kurze Zeit blieben die beiden Mädchen allein, um gegeneinander auszutauschen, was auf ihren Herzen lastete.

»Ich bitte Dich, liebste Hulda, sagte Sigrid, lass' Dich nicht von Deinem Schmerz überwältigen! Ich für meinen Theil habe noch nicht alle


Der See lag jetzt im vollen Glanze seiner Morgenschönheit da. (S. 149.)

Zuversicht verloren. Warum solltest Du auf jede Hoffnung verzichten, den armen Ole noch wiederzusehen? Wir haben durch die Zeitungen ja erfahren, daß man bemüht ist, den »Viken« wieder aufzufinden. Diese [151] Nachforschungen werden von Erfolg sein!... Gelt, ich glaube bestimmt, daß Herr Sylvius noch Hoffnung hat... Hulda... mein liebes Herz, ich bitte Dich, verzweifle noch nicht!«

Statt jeder Antwort konnte Hulda nur weinen, und Sigrid drückte sie warm an ihr Herz.


Der Wagen hielt vor dem Hotel Victoria. (S. 157.)

O, welche Freude hätte im Hause des Pächters [152] Helmboë geherrscht, inmitten dieser braven, einfachen und guten Menschen, wenn diese ganze kleine Welt ein Anrecht, glücklich zu sein, gehabt hätte!

»Sie gehen also geraden Wegs nach Christiania? fragte der Pächter Helmboë Herrn Sylvius Hog.

– Ja, Herr Helmbon.

– Um der Lotterieziehung beizuwohnen?

– Gewiß.

[153] – Doch was kann das nützen, da Ole Kamp's Loos sich jetzt in den Händen des schändlichen Sandgoïst befindet?

– Ole hat es gewünscht, antwortete der Professor, und wir haben die Pflicht, seinem Willen nachzukommen.

– Man sagt, der Wucherer in Drammen habe für dieses Loos, das ihm so viel kostete, keinen Abnehmer finden können.

– Ja, das sagt man wohl, Herr Helmboë.

– Gut, so hat er, was er verdient, dieser schändliche Kerl, dieser Schurke, Herr Hog, ja... diesem Schurken ist ganz...

– Gewiß, Herr Helmboë, ganz recht geschehen!«

Natürlich mußten Alle auf dem Pachthof zu Abend essen. Weder Sigrid, noch deren Vater hätten ihre Freunde fortgelassen, ohne daß dieselben diese Einladung annahmen. An einen längeren Aufenthalt war jedoch nicht zu denken, wenn die durch den Umweg über Bamble verlorenen Stunden in der Nacht wieder eingebracht werden sollten. Um neun Uhr wurden also die Pferde von der Schußstation durch einen Burschen aus dem Gaard geholt, der dieselben sofort anspannte.

»Bei meinem nächsten Besuche, lieber Herr Helmboë, sagte Sylvius Hog zu dem Pächter, bleib' ich, wenn Sie es wollen, sechs Stunden lang bei Tische sitzen; heute aber bitte ich Sie um die Erlaubniß, die Nachspeise durch einen ehrlichen Handschlag zu ersetzen, den Sie mir nicht verweigern werden, und durch einen herzlichen Kuß, den Ihre reizende Sigrid meiner Hulda geben wird.«

Nachdem dies geschehen, brach die kleine Gesellschaft auf

In jener hohen Breite mußte die Dämmerung noch einige Stunden andauern. Und auch lange nach Sonnenuntergang blieb der Horizont noch deutlich sichtbar, so klar war heute die Atmosphäre.

Es ist eine schöne, freilich ziemlich bergige Straße, die von Bamble über Hitterdal an der Südseite des Fol-Sees nach Kongsberg führt. Sie durchschneidet dabei den ganzen Mitteltheil von Telemarken, indem sie die Flecken, Weiler und Gaards der Nachbarschaft berührt.

Eine Stunde nach der Abfahrt konnte Sylvius Hog, ohne daß er hier anhielt, die Kirche von Hitterdal wahrnehmen, ein altes, höchst merkwürdiges Bauwerk, mit zinnengekrönten, aber ohne Rücksicht auf Regelmäßigkeit der Linien übereinander gepackten Stockwerken. Das Ganze besteht aus Holz, von den aus [154] dicht aneinander gefügten Balken und sich dachziegelartig deckenden Planken bestehenden unteren Umfassungswänden an bis hinauf zum obersten Glockenthürmchen. Diese Aufhäufung von Pfefferbüchsen ist, wie es scheint, ein ehrwürdiges und hochverehrtes Denkmal der skandinavischen Baukunst des dreizehnten Jahrhunderts.

Allmählich sank nun die Nacht herab eine jener Nächte, welche stets der letzte Schimmer des Tages durchzittert; gegen ein Uhr früh mischte sie sich aber schon wieder mit dem neuen Morgengrauen.

Auf dem Vordersitze saß Joël in Betrachtungen versunken; Hulda lehnte nachdenklich im Hintertheil des Wagens. Nur dann und wann wurden einige Worte zwischen Sylvius Hog und dem Kutscher gewechselt, welchem der Professor anempfahl, die Pferde tüchtig anzutreiben. Dann hörte man nichts als das Schellengeklingel der Bespannung, das Klatschen der Peitsche und das Knarren der Räder auf der tief ausgefahrenen Straße.

Ohne Pferdewechsel ging die Fahrt die ganze Nacht hindurch fort.

Es wurde nicht nothwendig, in Listhus, einer nur mangelhaften Station, anzuhalten, die in einem Kessel tannenbedeckter Berge verloren liegt, um welche sich noch ein zweiter Kreis nackter und wilder Bergmassen erhebt. Man fuhr auch geraden Wegs durch Tineß, ein kleines, malerisches Oertchen, in dem einige Häuser auf besonderen Steinpfeilern errichtet sind. Der Reisewagen rollte unter dem Geräusche seiner Eisentheile, dem Klappern halbgelockerter Bolzen und ausgedehnter Federn ziemlich schnell dahin. Dem Rosselenker waren gewiß keine Vorwürfe zu machen – obgleich der gute Alte halb schlafend seine Zügel führte. Ganz mechanisch vertheilte er zuweilen einige gut gemeinte Peitschenhiebe, von denen das linke Pferd die meisten erhielt. Das kam aber daher, daß das rechte Pferd ihm selbst, das linke dagegen seinem Hofnachbarn zugehörte.

Um fünf Uhr Morgens schlug Sylvius Hog die Augen auf, streckte die Arme behaglich aus und sog mit Vergnügen den würzigen Tannenduft ein, der die ganze Atmosphäre erfüllte.

Man war in Kongsberg. Der Wagen passirte die über den Laagen führende Brücke und hielt jenseits derselben an, nachdem er unsern der Wasserfälle von Larbrö an der Kirche vorübergekommen war.

»Liebe Freunde, begann da Sylvius Hog, wenn's Ihnen recht ist, werden wir hier nur die Pferde wechseln. Zu frühstücken ist es noch gar zu zeitig, d'rum ist es besser, wir machen erst in Drammen einen längeren Aufenthalt. Dort [155] stärken wir uns durch eine tüchtige Mahlzeit und schonen dabei gleichzeitig unsern Mundvorrath von Herrn Benett.«

Demgemäß begnügten sich der Professor und Joël vorläufig mit einem Gläschen Branntwein im Hôtel des Mines, und als eine Viertelstunde später frische Pferde eingetroffen waren, wurde die Reise fortgesetzt.

Vor der Stadt mußte der Wagen eine ziemlich steile Rampe, welche sehr kühn von der Seite eines Berges ausgeschnitten war, emporklimmen. Einen Augenblick hoben sich die hohen Thürme der Silberminen von Kongsberg als Schattenbilder vom Himmel ab. Darauf verschwand der ganze Horizont unter einem Vorhange ungeheurer Tannenwälder, in denen es so dunkel und kühl wie in einem Keller ist, da hier die Wärme der Sonne ebenso wenig Eingang findet, wie deren Licht.

Die hölzerne Stadt Hangsund lieferte dem Reisewagen neue Spannpferde. Hier fand man oft lange Straßen, doch häufig durch auf einem Bolzen drehbare Barrieren geschlossen, welche gegen Erlegung von fünf bis sechs Stillings geöffnet wurden. Es ist eine sehr fruchtbare Gegend mit zahlreichen Bäumen, welche wegen ihrer, durch die Last der Früchte niedergebeugten Zweige fast Trauerweiden ähnlich er schienen. Mit der Annäherung an Drammen wurde das Thal wieder bergiger.

Zu Mittag zeigte die an einem Arme des Christiania-Fjords gelegene Stadt ihre beiden endlosen Straßen mit bemalten Häusern an beiden Seiten, und ihren stets sehr belebten Hafen, in welchem die großen Holzflöße den Schiffen, welche hier Naturerzeugnisse des Nordens laden, meist nur wenig Raum frei lassen.

Der Wagen hielt vor dem Hôtel de Skandinavie. Der Besitzer, eine gewichtige Persönlichkeit, mit weißem Barte und höchst gelehrten Mienen, erschien auf der Schwelle seines Anwesens. Mit jener Findigkeit, welche die Gasthalter in allen Ländern der Welt kennzeichnet, sagte er sogleich:

»Es würde mich nicht wundern, wenn die beiden Herren und die junge Dame bald frühstücken möchten.

– Ganz recht, wundern Sie sich darüber nicht, erwiderte Sylvius Hog, und lassen Sie uns so schnell wie möglich auftragen.

– Augenblicklich!«

Das Frühstück stand sehr bald bereit und ließ wirklich nichts zu wünschen übrig. Es bot unter Anderem einen gewissen, mit würzigen Kräutern zubereiteten Fisch aus dem Fjord, von dem der Professor mit sichtlichem Vergnügen zulangte [156] Um halb zwei Uhr kam der mit frischen Pferden versehene Wagen wieder bei dem Hôtel de Skandinavie vorgefahren und setzte in mäßigem Trabe die Reise auf der Landstraße von Drammen fort.

Als sie da an einem Hause von minder einladendem Aussehen, das mit den heiteren Farben der Nachbarhäuser auffallend contrastirte, vorüberkamen, konnte Joël einen Ausdruck von Widerwillen nicht zurückhalten.

»Sandgoïst! rief er.

– Ah, das ist also jener Herr Sandgoïst? sagte Sylvius Hog. In der That, er zeigt gerade kein hübsches Gesicht.«

Es war wirklich Sandgoïst, der rauchend vor seiner Thüre stand. Ob er auch Joël auf dem Vordersitz erkannte, muß dahin gestellt bleiben, denn der Wagen bewegte sich rasch zwischen großen Stößen dicker Balken und Haufen von geschnittenen Planken hin.

Jenseits einer von Vogelbeerbäumen – die reich mit korallenen Früchten beladen waren – eingefaßten Straße, wandte sich das Gespann nach einem dichten Fichtenwald, der das Thal des Paradieses erfüllt; eine wahrhaft prächtige Bodensenkung mit ihren weithin sichtbaren, bis zu den letzten Grenzen des Horizontes reichenden Bergabsätzen. Hier zeigten sich wohl Hunderte kleiner Hügel, von denen die meisten mit einem Landhause oder einem Gaard bekrönt waren. Bei herannahendem Abend, als der Wagen, zwischen grünen Wiesen hinabsteigend, mehr in die Nähe des Meeres kam, erblickte man Farmen mit lebhaft rothen Häusern, welche sich aus dem grünen Baumdickicht grell abhoben.

Endlich erreichten die Reisenden den eigentlichen Christiania-Fjord, der zwischen malerische Höhen hineingezwängt erscheint, und überblickten nun seine zahlreichen Buchten, seine vielen ganz kleinen Häfen mit ihren hölzernen »Piers«, an denen die Fahrzeuge der Bai und die Dampfomnibusse anlegen.

Um neun Uhr Abends – es war noch voller Tag – rollte die alterthümliche Kutsche nicht ohne lautes Geräusch in die Stadt ein und durch deren schon verlassene Straßen hin.

Auf Anordnung Sylvius Hog's hielt dieselbe hier vor dem Hôtel Victoria, in dem Hulda und Joël abstiegen, da für sie auf Vorausbestellung Zimmer aufbewahrt worden waren. Nach herzlichem Abschied begab sich der Professor dann nach seinem alten Hause, wo ihn seine alte Dienerin Kate und sein alter Diener Fink mit nicht weniger alter Ungeduld erwarteten.

[157]

17. Capitel

XVII.

Christiania – in Norwegen eine große Stadt – würde in den bedeutenderen Culturländern Europas höchstens als mittelgroße Stadt gelten. Ohne wiederholte Zerstörungen durch Feuer möchte sie sich heute wohl noch ebenso zeigen, wie sie im elften Jahrhundert erbaut wurde Thatsächlich rührt sie erst vom Jahre 1624 her, zu welcher Zeit der König Christian sie wieder aufbaute. Aus Opsolo, wie ihr Name ursprünglich lautete, verwandelte sie sich damals erst in Christiania, zu Ehren ihres königlichen Neubegründers. Es ist eine regelmäßige Stadt mit breiten, nüchternen und geraden, wie nach dem Lineal angelegten Straßen mit weißen Stein- oder rothen Ziegelhäusern. Inmitten eines recht schönen Gartens erhebt sich das königliche Palais, das Oskarslot, ein gewaltiges viereckiges, aber, obwohl es in jonischem Stile gehalten ist, eigentlich stilloses Bauwerk. Da und dort zeigen sich einige Kirchen, in denen Schönheiten der Kunst gewiß keinen Andächtigen zu zerstreuen vermöchten. Endlich gibt es hier verschiedene Gerichtsgebäude und öffentliche Anstalten, ohne den in Form einer Rotunde errichteten, großen Bazar zu zählen, der einen Sammelplatz ausländischer und einheimischer Erzeugnisse bildet.

Unter Allem, was wir eben anführten, findet sich etwas besonders Bemerkenswerthes jedoch nicht; dagegen verdient rückhaltlose Bewunderung die schöne Lage der Stadt inmitten eines Kreises vielgestaltiger Berge, welche deren prächtigen Rahmen abgeben. Fast eben in ihren reichen neueren Theilen, erhebt sie sich nur, um eine mit unregelmäßigen Häuschen bedeckte Art Kasbah zu bilden, in denen die ärmlichere Bevölkerung lebt. Die Holz- oder Ziegelhütten hier fallen dem Blicke freilich mehr auf, als sie ihn zu ergötzen vermögen.

Man darf nicht etwa glauben, daß das Wort Kasbah, welches eigentlich nur von afrikanischen Städten gebraucht wird, für eine Stadt im Norden Europas nicht am Platze wäre. Christiania hat wirklich in der Nachbarschaft des Hafens Stadttheile, wie man sie ganz ähnlich in Tunis, Marokko oder Algier findet, und wenn hier keine Tunesier wohnen, so ist deren flottirende Bevölkerung doch kaum höher zu schätzen.

[158] Mit einem Wort, gleich jeder Stadt, deren Fuß sich im Meere badet und die das Haupt bis zur Höhe grüner Hügel erhebt, ist gerade Christiania ganz besonders malerisch gelegen, und nicht mit Unrecht vergleicht man dessen Fjord mit dem Meerbusen von Neapel. Wie der letztere geschmückt ist durch die Dörfer Sorrent und Castellamare, so sind dessen Ufer mit Villen und Einzelhäuschen bedeckt, die sich halb in dem schwarzen Tannengrün verlieren und in dem leichten Nebeldunst, der ihnen eine so eigenthümliche »Weichheit« verleiht, der man in nördlichen Gegenden so oft begegnet.

Sylvius Hog war also endlich in Christiania zurück; freilich hatte sich diese Rückkehr unter keineswegs vorausgesehenen Umständen – inmitten einer unterbrochenen Erholungsreise – vollzogen. Nun, letztere wollte er im folgenden Jahre sicher nachholen, jetzt nahmen nur Hulda und Joël sein ganzes Interesse in Anspruch. In seinem Hause hatte er sie nicht absteigen lassen, weil das nur angegangen wäre, wenn er zwei Zimmer noch übrig gehabt hätte. Der alte Fink und die alte Kate hätten jene gewiß ganz gut aufgenommen, doch hatte es an Zeit gefehlt, nur die nöthigsten Vorbereitungen zu treffen. Deshalb führte sie der Professor nach dem Hôtel Victoria, wo er die jungen Leute besonders empfahl.

Eine Empfehlung von Sylvius Hog, dem Storthing-Abgeordneten, durfte aber sicherlich auf Beachtung rechnen.

Während der Professor hier für seine Schützlinge dieselbe Aufmerksamkeit beanspruchte, die man ihm selbst jedenfalls erwiesen hätte, gab er doch deren Namen nicht an, da es ihm um Joëls und noch mehr um Hulda Hansen's willen vor Allem wichtig er schien, deren Incognito zu bewahren. Der Leser weiß ja, wie viel schon von dem jungen Mädchen gesprochen und verbreitet worden war, und das hätte sie hier ungemein belästigen müssen, wenn die Leute ihre Ankunft in Christiania erfuhren.


Plötzlich wurde sein Gesicht todtenbleich. (S. 164.)

Nach der Verabredung sollte der Professor die Geschwister am nächsten Tage nicht vor der Frühstückstunde, d. h. zwischen elf und zwölf Uhr, sehen.

Er hatte einige nothwendige Geschäfte zu besorgen, die den ganzen Vormittag in Anspruch nahmen, und erst nach Abwickelung derselben wollte er Hulda und Joël aufsuchen, um sie nachher nicht wieder verlassen zu müssen, denn er hoffte dann bei ihnen bleiben zu können, bis die Ziehung der Lotterie um drei Uhr ihren Anfang nahm.

Sobald Joël aufgestanden war, begab er sich zu seiner Schwester. Diese erwartete ihn schon völlig angekleidet in ihrem Zimmer.

[159] In der Hoffnung, sie ein wenig von ihren gerade heute gewiß schmerzlichen Gedanken abzulenken, schlug Joël ihr vor, bis zur Frühstückszeit etwas spazieren zu gehen. Um ihrem Bruder den Willen zu thun, nahm sie dessen Vorschlag an, und Beide begaben sich auf gut Glück hin gerade in die Stadt hinein.

Es war ein Sonntag. Ganz entgegen der gewöhnlichen Erscheinung in nördlichen Städten, wo an Sonn-und Festtagen die Anzahl der Spaziergänger meist eine beschränkte ist, zeigten sich die Straßen heute merkwürdig belebt. Nicht allein hatten die Einwohner selbst die Stadt heute nicht verlassen, sie sahen im[160] Gegentheil auch einen Theil der Landbevölkerung in den Straßen zusammenströmen. Auf der Eisenbahn des Mjöse-Sees, welche die Umgebungen der Hauptstadt durchschneidet hatte man sogar Extrazüge einlegen müssen; so viel Neugierige und zum größten Theil Interessenten hatte die volksthümliche Lotterie der Schulen von Christiania herbeigezogen.


Nummer 9627. (S. 171.)

So bewegten sich also viele Leute durch die Straßen hin, oft ganze Familien, wenn nicht gar ganze Dorfschaften, die alle in der geheimen Hoffnung gekommen waren, keine unnütze Fahrt unternommen zu haben. Doch, man [161] bedenke nur, die Million Loose war untergebracht worden, und wenn sie auch nur einen Gewinn von ein- oder zweihundert Mark machten, wie viele brave Leute wären, höchst zufrieden mit ihrem Loose, freudig nach ihren kleinen Saeters oder ihren bescheidenen Gaards heimgekehrt!

Vom Hôtel Victoria aus begaben sich Joël und Hulda zunächst hinunter bis nach den Quais, die sich an der Ostseite der Bucht hinziehen. Hier war der Menschenandrang nicht so groß, höchstens in den Wirthshäusern, wo das Bier und der Brantwein in vollen Schoppen und bis zum Rande vollen Spitzgläsern an fortwährendem Durste leidende Kehlen erquickte.

Während Bruder und Schwester so zwischen den Magazinen, den Reihen großer Fässer, den hohen Haufen von Kisten und Ballen von jeder Herkunft hinwandelten, zogen doch die am Lande vertäuten oder draußen im Wasser verankerten Schiffe ihre Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich, da sich unter denselben ja leicht eines finden konnte, das zum Hafen von Bergen gehörte, nach dem der »Viken« nicht mehr zurückkehren sollte.

»Ole!... mein armer Ole!« murmelte Hulda.

Joël bemühte sich daher, sie wieder von der Bucht fort und nach den hochgelegenen Theilen der Stadt zu führen.

Hier hörten sie nun in den Straßen, auf den Plätzen und aus einzelnen Gruppen heraus wiederholt Aeußerungen, die sie selbst nahe berührten.

»Ja, sagte der Eine, man hat für die Nummer 9672 wohl bis zehntausend Mark geboten.

– Zehntausend? antwortete ein Anderer. Ich habe von zwanzigtausend und noch mehr reden hören.

– Herr Vanderbilt aus New-York soll bis auf dreißigtausend gegangen sein.

– Und die Herren Baring aus London bis auf vierzigtausend!

– Und die Herren Gebrüder Rothschild bis auf sechzigtausend.«

Man weiß ja, was von solchen volksthümlichen Uebertreibungen zu halten ist. Wenn die Steigerung in dieser Weise weiterging, wäre bald ein höherer Preis für das Loos erreicht worden, als der Ertrag des ersten größten Gewinnes ausmachte.

Doch wenn diese Neuigkeitsjäger bezüglich der Zahl der Hulda Hansen gemachten Anerbietungen und bezüglich deren Höhe nicht übereinstimmten, so war die Menge doch ganz einig in der Verurtheilung der elenden Handlungsweise des Wucherers in Drammen.

[162] »Welch' gottloser Schurke, dieser Sandgoïst, der kein Mitleid hat mit den wackeren Leuten!

– O, der ist schon in ganz Telemarken bekannt genug; das ist nicht der erste Streich des Kerls!

– Man sagt, er habe Ole Kamp's Loos, nachdem er es ziemlich theuer bezahlt, nicht weiter verkaufen können.

– Nein, kein Mensch wollte es annehmen.

– Das ist nicht zu verwundern! In den Händen der Hulda Hansen hatte das Loos einen Werth, in denjenigen Sandgoïst's aber gar keinen.

– Das ist recht! Mag er es auf dem Halse behalten und die fünfzehntausend Mark, die es ihm gekostet hat, verlieren.

– Doch, wenn der Spitzbube nun wirklich das große Loos darauf gewänne?

– Er!... Das wäre!

– Das wäre eine Ungerechtigkeit des Schicksals! Wenn er sich nur nicht etwa bei der Ziehung sehen läßt!...

– O, da sollt es ihm schlecht ergehen!«

So etwa lauteten die Ansichten bezüglich Sandgoïst's. Wir wissen, daß er – ob aus Klugheit oder aus irgend welchem anderen Grunde – nicht die Absicht zu haben schien, der Ziehung beizuwohnen, denn wenigstens gestern befand er sich ja in seinem Hause zu Drammen.

Hulda fühlte sich sehr erregt und Joël bemerkte, wie ihr Arm in dem seinen zitterte; so gingen sie rasch weiter, um nicht noch mehr zu hören, als hätten sie gefürchtet, von allen den unbekannten Freunden, die sich unter der Menge kundgaben, erkannt und angerufen zu werden.

Wenn sie darauf gerechnet hatten, vielleicht Sylvius Hog in der Stadt zu treffen, so ging das nicht in Erfüllung. Einzelne Worte aus den ihnen zu Ohren gekommenen Gesprächen ließen sie jedoch erkennen, daß des Professors Rückkehr nach Christiania schon unter den Leuten bekannt geworden war. Schon von früh an hatte man ihn sehr geschäftig und wie einen Mann, der weder zu fragen, noch Antwort zu geben Zeit hat, und zwar einmal nach dem Hafen und dann wieder nach den Marinebureaux dahineilen sehen.

Joël hätte gewiß jeden Vorüberkommenden fragen können, wo der Professor Sylvius Hog wohnte, und Jeder hätte ihm ebenso gewiß das betreffende Haus gezeigt oder ihn gleich selbst dahin geführt. Er that dies aber nicht, aus Furcht [163] indiscret zu erscheinen, und da sie verabredet hatten, sich im Hôtel wieder zu treffen, schien es ihm am besten, dahin zurück zu gehen.

Es war zehneinhalb Uhr, als Hulda ihren Bruder darum bat. Sie fühlte sich angegriffen, und jene Auslassungen, in welchen ihr Name immer wieder genannt wurde, thaten ihr wehe.

Sie begab sich also wieder nach dem Hôtel Victoria und daselbst nach ihrem Zimmer, um Sylvius Hog zu erwarten.

Joël blieb in dem im Erdgeschoß gelegenen Lesesaal des Hauses zurück, wo er sich damit beschäftigte, zum Zeitvertreib die Zeitungen von Christiania zu durchblättern.

Plötzlich wurde sein Gesicht todtenbleich und sein Auge trübe – das Blatt, welches er eben las, fiel ihm aus der Hand...

In der betreffenden Nummer des »Morgen-Blad« hatte er unter den Seenachrichten eben folgende, aus New-Foundland angelangte Depesche gelesen:

»Der Aviso »Telegraf« hat an der vermuthlichen Stelle des Schiffbruches des »Viken« keine Spur von letzterem entdecken können. Ebenso erfolglos waren seine Nachforschungen an der Küste von Grönland. Man darf also leider annehmen, daß von der Besatzung des »Viken« kein Mann mehr am Leben ist.«

18. Capitel

XVIII.

Das war eine Ansammlung von Menschen im größten Saale der Universität von Christiania, wo die Ziehung der Lotterie vor sich gehen sollte! – Selbst in den Gängen und Höfen, da der große Saal die ganze Volksmenge nicht zu fassen vermochte, stand Alles gedrängt voll, und sogar bis hinaus in die benachbarten Straßen, da selbst die Höfe noch zu klein waren, um alle Interessenten aufzunehmen.

An jenem Sonntag des 15. Juli hätte man die ganz außergewöhnlich erregten Norweger freilich nicht an der ihnen sonst angeborenen Ruhe erkennen können. Rührte diese Erregung wohl von dem Interesse her, das sich an die bevorstehende Lotterieziehung knüpfte, oder war nur die hohe Luftwärme dieses [164] Sommertages daran Schuld? Vielleicht trugen Interesse und Hitze mit gleichen Theilen dazu bei; wenigstens vermochte der gewaltige Consum erquickender Früchte, jener »Multers« (Berghimbeeren), welche in ganz Skandinavien in so großen Mengen verzehrt werden, sie heute nicht zu dämpfen.

Pünktlich um drei Uhr sollte die Ziehung stattfinden. Für dieselbe waren hundert Loose in drei Serien getheilt worden, deren erste neunzig Gewinne von hundert bis tausend Mark im Gesammtwerthe von fünfundvierzigtausend Mark enthielt; die zweite umfaßte neun Gewinne von tausend bis neuntausend Mark ebenfalls im Werthe von fünfundvierzigtausend Mark; die dritte nur einen Gewinn von hunderttausend Mark.

Entgegen der Gewohnheit, welcher man sonst bei derartigen Lotterien folgt, war hier der Haupttreffer bis zuletzt aufgehoben, nicht der ersten gezogenen Nummer sollte das große Loos zufallen, sondern der hundertsten Nummer. Selbstverständlich bewirkte das eine sich immer steigernde Spannung und immer heftigeres Herzklopfen bei den Anwesenden. Wir brauchen natürlich nicht zu betonen, daß eine Nummer, welche schon einmal gewonnen hatte, nicht ein zweites Mal gewinnen konnte, und für ungiltig erklärt wurde, im Falle sie noch einmal aus den Urnen hervorkam.

Alles das war Jedermann bekannt und es galt jetzt nur noch, die bestimmte wichtige Stunde abzuwarten. Um aber die Langeweile beim Warten hinwegzutäuschen, plauderten Alle lebhaft und zwar am häufigsten von der bedauernswerthen Lage der Hulda Hansen. Hätte sie jetzt das Loos Ole Kamp's noch besessen, gewiß hätte ihr Jedermann – natürlich nach dem eigenen lieben Ich – den besten Erfolg gewünscht.

Zu dieser Stunde hatten schon mehrere Personen Kenntniß von der im »Morgen-Blad« enthaltenen Depesche und sprachen darüber mit den Nebenstehenden. Bald wußte man nun in der ganzen Versammlung, daß die Nachforschungen des Avisos zu keinem Ziele geführt hatten; die Sache war abgeschlossen, man mußte darauf verzichten, nur eine einzige Planke des »Viken« wiederzufinden. Von der Besatzung hatte kein Mann den schrecklichen Schiffbruch überlebt. Hulda würde ihren Verlobten nimmer wiedersehen.

Da lenkte ein Zwischenfall die Aufmerksamkeit nach anderer Seite ab. Es verbreitete sich nämlich das Gerücht, Sandgoïst habe sich doch entschlossen, Drammen zu verlassen, und Einige behaupteten sogar, ihn in den Straßen von Christiania schon gesehen zu haben. Sollte er wirklich die Kühnheit haben, in [165] diesem Saale zu erscheinen? Wenn es der Fall war, durfte der schlechte Mann sich eines Ausbruchs der allgemeinen Entrüstung gegen ihn versehen. Er... der Ziehung der Lotterie selbst beiwohnen?... Nein, das war so unwahrscheinlich, daß es gar nicht möglich war, die Sache lief auch auf nichts weiter, als auf einen blinden Lärmen hinaus.

Gegen zweieinviertel Uhr entstand eine gewisse Bewegung im Saale.

Eben zeigte sich der Professor Sylvius Hog im Thore der Universität. Man wußte wohl, wie viel Antheil er an der ganzen Angelegenheit hatte und wie er nach erfolgter eigener Rettung durch die Kinder der Frau Hansen ehrlich bestrebt war, seine Schuld heimzuzahlen.

Sofort öffneten sich die Reihen der zunächststehenden Landleute. Ein schmeichelhaftes Murmeln, auf das Sylvius Hog durch freundliches Nicken mit dem Kopfe antwortete, lief durch die Menschenmenge und wuchs bald zu lebhaften Zurufen an.

Der Professor war jedoch nicht allein. Als die Ersten zurückwichen, um ihm Platz zu machen, sah man, daß er ein junges Mädchen am Arme führte, während ein junger Mann den Beiden nachfolgte.

Ein junger Mann und ein junges Mädchen! Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es die guten Leute. Derselbe Gedanke sprang in allen Köpfen so gleichzeitig auf, wie der Funken von ebenso vielen Accumulatoren.

»Hulda!... Hulda Hansen!«

Dieser Name drängte sich unwillkürlich aus jedem Munde.

Ja, es war Hulda, aber so erregt, daß sie sich kaum aufrecht zu erhalten vermochte. Ohne den Arm Sylvius Hog's wäre sie gewiß zusammengebrochen. Dieser aber hielt sie ordentlich fest, die reizende Heldin dieser festlichen Stunde, der nur ihr Ole Kamp fehlte. Und doch, wie viel lieber wäre sie in ihrem kleinen Stübchen in Dal geblieben, und wie drängte es sie, sich dieser, wenn auch noch so wohlgemeinten theilnehmenden Neugier zu entziehen. Sylvius Hog hatte es jedoch gewollt, daß sie hierherkäme und so war sie gekommen.

»Platz! Platz!« rief man von allen Seiten.

So dicht die Menge gedrängt stand, wich sie doch vor Sylvius Hog, vor Hulda und Joël zurück. Aber wie viele Hände streckten sich aus, um die ihrigen zu erfassen! Wie viele freundliche Begrüßungsworte wurden ihnen beim Vorüberkommen zugerufen, und mit wie sichtlicher Befriedigung nahm Sylvius Hog diese freiwilligen Huldigungen entgegen!

[166] »Ja, sie ist es, liebe Freunde!... Das ist meine kleine Hulda, die ich von Dal mit hergebracht habe!« sagte er.

Darauf wandte er sich um.

»Und das ist Joël, ihr wackerer Bruder!«

Dann setzte er aber noch hinzu:

»Nun thut mir noch den einzigen Gefallen, uns nicht aus Liebe zu erdrücken!«

Und während die Hand Joëls auf jeden Druck antwortete, wurde die minder kräftig gebaute Hand des Professors unter der Pressung, die sie zu erdulden hatte, fast zerbrochen. Gleichzeitig aber glänzte sein Auge vor Freude auf, obgleich eine kleine Thräne der Rührung in seinen Lidern hing. Aber – eine der Aufmerksamkeit der Ophtalmologen würdige Erscheinung – diese kleine Thräne war fast lachend.

Es bedurfte einer guten Viertelstunde, die Höfe der Universität zu durchschreiten, nach dem großen Saale zu gelangen und hier die Stühle zu erreichen, welche für den Professor aufbewahrt worden waren. Endlich war es jedoch, freilich nicht ohne einige Mühe, gelungen. Sylvius Hog nahm zwischen Joël und Hulda Platz.

Um einhalb drei Uhr öffnete sich eine Thür auf dem Podium an der Schmalseite des Saales. Es erschien der Vorsitzende des Bureau, ernst und würdig mit der bekannten Herrschermiene, der eigenthümlichen Haltung des Kopfes, welche man bei Jedermann beobachtet, der die Ehre hat, zu irgend einem Präsidium berufen zu sein. Zwei nicht minder ernste Beisitzer folgten ihm. Darauf sah man sechs kleine, mit Bändern und Blumen geschmückte Mädchen eintreten, lauter Blondköpfchen mit blauen Augen und rosigen Händen, an denen man deutlich die Hand der Unschuld erkannte, und welche ausersehen waren, die Loosnummern zu ziehen.

Diese Eintrittsscene begrüßte ein allgemeines Lärmen, das zunächst Zeugniß gab von dem Vergnügen, das die Leute empfanden, die Directoren der Lotterie von Christiania vor sich zu sehen, daneben auch von der dadurch hervorgerufenen Ungeduld, daß sie sich nicht eher auf der Estrade gezeigt hatten.

Wenn hier sechs kleine Mädchen erschienen, so geschah das deshalb, weil sechs Urnen auf einem Tische standen, aus welcher bei jeder einzelnen Ziehung sechs Ziffern hervorgehen sollten.

Diese sechs Urnen enthielten jede die zehn Ziffern 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 und 0, welche die Einer, die Zehner, Hunderte, Tausende, Zehntausende und


Dann war sie ohnmächtig geworden. (S. 173.)

[167]

Hunderttausende der Zahl Million darstellen sollten. Eine siebente Urne für die Zahl Million selbst gab es nicht, weil bei dieser Art und Weise der Ziehung ausgemacht war, daß sechs gleichzeitig aus den Urnen hervorgehende Nullen die Zahl Million bedeuten sollten – wodurch also für alle Nummern gleiche Gewinnaussichten geschaffen wurden.

Außerdem war die Bestimmung getroffen, daß die Nummern nach einander aus der Urne gezogen würden, und zwar zuerst diejenige, welche den Anwesenden zur linken Hand lag.

[168] Die gewinnende Zahl entstand so zu sagen auf diese Weise vor den Augen der Zuschauer, zuerst die Ziffer, welche die Hunderttausend bildete, dann die Zehntausend und so hinab bis zu den Einern.

Man kann sich bei dieser Anordnung denken, wie Jeder beim Erscheinen einer neuen Ziffer seine vielleicht winkende Aussicht auf Gewinn mit zunehmender Erregung wachsen sah.

Schlag drei Uhr machte der Vorsitzende mit der Hand ein Zeichen und erklärte die Ziehung für eröffnet.

[169] Das lange Gemurmel, das diese Erklärung begleitete, dauerte einige Minuten an, nach denen dann ein gewisses Stillschweigen eintrat.

Der Vorsitzende erhob sich nun. Sehr bewegt hielt er eine kleine angepaßte Rede, in der er bedauerte, daß eben nicht auf jede Nummer ein großes Loos fallen könne. Dann gab er Erlaubniß, mit der Ziehung der ersten Serie zu beginnen. Diese enthielt, wie wir wissen, neunzig gewinnende Nummern, was immerhin einige Zeit in Anspruch nahm.


Die Kirche von Hitterdal. (S. 178.)

Die sechs kleinen Mädchen begannen jetzt mit automatischer Regelmäßigkeit die Lösung ihrer Aufgabe, ohne daß die Geduld der Anwesenden nur ein einziges Mal ausgegangen wäre. Bei dem zunehmenden Werthe jeder gezogenen Nummer nahm freilich auch die Spannung Aller gleichmäßig zu, und Niemand fiel es ein, seinen Platz zu verlassen, nicht einmal Denjenigen, deren schon gezogene Nummern doch keine weitere Aussicht auf Gewinn bieten konnten.

So verlief eine volle Stunde ohne jeden Zwischenfall. Jeder hatte sich dabei überzeugen können, daß die Nummer 9672 noch nicht gezogen worden war, was ihr ja jede Aussicht entzogen hätte, den Gewinn von hunderttausend Mark zu erhalten.

»Das ist schon von guter Vorbedeutung für den Kerl, den Sandgoïst! bemerkte einer der Nachbarn des Professors.

– Bah, es wäre doch ein Wunder, wenn gerade ihm der größte Gewinn zufallen sollte, obwohl er eine berühmte Loosnummer hat, erwiderte ein Anderer.

– Wahrlich, eine berühmte! bestätigte Sylvius Hog; doch fragt mich nicht warum... ich wäre jetzt nicht im Stande, das zu erklären.«

Nun begann die Ziehung der zweiten Serie, welche neun Loose umfaßte. Das mußte nun schon hochinteressant werden, da die einundneunzigste Nummer tausend Mark gewann, die zweiundneunzigste schon zweitausend Mark, und so weiter bis zur neunundneunzigsten, der ein Gewinn von neuntausend Mark zufiel. Die dritte Serie endlich, wie der Leser nicht vergessen haben wird, bestand nur aus dem einen großen Loose.

Die Nummer 72521 erhielt einen Gewinn von fünftausend Mark. Das Loos war im Besitze eines wackeren Seemannes aus dem Hafen, dem alle Anwesenden zujubelten und der diese Huldigung mit großer Würde entgegennahm. Eine zweite Nummer, die 823752, gewann sechstausend Mark. Wie freute sich da Sylvius Hog, als Joël ihm zuflüsterte, daß diese Nummmer der reizenden Sigrid in Bamble gehörte.

[170] Da entstand aber eine ganz allgemeine, durch Gemurmel sich fortpflanzende Bewegung unter den Anwesenden, als die siebenundneunzigste Nummer gezogen wurde – zu der ein Gewinn von siebentausend Mark gehörte – und man eine kurze Zeit glauben konnte, daß Sandgoïst vom Schicksale, wenigstens bezüglich dieses Gewinnes, begünstigt werden könnte.

Die Nummer, welche jene Summe gewann, war nämlich 9627; es fehlten also nur fünfundvierzig Einer an der, welche Ole Kamp gehört hatte.

Die beiden folgenden Ziehungen ergaben die sehr weit von einander entfernt liegenden Nummern 775 und 76287.

Die zweite Serie war beendigt; jetzt war nur noch eine Nummer für den größten Gewinn von hundert tausend Mark zu bestimmen.

Die Erregung der Zuschauer stieg damit so hoch, daß es schwer werden möchte, dieselbe bezüglich ihrer Intensität genauer zu kennzeichnen.

Zunächst entstand ein langes Murmeln, das sich von dem großen Saale aus nach den Höfen und bis auf die Straße fortpflanzte. Es vergingen gewiß einige Minuten, ehe sich dasselbe legte. Allmählich trat jedoch ein gewisses Decrescendo ein, dem ein tiefes Stillschweigen folgte, so daß man die ganze Zuschauermenge hätte für scheintodt halten können. Unter dieser Ruhe verbarg sich wirklich eine Art Erstarrung, welche man empfindet, wenn man einen Verurtheilten auf dem Richtplatz erscheinen sieht. Diesmal freilich war der noch unbekannte leidende Theil nur verurtheilt, hunderttausend Mark zu gewinnen, aber nicht den Kopf zu verlieren, wenn das nicht etwa aus Freude geschah.

Die Arme gekreuzt, blickte Joël ziellos vor sich hin – er war vielleicht von der ganzen Menge am wenigsten erregt. Hulda, die ganz in sich zusammengesunken dasaß, dachte nur an ihren armen Ole und sachte ihn instinctiv mit den Augen, als müsse er jetzt im letzten Moment auftauchen.

Was Sylvius Hog betrifft... doch nein, wir müssen darauf verzichten, den Gemüthszustand Sylvius Hog's zu schildern.

»Ziehung des Gewinnes von hunderttausend Mark!«rief der Vorsitzende

Welche Stimme! Sie schien aus dem Inneren dieses feierlich-ernsten Mannes hervorzutönen. Es mochte das auch mit daher kommen, daß er selbst mehrere Loose besaß, von denen noch keines gezogen war und deren eines doch ebenso gut jetzt das große Loos gewinnen konnte.

Das erste kleine Mädchen zog eine Ziffer aus der Urne zur Linken und zeigte sie den Zuschauern.

[171] »Null!« rief der Vorsitzende.

Diese Null brachte keine besondere Wirkung hervor; es machte fast den Eindruck, als ob man ihr Erscheinen erwartet hätte.

»Null!« wiederholte der Vorsitzende, als er die von dem zweiten kleinen Mädchen gezogene Ziffer anmeldete.

Zwei Nullen! Man begreift, daß hiermit die Gewinnchancen beträchtlich für alle Nummern zwischen eins und neuntausendneunhundertneunundneunzig zunahmen. Ole Kamp's Loos trug aber, wie wir wissen, die Nummer neuntausendsechshundertzweiundsiebzig.

Sonderbar – Sylvius Hog begann auf seinem Stuhle unruhig zu werden, als ob er auf einem schlingernden Schiffe säße.

»Neun!« rief der Präsident, als er die von dem dritten kleinen Mädchen aus ihrer Urne gezogene Ziffer verkündigte.

»Neun!«... das war die erste Ziffer von Ole Kamp's Loose.

»Sechs!« fuhr der Vorsitzende fort.

Und richtig, das vierte Mägdlein zeigte eine Sechs allen Blicken, vor denen sie sich, da sie gleich geladenen Pistolen auf sie gerichtet waren, fast zu fürchten schien.

Die Gewinnmöglichkeit betrug jetzt eins zu hundert für alle Nummern zwischen eins und neunundneunzig.

Sollte das Loos Ole Kamp's wirklich dem schändlichen Sandgoïst die Summe von hunderttausend Mark in die Tasche zaubern? Wahrlich, man hätte an der Vorsehung zweifeln lernen können.

Das fünfte kleine Mädchen tauchte die Hand in die Urne und entnahm derselben die fünfte Ziffer.

»Sieben!« sagte der Vorsitzende, doch mit so erstickter Stimme, daß man ihn kaum in den vordersten Reihen verstehen konnte.

Wenn man aber nichts hörte, so sah man doch, worauf es ankam, denn die fünf kleinen Mädchen zeigten eben den Zuschauern die folgenden Ziffern:


00967.


Die gewinnende Nummer mußte also unbedingt zwischen 9670 und 9679 liegen.

Die Spannung hatte ihren höchsten Punkt erreicht.

Sylvius Hog stand aufrecht da und hatte Hulda Hansen's Hand ergriffen. Alle Blicke richteten sich auf das arme Mädchen. Hatte sie, während sie das[172] letzte Andenken von ihrem Ole Kamp hergab, wirklich ein Vermögen geopfert, das ihr Verlobter für sie erträumte?

Das sechste kleine Mädchen hatte einige Mühe, die Hand in ihre Urne einzuführen. Sie zitterte, das kleine Ding. Endlich erschien die Ziffer.

»Zwei!« rief der Vorsitzende.

Halb erstickt vor Erregung sank er damit auf seinen Stuhl zurück.

»Neuntausendsechshundertzweiundsiebzig!« verkündigte einer der Beisitzer mit laut schallender Stimme.

Das war die Nummer von Ole Kamp's Loos, jetzt im Besitz des wucherischen Sandgoïst. Alle Welt wußte es, und Niemand war es ein Geheimniß, auf welche Weise der Geizhals es erworben hatte. Es entstand auch eine Todtenstille statt des Donners der Hurrahs, von dem der große Saal der Universität wiedergehallt haben würde, wenn das Loos sich noch in Hulda Hansen's Händen befunden hätte.

Würde nun der Schurke, der Sandgoïst, sein Loos in der Hand hervortreten, um den darauf gefallenen Gewinn einzustreichen?

»Die Nummer 9672 erhält den Gewinn von hunderttausend Mark, wiederholte der Beisitzer. Wer hat Anspruch darauf?

– Ich!«

War das der Wucherer von Drammen, der dieses kurze Wort ausgesprochen hatte?

Nein, es war ein junger Mann gewesen – ein junger Mann mit blassem Gesicht, der in seinen Zügen, wie in der ganzen Erscheinung, zwar die Zeichen lange erduldeter Entbehrungen trug, aber doch lebte – lebte!

Bei dieser Stimme hatte Hulda sich erhoben und einen Schrei ausgestoßen, der von der ganzen Versammlung vernommen wurde, dann war sie ohnmächtig geworden...

Der junge Mann hatte jedoch schon die Menge getheilt und er fing das bewußtlose junge Mädchen in seinen Armen auf.

Es war Ole Kamp.

[173]

19. Capitel

XIX.

Ja, es war Ole Kamp – Ole Kamp, der wie durch ein Wunder den Schiffbruch des »Viken« überlebt hatte.

Daß ihn der »Telegraf« bei seiner Rückkehr nicht gleichzeitig mit nach Europa brachte, lag einfach daran, daß er sich damals nicht mehr in den von dem Aviso durchsuchten Gegenden befunden hatte.

Dort war er aber nicht mehr, weil er sich schon an Bord eines anderen Schiffes und auf dem Heimwege nach Christiania befand.

So etwa lautete die Darstellung Sylvius Hog's, die er vor Jedem wiederholte, der sie hören wollte, und man darf wohl glauben, daß Alle derselben begierig lauschten. Er erzählte die Rettungsgeschichte mit wirklich triumphirendem Ausdruck, und seine Nachbarn verbreiteten sie weiter an Diejenigen, welche nicht das Glück hatten, ihm nahe genug zu stehen. So pflanzte sich die Neuigkeit fort von Gruppe zu Gruppe bis zu der draußen in den Höfen und den angrenzenden Straßen aufgestauten Menge.

Binnen wenigen Minuten wußte ganz Christiania, daß der junge Schiffbrüchige vom »Viken« zurückgekehrt sei, daß er das große Loos in der Schulen-Lotterie gewonnen habe.

Sylvius Hog mußte sich schon herbeilassen, die Geschichte zu erzählen; Ole selbst hätte es nämlich nicht vermocht, denn Joël hatte ihn, während Hulda allmählich wieder zu sich kam, in die Arme gepreßt, daß er fast erstickte.

»Hulda!... Liebste Hulda! rief Ole nur. Ja... ich bin's... Dein Verlobter... und bald Dein Gatte!...

– Schon morgen, meine Kinder, schon morgen! jubelte Sylvius Hog. Noch heute Abend fahren wir nach Dal zurück, und wenn's auch noch nie vorgekommen sein mag, so wird man einen Professor der Rechtswissenschaft und Abgeordneten des Storthing da bei einer frohen Hochzeit tanzen sehen, wie den ausgelassensten Burschen von Telemarken!«

Daß Sylvius Hog die Geschichte Ole Kamp's kannte, erklärt sich durch den letzten Brief, der ihm vom Seeamte nach Dal gesendet worden war. Dieser[174] Brief – der letzte, den er erhalten und dessen er gegen Niemand Erwähnung gethan – enthielt nämlich ein aus Christiania datirtes zweites Schreiben, aus dem er Folgendes erfuhr:

Die dänische Brigg »Genius« war eben in Christiansand vor Anker gegangen und hatte einige Ueberlebende vom »Viken« an Bord, unter Anderen den jungen Steuermann Ole Kamp, der drei Tage später in Christiania eintreffen sollte.

Der Brief aus dem Seeamte fügte hinzu, daß die Schiffbrüchigen sich infolge der ausgestandenen entsetzlichen Leiden in höchst geschwächtem Zustande befänden. Aus diesem Grunde hatte Sylvius Hulda nichts von der Rückkehr ihres Verlobten sagen wollen. In seiner Antwort hatte er auch die strengste Geheimhaltung dieser Rückkehr erbeten, eine Geheimhaltung, der man sich gegenüber der Allgemeinheit befleißigt hatte.

Daß der Aviso »Telegraf« nun weder ein Wrackstück, noch einen Ueberlebenden vom »Viken« gefunden, bedarf jetzt kaum einer Erklärung.

Während eines sehr heftigen Sturmes hatte nämlich der »Viken«, als er sich etwa zweihundert Seemeilen südlich von Island befand, nach Nordwesten zu flüchten müssen. In der durch plötzliche starke Windstöße ausgezeichneten Nacht war er gegen einen der ungeheuren Eisberge gestoßen, die von den Grönländischen Meeren aus vorübertreiben. Die Collision war furchtbar – so stark, daß der »Viken« schon fünf Minuten nachher in die Tiefe versank.

Eben damals hatte Ole jene Zeilen abgefaßt, auf das Lotterie-Loos ein letztes Lebewohl an seine Verlobte geschrieben und es dann, nachdem er es in einer Flasche verschlossen, in's Meer geworfen.

Der größte Theil der Besatzung des »Viken«, darunter auch der Capitän, war bei jenem Zusammenstoß umgekommen. Ole Kamp und vier seiner Kameraden hatten noch auf ein Bruchstück des Eisberges springen können, als der »Viken« eben versank. Ihr elender Tod wäre dadurch freilich nur verzögert worden, wenn der entsetzliche Sturmwind das Eis nicht nach Nordwesten zu getrieben hätte.


Als sie am Arme ihres Gatten die kleine Kapelle verließ... (S. 178.)

Zwei Tage später konnten die erschöpften, schon vor Hunger halbtodten Ueberlebenden aus dem Schiff bruch sich an die Küste Grönlands retten – an jene verlassene Küste, wo sie nun der Gnade des Himmels anheimgegeben waren.

Ohne eine nach wenig Tagen eintreffende Hilfe wären sie auch hier noch elend umgekommen, da es ihnen ja viel zu sehr an Kräften fehlte, um die Fischereien oder die dänischen Niederlassungen an der Bassins-Bai am jenseitigen Ufer zu erreichen.

[175] Da kam zufällig die durch den Sturm ebenfalls aus ihrem Course verschlagene Brigg »Genius« in Sicht. Die Schiffbrüchigen gaben sich durch Zeichen zu erkennen, wurden aufgenommen und waren damit gerettet.

Bei der verhältnißmäßig kurzen Ueberfahrt von Grönland nach Norwegen erlitt der »Genius« jedoch durch widrige Winde noch namhafte Verzögerungen.

Das erklärt, warum er in Christiansand erst am 12. Juli und erst am Morgen des 15. Juli in Christiania eintraf.

[176] An eben diesem Morgen war aber Sylvius Hog auf das genannte Schiff gegangen, wo er Ole noch sehr schwach antraf und er ihm Alles, was sich seit Eintreffen seines letzten, aus Saint-Pierre-Miquelon abgesandten Briefes ereignet, mittheilte. Darauf hatte er ihn nach seiner Wohnung mitgenommen, nicht ohne die Mannschaft des »Genius« um vorläufiges Stillschweigen zu bitten. Das Uebrige ist dem freundlichen Leser bekannt.


Der Professor eröffnete den Ball. (S. 179.)

Darauf wurde verabredet, daß Ole, wenn er sich dazu kräftig genug fühlte, der Ziehung der Lotterie beiwohnen sollte.

[177] Nun, an Kräften konnte es ihm ja nicht fehlen, da Hulda ebenfalls dort anwesend sein sollte. Doch hatte jene Ziehung denn noch ein Interesse für ihn? Ja, gewiß, das größte Interesse, für ihn, wie für seine Braut.

Sylvius Hog war es nämlich gelungen, das Loos aus der Hand Sandgoïst's noch wieder zu erhalten, indem er es für denselben Preis erkaufte, den der Wucherer aus Drammen der Frau Hansen dafür gezahlt hatte, und Sandgoïst war sogar herzlich froh gewesen, sich desselben noch zu entledigen, als ihm jetzt Keiner mehr ein Aufgeld bieten wollte.

»Mein wackerer Ole, hatte Sylvius Hog bei der Rückgabe des Looses geäußert, ich wollte damit Hulda keineswegs eine an und für sich höchst unwahrscheinliche Aussicht auf einen Gewinn wiedergeben, sondern nur das letzte Lebewohl, das Ihr im Augenblicke des drohenden Todes an sie gerichtet hattet.«

Man muß wohl zugeben, daß den Professor Sylvius Hog eine gute Eingebung leitete, eine bessere als den schurkischen Sandgoïst, der sich fast den Kopf an der Wand eingerannt hätte, als er den Ausgang der Ziehung erfuhr.

Jetzt waren auf einmal hunderttausend Mark in dem Hause in Dal! Ja, hunderttausend Mark ganz und voll, da Sylvius Hog nimmermehr das zurückerstattet genommen hätte, was er für den Rückkauf des Looses Ole Kamp's erlegt hatte.

Er betrachtete das als eine kleine Mitgift, die er am Tage ihrer Hochzeit seiner kleinen Hulda abzutreten sich höchst glücklich schätzte.

Vielleicht findet man es etwas wunderbar, daß gerade diese Nummer 9672, welche die allgemeine Aufmerksamkeit so lebhaft erregt hatte, mit dem großen Loose herausgekommen war.

Nun ja, es ist wohl ein wenig wunderbar, doch es war ja an und für sich nicht unmöglich, und kurz es ist Thatsache.

Sylvius Hog, Ole, Hulda und Joël verließen Christiania noch am nämlichen Abend. Die Rückkehr erfolgte über Bamble, um Sigrid gleich den Betrag, den sie auf ihr Loos gewonnen, zu überliefern. Als sie da bei der kleinen Kirche von Hitterdal vorüberkamen, entsann sich Hulda der traurigen Gedanken, die sie noch vor zwei Tagen bedrückten; der Anblick Oles führte sie jedoch bald zur glücklichen Wirklichkeit zurück.

Beim heiligen Olaf, wie reizend erschien Hulda unter der strahlenden Brautkrone, als sie vier Tage später am Arme ihres Gatten Ole aus der kleinen Kapelle von Dal heraustrat!

[178] Das war ein Festjubel, der bis in die entferntesten Gaards von Telemarken hinaustönte. Und glücklich fühlten sich Alle, die hübsche Brautjungfer Sigrid, ihr Vater, der Pächter Helmboë, dessen zukünftiger Schwiegersohn Joël und auch Frau Hansen, welche das Gespenst Sandgoïst's jetzt nicht mehr zu ängstigen vermochte.

Vielleicht wirst Jemand die Frage auf, ob alle jene Freunde, alle Eingeladenen, die Gebrüder Help senior und junior und die vielen Anderen gekommen waren, Zeugen des Glücks der jungen Neuvermählten zu sein oder Sylvius Hog, den. Professor der Rechtswissenschaft und Abgeordneten des Storthing, tanzen zu sehen. Unnöthige Frage! Selbstverständlich tanzte er mit aller ihm zukommenden Würde, und nachdem er den »Ball« mit seiner lieben Hulda eröffnet, schloß er denselben mit der reizenden Sigrid.

Am folgenden Tage reiste er, begrüßt von den Hurrahs der gesammten Einwohnerschaft des Vestfjorddals, zwar schon ab, doch mit der ausdrücklichen Zusicherung, zur Hochzeit Joëls, die einige Wochen später zur Freude aller Betheiligten gefeiert wurde, wieder zu kommen.

Diesmal eröffnete der Professor den Ball mit der reizenden Sigrid und schloß ihn mit seiner lieben Hulda.

Seit diesem Tage aber tanzte Sylvius Hog nicht mehr.

Welch' reiches Glück wohnte nun in dem vorher so hart geprüften Hause in Dal! Ohne Zweifel war das ein Werk Sylvius Hog's, dieser wollte das freilich nicht zugestehen, sondern wiederholte immer und immer wieder:

»Schon gut! Aber ich, ich bleibe den Kindern der Frau Hansen doch immer noch etwas schuldig!«

Was das berühmte Loos betrifft, so hatte man dasselbe nach der Ziehung Ole Kamp zurückgegeben. Heute prangt es am Ehrenplatze unter sauberem Holzrahmen in der großen Stube des Gasthauses zu Dal. Doch was man davon sieht, ist nicht die Vorderseite des Looses mit der bedeutungsvollen Nummer 9672, sondern das auf die Rückseite geschriebene letzte Lebewohl, das der schiffbrüchige Ole Kamp einst an seine Braut Hulda Hansen gerichtet hatte.

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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Ein Lotterie-Loos. Ein Lotterie-Loos. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-75AF-B